Jules Verne
Das Dampfhaus. Erster Band
Jules Verne

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Erstes Capitel.

Ein Preis auf einen Kopf.

»Zweitausend Pfund Sterling Belohnung werden hiermit Demjenigen zugesichert, der, todt oder lebendig, einen der früheren Führer bei dem Aufruhre der Sipahis einliefert, welcher sich derzeit in der Präsidentschaft Bombay aufhalten soll, nämlich den Nabab Tandu Pant, bekannter unter dem Namen . . .«

So lautete eine amtliche Bekanntmachung, die am 6. März 1876 gegen Abend in Aurungabad durch öffentlichen Anschlag verbreitet worden war.

Das letzte Wort, ein berüchtigter Name, den die Einen ebenso tief verwünschten, wie ihn Andere heimlich bewunderten, fehlte an dem Placate, das man vor nur kurzer Zeit an der Mauer eines verfallenen Bungalow am Ufer der Doudhma angeheftet hatte.

Jener Name fehlte aber, weil der untere Theil des Placats, auf dem er mit fetten Lettern gedruckt stand, von der Hand eines Fakirs, den Niemand an dem eben menschenleeren Flußufer bemerkt, abgerissen worden war. Gleichzeitig mit obigem Namen war auch der des General-Gouverneurs der Präsidentschaft Bombay, die Contrasignatur der Unterschrift des Vicekönigs von Indien verschwunden.

Was mochte wohl der Beweggrund jenes Fakirs sein? Hoffte er vielleicht, daß der Empörer von 1857 durch die Zerreißung der Bekanntmachung der gerichtlichen Verfolgung und der ihm drohenden Verurtheilung entgehen könne? Durfte er glauben, daß eine so berüchtigte Persönlichkeit mit den verstreuten Fetzen jenes Papierstückes unauffindbar werden könne?

Das wäre thöricht gewesen.

An den Wänden der Häuser, Paläste, Moscheen und Hôtels von Aurungabad fanden sich ja die gleichen Placate in Menge. Außerdem wanderte ein öffentlicher Ausrufer durch die Straßen der Stadt, der die Bekanntmachung des Statthalters mit lauter Stimme vorlas. Die Bewohner der geringsten Flecken der Provinz wußten es schon, daß ein wirkliches Vermögen für die Einlieferung Dandu Pant's versprochen war. Vor Ablauf von zwölf Stunden mußte sein vergeblich vernichteter Name durch die ganze Provinz in aller Leute Munde sein. Waren die Nachrichten zutreffend, hatte der Nabab wirklich in diesem Theile Hindostans Zuflucht gesucht, so fiel er doch ohne Zweifel über lang oder kurz irgend welchen Leuten in die Hände, da ja Alle an seiner Ergreifung ein erklärliches Interesse hatten.

Welchem Gefühle gehorchte also jener Fakir, als er das eine Exemplar der schon tausendfach verbreiteten Bekanntmachung zerriß?

Wahrscheinlich dem des Zornes, vielleicht auch dem einer inneren Verachtung, denn er zuckte dabei mit den Achseln und begab sich nacher sorglos in das volkreichste und ärmlichste Quartier der Stadt.

Man nennt »Dekkan« den größeren Theil der ostindischen Halbinsel zwischen den westlichen und östlichen Ghats. Gewöhnlich bezeichnet man damit auch die ganze Südhälfte Indiens, diesseits des Ganges. Dekkan, dessen Name im Sanskrit »Süden« bedeutet, umfaßt mehrere Provinzen der Präsidentschaften Madras und Bombay. Eine der wichtigsten darunter ist die Provinz Aurungabad, deren Hauptstadt ehemals als die von ganz Dekkan galt.

Im 17. Jahrhundert verlegte der berühmte Mongolenkaiser Aureng-Zeb seine Hofhaltung nach jener Stadt, die schon in der ältesten Geschichte Hindostans unter dem Namen Kirkhi vorkam. Sie zählte damals wohl hunderttausend Einwohner, gegen fünfzigtausend heutzutage unter der Herrschaft der Engländer, welche dieselbe für den Nizam von Haiderabad verwalten. Sie ist jedoch eine der gesündesten Städte der Halbinsel und bisher von der furchtbaren asiatischen Cholera, wie von den in Indien so verheerend auftretenden Fiebern verschont geblieben.

Aurungabad birgt noch ehrwürdige Reste seines früheren Glanzes. Der am rechten Ufer der Doudhma errichtete Palast des Großmoguls, das Mausoleum der Favoritsultanin Schah Jahan's, des Vaters Aureng-Zeb's, die nach dem Muster des schönen Tadsch in Agra erbaute Moschee, welche ihre vier Minarets um eine schlanke Kuppel erheben, und noch andere, architektonisch künstlerische, reich verzierte Monumente bezeugen die Macht und Herrlichkeit des berühmtesten Eroberers von Hindostan, der dieses Reich, dem er noch Kabul und Assam hinzufügte, zu einem unvergleichlichen Grade von Gedeihen erhob.

Trotz der, wie erwähnt, beträchtlichen Verminderung der Bewohnerzahl Aurungabads konnte sich ein Einzelner doch noch leicht genug unter dessen bunt gemischter Bevölkerung verbergen. Der Fakir, mochte es nun ein wirklicher oder falscher sein, fiel unter jener an Typen reichen Menge in keiner Weise auf. Seine Genossen überschwemmen ja ganz Indien. Sie bilden im Verein mit den »Sayeds« einen religiösen Bettelorden, sprechen, zu Pferd oder zu Fuße, um Almosen an und wissen ein solches zu erzwingen, wenn man es nicht gutwillig darreicht. Sie spielen wohl auch die Rolle freiwilliger Märtyrer und genießen ein hohes Ansehen bei den niederen Classen der Hindus.

Der Fakir, von dem hier die Rede ist, war ein Mann von hohem Wuchse, denn er maß über fünf Fuß neun Zoll englisch. Die Vierzig hatte er kaum mit ein bis zwei Jahren überschritten. Seine Erscheinung erinnerte, vorzüglich durch den Glanz der schwarzen, immer aufmerksamen Augen, an den schönen Maharatten-Typus, doch hätte man die sonst so feinen Züge seiner Race in Folge der tausend Pockengruben auf seinen Wangen an ihm nur schwierig wieder erkannt. Der noch im kräftigsten Alter stehende Mann schien sehr gewandt und stark zu sein. Als besonderes Kennzeichen fehlte ihm ein Finger der linken Hand. Das Haupthaar trug er röthlich gefärbt und ging halb nackt, ohne Fußbekleidung, kaum bedeckt mit einem schlechten, gestreiften Wollenhemd, das um den Leib zusammengehalten war. Auf seiner Brust sah man die Embleme des erhaltenden und des zerstörenden Princips der Hindu-Götterlehre, das Löwenhaupt der vierten Fleischwerdung Wischnu's, und die drei Augen nebst dem symbolischen Dreizack des wilden Siva.

Inzwischen herrschte eine tiefgreifende und leicht erklärliche Erregung in den Straßen Aurungabads, vorzüglich da, wo sich die kosmopolitische Bevölkerung der ärmeren Stadtheile zusammendrängte. Hier wimmelte es von Menschen vor den baufälligen Hütten, die ihnen als Wohnung dienten. Männer, Weiber, Kinder, Greise, Europäer und Eingeborne, Soldaten der königlichen und der einheimischen Regimenter, Bettler jeder Art, Landleute aus der Umgegend – Alles schwirrte, sprach und gesticulirte durcheinander, erläuterte die Bekanntmachung und erwog die Aussichten zur Gewinnung der ungeheueren, von der Regierung versprochenen Prämie. Selbst vor einem Lotterie-Rade, das einen gleich großen Hauptgewinn von zweitausend Pfund enthielt, hätte die Aufregung der Gemüther nicht größer sein können. In diesem Falle kommt ja noch hinzu, daß es in Jedes Hand gegeben war, ein glückliches Loos zu ziehen – dieses Loos war der Kopf Dandu Pant's. Freilich gehörte etwas Glück dazu, den Nabab erst aufzufinden, und dann etwas Muth, sich desselben zu bemächtigen.

Der Fakir – offenbar der Einzige, den die Gewinnung jener Prämie nicht am Herzen zu liegen schien – schlenderte zwischen den Gruppen umher, wobei er manchmal, auf deren Gespräche lauschend, stehen blieb, wie Einer, der sich erlauschte Worte zu nutze machen will. Nirgends mischte er sich in die Unterhaltung; doch wenn sein Mund auch stumm blieb, so feierten seine Augen und Ohren doch keineswegs.

»Zweitausend Pfund für die Auffindung des Nabab!« rief da der Eine, die Hände verlangend zum Himmel emporstreckend.

»Nicht für die Auffindung,« erwiderte ein Anderer, »sondern für dessen Festnahme, und das ist doch ein ganz ander' Ding!«

»Wahrlich, das ist nicht der Mann dazu, sich ohne hartnäckige Gegenwehr gefangen nehmen zu lassen.«

»Sagte man aber kürzlich nicht, er sei in den Dschungeln von Nepal dem Fieber erlegen?«

»Daran ist kein wahres Wort! Der schlaue Dandu Pant ließ sich nur für todt ausgeben, um desto ungestörter leben zu können.«

»Ja, es ging sogar das Gerücht, er sei inmitten seines Lagers an der Grenze beerdigt worden.«

»Eine falsche Todtenfeier, nur um Andere irre zu führen!«

Der Fakir hatte mit keiner Wimper gezuckt, als er das letzte mit so zweifelloser Sicherheit behaupten hörte. Seine Stirn legte sich jedoch unwillkürlich in Falten, als er einen Hindu – den lebhaftesten der ganzen Gruppe in seiner Nähe – folgende Einzelheiten erzählen hörte, die viel zu genau waren, um erfunden zu sein.

»Es steht fest,« begann der Hindu, »daß sich der Nabab im Jahre 1859 nebst seinem Bruder Balao Rao und dem Ex-Rajah von Gonda, Debi Bux Singh, nach einem Lager am Fuße der Gebirge von Nepal geflüchtet hatte. Dort, wo ihnen die englischen Truppen zu nahe an der Ferse saßen, beschlossen alle Drei, über die indo-chinesische Grenze zu treten. Bevor es dazu kam, ließen der Nabab und seine beiden Begleiter, um das entstandene Gerücht ihres Todes zu bekräftigen, ihre eigene Beerdigung in's Werk setzen; begraben wurde von ihnen dabei freilich nur ein Finger der linken Hand, den sie zur Zeit jener Ceremonie abschnitten.«

»Doch woher wißt Ihr das?« fragte einer der Zuhörer den mit so großer Sicherheit sprechenden Hindu.

»Ich war bei der Leichenfeierlichkeit selbst anwesend,« erwiderte derselbe. »Dandu Pant's Soldaten hatten mich gefangen, und erst sechs Monate später gelang es mir zu entfliehen.«

Während der Hindu auf so überzeugende Weise sprach, verlor der Fakir ihn nicht aus dem Blicke. In seinen Augen leuchtete ein Blitz auf. Seine verstümmelte Hand hielt er sorglich versteckt unter dem Wollengewebe, das seine Brüste verhüllte. Er horchte, ohne eine Wort zu sagen, aber seine Lippen zitterten und zeigten dabei eine Reihe spitzer Zähne.

»Ihr kennt also den Nabab von Person?« fragte man den ehemaligen Gefangenen Dandu Pant's.

»Gewiß,« versicherte der Hindu.

»Und würdet ihn auch wieder erkennen, wenn er Euch zufällig vor die Augen käme?«

»So gut wie mich selbst.«

»Nun, da habt Ihr ja einige Aussicht, die Belohnung von zweitausend Pfund zu erlangen!« rief einer der Umstehenden mit nur schlecht verhehltem Neide.

»Vielleicht . . .« meinte der Hindu, »wenn es sich bestätigt, daß der Nabab die Unklugheit begangen hätte, sich bis in die Präsidentschaft Bombay herunter zu wagen, was mir nicht besonders wahrscheinlich dünkt.«

»Was sollte er hier auch vorhaben?«

»Jedenfalls sucht er eine neue Empörung anzuzetteln,« erklärte Einer aus der Gruppe, »wenn nicht unter den Sipahis, so doch unter der Landbevölkerung des Inneren.«

»Wenn die Regierung behauptet, daß seine Anwesenheit in der Provinz gemeldet worden sei,« meinte ein Anderer aus der Kategorie jener Leute, welche überzeugt sind, daß eine Behörde sich niemals täuschen könne, »so wird die Regierung auch verläßliche Nachrichten darüber besitzen.«

»Mag sein!« warf der Hindu ein. »Brahma gebe, daß Dandu Pant mir in den Weg kommt und mein Glück ist gemacht!«

Der Fakir wich einige Schritte zurück, verlor aber des Nabab früheren Gefangenen nicht aus den Augen.

Schon ward es allmälich dunkel, doch das Leben und Treiben auf den Straßen von Aurungabad verminderte sich nicht. Der Gespräche bezüglich des Nabab wurden nur noch mehr. Hier sagte man, daß er in der Stadt selbst gesehen worden, dort, daß er schon wieder weit weg sei. Man behauptete auch, ein aus dem Norden abgesendeter Eilbote habe dem Statthalter die Anzeige von der Verhaftung Nandu Pant's überbracht. Um neun Uhr Abends wußten die Bestunterrichteten, er befinde sich schon im Gefängniß der Stadt, in Gesellschaft einiger Thugs, welche darin seit über dreißig Jahren schmachteten, und werde am nächsten Morgen mit Tagesanbruch auf dem Sipri-Platze ohne weitere Umstände gehenkt werden, wie seinerzeit Tantia Topi, sein berühmter Genosse im Aufstande. Um zehn Uhr schwirrten wieder ganz anders klingende Nachrichten umher. Es verbreitete sich das Gerücht, der Gefangene sei soeben entwichen, was die Hoffnung aller Derer auf's Neue belebte, welche der Preis von zweitausend Pfund reizte.

In der That waren alle diese verschiedenen Nachrichten falsch. Die am besten Unterrichteten wußten nicht mehr, als alle anderen weniger gut oder schlecht berichteten Leute. Der Kopf des Nabab behielt denselben Werth. Es galt noch, ihn zu bekommen.

Dadurch, daß er Dandu Pant persönlich kannte, hatte jener Hindu mehr Aussicht, den ausgesetzten Preis zu erlangen. Vorzüglich in der Präsidentschaft Bombay mochten nur wenig Leute Gelegenheit gehabt haben, mit dem gefürchteten Anführer in der großen Empörung zusammenzutreffen. Weiter im Norden und tiefer in den Central-Provinzen, in Sindh, Bundelkhund, Audh, in den Umgebungen von Agra, Delhi, Khanpur oder Laknau, auf dem Hauptschauplatz der unter seinem Befehle begangenen Greuelthaten, hätten sich wohl Alle in hellen Haufen erhoben und ihn an die englischen Gerichte ausgeliefert. Die Eltern, Gatten, Brüder, Kinder und Weiber seiner Opfer beweinten noch Die, welche er zu Hunderten hatte hinschlachten lassen. Auch zehn inzwischen verflossene Jahre reichten nicht hin, die vollberechtigte Empfindung von Rache und Haß zu verlöschen. Deshalb konnte man Dandu Pant nicht wohl die Unklugheit zutrauen, daß er sich in jene Gegenden gewagt hatte, wo Alle seinem Namen fluchten. Hatte er also, wie man sagte, die indochinesische Grenze wieder überschritten und trieb ihn irgend ein dunkler Beweggrund, ob die Anstiftung neuen Aufruhrs oder ein anderer, den unauffindbaren Schlupfwinkel zu verlassen, der für die englisch-indische Polizei noch immer ein Geheimniß blieb, so konnten es nur die Provinzen Dekkans sein, die ihm freies Feld und eine gewisse Sicherheit boten.

Wir sahen jedoch, daß der Statthalter von seinem Erscheinen in der Präsidentschaft Wind bekommen und sofort auf seinen Kopf einen Preis gesetzt hatte.

Immerhin ist hierzu die Bemerkung am Platze, daß die höheren Gesellschaftsklassen von Aurungabad, die Magistratsmitglieder, Officiere und Beamten, in die dem Statthalter zugegangenen Nachrichten doch leise Zweifel setzten. Das Gerücht, der unergreifbare Dandu Pant sei gesehen oder gar verhaftet worden, war schon zu häufig aufgetreten. Ueber ihn gingen so viele falsche Nachrichten, daß sich endlich eine Art Legende von seiner Allgegenwärtigkeit und seiner Schlauheit verbreitete, auch die gewandtesten Agenten der Polizei zu überlisten; die große Menge dagegen glaubte die Worte der Regierung.

Unter die Zahl der minder Ungläubigen gehörte natürlich auch der alte Gefangene des Nabab. Der arme Teufel von Hindu dachte, verwirrt durch seine Beutegier und gereizt von dem Drange nach personlicher Rache, nur daran, in's Feld zu rücken, und sah seinen Erfolg für so gut wie gesichert an. Sein Plan war sehr einfach. Am folgenden Tage wollte er dem Statthalter seine Dienste anbieten; nachdem er sich dann genau über Alles unterrichtet, was man von Dandu Pant wußte, d. h. worauf sich die in der Bekanntmachung mitgetheilten Nachrichten gründeten, gedachte er, nach dem Orte selbst zu gehen, von dem jene Meldung eingegangen war.

Gegen elf Uhr Abends wollte der Hindu, nachdem er so vielerlei Aussagen gehört, die im Kopfe durcheinander wirbelnd, ihn nur noch mehr in seinem Vorhaben bestärkten, endlich einige Ruhe suchen. Als Wohnung diente ihm nur eine am Doudhma-Ufer angelegte Barke, und träumend, mit halb geschlossenen Augen, wandte er die Schritte dahin.

Ohne sich dessen zu versehen, hatte der Fakir ihn nicht verlassen; ohne seine Aufmerksamkeit zu erregen, folgte dieser ihm möglichst im Schatten nach.

Am Ende jenes dichtbevölkerten Theiles von Aurungabad waren die Straßen um jene Stunde weniger belebt. Die Hauptverkehrsader mündete nach einem verödeten Terrain hinaus, dessen Rand eines der Ufer der Doudhma bildete. Es war eine Art Wüste dicht an der Stadt. Wenige verspätete Leute schritten noch gemächlich durch dieselbe den belebteren Straßen zu. Bald erstarb der Schall der letzten Schritte; der Hindu achtete indessen nicht darauf, daß er allein am Ufer des Stromes dahinging.

Der Fakir folgte ihm noch immer und suchte die dunkelsten Stellen des Weges auf, entweder unter dem Schutze der Bäume, oder indem er an den düsteren Mauern der da und dort verstreuten Ruinen von Häusern hinstrich.

Diese Vorsicht erschien nicht unnütz. Eben ging der Mond auf und verbreitete einen ungewissen Schimmer. Der Hindu hätte also sehen können, daß Jemand ihm nachspähte und ihn scharf verfolgte. Des Fakirs Schritte konnte er doch unmöglich vernehmen. Dieser glitt ja mit den bloßen Füßen mehr über den Boden, als daß er ging. Kein leises Geräusch verrieth seine Mitanwesenheit am Ufer der Doudhma.

So verstrichen fünf Minuten. Der Hindu strebte – sozusagen maschinenartig – der elenden Barke zu, in der er die Nacht zu verbringen pflegte; eine andere Erklärung gestattete die von ihm eingehaltene Richtung nicht. Er ging wie Einer, der es gewöhnt ist, allabendlich diese einsame Gegend zu durchwandern, ganz eingenommen von dem Gedanken an den Schritt, den er am nächsten Tage bei dem Statthalter thun wollte. Die Hoffnung, sich rächen zu können an dem Nabab, der mit seinen Gefangenen damals nicht eben glimpflich umging, und die heftige Begierde, jene Belohnung zu gewinnen, machten ihn gleichzeitig taub und blind.

Natürlich hatte er keine Ahnung von der Gefahr, die ihn in Folge seiner unklugen Aeußerungen bedrohte.

Er sah nicht, wie der Fakir sich ihm mehr und mehr näherte.

Aber plötzlich stürzte sich, gleich einem Tiger, ein Mann, mit einem Blitz in der Hand über ihn. Es war ein Mondstrahl, der auf der Klinge eines malayischen Dolches spielte.

In die Brust getroffen, sank der Hindu schwerfällig zur Erde.

Obwohl ein sicherer Arm den Stoß geführt hatte, war der Unglückliche doch nicht sofort getödtet. Mit einem Blutstrome quollen einige halb articulirte Worte aus seinem Munde.

Der Mörder beugte sich nieder, ergriff sein Opfer, hob es hoch auf und fragte, während er jetzt das volle Mondlicht auf sein Gesicht fallen ließ:

»Erkennst Du mich nun wieder?«

»Er ist's!« murmelte der Hindu.

Der entsetzliche Name des Fakirs war sein letztes Wort, als er an rascher Erstickung verendete.

Einen Augenblick darnach verschwand der Körper des Hindu in den Fluthen der Doudhma, die ihn nicht wieder hergeben sollten.

Der Fakir wartete, bis das Plätschern der Wellen sich legte. – Dann kehrte er um, durchschritt die verlassene Gegend, hierauf die Stadttheile, in denen es allgemach stiller wurde, und begab sich schnellen Schrittes nach einem der Thore der Stadt.

Eben dort angelangt, schlossen sich dessen Flügel. Einige Soldaten der königlichen Armee standen an demselben Wache. Der Fakir konnte, entgegen seiner Absicht, Aurungabad nicht verlassen.

»Und ich muß doch hinaus, noch diese Nacht . . . oder niemals!« murmelte er für sich hin.

Er wandte sich zurück, folgte dem Wege längs des Glacis und erkletterte, zweihundert Schritt weiter, die Böschung, um nach dem oberen Theile des Festungswalles zu gelangen.

Dieser ragte nach außen zu um fünfzig Fuß über die Sohle des davor ausgehobenen Grabens empor. Seine Bekleidung bildete eine lothrechte Mauer ohne jeden Vorsprung, der als Stütze hätte dienen können. Es erschien ganz unmöglich, an dieser Wandfläche etwa hinabzugleiten. Mittels eines Strickes ließ sich das Hinabsteigen wohl bewerkstelligen, des Fakirs Lendengürtel maß aber nur wenige Fuß, war also ungeeignet, damit den Boden zu erreichen.

Der Fakir stand einen Augenblick still, forschte mit den Augen rings umher und überlegte, was er nun beginnen sollte.

Auf der Bekrönung des Walles breitete sich da und dort ein dunkles Blätterdach aus, die Wipfel großer Bäume, welche Aurungabad wie ein lebender Rahmen umfassen. Die Baumkronen aber hatten lange, biegsame und zähe Aeste, die ja vielleicht dazu zu benutzen waren, den Grund des Wallgrabens, wenn auch mit großer Gefahr, zu erreichen.

Als dem Fakir dieser Gedanke kam, zögerte er nicht länger. Er verschwand unter einem solchen Blätterdache und erschien bald wieder außerhalb der Mauer, am unteren Drittel eines langen Zweiges hängend, der sich unter seiner Last allmälich senkte. Als derselbe sich soweit gebogen hatte, um den oberen Saum der Mauer zu streifen, glitt der Fakir langsam nach abwärts, so als ob er ein Seil mit Knoten hielte. Bis fast zur Hälfte der Eskarpe konnte er auf diese Weise wohl gelangen, noch immer trennten ihn aber gegen dreißig Fuß vom Erdboden, den er erreichen mußte, um entfliehen zu können.

Da hing er nun schwankend zwischen Himmel und Erde und suchte mit dem Fuß nach einem Einschnitt in der Mauer, um sich dagegen zu stemmen.

Plötzlich leuchteten mehrere Blitze durch das Dunkel. Einige Schüsse krachten. Der Flüchtling war von den Wachposten bemerkt worden. Diese gaben Feuer, doch ohne ihn zu treffen. Dagegen schlug zwei Zoll über seinem Kopfe eine Kugel durch den Zweig, der ihn hielt.

Zwanzig Secunden später riß der Zweig, und der Fakir fiel in den Wallgraben . . . Ein Anderer hätte dabei den Tod gefunden, er blieb heil und gesund.

Aufzuspringen, die gegenüber liegende Böschung unter einem Hagel von Kugeln, die ihn alle fehlten, zu erklimmen und in dem Dunkel der Nacht zu verschwinden, das war für den Fliehenden nur ein Spiel.

Zwei Meilen von hier aus eilte er, ohne bemerkt zu werden, am Cantonnement der englischen Truppen vorüber, welche außerhalb Aurungabads lagerten.

Zweihundert Schritte davon hielt er inne, drehte sich um und erhob die verstümmelte Hand drohend gegen die Stadt mit den Worten:

»Weh' Denen, die noch in Nandu Pant's Hände fallen! Engländer, Ihr seid mit Nana Sahib noch nicht zu Ende!«

Nana Sahib! diesen Kriegsnamen, den gefürchtetsten von allen, blutigen Andenkens aus dem großen Aufstande von 1857, rief der Nabab noch einmal wie eine letzte Herausforderung den Eroberern Indiens zu.

 


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