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Die Nacht vom 4. zum 5. December. – Robert Kurtis hat den jungen Letourneur aufgehoben, eilt mit ihm über das überschwemmte Verdeck und setzt ihn auf die Strickleiter am Steuerbord. Sein Vater und ich, wir klettern zu ihm hin.
Dann blicke ich um mich. Die Nacht ist hell genug, um erkennen zu können, was ringsum vorgeht. Robert Kurtis ist auf seinen Posten zurückgekehrt und steht auf dem Oberdeck. Ganz rückwärts, nahe dem noch nicht überflutheten Hackbord, gewahre ich Mr. Kear, seine Frau, Miß Herbey und Falsten; auf der äußersten Spitze des Vorderkastells den Lieutenant und den Bootsmann, in den Mastkörben und auf den Strickleitern den Rest der Mannschaft.
André Letourneur ist nach dem Mastkorbe des Großmastes geklettert, mit Hilfe seines Vaters, der ihm den Fuß Stufe für Stufe heben mußte, und trotz des Rollens ist er ohne Unfall hinaufgekommen. Mrs. Kear Vernunft beizubringen, ist freilich unmöglich gewesen; sie verbleibt auf dem Oberdeck und läuft Gefahr, von den Wellen weggespült zu werden, wenn der Wind noch mehr auffrischt. Auch Miß Herbey hält bei ihr aus, da sie jene nicht verlassen will.
Robert Kurtis' erste Sorge nach dem Aufhören des Sinkens war es, alle Segel abnehmen und alle Stengen und die Obermaste herabsenken zu lassen. Hierdurch hofft er das Kentern des Chancellor zu verhindern. Kann er aber nicht jeden Augenblick ganz untergehen? Ich begebe mich zu Robert Kurtis und richte diese Frage an denselben.
»Das kann ich nicht wissen,« erwidert er mir mit dem ruhigsten Tone, »denn das hängt ganz von dem Zustande des Meeres ab. Gewiß ist für jetzt nur, daß das Schiff sich im Gleichgewicht befindet; leider können sich diese Verhältnisse aber in jeder Minute verschlimmern.«
»Kann der Chancellor noch, mit zwei Fuß Wasser über dem Deck, segeln?«
»Nein, Mr. Kazallon, wohl aber kann er unter dem Einflusse des Windes und der Strömung abweichen, und wenn er sich einige Tage so hält, doch irgend einen Küstenpunkt anlaufen. Uebrigens haben wir als letzte Zuflucht das Floß, das in wenigen Stunden fertig sein muß, und auf welchem wir uns, sobald der Tag anbricht, dann einschiffen können.«
Sie haben also noch immer nicht alle Hoffnung aufgegeben?« fragte ich Robert Kurtis sehr erstaunt.
»Die Hoffnung darf nie zu Schanden werden, Mr. Kazallon, selbst unter den allerschlimmsten Verhältnissen nicht. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, daß, wenn unter hundert Chancen neunundneunzig gegen uns sind, doch die hundertste uns gehört. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, so befindet sich der halbversunkene Chancellor genau in derselben Lage, wie im Jahre 1795 der Dreimaster Juno. Länger als zwanzig Tage hat dieses Schiff halb im Wasser sich schwebend erhalten. Passagiere und Mannschaften waren in die Takelage geflüchtet, und als man endlich an's Land trieb, wurden Alle, die nicht den Strapazen und dem Hunger erlegen waren, glücklich gerettet. Es ist das ein in den Annalen der Seefahrten zu bekanntes Factum, als daß es mir gerade jetzt nicht wieder in den Sinn kommen sollte. Nun, Mr. Kazallon, es liegt kein Grund vor, daß die Ueberlebenden des Chancellor nicht eben so viel Glück haben sollten, als die der Juno.«
Man konnte Robert Kurtis wohl so Manches dagegen einhalten, aus dem Gespräch geht aber doch hervor, daß unser Kapitän noch nicht jede Hoffnung verloren habe.
Da sich die Bedingungen des Gleichgewichts jeden Augenblick ändern können, werden wir doch den Chancellor früher oder später verlassen müssen. Auch bleibt es dabei, daß morgen, sobald der Zimmermann mit dem Flosse fertig ist, dasselbe bestiegen werden soll.
Nun stelle man sich die dumpfe Verzweiflung der Mannschaft vor, als Daoulas gegen Mitternacht die Bemerkung macht, daß das Gestell des Flosses verschwunden ist. Die Leinen, trotzdem man darauf gesehen hatte, nur haltbare zu verwenden, waren bei dem Auf- und Abschwanken des Fahrzeuges gerissen, und etwa seit einer Stunde trieb der Unterbau des Rettungsflosses in der weiten See.
Als die Matrosen dieses neue Unglück vernahmen, ließen sie manchen Verzweiflungsschrei erschallen.
»In's Meer! In's Meer! Die Masten kappen!« riefen sie halb von Sinnen.
Sie wollen die Taue zerschneiden und die Untermasten in's Wasser stürzen, um sofort ein neues Floß daraus herzurichten.
Aber Robert Kurtis mischt sich ein.
»Auf Euern Posten, Jungens!« ruft er. »Daß kein Faden ohne meinen Befehl zerschnitten wird! Der Chancellor ist im Gleichgewicht! Der Chancellor geht noch nicht unter!«
Bei der entschiedenen Stimme ihres Kapitäns gewinnt die Mannschaft wieder einige Besinnung, und trotz der bösen Absicht Einiger unter ihnen begiebt sich Jeder wieder auf den ihm angewiesenen Platz.
Sobald der Tag graut, steigt Robert Kurtis so weit als möglich in die Höhe, und sein Blick durchschweift forschend den Umkreis um das Schiff.
Unnützes Suchen! Das Floß ist längst außer Sehweite! Soll man die Jolle bemannen und dasselbe aufzusuchen ausfahren? Auch das ist unmöglich, denn die See geht so hohl, daß das kleine Fahrzeug ihr nicht zu widerstehen vermag. Man muß sich demnach zur Construction eines neuen Flosses entschließen und ohne Zaudern an die Arbeit gehen.
Inzwischen sind die Wellen immer stärker geworden. Mrs. Kear hat sich endlich entschlossen, den Platz auf dem Oberdeck zu verlassen, auf dem sie übrigens in einem Zustande vollständiger Willenlosigkeit lag. Mr. Kear hat sich mit Silas Huntly im Mastkorbe des Besanmastes eingerichtet. Neben Mrs. Kear und Miß Herbey befinden sich die Herren Letourneur, Alle auf der in ihrem größten Durchmesser höchstens zwölf Fuß messenden Plattform enge an einander gedrückt. Von einer Strickleiter zur anderen hat man Seile angebracht, an die sich die Insassen bei dem Schwanken des Schiffes festhalten können. Robert Kurtis hat auch noch ein Dach zum Schutze der beiden Frauen über dem Mastkorbe anbringen lassen.
Einige Fässer, welche nach dem Sinken zwischen den Masten schwimmen, hat man rechtzeitig aufgefischt, und an den Stagen sicher befestigt. Es sind das Behälter mit Conserven und Zwieback, so wie einige Fässer Trinkwasser – unser ganzer Vorrath an Lebensmitteln!