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Es war am anderen Tage in der großen Pause vor der Rechenstunde. Annemarie hatte ihrer Freundin Margot vorher ihr Heft gezeigt, um die Wirkung der verklebten Seite zu sehen. Dieselbe war geradezu niederschmetternd.
»Au weih,« rief Margot, »du hast ja gekleistert – au weih, wenn das Fräulein Hering sieht!«
Nun schlug Annemaries Herzchen in noch bangerer Furcht der Rechenstunde entgegen.
Als die Schulglocke »klinglinglingling« zur Stunde rief, überlegte Nesthäkchen allen Ernstes, ob sie nicht lieber unten auf dem Hof bleiben sollte. Aber was half das? Fräulein Hering würde sie doch heraufrufen. Auch mit dem Sichverstecken, wie das Bruder Klaus zu machen pflegte, wenn er etwas ausgefressen hatte, haperte es. In den Schulschrank ging sie nicht hinein, und unter der Bank würde die Lehrerin sie bald entdeckt haben.
Unter solchem Sinnen und Überlegen war Klein-Annemarie die Treppen hinaufgestiegen und wie stets in die erste Klassentür eingetreten. Sie hob den Blick nicht von der Erde, das böse Gewissen ließ sie nicht aufschauen.
Schuldbewußt setzte sie sich auf ihren Platz.
»Gott, wie niedlich – nein, wie süß – ist das ein allerliebstes Püppchen!« klang es da neben ihr.
Das war doch nicht Margots Stimme?
Und die Hände, die sie jetzt streichelten, waren so groß wie die von Bruder Hans!
Verblüfft hob die Kleine den gesenkten Lockenkopf.
Da blickte sie in lauter lachende Mädchengesichter – große Mädel, welche die Haare schon wie richtige Damen aufgesteckt trugen und die über das hereingeschneite lebendige Spielzeug begeistert waren.
Aber noch ehe Klein-Annemarie fragen konnte, wo sie denn eigentlich hingeraten sei, klang es vom Katheder her: »Na, was gibt's denn da in der Ecke?«
»Ach, Herr Professor – Herr Professor, hier ist solch süßes, kleines Ding, es wird sich wohl verlaufen haben«, riefen die großen Mädel zurück. Im Triumph führten sie den reizenden kleinen Blondkopf zum Katheder.
Dort saß kein Fräulein Hering, sondern ein alter Herr mit einer Brille auf der Nase. Jetzt äugte er über die Brille hinweg auf den kleinen Findling.
»Nanu, was hat sich denn da angefunden?« fragte er verdutzt.
Klein-Annemarie steckte den Finger in den Mund und verkroch sich hinter das nette Mädel, das sie vorhin gestreichelt hatte.
»Ich schoniere mich so doll«, flüsterte sie dabei, während es um ihre Mundwinkel zuckte.
Da lachten die großen Mädel noch viel mehr, die nettste aber von ihnen schlang schützend den Arm um das kleine Ding.
»Na, du hast dich wohl verlaufen«, sagte der Herr Professor belustigt. »In welcher Klasse bist du denn, Kleine?«
Annemarie schwieg, sie schämte sich.
»Ach, die Kleine kann wohl noch nicht einmal antworten,« neckte der Herr Professor, »kannst du denn überhaupt schon sprechen, mein Kind?«
»Na ob,« jetzt hob Klein-Annemarie beleidigt das Köpfchen, »ich habe mich doch bloß so doll schoniert.«
Wieder jubelten die großen Mädel, und der Herr Professor lachte mit.
»Wenn du schon so schlau bist, weißt du am Ende auch, in welcher Klasse du bist?« setzte der Lehrer die Untersuchung fort.
»Natürlich, in der mit fünfzig Kindern, Margot und Hilde sind auch drin, und drei Fenster sind in der Klasse und eine große schwarze Tafel«, erklärte Annemarie stolz.
Gerade, als der Herr Professor im Examen fortfahren wollte, denn er konnte aus dieser Beschreibung beim besten Willen nicht die Klasse erkennen, lugte die liebe Sonne zum Fenster herein, um zu sehen, wo denn das Nesthäkchen hingeraten sei. Respektlos warf sie ihre Strahlen dem alten Herrn in das faltige Gesicht.
»Hatschi!« nieste der.
»Gott schütz' dich!« erklang ein süßes Kinderstimmchen.
»Wie?« fragte der Herr Professor erstaunt. Da mußte er wieder niesen – »hatschi, hatschi«.
»Gott schütz' dich!« ertönte es wiederum von den Lippen der Kleinen.
Die Klasse brach in ein tumultartiges Lachen aus.
Der Herr Professor konnte nicht Ruhe gebieten, denn auch die Sonne gab keine Ruhe. Immer wieder kitzelte sie den alten Herrn mit ihren krabbelnden Goldstrahlen.
Noch mehrere Male nieste es »hatschi – hatschi« vom Katheder herab, und jedesmal folgte prompt ein liebevolles »Gott schütz' dich« von Klein-Annemarie.
Endlich ließ die übermütige Sonne den Herrn Professor in Frieden, und auch die ebenso übermütigen Mädel gaben Ruhe.
»Warum sagst du denn immer ›Gott schütz' dich‹, Kleine?« fragte der Herr Professor belustigt.
»Das gehört sich doch so, wenn einer niest«, antwortete das wohlerzogene kleine Mädchen.
»Na, da kann ich ja sogar noch was von dir lernen, mein Kind, ich habe bisher nur gewußt, daß man ›Prosit‹ sagt«, scherzte der Herr Professor zum Entzücken seiner Klasse.
»›Prost‹ sagte bloß unsere Hanne, und Vati ruft ›Prösterchen‹, Großmama aber sagt jedesmal ›Gott schütz' dich, mein Herzchen‹. Und die ist doch die Älteste und muß daher am besten wissen, wie es heißt«, setzte das Plappermäulchen altklug hinzu.
Nachdem sich die Heiterkeitswogen ein wenig gelegt hatten, nahm der Herr Professor seine Forschung nach der Klasse der Kleinen wieder auf.
»Hast du eine blonde Lehrerin?« fragte er.
»Nee – Tante Fräulein Hering hat schwarze Haare.«
Wieder brachen die Mädel in tolles Jubeln aus, auch der alte Herr schmunzelte.
»Fräulein Hering – also aus der Zehn O, unter den frisch eingerückten Rekruten. Hildegard, führen Sie die Kleine in ihre Klasse zurück, und sagen Sie Fräulein Hering, sie hätte sich um eine Treppe geirrt«, gebot der Herr Professor.
Aber Nesthäkchen gefiel es unter den lustigen Mädchen, die so nett zu ihr waren, besser als in der zehnten Klasse. Und außerdem das verklebte Rechenheft – wenn sie nicht da war, würde Fräulein Hering das doch nicht sehen. Dies gab den Ausschlag.
»Ich danke schön,« sagte sie mit einem höflichen Knicks zu dem netten Mädchen, das sie bei der Hand nehmen wollte, »aber ich bleibe lieber hier.«
Jetzt war die Reihe, ein verblüfftes Gesicht zu machen, an den anderen.
»Nein, mein Herzchen,« lachte der alte Herr, »für die erste Klasse bist du doch noch nicht weit genug, wenn du auch ein sehr schlaues, kleines Mädchen bist. Da mußt du dich noch neun Jahre gedulden.«
Trotzdem es Klein-Annemarie in der ersten Klasse so gut gefiel, mußte sie sich von ihr trennen. Zögernd folgte sie der großen Hildegard in den unteren Stock zur zehnten Klasse.
Dort war sie bereits vermißt worden. Fräulein Hering hatte schon allenthalben nach ihr geforscht und sich große Sorge um das verschwundene Kind gemacht.
Aber auch das glücklich abgelieferte Nesthäkchen hatte seine schweren Sorgen – ob die Rechenhefte wohl schon durchgesehen waren?
Nein – man hielt vorläufig noch beim Kopfrechnen. Ach Gott, wäre sie doch lieber in der ersten Klasse geblieben!
Wenn doch die Schulglocke ein Einsehen haben und läuten würde, bevor Fräulein Hering daran dachte, sich die Rechenarbeiten zeigen zu lassen. Aber die Schulglocke ahnte nichts von Klein-Annemaries Wünschen.
»Na, habt ihr auch schöne Achten zu heute geschrieben, Kinder?« hörte Annemarie plötzlich Fräulein Hering in ihrer netten Weise fragen.
Jetzt kam es – das Schlimme.
Während die anderen kleinen Mädchen ihre Hefte vorkramten, legte Annemarie ihre Arme auf den Tisch und das Köpfchen darauf, um nur nichts zu hören und zu sehen. Sogar die Augen machte sie zu, in der Hoffnung, daß Fräulein Hering sie dann vielleicht auch nicht sehen würde.
Die Lehrerin schritt von Bank zu Bank, lobte hier, ermunterte dort und schüttelte wohl auch mal den Kopf, wenn die Zahlen gar zu merkwürdig ausgefallen waren. Jetzt sah sie Margots Heft an.
»Brav, Margot, sehr nett und sauber geschrieben – nanu, Annemie, was soll denn das heißen, schläfst du etwa?«
Klein-Annemarie kniff ihre Augen noch fester ein. Ja, sie schlief, ganz fest schlief sie! Sie ließ sich bestimmt nicht ermuntern.
»Ei, Annemie, wach' auf, in der Stunde schläft man nicht.« Fräulein Hering zog sie am Ohrläppchen.
Aber statt aller Antwort erklang es von dem roten Kindermund: »Chchch – chchchchch – chchchchchchch –.« Annemarie schnarchte.
Ob die kleinen Mädchen auch lachten und jauchzten, ob die brave Margot sie auch freundschaftlich beim Arm schüttelte, Annemarie ließ sich nicht aufwecken.
Da beugte sich Fräulein Hering ganz tief zu der blinzelnden Kleinen herab und sagte ihr leise ins Ohr: »Ich denke, Annemie, du hast mich lieb?«
Sofort öffneten sich Annemaries Blauaugen und füllten sich mit Tränen.
»Darum schlafe ich ja eben«, flüsterte sie, mit dem Weinen kämpfend, zurück.
»Du schläfst, weil du mich lieb hast?« fragte Fräulein Hering erstaunt.
»Ja, weil ich doch eine verklebte Rechenseite habe und Sie nicht traurig darüber sein sollen, Tante Fräulein Hering«, schluchzte es jetzt.
Annemarie vergaß ganz, daß ja die Lehrerin nichts von dem Klecks merken sollte, sie hatte nur noch den Wunsch, ihr Gewissen zu entlasten. Ordentlich leicht wurde es ihr ums Herzchen, als es nun glücklich heraus war.
»Na, zeig' mal her, Annemarie«, sagte Fräulein Hering so freundlich wie immer. »Was ist denn da bloß passiert?« Sie hielt die verklebte Seite gegen das Licht.
»Gerda hat mir einen Klecks gemacht, und da ist ein Loch gekommen, als ich mit Bimsstein radieren wollte«, beichtete Annemarie leise.
»Ei, du mußt die Kleine nicht an dein Schulheft heranlassen«, mahnte Fräulein Hering.
»Sie sollte mir doch helfen – aber nun erlaube ich es nie wieder, Puppen sind viel zu dämlich zu Schularbeiten.«
»Was – Gerda ist eine Puppe?« jetzt lachte Fräulein Hering laut auf und dachte gar nicht mehr daran, über die verklebte Seite böse zu sein.
Ach, wieviel besser war es doch, offen die Wahrheit einzugestehen, als etwas zu verheimlichen. Annemarie nahm sich vor, es von nun an stets so zu machen, da ersparte sie sich manch böse Stunde. Und noch eins nahm sich Nesthäkchen vor: Von Puppe Gerda ließ sie sich nie wieder bei ihren Schularbeiten helfen.