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Wer ist der Reisende, den man auf allen schiff- oder fahrbaren Hauptstraßen, auf den Kanälen und Flüssen des himmlischen Reiches in ständiger Bewegung sieht? Er wandert, wandert in einem fort, ohne am Abend zu wissen, wo er am Morgen weilen wird. Er durchreist Städte, ohne sie zu sehen, steigt in Gasthöfen oder Herbergen bloß ab, um ein paar Stunden zu schlafen, betritt Wirtschaften, um dort rasch ein paar Bissen zu essen. Geld sitzt ihm gar locker in der Hand: er verschwendet es, wirft damit um sich, bloß um rascher, immer rascher vorwärts zu kommen.
Kein Handelsherr ist's, der sich mit Geschäften befaßt, kein Mandarin, den sein Minister mit einer wichtigen, dringlichen Mission betraut hat, kein Künstler auf der Suche nach Naturschönheiten, kein Gelehrter, kein Weiser, den Geschmack und Neigung ins alte China ziehen, um nach vergilbten Papieren zu suchen, die dort in Bonzensitzen oder Lama-Klöstern vergraben liegen, weder ein Studiosus auf dem Wege zur Pagode der Examina, um dort seine Universitätsgrade zu erlangen, ist dieser Reisende, noch ein Priester Buddhas auf Inspektionsreisen, dem die Besichtigung der kleinen zwischen den Wurzeln des heiligen Banyanenbaums errichteten Feld-Altäre obliegt, auch kein Pilger, den ein Gelübde, einem der fünf heiligen Berge des Himmlischen Reiches geleistet, im Lande herum jagt.
Das Pseudonym Ki-nan ist's, begleitet von Fry-Craig, die sich nach wie vor als stramme Kerle halten, gefolgt von Sun, der mit jeder Minute schlapper wird. Kin-Fo ist's, Kin-Fo in jener wunderlichen Geistesverfassung, die ihn treibt, den unauffindlichen Wang zu fliehen und zu suchen zur gleichen Zeit! Der Klient der »Centennar«-Gesellschaft ist's, der von diesem unaufhörlichen Hin und Her nichts weiter begehrt und erhofft als Vergessenheit seiner persönlichen Lage, vielleicht noch Schutz vor den unsichtbaren Gefahren, die ihm drohen. Der beste Schütze hat Chancen genug, ein bewegliches Ziel zu fehlen, und Kin-Fo will dieses Ziel sein, das niemals zur Unbeweglichkeit gelangt.
Die Reisenden hatten in Nan-king eines jener flinken amerikanischen Dampfboote wieder bestiegen, die im Grunde genommen mehr schwimmenden Hotels im großen Stile gleichen und den Verkehr auf dem Blauen Flusse vermitteln. Nach Ablauf von 60 Stunden stiegen sie in Nan-ke-u ans Land, ohne sich auch nur Zeit zur Bewunderung jenes seltsamen Felsens genommen zu haben, der unter dem Namen »Waisenkindlein« sich mitten im Yang-tse-kjang erhebt und dessen Kuppe von einem Bonzentempel so kühn gekrönt wird.
In Nan-ke-u, das an der Mündung des Rang-kiang, eines der wichtigsten Nebenflüsse des Blauen Flusses, liegt, hatte sich der unstete Kin-Fo nur einen halben Tag aufgehalten. Dort fanden sich noch immer Erinnerungen an die Tai-ping in Gestalt von Ruinen, deren Wiederaufbau ein Ding der Unmöglichkeit war. Aber weder in dieser handeltreibenden Stadt, die im Grunde genommen weiter nichts als ein Anhängsel der auf dem rechten Ufer des Nebenflusses erbauten Bezirkshauptstadt Ran-Yang-Fu ist, noch in U-tschang-Fu, der auf dem rechten Ufer des Blauen Flusses erbauten Hauptstadt dieser Provinz Ru-Pe, ließ der ungreifbare Wang auch nur durch die leiseste Spur gewahren, daß er hier gewesen. Auch keine Spur mehr von jenen schrecklichen drei Buchstaben, die Kin-Fo in Nan-king auf dem Grabmale des zum Kaiser gekrönten Bonzen ergattert hatte!
Wenn Craig und Fry jemals die Hoffnung hatten hegen können, daß sie von dieser Reise im Reiche China einigen Begriff von den Sitten oder einige Kenntnis von den Städten mit heimbringen würden, so sollten sie über solchen Irrtum rasch belehrt werden. Nicht einmal so viel Zeit würde ihnen geblieben sein, um eine Notiz zu machen, und was sie von Reiseeindrücken nach Hause in sich aufnehmen könnten, würde sich höchstens auf einige Namen von Städten oder Flecken oder auf einige Monatsdaten beschränkt haben! Aber Craig-Fry waren weder neugierig noch redselig. Miteinander sprachen sie fast nie. Wozu auch? Was Craig dachte, das dachte auch Fry. Also wär's doch nur ein Monolog gewesen! Mithin hatten sie für jene der Mehrzahl bei chinesischen Städte eigentümliche Doppel-Physiognomie, tot im Mittelpunkte, aber voller Leben in den Vorstädten, kein schärferes Auge als ihr Klient. Kaum daß sie in Nan-ke-u von dem europäischen Viertel etwas sahen mit seinen breiten, rechtwinkligen Straßen, mit seinen vornehmen Wohnhäusern, mit der langen, von großen Bäumen beschatteten Promenade am Ufer des Blauen Flusses. Sie hatten bloß Augen für einen Mann, einen einzigen Mann – und dieser Mann war und blieb unsichtbar.
Das Dampfboot konnte zufolge des hohen Wasserstandes im Ran-Kiang noch 300 Meilen auf diesem Nebenflusse hinauf fahren, bis nach Lao-Ro-Ke-u.
Auf dieses Reisemittel, das ihm außerordentlich behagte, Verzicht zu leisten, war Kin-Fo ganz und gar nicht versessen. Im Gegenteil rechnete er stark damit, sich seiner so lange zu bedienen, bis es mit der Schiffbarkeit des Rang-Kiang vorbei war. Was dann werden sollte, würde ihm schon einfallen. Craig und Fry hätten es auch am liebsten gesehen, die Dampfschiffahrt hätte die ganze Reise über gedauert. An Schiffsbord war die Kontrolle leichter, die Fährlichkeiten weniger unmittelbar drohend. Später, auf den ziemlich unsichern Straßen des mittlern China, würden die Dinge ein wesentlich anderes Aussehen annehmen.
Was nun Sun anbetrifft, so war ihm dies Dampfschiffsleben auch ganz recht. Er brauchte nicht zu marschieren, er brauchte nichts zu machen, er überließ seinen Herrn und Gebieter der Fürsorge der Firma Craig-Fry; wenn er gewissenhaft gefrühstückt, zu Mittag und zu Abend gegessen hatte – und die Küche war ausgezeichnet! – brauchte er nur an Schlafen zu denken, und daran ließ er's in seinem Winkel auch durchaus nicht fehlen! Nach Verlauf einiger Tage trat in der Küche an Bord eine Aenderung ein, die wohl jedem andern, bloß diesem Strohkopf nicht, ein Anzeichen dafür gewesen wäre, daß sich in der geographischen Lage der Reisenden eine Veränderung in den Breitegraden vollzog. Im Essen trat nämlich plötzlich in Gestalt von ungesäuertem Brote, das recht angenehm schmeckte, wenn man es frisch vom Ofen weg aß, Korn an die Stelle von Reis. Sun aber, als echtem Südchinesen, ging der Verzicht auf sein tagtägliches Reisfutter nahe zu Herzen. Hantierte er doch mit seinen kleinen Stäbchen so außerordentlich geschickt, wenn er die Körner aus der Schale in seinen großen Mund hinein bugsierte! Und was für Mengen verputzte er davon! Reis und Thee! Was braucht ein echter Sohn des Himmels weiter?
Das Dampfboot steuerte also auf seiner Fahrt den Ran-Kiang hinauf in die Korngegend hinein. Dort zeichnete sich das Relief des Landes schärfer. Am Horizont traten Bergspitzen in Sicht, mit Festungswerken gekrönt, die unter der alten Dynastie der Ming errichtet worden waren. Die künstlichen Dämme, die die Gewässer des Flusses stauten, verschwanden und niedrige Ufer traten an ihre Stelle, die das Flußbett auf Kosten seiner Tiefe verbreiterten. Die Bezirkshauptstadt Guan-lo-Fu kam in Sicht. Kin-Fo ging während der paar Stunden, die der Dampfer vor den Zollgebäuden liegen mußte, um frisches Brennmaterial einzunehmen, nicht einmal an Land. Was hätte er auch in dieser Stadt beginnen sollen, von der es ihm ganz gleichgiltig war, ob er sie sah oder nicht sah? Er kannte bloß einen Wunsch, da er noch immer keine Spur von dem Philosophen fand: sich immer tiefer hinein in dieses China vergraben, wo für ihn, wenn er auch Wang nicht dort träfe, doch die Sicherheit vorhanden war, daß Wang auch ihn nicht treffen würde!
Nächst Guan-lo-Fu wurden die beiden einander gegenüber liegenden Städte sichtbar, die Handelsstadt Fantscheng auf dem linken, und die Bezirkshauptstadt Siang-Yang-Fu auf dem rechten Ufer; die erstere ein wahrer Bienenkorb voll geschäftigen, emsigen Menschenvolks, die andere als Sitz der Behörden mehr tot als lebendig.
Hinter Fan-tscheng nahm der Ran-Kiang in scharfem Winkel seinen Lauf direkt nach Norden. Bis Lao-Ro-Ke-u blieb er noch schiffbar; infolge niedrigen Wasserstandes konnte der Dampfer aber nicht weiter.
Nun wurde mit einem Male alles anders. Von dieser letzten Station ab mußten für die Fortsetzung der Reise andere Mittel herangezogen werden. Der Wasserlauf, »diese von selbst marschierende Straße«, mußte aufgegeben werden – man mußte nun selbst marschieren, oder zum wenigsten an die Stelle des molligen Hingleitens auf einem Schiffe die Erschütterungen, die Rucke und Stöße der Jammerstücke von Gefährten setzen, die im Himmlischen Reiche zu Hause sind. Unglücklicher Sun! für ihn sollte Plack und Mühe, sollten Drangsale, Bitternisse, Scheltworte nun wieder recht losgehen!
Und wirklich! wer Kin-Fo auf dieser phantastischen Pilgerfahrt von Provinz zu Provinz, von Stadt zu Stadt begleitet hätte, der hätte auch sein redliches Stück Arbeit und Plack gehabt! Am einen Tage fuhr er im Wagen – aber in was für einem Dinge von Wagen! Einem Kasten, der auf eine Deichsel mit zwei Rädern mit dicken Eisennägeln genagelt war und von zwei störrischen Mauleseln gezogen wurde, der mit einer bloßen Leinwandplane überspannt war, durch die der Regen klatschte und die Sonne ihre heißen Strahlen warf! Am anderen Tage sah man ihn in einer Maultiersänfte liegen, die aber mehr wie ein Schilderhaus aussah, das zwischen zwei langen Bambusstecken in der Schwebe hing und einem Schlingern und Stampfen von solcher Gewalt ausgesetzt war, daß ein Kahn dabei in allen Fugen gekracht haben würde.
Craig und Fry ritten rechts und links vom Schlage, wie ein paar Adjutanten, auf Eseln, die aber noch viel ärger stampften und schlingerten, als Kin-Fo's Sänftenkasten. Und was nun Sun anbetrifft, der auf seine zwei Beine als Beförderungsmittel angewiesen war, so brummte und schimpfte er, bei solchen Anlässen, wo der Marsch notwendigerweise rascher vor sich gehen mußte, und suchte mehr als ihm dienlich und schicklich war, Stärkung für seine Beine in einem Schluck aus einer Pulle, die mit Schnaps aus Kao-Liang gefüllt war. Kein Wunder, daß auch er unter eigentümlich schlingernden Bewegungen zu leiden hatte, deren Ursache aber nicht in den Unebenheiten des Erdbodens zu suchen war! Mit einem Worte, die kleine Truppe wäre auf hochgehender See keinen stärkeren Erschütterungen und Stößen ausgesetzt gewesen.
Zu Pferde – aber verflucht schlecht zu Pferde, wie man dreist glauben darf – vollzogen Kin-Fo und seine Begleiter ihren Eintritt in Si-Guan-Fu, der alten Hauptstadt des Kaiserreichs der Mitte, das die Kaiser aus der Dynastie der Tang ehedem zur Residenz erhoben hatten. Um aber in diese weitab gelegene Provinz Schen-Si zu gelangen, quer über endlose, dürre, kahle Ebenen weg, wieviel Anstrengungen und auch Gefahren hatten sie da zu ertragen gehabt!
Diese Sonne im Mai warf unter einem Breitengrade, der dem des südlichen Spaniens gleichkommt, Strahlen von bereits unerträglicher Hitze und wirbelte einen feinen Straßenstaub auf, der dadurch, daß die Straßen noch niemals die Wohlthat einer Steinaufschüttung erfahren hatten, wahrlich nicht vermindert wurde. Aus diesen gelblichen Wirbeln, die die Luft wie ungesunder Qualm verunreinigten, gelangte man nur, total vergraut von Kopf bis zu den Füßen, heraus. Es war die Gegend des »Löß«, einer dem nördlichen China eigentümlichen geologischen Form von besonderer Art, »die«, wie Léon Rousset sagt, »nicht mehr Erde und doch nicht Fels ist oder, um es richtiger auszudrücken, Stein ist, der aber noch nicht Zeit gehabt hat, die Härte zu bekommen«.
Hinsichtlich der Fährlichkeiten des Leibes und Lebens muß bemerkt werden, daß dieselben in einem Lande, dessen Polizei sich durch eine außergewöhnliche Furcht vor dem Dolche des Spitzbuben auszeichnet, wahrlich nichts zu wünschen ließen. Lassen die Tipaos schon in den Städten den Halunken und Schuften freies Feld, trauen sich schon mitten in der Großstadt bei Nacht die Bewohner nicht gern auf die Straße hinaus, dann kann man sich wohl ein Bild machen von dem Grade von Sicherheit, den die Landstraßen bieten! Mehr als einmal blieben verdächtige Gruppen stehen und musterten die Reisendentruppe im Vorbeiziehen mit bösen Blicken, besonders wenn sie in die schmalen Einschnitte bogen, die tief ausgehöhlt zwischen den Löß-Schichten hinführen. Aber noch immer hatte Craig-Fry's Anblick, vor allem wohl der blinkende Revolver im Gürtel, den Wegelagerern und Strauchdieben Respekt eingeflößt. Bei mancher Gelegenheit beschlich aber doch die »Spitzel« der »Centennar«-Gesellschaft bitterernste Furcht, wenn auch vielleicht weniger für die eigene Person, so doch zum wenigsten für die lebendige Million, der sie das Geleit gaben. Ob Kin-Fo unter dem Dolche Wangs oder unter dem Messer eines Missethäters fiel, blieb sich doch gleich – denn das Resultat war das gleiche! Die Gesellschaftskasse war es, die den Schaden davon hatte!
In solcher Situation wartete übrigens Kin-Fo, der nicht minder gut bewaffnet war, bloß darauf, sich verteidigen zu können. Auf sein Leben hielt er jetzt mehr als je zuvor und »um es zu erhalten, würde er sich sogar umbringen lassen!« sagten Craig und Fry.
Daß man in Si-Guan-Fu eine Spur von dem Philosophen auffinden werde, schien nicht sehr wahrscheinlich. Ein alter Tai-ping würde doch niemals auf den Gedanken gekommen sein, hier eine Zuflucht zu suchen! Hatten doch die Rebellen über die starken Mauern dieser Stadt zur Zeit des Aufstandes niemals den Fuß setzen können, die übrigens auch durch eine starke Mandschu-Garnison besetzt gehalten wurde. Wenn ihn nicht ein besonderer Geschmack an archäologischen Kuriositäten trieb, die in dieser Stadt allerdings in sehr reicher Zahl vorhanden waren, oder wenn er sich nicht in die Geheimnisse der Inschriftenkunde hätte vertiefen wollen, wozu das als der »Täfelchen-Wald« benannte Museum mit seinen unberechenbaren Schätzen reiche Gelegenheit bot – was hätte Wang sonst nach dieser Stadt führen sollen?
Darum wandte auch Kin-Fo der Stadt schon am Morgen nach seiner Ankunft den Rücken, trotzdem sie ein wichtiger Mittelpunkt für den Handel zwischen Centralasien, Tibet, der Mongolei und China ist, und schlug den Weg nach Norden ein.
Auf der Route über Kao-Lin-Sien, über Sang-Ting-Sien, durch das Thal des Uei-Ro, mit seinen von jenem Löß, durch das er sich sein Bett gebrochen, gelblich-dick gefärbten Wogen gelangte die kleine Truppe nach Rua-Tsche-u, das anno 1860 der Herd eines furchtbaren Moslim-Aufstandes war. Von hier erreichten, bald im Kahn, bald im Karren, Kin-Fo und seine Gefährten, freilich nicht ohne bedeutende Anstrengungen, die am Zusammenfluß des Uei-Ro mit dem Ruang-Ro gelegene Festung Tong-kuan.
Der Ruang-Ro ist der berühmte Gelbe Fluß. Er kommt direkt von Norden, um sich durch die Provinzen des Ostens in das Meer zu ergießen, das seinen Namen trägt, ohne jedoch nur einen Schimmer gelber zu sein, als das Rote Meer rot, das Weiße Meer weiß und das Schwarze Meer schwarz ist. Ja! ein berühmter Fluß, himmlischen Ursprungs zweifellos, da seine Farbe ja die kaiserliche ist! ein Himmelssohn, aber auch »Chinas Kummer«, welch letztere Benennung er zufolge der furchtbaren Ueberschwemmungen führt, die er anrichtet und die teilweise die gegenwärtige Unbefahrbarkeit des Kaiserkanals bewirkt haben.
In Tong-kuan wären die Reisenden selbst zur Nachtzeit in Sicherheit gewesen! Tong-kuan ist keine Handelsstadt mehr, sondern eine Militärstadt, in welcher die als erste Kriegerkaste des chinesischen Heeres berühmten Mandschu-Tataren nicht ein fliegendes Lager haben, sondern kaserniert liegen. Vielleicht hatte Kin-Fo sogar die Absicht, hier ein paar Tage der Ruhe zu genießen! Vielleicht gedachte er, in einem passenden Gasthofe ein gutes Zimmer, eine gute Tafel, ein gutes Bett zu bestellen – worüber Fry-Craig keineswegs böse gewesen wären und Sun wohl noch weniger!
Aber dieser Tolpatsch, den seine Eselei diesmal einen reichlichen Zoll von seinem Zopfe kostete, nannte auf der Zollstelle statt des von seinem Herrn gewählten Reisenamens dummerweise den richtigen bürgerlichen Namen desselben – weil er vergaß, daß er nicht mehr die Ehre hatte, bei Kin-Fo Lakai zu sein, sondern bei Ki-nan.
Das gab ein böses Donnerwetter! und der Zorn, der Kin-Fo darob erfüllte, ließ ihm keine Sekunde Ruhe in der Stadt, sondern trieb ihn im Nu zu ihr hinaus. Der Name hatte im Nu gezündet! War doch der berühmte Kin-Fo in der Stadt Tong-kuan angekommen! Kannte doch alle Welt diesen »einzigen Menschen, dessen einer und einziger Wunsch war, über hundert Jahre alt zu werden!«
Der von einer Gänsehaut überlaufene Reisende, begleitet von seinen zwei Leibwächtern und gefolgt von seinem Lakai, gewann kaum so viel Zeit, um aus den neugierigen Haufen, die sich an seine Fersen hängten, zu entrinnen und das freie Feld zu gewinnen. Diesmal zu Fuß! jawohl, zu Fuß wanderte er an den Ufern des Gelben Flusses hinauf und ging zu Fuß so lange, bis seine Gefährten mit ihm vor Erschöpfung in einem kleinen Flecken zusammenbrachen, wo ihm sein Inkognito doch wenigstens einige Stunden der Ruhe vergönnen sollte. Sun, der ganz aus dem Konzept geraten war, getraute sich kein Sterbenswörtchen mehr zu sagen. Mit dem lächerlich kurzen Rattenschwänzchen, das ihm nun von seinem schönen Zopfe bloß noch geblieben war, war er zur Zielscheibe der unangenehmsten Witze geworden! liefen ihm doch schon die Gassenjungen nach und riefen ihm tausenderlei Schimpfworte zu!
Er sehnte sich wahrlich darnach, endlich mal Fuß zu fassen! Aber wo? wo? Da doch sein Herr und Gebieter – genau, wie er zu William J. Bidulph gesagt hatte – vorhatte, der Nase nach zu reisen, und auch nicht anders als der Nase nach reiste!
Diesmal, zwanzig Li von Tong-kuan, in dem bescheidenen Flecken, wo Kin-Fo Zuflucht gesucht hatte, kein Pferd mehr, kein Esel mehr, weder Karren noch Sänfte zu haben! Keine andere Aussicht, als dazubleiben oder die Reise zu Fuß fortzusetzen! Das war nicht dazu angethan, dem Zöglinge Wangs die gute Laune wiederzugeben, der bei diesem Anlaß ein sehr geringes Maß von Philosophie an den Tag legte. Er zieh die ganze Welt der Schuld und hätte doch bloß vor seiner Thür zu kehren gehabt! Ha! wie leid that ihm die Zeit, wo er sich bloß mit dem Leben zu befassen hatte! Wenn er, um das Glück zu schätzen, Verdrießlichkeiten, Aergernisse, Qualen und Mühen kennen lernen mußte, nun! die kannte er jetzt! die kannte er zur Genüge!
Und dann war's ihm, bei solcher Fußtour, noch ohnehin beschieden, braven Leuten unterwegs zu begegnen, die keinen Heller in der Tasche hatten und doch froh und glücklich waren! Jene verschiedensten Formen des Glückes, das fröhlich vollbrachte Arbeit spendet, hatte er in reichem Maße beobachten können.
Hier waren es Tagelöhner, die über ihre Ackerfurche gebückt schwere Arbeit verrichteten, dort Fabrikarbeiter, die unter Gesang mit ihren Werkzeugen hantierten. War's nicht gerade dieser Mangel an Arbeit, dem Kin-Fo jeden Mangel eines Wunsches verschuldete und mithin auch den Mangel alles Glücks hienieden? Ha! die Lektion war gründlich! Wenigstens glaubte er so! . . . Nein, Freund Kin-Fo! noch war sie es nicht!
Nach langem Suchen im ganzen Dorfe und nachdem sie an alle Thüren geklopft hatten, gelang es endlich Craig-Fry, ein Gefährt aufzustöbern. Aber bloß eins, und noch dazu eins, in welchem bloß eine einzige Person sich befördern ließ. Was aber die Sachlage ganz besonders ernst erscheinen ließ, war der weitere Uebelstand, daß es an jedem Beförderungsmittel für das Gefährt fehlte.
Es war ein Karren – »Pascals Schnecke« – und wohl lange vor ihm durch jene uralten Erfinder des Pulvers, der Schrift, der Magnetnadel und des Papierdrachens erfunden. Bloß wird in China das Rad dieses Fahrapparats, das von ziemlich großem Durchmesser ist, nicht wie bei unsrer Kastenkarre oder Radeberge hinter dem Kasten zwischen den beiden Deichselarmen, sondern in der Mitte des Kastens selbst angebracht und zufolgedessen auch, wie bei gewissen Dampfschiffen das Mittelrad, durch den Kasten selbst bewegt, der mithin seiner Achsrichtung nach in zwei Abteile geschieden zu denken ist. In das eine kann sich der Reisende strecken, das andere ist für die Aufnahme seines Gepäcks bestimmt.
Die bewegende Kraft einer solchen »Radeberge«, auch einer chinesischen, ist immer ein Mensch und kann nur immer ein Mensch sein, der sie vor sich her schiebt, nicht hinter sich her zieht. Er hat also seinen Stand rücklings vom Reisenden, dem er die Aussicht in keiner Weise behindert, ähnlich wie es beim Kutscher eines englischen Cab der Fall ist. Wenn der Wind günstig steht, also von hinten her kommt, macht sich der Mensch diese Naturkraft, die ihm nichts kostet, zu nutze, indem er eine Maststange im Vorderkasten anbringt und ein viereckiges Segel setzt; pfeift der Wind dann recht tüchtig, so braucht der Mensch den Karren nicht zu schieben, sondern der Wind treibt den Karren und der Mensch braucht bloß hinterher zu laufen – freilich muß er dann häufig schneller laufen als ihm recht oder seinen Beinen thunlich ist.
Die Radeberge wurde also mit sämtlichem Zubehör angekauft. Kin-Fo nahm in der einen Kastenhälfte Platz. Der Wind stand günstig, das Segel wurde gehißt.
»Marsch vorwärts, Sun!« kommandierte Kin-Fo.
Sun schickte sich ganz einfach an, ins zweite Kastenabteil zu steigen, um sich dort lang zu strecken.
»An die Deichsel!« rief Kin-Fo in einem gewissen Tone, der keinen Widerspruch zuließ.
»Herr . . . was . . . ich . . . ach!« antwortete Sun, dessen Beine im voraus zusammenknickten, wie bei einem abgetriebenen Gaule.
»Mach das mit Dir selbst ab, Du Esel! Wer ist denn schuld daran, als Deine Zunge und Deine Dummheit!«
»Marsch vorwärts, Sun!« riefen Craig-Fry.
»An die Deichsel!« kommandierte Kin-Fo zum andern Male mit einem Blick auf das bißchen, was noch vom Zopfe des unglücklichen Lakaien übrig war. »An die Deichsel, Halunke! Und gieb acht, daß Du nicht umkippst, sonst . . .!«
Daumen und Mittelfinger von Kin-Fo's rechter Hand, in Scherenform einander genähert, vervollständigten seine Gedanken so vorzüglich, daß Sun den Traggurt über die Schultern schwang und die Deichsel mit beiden Händen faßte. Fry-Craig faßten rechts und links von der Radeberge Posten, und mit Zuhilfenahme der günstigen Brise setzte sich die kleine Reisegesellschaft im leichten Hundetrab in Bewegung.
Die dumpfe, ohnmächtige Wut des zum Pferde degradierten Sun zu malen, darauf muß man verzichten! Und doch verstanden sich Craig-Fry oft dazu, ihn abzulösen. Zum großen Glück kam ihnen südlicher Wind beständig zu Hilfe und nahm drei Viertel der beschwerlichen Arbeit auf sich. Im Gleichgewicht gehalten wurde der Karren ziemlich gut durch die Stellung des Mittelrads, die Arbeit des Mannes an der Deichsel beschränkte sich im wesentlichen auf die Arbeit des Mannes am Ruder von Schiffen – er braucht nur immer die Richtung gut einzuhalten.
In solchem Fuhrwerk also hielt Kin-Fo seinen Einzug in den nördlichen Provinzen Chinas; in der Karre gefahren, wenn er sich ausruhen wollte, selbst im Hundetrab neben der Karre mit herlaufend, wenn er das Bedürfnis fühlte, sich die müden Beine zu vertreten.
In solchem Fuhrwerk zog Kin-Fo, die Städte Huan-Fu und Ka-fong beiseite lassend, die Ufer des berühmten Kaiserkanals hinauf, der vor knapp 20 Jahren, ehe der Gelbe Fluß wieder sein altes Bett aufgesucht hatte, eine prächtige schiffbare Straße von Su-Tscheu, dem Theelande, aus bis Peking bildete in einer Länge von mehreren hundert Meilen.
In solchem Fuhrwerk reiste Kin-Fo durch Tsi-nan, Ho-Ki-en und kam nach der Provinz Pe-tschi-li, in welcher sich Peking, die vierfache Hauptstadt des Himmlischen Reiches, erhebt.
In solchem Fuhrwerk reiste er durch Tien-tsien, das von einer Ringmauer und zwei Forts verteidigt wird – eine Großstadt von 400 000 Einwohnern, mit großem Hafen, der durch den Zusammenlauf des Pei-ho mit dem Kaiserkanal gebildet wird, der Einfuhrplatz für Kattune aus Manchester, Wollwaren, Kupfer- und Eisenwaren, Streichhölzchen, Sandelholz etc. etc., Ausfuhrplatz hingegen für Jujuben oder indische Brustbeeren, auch als welsche Hagebutten im Handel bekannt, für Seerosenblätter, Tabak aus der Tatarei etc. – mit einem Jahresumsatz von etwa 170 Millionen. Aber Kin-Fo fiel es in dieser merkwürdigen Stadt Tien-tsien nicht einmal ein, sich die berühmte »Pagode der höllischen Pein« anzusehen; auch ging er in der Vorstadt des Ostens nicht durch die unter den Namen »Laternenzeile« und »Trödlerzeile« bekannten interessanten Straßen; er nahm auch sein Frühstück nicht in der »Harmonie und Freundschaft«, der bekannten Wein- und Speisewirtschaft des Muselmanen Le-u-Loa-ki mit seinen trotz Muhamed noch bekannteren, eifrig getrunkenen prima Weinen – er gab auch, und wohl aus recht triftigem Grunde, seine große rote Karte nicht im Palaste Li-tschong-tangs ab, des Vizekönigs der Provinz seit anno 1870, Mitgliedes des Staatsrats, Mitgliedes des Geheimen Rates und Trägers der gelben Jacke mit dem Titel eines Fei-tse-tschao-pao.
Nein! Kin-Fo, immer in der Karre, mit Sun immer hinter der Karre, karrte über die Quais, auf denen Berge von Salzsäcken aufgestapelt lagen; karrte durch die Vorstädte, durch die englische und durch die amerikanische Niederlassung, über die Rennbahn, durch die mit Sorgho, Gerste, Sesam, Weinreben bestandene Landschaft, durch die von Obst und Gemüse strotzenden Gärten, durch die weiten Ebenen, aus denen Tausende von Hasen, Rebhühnern, Wachteln aufschreckten, auf die von Falken, Sperbern und Hähern fleißig Jagd gemacht wurde. Alle vier zogen sie die gepflasterte Straße von 24 Meilen Länge entlang, die zwischen Bäumen mit mannigfachsten Wohlgerüchen und zwischen dem hohen Rohrdickicht des Flusses entlang nach Peking führt, – bis sie heil und gesund nach Tong-tsche-u hineinkarrten, Kin-Fo nach wie vor im Geschäfts- oder Handelswerte von 200 000 Dollars, Craig-Fry noch immer stramm wie bei Anbeginn der Reise, Sun der Schwindsucht nahe, bein- und lendenlahm, wund an den Zehen und am Schopfe kaum noch ein Zöpfchen von knapp 3 Zoll Länge an Stelle des einst so stattlichen Zopfes!
Man schrieb den 19. Juni. Der Vertrag mit Wang lief in sieben Tagen ab, dann war die Galgenfrist zu Ende! –