Jules Verne
Das Dampfhaus. Erster Band
Jules Verne

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Viertes Capitel.

Tief in den Höhlen von Ellora.

Es war vollkommen richtig. Der Maharatten-Fürst Dandou Pant, der Adoptivsohn Baji Rao's und Peïschwah von Pounah, mit einem Worte Nana Sahib – jener Zeit vielleicht der einzige Ueberlebende von den Führern im Aufstande der Sipahis, hatte aus seiner unzugänglichen Zufluchtsstätte in Nepal zu entkommen vermocht. Tapfer, kühn wie er war, gewöhnt, jeder Gefahr zu trotzen, gewandt im Irreführen seiner Verfolger, erfahren in der Kunst, seine Spuren zu verwischen, und schlau wie sonst Einer, hatte er sich bis in die Provinzen von Dekkan hinuntergewagt, getrieben von seinem noch immer glühenden Hasse, den die furchtbaren Repressalien nach der Erhebung von 1857 nur noch mehr geschürt hatten.

Ja, es war ein tödtlicher Haß, den Nana den Besitzern Indiens geschworen. Ihm als Erben Baji Rao's hatte die Compagnie nach des Letzteren, im Jahre 1851 erfolgten Tode abgeschlagen, die Pension von acht Lakhs Rupien (etwa einundzweidrittel Millionen Mark), auf die er ein Anrecht hatte, weiterzuzahlen. Hierin ist die eine Ursache dieses Hasses zu suchen, der sich in so schauerlichen Unthaten Luft machen sollte.

Doch, was hoffte Rana Sahib wohl jetzt?

Seit acht Jahren schon war die Erhebung der Sipahis vollkommen unterdrückt. Allmälich war die englische Regierung an Stelle der ehrenwerthen Compagnie getreten und hielt die ganze Halbinsel besser im Zügel als früher die Vereinigung von Kaufleuten. Von der Rebellion sah man keine Spuren mehr, nicht einmal in den Reihen der Natifs-Armee, die auf anderen Grundlagen völlig neu organisirt worden war. Glaubte Nana vielleicht Erfolg zu haben, wenn er einen nationalen Aufstand unter den niedrigsten Volksclassen Hindostans anzuschüren versuchte? Wir werden seine Absichten bald kennen lernen. Jedenfalls, und das wußte er auch selbst, war sein Erscheinen in der Provinz von Aurungabad angemeldet worden, der General-Gouverneur hatte den Vicekönig in Calcutta davon benachrichtigt und einen Preis auf seinen Kopf gesetzt. Es blieb ihm also nichts Anderes übrig, als auf der Stelle zu entfliehen und einen verborgenen Zufluchtsort aufzusuchen, der ihn vor den Nachstellungen der anglo-indischen Polizei sicherte.

Nana verlor auch keine Minute. Er kannte das Land vollkommen und beschloß, bis nach dem von Aurungabad fünfundzwanzig Meilen entfernten Ellora zu flüchten, wo er einen seiner Genossen zu finden hoffte.

Die Nacht war dunkel. Nachdem der falsche Fakir sich versichert, daß er nicht verfolgt werde, wandte er sich nach jenem, eine Strecke von der Stadt errichteten Mausoleum des Mohammedaners Sha-Sufi, eines Heiligen, dessen Reliquien in dem Rufe wunderthätiger Heilkräfte stehen. In dem Mausoleum schlief schon Alles, Priester sowohl wie Pilger, und Nana kam vorbei, ohne durch eine Frage belästigt zu werden.

Es lagerte jedoch keine so tiefe Finsternis über der Landschaft, daß jener ungeheure Granitblock, der vier Meilen weiter nördlich das uneinnehmbare Fort von Daoulutabad trägt und sich inmitten einer weiten Ebene gegen zweihundertvierzig Fuß hoch erhebt, den Blicken hätte verborgen bleiben können. Der Nabab erinnerte sich dabei, daß einer seiner Ahnen, ein Kaiser von Dekkan, einst beabsichtigte, die früher den Fuß des Forts umgebende geräumige Stadt zu seiner Residenz zu erheben. Wirklich wäre das eine unbezwingliche Stellung, ein geeigneter Mittelpunkt für eine insurrectionelle Bewegung in diesem Theile Indiens gewesen. Der Nabab wandte aber den Kopf weg und hatte nur einen Blick voll Haß für die jetzt in den Händen seiner Todfeinde befindliche Veste.

Nach der Ebene hier kam eine mehr hügelige Gegend, mit den ersten Bodenwellen, die nach und nach zu Bergen anwachsen sollten. Nana, ein Mann im kräftigsten Alter, verlangsamte nicht im mindesten seine Schritte, als er die steilen Abhänge hinaufstieg. Er wollte in dieser Nacht fünfundzwanzig Meilen, d. h. die Entfernung zurücklegen, welche Ellora von Aurungabad trennt. Dort hoffte er in voller Sicherheit rasten zu können. Er hielt sich also nirgends auf, weder in einer Karawanserei, wie sie für Jeden, der des Weges daher kommt, offen stehen, noch in einem halbverfallenen Bungalow, wo er, schon in entlegenerem Theile des Gebirges, einige Stunden hätte schlummern können.

Mit Sonnenaufgang eilte der Flüchtling um das Dorf Raupah herum, welches das einfache Grab des größten der mongolischen Kaiser, Aureng Zeb's, enthält. Dann gelangte er nach jener berühmten Höhlengruppe, die ihren Namen von dem benachbarten Dorfe Ellora entlehnt hat.

Der Hügel, aus welchem man jene Höhlen herausgearbeitet hat, zeigt etwa die Gestalt der Halbmondes. Die wunderbaren Bauwerke desselben bilden vier Tempel, vierundzwanzig buddhistische Klöster und einige minder beträchtliche Grotten. Der Basaltbruch ist von der Hand des Menschen umfänglich ausgenutzt worden. Die Hindubaumeister entnahmen aus demselben das Gestein während der ersten Jahrhunderte der christlichen Aera aber nicht zur Errichtung der auf der ungeheuren Halbinsel da und dort verstreuten Meisterwerke der Baukunst, nein, dasselbe wurde nur gebrochen, um in der Felsenmasse selbst Hohlräume zu gewinnen, und diese Räume sind je nach ihrer Bestimmung »Chaityas« oder »Viharas« geworden.

Der außerordentlichste jener Tempel ist der sogenannte Kaïlasa. Man stelle sich einen Steinblock von hundertzwanzig Fuß Höhe und sechshundert Fuß Umfang vor. Diese Masse hat man mit unglaublicher Kühnheit aus dem Berge selbst ausgeschnitten, inmitten eines dreihundertsechzig Fuß langen und hundertsechsundachtzig Fuß breiten Hofes isolirt – ein Hof, den man mittelst Werkzeuge dem Basaltberge abgewann. Nach Herstellung dieses Einzelblocks haben die Baumeister ihn bearbeitet, wie der Bildschnitzer ein Stück Elfenbein. Aeußerlich formten sie aus demselben Säulen, meißelten kleine Pyramiden und runde Kuppeln, ließen dabei genug Steinmassen für die Herstellung von Basreliefs stehen, von denen überlebensgroße Elephanten das ganze Gebäude zu tragen scheinen; im Innern arbeiteten sie einen geräumigen Saal mit Kapellen an den Seiten aus, dessen Wölbung auf vielen, von der Felsenmasse ausgesparten Säulen ruht. Sie stellten aus diesem Monolithen mit einem Worte einen Tempel her, der im eigentlichen Sinne des Wortes nicht »gebaut« wurde, einen in der ganzen Welt einzig dastehenden Tempel, der sich kühn mit den wunderbarsten Bauwerken Indiens messen kann und selbst den Vergleich mit den Hypogeen des alten Egyptens aushält.

Schon sieht man, daß der Zahn der Zeit an diesem jetzt fast gänzlich verlassenen Tempel genagt. Er zerfällt an einzelnen Theilen. Seine Basreliefs verwittern, wie die Felsenwand, aus der sie geschaffen wurden. Er hat vielleicht noch tausend Jahre Leben zu erwarten. Was aber das erste Kindesalter der Werke der Natur zu nennen ist, das ist bei Menschenwerken schon das der Hinfälligkeit. Im linken unteren Theile waren mehrere breite Sprünge entstanden, und durch eine dieser Öffnungen, die der Rücken eines Elephanten zur Hälfte verdeckte, glitt Nana Sahib hinein, ohne daß ihn Jemand wahrnahm.

Der Sprung führte im Inneren nach einem langen engen Gange, der quer unter dem Grunde hinlief, und sich unter der »Cella« des Tempels tiefer hinabwendete. Hier erweiterte er sich zu einer Art Krypte, oder richtiger zu einer, jetzt übrigens trockenen Cisterne, in der sich sonst Regenwasser ansammelte.

Als Nana in den Gang gelangt war, ließ er einen gewissen Pfiff ertönen, dem ein ganz ähnliches Pfeifen antwortete. Es war das kein Echo. In der Dunkelheit glänzte ein einzelnes Licht auf.

Gleichzeitig erschien ein Hindu mit einer kleinen Laterne in der Hand.

»Kein Licht!« rief Nana.

»Bist Du es, Dandou Pant?«

»Ja, Bruder!«

»Nun, und . . .?«

»Erst schaffe mir zu essen,« antwortete Nana, »wir plaudern später. Doch zum Reden wie zum Essen brauche ich keine Beleuchtung. Fasse meine Hand und führe mich!«

Der Hindu ergriff Nana's Hand, leitete ihn nach dem Hintergrunde der Höhle und half ihm, sich auf einem Lager von trockenen Gräsern auszustrecken, das er eben verlassen hatte. Das Pfeifen des Fakirs mochte seinen letzten Schlummer unterbrochen haben.

Dieser Mann, der es offenbar sehr gewöhnt war, sich im Finstern zu bewegen, hatte bald etwas Mundvorrath an Brot nebst einer Art Pastete von »Mourghis« mit dem in Indien so gewöhnlichen Hühnerfleisch, nebst einer Kürbisflasche, die eine halbe Pinte jenes starken, unter dem Namen »Arak« bekannten Getränkes enthielt, gefunden, das man durch Destillation des Saftes der Cocospalme gewinnt.

Nana aß und trank, ohne ein Wort zu reden. Er starb vor Hunger und Erschöpfung. Seine ganze Lebenskraft lag jetzt in den Augen, die im Dunklen wie die des Tigers leuchteten.

Regungslos harrte der Hindu, bis es dem Nabab belieben würde, zu sprechen.

Dieser Mann war Balao Rao, der eigene Bruder Nana Sahib's.

Balao Rao, um kaum ein Jahr älter als Dandou Pant, glich diesem körperlich bis zum Verwechseln. Moralisch war er der ganze Nana Sahib, mit demselben Hasse gegen die Engländer, derselben Arglist seiner Anschläge, derselben Wildheit in der Ausführung, eine Seele in zwei Leibern. Während des ganzen Aufstandes waren die Beiden unzertrennlich gewesen; nach dessen Niederwerfung hatte dasselbe Lager an der Grenze von Nepal ihnen Zuflucht gewährt. Jetzt verband sie der nämliche Gedanke, den Kampf wieder aufzunehmen, zu dem sie gleichmäßig bereit waren.

Als Nana sich durch die hastig verzehrte Mahlzeit erquickt und wieder Kräfte gesammelt hatte, blieb er noch eine Zeitlang mit auf die Hand gestütztem Kopf sitzen. In der Meinung, daß er einige Stunden werde der Ruhe pflegen wollen, verhielt sich Balao Rao noch immer schweigend.

Da erhob Dandou Pant das Haupt, ergriff des Bruders Hand und begann mit dumpfer Stimme:

»Mein Erscheinen in der Präsidentschaft Bombay ist dorthin gemeldet worden. Der Gouverneur der Präsidentschaft hat einen Preis auf meinen Kopf gesetzt. Zweitausend Pfund sind Demjenigen zugesichert, der Nana Sahib der Behörde ausliefert!«

»Dandou Pant!« rief Balao Rao, »Dein Kopf ist mehr werth! Das wäre ja kaum ein Preis für den meinigen, und vor Ablauf dreier Monate würden sie sich glücklich schätzen, Beide für zwanzigtausend Pfund in ihrer Gewalt zu haben.«

»Ja wohl,« antwortete Nana, »in drei Monaten, am 23. Juni, ist der Jahrestag jener Schlacht von Plassey, deren hundertster Jahrestag, im Jahre 1857, das Ende der englischen Zwingherrschaft und die Befreiung der Kinder der Sonne erblicken sollte!«

»Was 1857 nicht glückte, Dandou Pant, kann und muß zehn Jahre später glücken. In den Jahren 1827, 1837 und 1847 gab es Aufstände in Indien. Aller zehn Jahre erfaßt die Hindus das Fieber der Rebellion! Wohlan, dieses Jahr sollen sie sich durch ein Bad in Strömen europäischen Blutes heilen!«

»Brahma sei mit uns,« murmelte Nana, »und dann, Verderben für Verderben! Wehe den Führern der königlichen Armee, die nicht den Streichen unserer Sipahis erlagen! Lawrence ist todt, Barnard ist todt, Napier ist todt, Hobso sowie Havelock! Einige leben aber noch, wie Campbell, Rose und Andere, unter ihnen der, den ich vor Allen hasse, Oberst Munro, der Abkömmling jenes Henkers, welcher zuerst Hindus vor den Schlund der Kanonen binden ließ, der Mann, von dessen eigener Hand meine Gefährtin, die Rani von Jansi, den Tod erlitt! Wenn er in meine Hand fällt, mag er sehen, ob ich die Schandthaten des Oberst Neil, die Metzeleien des Sekander Bogh, die Verwüstungen des Palastes der Begum, der von Bareilli, Jansi, Morar, der Insel Hidaspe und von Delhi vergessen habe! Ob ich es vergessen, daß er mir den Tod geschworen hat, wie ich ihm!«

»Ist er nicht aus der Armee getreten?« fragte Balao Rao.

»O, bei der ersten Bewegung wird er wieder Dienste nehmen,« versicherte Nana Sahib. »Doch wenn der Aufstand fehlschlägt, ihn werde ich erdolchen, und wäre es in seinem Bungalow in Calcutta!«

»Gut, aber jetzt? . . .«

»Jetzt gilt es, das begonnene Werk weiter zu führen. Diesmal muß die Erhebung eine nationale werden! Die Hindus der Städte und der Dörfer mögen sich nur erheben, bald werden die Sipahis mit ihnen gemeinschaftliche Sache machen. Ich habe den mittleren und nördlichen Theil von Dekkan durchstreift; überall fand ich die Geister reif zur Empörung. In allen Städten, allen Flecken warten unsere Führer darauf, zu handeln. Die Brahmanen werden die Menge fanatisiren. Die Religion wird diesmal die Anhänger Shiva's und Wischnu's mit fortreißen. Zur bestimmten Zeit und auf ein gegebenes Zeichen werden Millionen von Hindus aufstehen und die königlichen Heere vernichtet sein!«

»Und Dandou Pant? . . .« fragte Balao Rao, die Hand des Bruders ergreifend.

»Dandou Pant,« erwiderte Nana, »wird nicht allein als Paischwah auf dem Castell von Bilhur gekrönt, sondern der Herrscher über das heilige Land von Indien werden!«

Nach diesen Worten verfiel Nana Sahib, die Arme kreuzend und mit dem unbestimmten Ausdruck des Blickes Derjenigen, die weniger auf die Vergangenheit oder Gegenwart als in die Zukunft schauen, in stilles Sinnen . . .

Balao Rao hütete sich wohl, ihn zu stören. Es gefiel ihm, diese wilde Seele sich an sich selbst entflammen zu lassen, im Nothfall war er ja bei der Hand, das in Jenem schlummernde Feuer zu schüren. Nana Sahib konnte einen inniger an seine Person geknüpften Genossen gar nicht finden, keinen eifrigeren Rathgeber, der ihn seinem Ziel entgegen trieb. Er war wie gesagt sein zweites Ich.

Nach wenigen Minuten des Schweigens erhob er seinen Kopf wieder.

»Wo sind unsere Leute?« fragte er.

»In den Höhlen von Adjuntah, wo sie uns verabredetermaßen erwarten sollten.«

»Und unsere Pferde?«

»Die habe ich in Büchsenschußweite von hier auf der Straße von Ellora nach Boregami zurückgelassen.«

»Wohl unter Obhut Kâlagani's?«

»Ja, Bruder. Sie sind gut bewacht, durch Futter und Ruhe gestärkt, und erwarten nur uns noch, um aufzubrechen.«

»Also vorwärts,« mahnte Nana. »Wir müssen vor Tagesanbruch in Adjuntah sein.«

»Und wohin wenden wir uns von da aus?« fragte Balao Rao. »Hat diese übereilte Flucht Deine Pläne nicht gestört?«

»Nicht im mindesten,« antwortete Nana Sahib. »Wir werfen uns in die Sautpourra-Berge, in denen ich alle Schliche und Wege kenne und alle Nachstellungen der englischen Polizei zu vereiteln vermag. Dort befinden wir uns übrigens in dem Gebiete der Bilhs und Gounds, die unserer Sache stets treu geblieben sind. Da, in der Gebirgsregion der Bindhyas, wo der Zündstoff der Empörung immer aufzuflammen bereit ist, kann ich den günstigen Augenblick abpassen.«

»Vorwärts denn,« mahnte Balao Rao; »o, sie haben Dem zweitausend Pfund versprochen, der Dich finge! Doch es ist nicht genug, einen Preis auf Deinen Kopf zu setzen, man muß ihn auch haben!«

»Es wird ihn Keiner bekommen,« antwortete Nana Sahib. »Komm schnell, Bruder, keinen Augenblick verloren, komm!«

Sicheren Schrittes ging Balao Rao durch den engen Gang hin, der zu diesem dunklen Zufluchtsorte unter dem Grunde des Tempels führte. An dem, von dem Rücken des Elephanten verdeckten Ausgange angelangt, steckte er vorsichtig nur den Kopf heraus, blickte im Dunklen rechts und links umher, überzeugte sich, daß die nächsten Umgebungen verlassen waren, und wagte sich dann erst nach außen. Um ganz sicher zu gehen, lief er etwa zwanzig Schritte auf der in der verlängerten Achse des Tempels liegenden Straße hin; da er auch hier nichts Verdächtiges wahrnahm, meldete er Nana, durch einen Pfiff, daß der Weg frei sei.

Bald darauf verließen die beiden Brüder das künstliche, eine halbe Meile lange Thal, das vollständig von Galerien, Gewölben und Höhlungen erfüllt ist, die sich manchmal zu beträchtlicher Höhe erheben. Sie vermieden das mohammedanische Mausoleum zu berühren, das als Bungalow dient für Pilger und Neugierige aller Nationen, welche die Wunderwerke Elloras herbeiziehen; endlich, nachdem sie noch um das Dorf Raupah herumgeschlichen, befanden sie sich auf der Straße, die Adjuntah und Boregami verbindet.

Die Entfernung zwischen Ellora und Adjuntah beträgt gegen fünfzig Meilen (etwa 80 Kilometer); jetzt lagen indeß die Verhältnisse anders, als da Nana zu Fuß und ohne jedes Transportmittel aus Aurungabad entwich. Wie Balao Rao gesagt, erwarteten ihn drei Pferde auf der Landstraße, die der Hindu Kâlagani, ein treuer Diener Dandou Pant's, bewachte. Eine Meile vom Dorfe standen diese Pferde in einem dichten Gebüsch versteckt. Das eine war für Nana, das zweite für Balao Rao, das dritte für Kâlagani bestimmt, und bald galoppirten alle Drei in der Richtung auf Adjuntah fort. Es würde übrigens Niemand erstaunt gewesen sein, einen Fakir beritten zu erblicken, denn diese unverschämten Bettler sprechen nicht selten vom Pferde herab um Almosen an.

Zu dieser für Pilgerfahrten minder günstigen Jahreszeit war die Straße sehr wenig belebt. Nana und seine beiden Gefährten eilten also rasch vorwärts, ohne etwas zu fürchten zu haben, das sie belästigen oder aufhalten könnte. Sie nahmen sich nur Zeit, ihre Thiere etwas verschnaufen zu lassen, und während dieser kurzen Aufenthalte sprachen sie dem Mundvorrath zu, den Kâlagani in seiner Satteltasche mitführte. Auf diese Weise gingen sie den belebteren Theilen der Provinz, den Bungalows und Dörfern aus dem Wege, unter anderen dem Flecken Roja, einem traurigen Haufen schwarzer Häuser, welche die Zeit wie die düsteren Wohnungen von Cornwallis eingeräuchert hat, und Pulwary, einem kleinen, in den Anpflanzungen einer schon halb wilden Gegend verlorenen Orte.

Das Land war hier gleichmäßig eben. Nach allen Seiten hin erstreckten sich Haidekrautfelder, da und dort von dichten Dschungeln durchsetzt. Mit der Annäherung an Adjuntah wurde die Gegend jedoch hügeliger.

Die prächtigen Grotten, welche diesen Namen führen, ebenbürtige Rivalen der Wunderhöhlen von Ellora und im Ganzen vielleicht schöner als diese, nahmen den unteren Theil eines kleinen Thales, etwa eine halbe Meile von der Stadt ein.

Nana Sahib brauchte also nicht durch Adjuntah zu gehen, wo die Bekanntmachung des Gouverneurs gewiß schon veröffentlicht war, und folglich auch nicht zu fürchten, erkannt zu werden.

Nach fünfzehnstündigem Ritte von Ellora aus betrat er mit seinen zwei Begleitern einen Engpaß, der nach dem berühmten Thale führte, dessen siebenundzwanzig, gleich aus dem Felsberg gemeißelte Tempel sich über schwindelnde Abgründe erheben.

Die Nacht war herrlich, der Himmel voller flimmernder Sterne, aber mondlos. Verschiedene hohe Bäume, Banianen (indische Feigen) und einige jener »Bars«, welche zu den Riesen der indischen Flora zählen, hoben sich in dunklen Umrissen von dem sternbedeckten Hintergrunde des Himmels ab. Kein Lufthauch durchzitterte die Atmosphäre, kein Blättchen regte sich und kein Geräusch ließ sich vernehmen, außer dem dumpfen Murmeln eines Bergstromes, der in der Entfernung von einigen hundert Fuß in der Tiefe des Hohlweges hinlief. Dieses Murmeln nahm aber nach und nach zu und wurde zum wirklichen Brausen, als die Rosse den Wasserfall von Sakkhound erreicht hatten, der aus einer Höhe von fünfzig Toisen herabstürzt und sich an den Vorsprüngen der Quarz- und Basaltfelsen bricht. In dem Engpasse wogte ein feuchter Nebel hin, der die sieben Regenbogenfarben gezeigt hätte, wenn der Mond in dieser herrlichen Frühlingsnacht über den Horizont gekommen wäre.

Nana Sahib, Balao Rao und Kâlagani waren am Ziele. Nach einer scharfen Wendung des Engpasses, der hier einen spitzen Winkel bildet, lag vor ihnen das durch die Meisterwerke buddhistischer Bauwerke geschmückte Thal. An den Mauern jener Tempel, welche mit Säulen, Rosetten, Arabesken und Verandas reich verziert, durch Kolossalfiguren phantastischer Thiergestalten belebt und von dunklen Zellen durchbrochen sind, in denen früher die Priester als Wächter der geheiligten Räume wohnten, kann der Künstler noch heute einzelne Fresken bewundern, die noch ganz wie frisch gemalt erscheinen und königliche Ceremonien, religiöse Aufzüge und Schlachten, oder alle Waffen jener Periode darstellen, wie sie in dem reichen Indien während der ersten Zeit der christlichen Zeitrechnung gebräuchlich waren.

Nana Sahib kannte alle Geheimnisse dieser mysteriösen Hypogeen. Mehr als einmal hatte er sich mit seinen Gefährten, wenn ihm die königlichen Truppen zu dicht auf der Ferse waren, während der Unglückstage des Aufstandes dahin geflüchtet. Die unterirdischen Gänge, welche jene verbanden, die engen, aus der Quarzmasse des Berges gehauenen Tunnels, die winkeligen Wege, welche sich in allen Richtungen kreuzten, die tausend Verzweigungen dieses Labyrinths, deren Entwirrung auch die Geduldigsten ermüden mußte – er war mit Allem vertraut. Er konnte sich darin nicht verirren, selbst wenn keine Fackel die dunkle Tiefe erleuchtete.

Nana ging trotz der schwarzen Nacht mit voller Sicherheit gerade auf eine der minder bedeutenden Höhlen der Gruppe zu. Den Eingang zu derselben verdeckte ein Vorhang von dichtem Gezweig und ein Haufen großer Steine, den früher eine Erderschütterung hierhergeworfen zu haben schien zwischen das Gesträuch des Bodens und die in Stein gehauenen Pflanzenformen des Felsens.

Ein leises Scharren mit dem Fingernagel an der Wand genügte, um die Gegenwart des Nabab an der Oeffnung der Höhle anzumelden.

Einige Hinduköpfe erschienen sofort zwischen den Zweigen, dann zehn, später zwanzig andere und bald bildeten die Leute, welche schlangengleich durch und über das Gestein krochen, eine Truppe von etwa vierzig wohlbewaffneten Männern.

»Vorwärts!« befahl Nana Sahib.

Ohne eine Erklärung zu verlangen und ohne zu wissen, wohin er sie führte, folgten die treuen Kampfgenossen dem Nabab, bereit, jeden Augenblick für ihn in den Tod zu gehen. Sie waren zwar zu Fuß, ihre Beine schienen jedoch an Schnelligkeit mit denen der Pferde wetteifern zu können.

Die kleine Truppe wandte sich der schmalen Straße zu, die neben dem Thale hinlief, folgte derselben nach Norden und überstieg den Kamm der Berge. Eine Stunde später hatten sie die Straße von Kandeisch erreicht, die sich in den Schluchten der Sautpourra-Berge verliert.

Die nach Nagpore führende Zweigstrecke der Eisenbahn von Bombay nach Allahabad und die Hauptstrecke selbst, die nach Nordosten verläuft, wurden mit Tagesanbruch überschritten.

Eben sauste der Zug von Calcutta in größter Schnelligkeit dahin, entsandte weiße Dampfwirbel in die prächtigen Banianen der Straße und erschreckte durch sein Gerassel die wilden Thiere in den Dschungeln.

Der Nabab hatte sein Pferd angehalten und rief mit lauter Stimme, die Hand gegen den davoneilenden Zug ausstreckend:

»Geh' und sage dem Vicekönig von Indien, daß Nana Sahib noch immer unter den Lebenden wandelt, und daß er diese Bahn, das verfluchte Werk ihrer Hand, noch mit dem Blute der Eroberer überschwemmen wird!«

 


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