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Die »Halbrane« fuhr mit Hilfe der Strömungen und des Windes immer weiter. Hielt das auch ferner so an, so mußte die Entfernung, die die Prinz Eduard-Insel von Tristan d'Acunha trennt – ungefähr dreitausendzweihundert Seemeilen – binnen vierzehn Tagen zurückgelegt werden und das, wie der Hochbootsmann prophezeit hatte, ohne die Segelstellung ein einziges Mal zu wechseln. Unveränderlich stand der Wind aus Südosten, manchmal so frisch, daß die höchsten Segel eingezogen werden mußten.
Der Kapitän Len Guy überließ übrigens die Führung des Schiffes gänzlich dem Jem West, und dieser tollkühne Leinenhändler – man verzeihe den Ausdruck – ließ nicht eher reefen, als bis die Maste zu brechen drohten. Ich fürchtete jedoch nichts, denn mit einem solchen Seemann war keine Havarie zu gewärtigen. Dafür hatte er die Augen überall und für alles zu weit offen.
»Unser Lieutenant hat doch nicht seines Gleichen,« versicherte mir eines Tages Hurliguerly, »er verdiente wahrlich ein Admiralschiff zu führen!«
»Ja,« antwortete ich zustimmend, »Ihr Herr Jem West scheint mir der geborne Seemann zu sein.«
»Unsre ›Halbrane‹ ist aber auch eine Goëlette, die sich sehen lassen kann! Wünschen Sie sich Glück, Herr Jeorling, und mir auch, daß ich den Kapitän zur Aenderung seines ersten Entschlusses zu bringen vermochte.«
»Wenn Sie es waren, der das durchgesetzt hat, so danke ich Ihnen herzlich!«
»Und die Sache war nicht so leicht, denn er zögerte verteufelt lange, unser Kapitän, trotz des dringenden Zuredens des Vater Atkins! Mir gelang es endlich, ihm Vernunft beizubringen . . .«
»Das vergesse ich auch nicht, Hochbootsmann, das vergesse ich Ihnen nicht, denn statt mich auf den Kerguelen zu Tode zu langweilen, werd' ich nun, Dank Ihrem Eintreten für mich, bald in Sicht von Tristan d'Acunha sein . . .«
»Schon nach wenigen Tagen, Herr Jeorling. Wie ich verlauten gehört habe, beschäftigt man sich in Amerika und in England jetzt mit Schiffen, die eine Maschine im Leibe und Räder haben, deren sie sich wie Enten der Pfoten bedienen! Na, meinetwegen, man wird ja sehen, was dabei herauskommt. Ich bin überzeugt, daß solche Schiffe es niemals mit einer guten Fregatte mit sechzig Kanonen, die bei frischer Brise noch dicht am Winde segelt, werden aufnehmen können. Der Wind, Herr Jeorling, der Wind, selbst wenn man ihn in ganz spitzem Winkel abfangen muß, genügt schon allein, und eine Theerjacke braucht keine Räder am Rumpfe!«
Ich hatte gegen die Anschauungen des Hochbootsmanns über die Verwendung des Dampfes in der Schifffahrt nichts zu erwidern. Damals war man noch im Stadium der Versuche, und die Schraube hatte die Schaufelräder noch nicht ersetzt. Wer konnte wohl deutlich in die Zukunft blicken? . . .
Da erinnerte ich mich, daß die »Jane« – jene »Jane«, von der der Kapitän Len Guy sprach, als ob sie wirklich existiert und fast als ob er sie mit eigenen Augen gesehen hätte – genau in vierzehn Tagen von der Prinz Eduard-Insel nach Tristan d'Acunha gesegelt war. Edgar Poë verfügte über Winde und Meeresströmungen freilich ganz nach Belieben.
Im Laufe der folgenden vierzehn Tage unterhielt mich der Kapitän Len Guy nicht weiter von Arthur Pym; es erschien sogar, als habe er mir von den Abenteuern dieses Helden des südlichen Eismeeres überhaupt noch nicht gesprochen. Hatte er übrigens gehofft, mich von deren Thatsächlichkeit zu überzeugen, so wäre das von ihm ein Beweis sehr mittelmäßiger Intelligenz gewesen. Wie konnte auch ein Mann mit gesunder Vernunft ernsthaft über diese Sache sprechen! Wenn er nicht Sinn und Verstand eingebüßt, nicht bezüglich dieses besondern Falles ebenso Monomane wie der Kapitän Len Guy war, konnte – ich wiederhole es zum zehnten Male – in dem Berichte Edgar Poë's niemand etwas anders als eine Schöpfung der Phantasie erblicken.
Man bedenke nur: Nach genanntem Bericht wäre eine englische Goëlette bis zum vierundachtzigsten Grade südlicher Breite vorgedrungen, und diese Fahrt wäre nicht zu einem geographischen Ereigniß erster Classe geworden? . . . Arthur Pym hätte man, nach seiner Rückkehr aus den Tiefen des Antarktischen Oceans, nicht über einen Cook, Wedell oder Biscoe gestellt? Man sollte ihm und Dirk Peters, den beiden Passagieren der »Jane«, die noch über den genannten Breitengrad hinaufgekommen waren, keine öffentlichen Ehrenbezeugungen erwiesen haben? . . . Und was soll man von dem von ihnen entdeckten freien Meere halten . . . von der außerordentlichen Geschwindigkeit der Strömungen, die sie nach dem Pole zu führten . . . von der abnormen Temperatur des Wassers, das von unten her so stark erwärmt wurde, daß man die Hand nicht darin leiden konnte . . . was von jenem Dunstwall längs des Horizonts . . . von dem Gaskatarakt, der sich zuweilen spaltet und hinter dem Gestalten von übermenschlicher Größe auftauchen?
Von allen diesen Unwahrscheinlichkeiten aber abgesehen, wär' ich doch begierig zu erfahren, wie Arthur Pym und der Mestize von so weit her zurückgekommen seien, wie ihr tsalalisches Boot sie bis über den Polarkreis hinaus getragen haben möchte, wie sie endlich aufgefunden und nach der Heimat befördert worden seien. Wäre Arthur Pym in einem gebrechlichen Boote mit Pagaien über zwanzig Breitengrade weit gefahren, hätte er darin wieder das Packeis durchbrochen und eines der nächstgelegenen Länder erreicht, so würde er die Vorfälle unterwegs gewiß erzählt haben . . . O, wird man einwerfen, Arthur Pym starb, ehe er den letzten Theil seines Berichts niederschreiben konnte. Zugegeben; doch ist es wahrscheinlich, daß er dem Herausgeber des Southern Literary Messenger davon keine mündlichen Mittheilungen gemacht hätte? . . . Und warum sollte Dirk Peters, der angeblich noch einige Jahre in Illinois wohnte, über den endlichen Ausgang ihrer Abenteuer geschwiegen haben? Hätte er ein Interesse daran gehabt, nicht davon zu sprechen? . . .
Den Worten des Kapitän Len Guy nach hatte sich dieser allerdings nach Vandalia begeben, wo Dirk Peters – dem Romane nach – sich aufhielt, hatte ihn aber nicht angetroffen. Das glaub' ich gern. Gleich wie Arthur Pym hatte er, ich wiederhole es, nur in der erregten Einbildung des amerikanischen Dichters gelebt. Zeugt es aber nicht gerade für die außerordentliche Macht dieses Genius, daß das, was er nur erfunden hatte, von einigen Personen für thatsächliche Wahrheit hingenommen wurde?
Ich begriff wohl, daß es übel angebracht gewesen wäre, mit dem nun einmal von seiner fixen Idee besessenen Kapitän Len Guy noch weiter über dasselbe Thema zu verhandeln und eine Beweisführung wieder aufzunehmen, die ihn doch nicht überzeugt hätte. Düstrer und verschlossner als vorher, erschien er nur noch auf Deck, wenn es dringend nöthig war. Dann schweiften seine Blicke unablässig über den südlichen Horizont, den sie zu durchdringen suchten . . .
Vielleicht glaubte er da schon die von großen Spalten gestreifte Dunstschicht zu sehen, die von der Finsterniß verhüllten Tiefen des Himmels, die aufsteigenden Flammengarben aus dem milchigtrüben Meere wahrzunehmen und den weißen Riesen zu erkennen, der ihm den Weg durch die Schluchten des Kataraktes zeigte . . .
Ein sonderbarer Schwärmer, unser Kapitän! Zum Glück blieb seine Intelligenz nach jeder andern Seite hin ungetrübt, seine Fähigkeiten als Seemann unbeeinflußt, und die Befürchtungen, die mir anfänglich aufstiegen, schienen sich nicht bewahrheiten zu sollen.
Von größtem Interesse erschien es mir jedoch, zu ergründen, warum der Kapitän Len Guy eine so rege Theilnahme für die angeblichen Schiffbrüchigen von der »Jane« bewahrte. Selbst Arthur Pym's Bericht als wahr angenommen und zugegeben, daß die englische Goëlette jene undurchdringlichen Gebiete dennoch durchschifft hätte – wozu konnte seine warme Theilnahme am Schicksale der betreffenden Leute dienen? Hatten auch einzelne Matrosen der »Jane«, ihr Führer oder seine Officiere, die Explosion und den von den Eingebornen der Insel Tsalal herbeigeführten Bergsturz überlebt, konnte man deshalb vernünftigerweise annehmen, daß sie auch jetzt noch am Leben wären? Seit jenen Ereignissen waren nach den Zeitangaben Arthur Pym's elf Jahre verflossen, und wie hätten die Unglücklichen, wenn sie den Insulanern damals wirklich entkamen, unter den gegebenen Verhältnissen ihre Bedürfnisse befriedigen können, oder sollten sie nicht vielmehr bis zum letzten Mann umgekommen sein?
Doch da ertappe ich mich ja bei der ernsten Betrachtung von Hypothesen, denen es an jeder Unterlage gebricht. Noch etwas mehr, und ich fing vielleicht an, an die Existenz Arthur Pym's und Dirk Peters', an deren Gefährten und an die im südlichen Packeise verlorne »Jane« zu glauben! . . . Hatte mich die Verwirrung des Kapitän Len Guy bereits angesteckt? In der That hatte ich mich ja dabei überrascht, einen Vergleich zwischen dem Wege der »Jane«, als sie nach Westen steuerte, und dem anzustellen, dem die »Halbrane« auf ihrer Fahrt nach Tristan d'Acunha folgte.
Wir schrieben jetzt den 3. September. Kam es zu keiner Verzögerung – und die hätte nur ein Seeunfall herbeiführen können – so mußte unsre Goëlette binnen drei Tagen in Sicht des Hafens sein. Die Inselgruppe steigt übrigens so hoch empor, daß man sie bei günstiger Witterung schon aus großer Ferne sieht.
An diesem Tage spazierte ich zwischen zehn und elf Uhr vormittags an der Windseite zwischen Vorder- und Hintertheil des Schiffes hin und her. Wir glitten leicht über das schwach bewegte, kaum plätschernde Meer. Die »Halbrane« glich mehr einem ungeheuern Vogel, einem der von Arthur Pym erwähnten riesenhaften Albatrosse, der, sein mächtiges Gefieder entfaltend, eine ganze Mannschaft durch den Luftraum mit forttrug. Ja, für einen etwas phantastisch angelegten Kopf war das keine Seefahrt mehr, sondern ein Flug, und das Schlagen der Segel war das Schlagen von Fittichen.
Am Spill, vom Gaffelsegel geschützt und das Fernrohr vor den Augen, stand Jem West und schaute an der Leeseite an Backbord nach einem in ein bis zwei Seemeilen Entfernung schwimmenden Gegenstande hin, nach dem mehrere, über die Schanzkleidung gebeugte Matrosen mit dem Finger zeigten.
Es war das eine Masse von zehn bis zwölf Quadratyard Oberfläche, von unregelmäßiger Gestalt und mit einer lebhaft glänzenden Erhebung in der Mitte. Diese Masse hob und senkte sich mit den Wellen, die sie in der Richtung nach Nordwesten weitertrugen.
Ich begab mich nach dem Vorderdecke und faßte jenen Gegenstand scharf ins Auge.
Dabei vernahm ich die Bemerkungen der Mannschaften, die für die geringsten Seetriften allemal besondres Interesse haben.
»Ein Walfisch ist das nicht,« erklärte der Segelmaat Martin Holt. »Er würde, seit wir ihn beobachten, mindestens schon zehnmal ausgeathmet und also eine Wassersäule mit Luft vermengt emporgetrieben haben.«
»Nein, von einem Wal kann keine Rede sein,« bestätigte Hardie, der Kalfatermeister. »Vielleicht ist es der Rumpf eines verlassenen Schiffes . . .«
»Das der Teufel vollends versenken möge!« rief Rogers. »Daran sollten wir in der Nacht nur einmal anstoßen! Da käme keiner mehr dazu, sich hinter den Ohren zu kratzen, und wir gingen unter, ohne zu wissen, wie und warum!«
»Hast Recht,« stimmte Drap ihm bei. »Diese Wracks sind schlimmer als Felsen, denn sie treiben heute hier und morgen da . . . wer könnte sich ihrer erwehren?«
Eben trat Hurliguerly zu den Leuten heran.
»Was denken Sie davon, Hochbootsmann?« fragte ich ihn, als er sich neben mir auf die Reling gelehnt hatte.
Hurliguerly blickte scharf hinaus, und da die von frischer Brise getriebene Goëlette sich der Masse rasch näherte, war jetzt ein Urtheil schon leichter abzugeben.
»Was wir da draußen sehen, Herr Jeorling,« antwortete der Hochbootsmann, »ist meiner Ansicht nach weder ein Wal, noch eine Seetrift, sondern ganz einfach eine Eisscholle . . .«
»Eine Eisscholle?« rief ich verwundert.
»Hurliguerly täuscht sich nicht,« fiel jetzt Jem West ein. »Es handelt sich ganz einfach um eine Eisscholle, um ein Stück eines Eisbergs, das die Strömung weggeführt hat . . .«
»Wie,« versetzte ich, »bis herab zum fünfundvierzigsten Breitengrade?«
»Das kommt zuweilen vor,« erwiderte der Lieutenant. »Zuweilen verirren sich Eisschollen bis in die Nähe des Caps, wenn man einem französischen Seefahrer, dem Kapitän Blosseville, glauben darf, der 1828 solche in dieser Höhe getroffen zu haben behauptet.«
»Dann wird diese hier aber wohl bald zerschmelzen?« bemerkte ich, erstaunt, daß mich der Lieutenant West einer so langen Antwort gewürdigt hatte.
»Sie wird schon zum größten Theil aufgelöst sein,« versicherte der Lieutenant, »und was wir hier sehen, ist gewiß nur der Rest eines Eisbergs, der vielleicht mehrere Millionen Tonnen Gewicht gehabt hat.«
Inzwischen war der Kapitän Len Guy aus seiner Cabine heraufgekommen. Als er die Gruppe von Matrosen um Jem West stehen sah, ging er auch selbst nach vorn.
Nach einigen, mit leiser Stimme gewechselten Worten übergab der Lieutenant ihm das Fernrohr.
Len Guy richtete es auf den schwimmenden Gegenstand, dem sich die Goëlette jetzt bis auf eine Seemeile genähert hatte, und nachdem er jenen eine Minute lang beobachtet hatte, sagte er:
»Es ist eine Eisscholle und für uns ein Glück, daß sie im Schmelzen ist! Die »Halbrane« hätte eine ernste Havarie davontragen können, wenn sie in der Nacht mit ihr kollidierte . . .«
Mir fiel die Sorgfalt auf, womit der Kapitän seine Beobachtung fortsetzte. Es schien, als ob seine Augen von dem Ocular des Fernrohrs, das sozusagen seine Pupille geworden war, gar nicht weichen könnten. Er blieb, wie an den Boden gebannt, regungslos stehen. Unempfänglich für das Rollen und Schlingern, die beiden Arme seiner Gewohnheit gemäß straff ausgestreckt, hielt er die Eisscholle unverrückbar im Gesichtsfelde des Objectivs. Sein ernsthaftes Gesicht zeigte hier und da hektische Flecken, bleiche Stellen und über seine Lippen kamen unverständliche Worte.
So verstrichen einige Minuten. Die »Halbrane« war schon nahe dabei, an der Scholle vorüberzusegeln.
»Um ein Quart abfallen!« befahl der Kapitän, ohne das Fernrohr abzusetzen.
Ich errieth, was im Gehirn des von einer fixen Idee befallenen Mannes vorging. Diese vom südlichen Packeis abgesprengte Scholle kam ja aus den Gebieten, wohin ihn sein Gedanke unablässig zog. Er wollte sie näher sehen . . . vielleicht sie anlaufen . . . vielleicht irgend etwas davon mitnehmen . . .
Infolge des von Jem West übermittelten Befehls, hatte der Hochbootsmann die Schooten langsam nachschießen lassen, und um ein Quart beigedreht lief die Goëlette nun auf die Eisscholle zu. Bald waren wir nur noch zwei Kabellängen davon entfernt und ich konnte sie schon besser erkennen.
Wie schon erwähnt, schmolz die Erhebung der Mitte von allen Seiten ab. Wasserfäden schlängelten sich an ihren Wänden hernieder. Im September dieses schon frühzeitig warmen Jahres hatte die Sonne bereits die Kraft, die Auflösung alles Eises hervorzurufen und sogar zu beschleunigen.
Am Ende des Tages war sicherlich nichts mehr von der Scholle übrig, die die Strömungen bis zum fünfundvierzigsten Breitengrade getragen hatten.
Der Kapitän Len Guy behielt sie noch immer im Auge, ohne jetzt das Fernrohr nöthig zu haben. Allmählich unterschied man auf dem Eise einen fremdartigen Körper, der beim weitern Schmelzen immer mehr zum Vorschein kam – eine Gestalt von dunkler Farbe, die auf dem weißen Untergrunde lag.
Wie erstaunten, wie erschraken wir aber, als wir erst einen Arm, dann ein Bein, endlich einen Rumpf nebst Kopf hervortreten sahen, kurz eine Menschengestalt, die nicht nackt, sondern noch mit dunkler Kleidung verhüllt war . . .
Einen Augenblick glaubte ich gar, daß diese Glieder sich bewegten . . . daß diese Hände sich gegen uns ausstreckten . . .
Die Mannschaft konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken.
Nein, der Körper bewegte sich zwar nicht, er glitt aber langsam aus seinem eisigen Bette herab.
Ich sah den Kapitän Len Guy an. Sein Gesicht war so bleich wie das des Leichnams, der aus den hohen Breiten des südlichen Polarmeers hierher verschlagen war.
Was möglich war, um den Unglücklichen aufzunehmen, geschah ohne Zögern . . . wer wußte, ob er nicht vielleicht noch ins Leben zurückgerufen werden konnte. Jedenfalls enthielten seine Taschen irgendein Schriftstück, das seine Persönlichkeit festzustellen erlaubte. Dann würde ein letztes Gebet gesprochen und dieser Ueberrest eines menschlichen Wesens in die Tiefe des Oceans, dem Friedhof der auf dem Meere verstorbenen Seeleute, versenkt werden.
Sofort wurde ein Boot flott gemacht. Der Hochbootsmann nahm darin mit den Matrosen Gratian und Francis Platz und letztere ergriffen die Riemen. Durch Gegenbrassen hemmte Jem West den Lauf der Goëlette, die jetzt fast still lag und sich mit den langen Wellen hob und senkte.
Mit den Blicken folgte ich dem Boote, das an dem vom Wasser angenagten Rande der Scholle anlegte.
Hurliguerly betrat sie an einer Stelle, die noch mehr Zusammenhang und Festigkeit zu bieten schien. Gratian stieg mit ihm aus, während Francis das Boot mittelst der Kette eines kleinen Dreggankers festhielt.
Beide krochen dann mehr nach dem Cadaver hin, zogen ihn, der eine an den Armen, der andre an den Beinen, vollends herab und brachten ihn ins Boot.
Mit einigen Ruderschlägen gelangten die Leute wieder nach der Goëlette. Der vom Kopf bis zu den Füßen steinhart gefrorene Leichnam wurde nahe dem Fockmast niedergelegt.
Sofort ging der Kapitän Len Guy auf ihn zu und betrachtete ihn aufmerksam, als ob er den Mann zu erkennen suchte.
Es war ein mit groben Stoffen bekleideter Seemann mit wollenen Beinkleidern, einer Jacke aus dickem Gewebe, einem Hemd aus dichtem Molton und mit einem Gürtel, der seine Taille zweimal umschlang. Offenbar war er schon seit mehreren Monaten todt . . . vielleicht schon bald nachher gestorben, als der Unglückliche auf der Scholle fortgetrieben worden war.
Der Mann, den wir an Bord genommen hatten, konnte nicht älter als vierzig Jahre sein, trotz seines schon grau gesprenkelten Haars. Seine Magerkeit war erschreckend – ein Skelett, an dem die Knochen fast durch die Haut drangen. Gewiß hatte er auf der unfreiwilligen Fahrt, über fast zwanzig Breitengrade vom Polarkreise aus, alle Qualen des Hungers gekostet.
Der Kapitän hob die vom Froste unversehrt erhaltnen Haare des Leichnams in die Höhe. Er richtete dessen Kopf auf und suchte das Auge zwischen den zusammengefrorenen Lidrändern zu sehen. Plötzlich rief er mit einem herzzerreißenden Seufzer:
»Patterson! . . . Patterson!«
»Patterson?« entfuhr es auch mir.
Ich glaubte, daß dieser Name, trotz seines häufigen Vorkommens, sich meinem Gedächtnis besonders eingeprägt habe . . . Wo hatte ich ihn doch nennen hören oder hatte ich ihn nicht irgendwo gelesen? . . .
Still stehen bleibend, ließ der Kapitän die Blicke über den Horizont schweifen, als wolle er Befehl geben, das Schiff nach Süden umzulegen.
Da griff der Hochbootsmann auf einen Wink Jem West's in die Taschen des Todten, worauf er ein Messer, ein Stück Kabelgarn, einen leeren Tabaksbeutel und schließlich ein ledernes Notizbuch mit metallenem Schreibstifte hervorzog.
Der Kapitän Len Guy drehte sich um und sagte, als Hurliguerly das Notizbuch eben Jem West aushändigen wollte:
Einige Seiten darin waren mit Schriftzügen bedeckt, die von der Feuchtigkeit fast ganz verwischt waren. Auf der letzten Seite aber befanden sich noch einige lesbare Worte, und der Leser wird sich meine tiefe Erregung vorstellen können, als ich diese vom Kapitän mit zitternder Stimme vorlesen hörte.
»Die ›Jane‹ – lauteten sie – unter dreiundachtzig . . . da . . . seit elf Jahren . . . Kapitän . . . fünf Matrosen noch am Leben . . . Eilt, ihnen Hilfe zu bringen! . . .«
Und unter diesen Zeilen ein Name . . . eine Unterschrift . . . Der Name Patterson . . .
Patterson! . . . jetzt entsann ich mich . . . Das war der zweite Officier der »Jane«, der Obersteuermann jener Goëlette, die Arthur Pym und Dirk Peters vom Wrack des »Grampus« aufgenommen hatte . . . der »Jane«, die bis zur Höhe der Insel Tsalal gekommen war, der »Jane«, die von den Insulanern überfallen und deren Trümmer durch die Explosion weithin verstreut wurden . . .
Das war also doch alles wahr? . . . Edgar Poë hatte als Geschichtsschreiber, nicht als Romandichter gearbeitet? Hatte das Tagebuch Arthur Gordon Pym's als Unterlage besessen . . . war zu ihm in unmittelbare Beziehung getreten? . . . Arthur Pym lebte also oder hatte vielmehr gelebt . . . er . . . ein wirkliches greifbares Wesen? . . . Und er war todt . . . einem plötzlichen beklagenswerthen Tode unter Umständen verfallen, die niemand kannte, da es ihm versagt blieb, den Bericht über seine außergewöhnliche Fahrt zu vollenden! . . . Wie weit hinauf mochte er nach der Flucht von der Insel Tsalal mit seinem Genossen gekommen . . . wie mochten beide nach ihrer amerikanischen Heimat zurückgelangt sein? . . .
Ich glaubte, der Kopf wollte mir zerspringen, ich müßte toll werden, ich, der den Kapitän Len Guy dessen beschuldigte! . . . Nein, ich hatte mich verhört, hatte falsch verstanden! Das war alles nur ein Hirngespinst von mir!
Und doch, wie hätte ich dieses Beweisstück, das eben am Körper des zweiten Officiers der »Jane« gefunden wurde, ableugnen können, die Angaben dieses Patterson, die sich auf so bestimmte Vorkommnisse und Zeiten stützten? Doch auch der letzte Zweifel mußte schwinden, als es Jem West, der jetzt ruhiger erschien, gelang, noch einzelne weitere Bruchstücke der Sätze zu enträthseln.
»Seit dem 3. Juni nach Norden von der Insel Tsalal abgetrieben! . . . Da . . . noch immer . . . Kapitän William Guy und fünf Leute von der ›Jane‹ . . . Meine Scholle treibt durch das Packeis . . . bald wird es mir an Nahrung fehlen . . .Seit dem 13. Juni . . . meine letzten Hilfsmittel erschöpft . . . Heute . . . 16. Juni . . . werd' ich wohl sterben . . .«
Schon drei Monate lang lag der Leichnam Patterson's also auf der Eisscholle, der wir auf der Fahrt von den Kerguelen nach Tristan d'Acunha begegneten. Ach, warum hatten wir den Obersteuermann von der »Jane« nicht lebend retten können! Er hätte uns aufgeklärt über das, was wir nicht wußten, was vielleicht nie jemand erfahren wird . . . aufgeklärt über das Geheimniß jenes entsetzlichen Abenteuers!
Jetzt mußt' ich mich wohl den Thatsachen fügen. Der Kapitän Len Guy, der Patterson kannte, hatte ihn in diesem gefrorenen Leichnam wiedergefunden. Er war es, der den Kapitän der »Jane« damals begleitete, als dieser auf den Kerguelen eine Flasche niederlegte, und darin befand sich der Brief mit den authentischen Angaben, an den zu glauben ich mich weigerte. Ja! Seit elf Jahren befanden sich die Ueberlebenden von der englischen Goëlette da unten . . . ohne Hoffnung, jemals erlöst zu werden!
Da trat mir in der Erregung des Augenblicks wieder die Uebereinstimmung der beiden Namen vor Augen, die mir mehr und mehr das Interesse erklärte, das unser Kapitän für alles, was die Angelegenheit Arthur Pym's betraf, an den Tag legte.
Len Guy wandte sich endlich nach mir um und fragte, mich scharf ansehend:
»Glauben Sie denn nun daran? . . .«
»Ja . . . freilich . . .« stammelte ich. »Doch der Kapitän William Guy von der ›Jane‹?«
»Und der Kapitän Len Guy von der ›Halbrane‹ sind Brüder!« antwortete er mit überlauter Stimme, so daß ihn die ganze Mannschaft hörte.
Als wir dann wieder nach der Stelle, wo die Eisscholle trieb, hinausblickten, hatte der doppelte Einfluß der Sonnenstrahlen und des ziemlich warmen Wassers seine Wirkung gethan – keine Spur davon war auf der Oberfläche des Meeres mehr übrig.