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»Guten Morgen, Kinder.« Fräulein Hering betrat die zehnte Klasse, in der es gar lustig wie in einem Bienenhause durcheinanderschwirrte.
Kein Kind saß auf seinem Platz, alles lief umher, teilweise sogar noch in Hut und Mäntelchen. Denn die Fräulein und Kindermädchen durften ihren Schützlingen nur am ersten Tage bis zur Klasse das Geleit geben. Heute sollten sich die Kleinen schon allein ausziehen, und das schwere Kunststück hatte nicht jede fertig bekommen.
Hier zeigten sich zwei ihre bunten, gestern erhaltenen Schultüten, dort versuchten ein paar Wildfänge, ob der Schultisch wohl zu hoch wäre, um davon herunterzuspringen. Ein Kind malte voll Feuereifer Häuser und Püppchen an die große, schwarze Schultafel. Hilde spielte mit Erna »Haschen« durch alle Bänke und schmalen Gänge hindurch. Und Annemarie thronte sogar hoch oben auf dem Katheder. Auch Margot hatte sie dazu veranlaßt, weil man von dort alles viel schöner sehen konnte.
Der jubelnde Lärm verstummte auch nicht beim Eintritt der Lehrerin. Keins der Kleinen ließ sich in seinem Vergnügen stören.
Fräulein Hering hielt sich die Ohren zu.
»Ruhe!« rief sie dann und klatschte in die Hände. Aber der Erfolg davon war, daß ein Teil der Kinder ebenfalls in die Hände zu klatschen begann, denn sie hielten das für einen wunderschönen Spaß; dadurch wurde der Radau noch größer.
»Aber Kinder, schämt ihr euch denn gar nicht, solchen Lärm zu machen!« rief Fräulein Hering mißbilligend und hielt die an ihr vorüberrasende Hilde am Zöpfchen fest. Die riß sich mit übermütigem Lachen wieder los, in der Annahme, daß Fräulein mitspielen wollte.
Etwas leiser war es jetzt doch geworden, die Lehrerin konnte sich wenigstens verständlich machen.
»Wer mich lieb hat, setzt sich artig auf seinen Platz und spricht kein Wort mehr!« rief sie. Da jagte und tappelte es wieder von vielen kleinen Beinchen in braunen, bunten und schwarzen Wadenstrümpfen durch die Klasse. Dann herrschte endlich wohltuende Ruhe.
»So, nun hängt mal erst eure Hütchen und Mäntel draußen an die Garderobenhaken, Kinder, aber ganz leise, auf den Zehenspitzen gehen, daß ihr die anderen Klassen nicht stört«, sagte Fräulein jetzt wieder freundlich.
Artig wurden ihre Worte befolgt. Ein winziges Ding konnte nicht allein mit dem Abschnallen der Mappe fertig werden, da half Fräulein Hering scherzend. Ein anderes hatte die Bänder ihres Samtkäppchens so kunstvoll verknotet, daß die junge Lehrerin zehn ganze Minuten und eine Engelsgeduld dazu gebrauchte, um den zusammengezogenen Knoten zu entwirren. Das dicke Ännchen aber purzelte bei dem Versuch, möglichst leise auf den Zehenspitzen zu gehen, über ihre eigenen kurzen Beinchen, schlug sich das Knie auf und brach in ein jämmerliches Wehgeheul aus. Jetzt mußte Fräulein Hering streicheln, trösten und mit kaltem Wasser kühlen.
»Wie heißt du denn, mein Herzchen?« fragte sie den heulenden kleinen Pausback, denn sie hatte natürlich nicht gleich die fünfzig Namen von dem einen Tage her behalten können.
»Pummelchen«, weinte es weiter, denn so wurde Ännchen wegen ihres kugligen Aussehens daheim gerufen.
Nachdem das laute Schluchzen von Pummelchen endlich gedämpfter geworden, konnte sich das vielgeplagte Fräulein wieder mit den anderen Schülerinnen befassen.
»Du, Kleine, lege die Kreide aus der Hand und setze dich auf deinen Platz«, wandte sie sich nun an die kleine Malkünstlerin, die noch immer neben der Tafel stand. Die aber schob die Unterlippe vor und schien recht wenig von diesem Vorschlag erbaut.
»Ich male doch gerade solchen feinen Garten mit einer Laube drin«, sagte sie weinerlich.
»Wir malen nachher alle, aber im Heft, richtig mit Tinte«, vertröstete sie Fräulein Hering. Dieses Versprechen erschien so überwältigend schön, daß die kleine Malerin mit strahlenden Augen gehorchte. Denn Tinte hatten die meisten Kinder bisher niemals anfassen dürfen.
Jetzt entdeckte Fräulein Hering auch endlich, daß ihr Platz auf dem Katheder bereits besetzt war.
»Nanu, Annemie,« verwunderte sie sich, der Name war ihr noch in Erinnerung geblieben, »was hast du denn da oben zu suchen, willst du etwa statt meiner Unterricht geben?«
»Nee,« lachte die Kleine unbefangen, denn seit gestern hatte sie ein großes Zutrauen zu der jungen Lehrerin, »aber die Aussicht ist hier oben viel feiner!«
Die schüchterne Margot hatte sich sofort mit blutrotem Gesicht vom Katheder heruntergeschlichen, während Doktor Brauns Nesthäkchen ganz vergnüglich weiter dort oben thronte und sogar mit den Beinchen baumelte.
»Ja, Annemie, aber dann habe ich doch keinen Platz«, sagte Fräulein Hering belustigt.
»Och, wir stellen einfach noch einen Stuhl rauf, wir können hier alle beide sitzen.« Klein-Annemarie war selten um einen Ausweg verlegen.
»Nein, Annemie, hier oben haben Kinder nichts zu suchen, der Kathederplatz ist nur für die Lehrerin da«, sagte Fräulein Hering jetzt in so bestimmtem Tone, daß die Kleine sie ganz erschrocken anschaute.
»Bin ich unartig gewesen, Tante Fräulein Hering?« Annemarie fragte es mit herabgezogenen Mundwinkeln.
»Nein, du bist ja jetzt gewiß brav und setzt dich auf deinen Platz; du wolltest doch auch so gern neben deiner kleinen Freundin sitzen«, beruhigte sie Fräulein Hering.
Richtig – sie mußte ja neben Margot sitzen, sonst heulte die am Ende wieder. Ohne Widerrede räumte jetzt Klein-Annemarie der Lehrerin das Katheder.
Nun sollte endlich der Schulunterricht beginnen. Aber ehe Fräulein noch »Lesefibeln herausnehmen« kommandieren konnte, kommandierte die Schulglocke »klinglinglinglingling« – und die erste Stunde war vorüber.
»Nehmt euer Frühstück und geht zu zweien auf den Hof hinunter, jetzt ist Pause«, gebot Fräulein Hering und ließ die Kinder paarweise antreten.
Da stand Hilde Rabe, die kecke, kleine Hilde, neben Annemarie und legte ihr den Arm um die Schulter.
»Komm, ich geh' mit dir«, sagte sie und wollte sie mit fortziehen.
»Nee, das geht nicht,« meinte Klein-Annemarie unschlüssig, »ich muß mit Margot gehen, weil die doch aus meiner Heimat ist. Und Fräulein hat auch eben gesagt, Margot sei meine kleine Freundin, und die muß doch das wissen.«
»Wir können ja alle drei zusammen spielen«, fiel Margot bescheiden ein, der es leid tat, daß Hilde abgewiesen wurde.
Da ärmelte Hilde Annemarie links unter, und diese schlang ihren rechten Arm um die kleine Nachbarin. So zogen sie höchst vergnüglich los, an Fräulein Hering vorüber. Die hob den Zeigefinger: »Ei, da können welche noch nicht bis zwei zählen«, aber sie ließ die drei Kleinen durchschlüpfen.
Unten im Hof war's wundervoll. Soviel Kinder – Kinder, wohin man auch blickte. Da merkte man gar nicht, daß die Bäume noch kahl waren, daß die Büsche kaum ihre Knospenaugen aufgeschlagen hatten, daß die Vöglein noch keine Lieder sangen. Das knospete und blühte ja von vielen hundert kleinen Mädchenblümchen, das zwitscherte und jubilierte aus kirschroten Schnäbelchen noch viel lustiger als die Vöglein im Lenz.
Die Großen spazierten, in langer Reihe eingehakt, kichernd und schwatzend auf dem Hofe herum. Die Kleinen tollten und spielten Kreisspiele. Auch die ganz Kleinen, die eben erst eingeschult waren, schienen hier nicht blöde. Die meisten beteiligten sich am Spiel, das eine Lehrerin leitete. Nur Ilschen fand es schöner, den Papierkasten mit dem fettigen Butterbrotpapier zu durchstöbern, und Marlenchen war nicht vom Brunnen fortzubekommen. Der quietschte so herrlich, wenn man ihn in Bewegung setzte, und bespritzte einen noch überdies von oben bis unten.
Annemarie war selig unter den vielen fröhlichen Kindern; vor lauter Freude vergaß sie es ganz, ihr Frühstück zu verzehren.
Da aber mitten in das schöne Spiel »Faules Ei« klang unerbittlich die Schulglocke »klinglinglinglingling«, die wieder zur Pflicht und Arbeit rief. Der Hof leerte sich, auch die zehnte Klasse tappelte die Treppe hinauf.
Annemarie fand es im Hof bei weitem hübscher als oben in der Klasse.
»Du, Margot, wir bleiben lieber unten,« sagte sie zu ihrer neuen Freundin, »wir können ja allein auch ganz schön spielen.«
»Aber wenn Fräulein Hering böse ist?« gab die verständigere Margot zu bedenken.
»Wenn wir hier artig spielen und keinen Radau machen, ist sie ganz sicher nicht böse«, entgegnete Nesthäkchen mit Überzeugung.
Margot zögerte noch, aber als Annemarie jetzt ihre Ärmchen um sie schlang und bat: »Bitte, bitte, spiele doch mit mir, du sollst doch meine beste Freundin sein!« waren ihre Bedenken besiegt. Sie war ja so glücklich, eine kleine Freundin zu haben.
Noch zwei hatten dem Rufe der Schulglocke nicht Folge geleistet, das waren Ilschen und Marlenchen. Die eine war immer noch nicht mit der Durchsicht des Papierkastens zu Ende gekommen, und die andere konnte sich von dem quietschenden Brunnen nicht trennen.
Fräulein Hering sah natürlich sogleich, daß noch einige Plätze leer waren. Sie trat zum Fenster und schaute in den Hof hinab. Da erblickte sie die vier Kleinen, die ganz gemütlich die Schulstunde schwänzten.
Sie öffnete das Fenster.
»Kinder,« rief sie hinunter, »kommt herauf, jetzt ist Stunde!«
Margot ließ ihre beste Freundin im Stich und lief, was sie nur konnte; auch Ilschen und Marlenchen nahmen schweren Herzens von Papierkorb und Brunnen Abschied. Nur Klein-Annemarie hopste weiter auf einem Bein.
»Ach, Tante Fräulein Hering, ich spiele gerade so schön ›Himmelhops‹«, klang es fröhlich zurück.
»Jetzt ist aber Schulstunde, nachher in der Pause kannst du weiterspielen,« rief Fräulein wieder.
»Och, das dauert mir zu lange.« Klein-Annemarie hopste unbekümmert weiter auf einem Bein.
»Komm jetzt herauf, Annemie«, ertönte es vom Fenster noch einmal ernster hinab.
»Mutti sagt, in der frischen Luft sein, ist tausendmal gesünder, als im Zimmer hocken«, teilte Annemarie darauf Fräulein mit wichtigem Gesichtchen mit.
Aber als sie zu bemerken glaubte, daß die Mienen der jungen Lehrerin traurig aussahen, nahm die Kleine auch noch das andere Bein zu Hilfe und hopste die Treppen hinauf, in die Schulstube zurück. Denn Annemarie hatte ja Fräulein Hering lieb und wollte sie nicht betrüben.
»So ist's recht, Annemie,« lobte die Lehrerin, »nun nimm deine Fibel heraus wie die anderen Kinder.«
Die Fibel war fast ebenso schön wie »Himmelhops«, denn sie hatte herrliche, bunte Bilder.
»Seht ihr, auf dem ersten Bild hängt die kleine Ida ihre Puppenwäsche zum Trocknen auf«, erklärte Fräulein den Kleinen. »Und nun wollen wir den Buchstaben i lernen. Also paßt mal auf, ich schreibe ihn an die Tafel. Fein herauf, stark herunter –«
»Das ist ja eine Eins«, jubelte Annemarie, die bereits bei Bruder Hans es bis zu dieser Wissenschaft gebracht hatte.
»Nein, das wird ein i,« lächelte die Lehrerin, »also noch einmal, fein herauf, stark herunter –«
»Tante Fräulein Hering, das ist aber bestimmt eine Eins; mein Bruder Hänschen hat es mir gesagt, und der muß das wissen, denn der ist schon in der Untertertia und kann auch schon Latein«, rief Annemarie wieder dazwischen.
»Es kommt ja noch ein Aufstrich und ein Pünktchen dazu; siehst du, nun ist es doch keine Eins mehr, Annemie.« Fräulein Hering blieb immer gleich freundlich und geduldig.
Jetzt hatte auch Klein-Annemarie nichts mehr gegen das i einzuwenden.
»Nun tritt mal hier vor, Annemie, da du ja so schön Bescheid zu wissen scheinst, und male das i nach an die Tafel«, winkte die Lehrerin.
»Einen Augenblick, Tante Fräulein Hering, jetzt kann ich nicht!« Eifrig kramte das kleine Mädchen in ihren Sachen.
»Was hast du denn so Wichtiges zu tun, Annemie?« Die Lehrerin amüsierte sich heimlich über das allerliebste kleine Ding, das noch so gar keine Ahnung von dem Ernst der Schule hatte.
»Jetzt muß ich erst mal meine Stulle essen.« Damit bissen Annemaries kleine, weiße Mausezähnchen unternehmungslustig in das Frühstücksbrot.
»Aber Annemie, zum Frühstücken ist doch die Pause gewesen; warum hast du denn da nicht gegessen?« fragte die Lehrerin vorwurfsvoll.
»Na, da hatte ich doch keine Zeit.« Annemaries rundes Gesichtchen sah genau so vorwurfsvoll drein wie das von dem Fräulein.
»Ja, was hattest du denn da in aller Welt zu tun?« Fräulein Hering schüttelte den Kopf.
»Da mußte ich doch spielen.« Jetzt schüttelte Klein-Annemarie das Köpfchen über ihre Lehrerin, die das doch eigentlich wissen mußte.
»Siehst du, Annemie, die anderen Kinder haben alle in der Pause ihr Frühstück verzehrt und dann erst gespielt. Morgen wirst du daran denken, nicht wahr?«
»Ach, es schmeckt mir jetzt auch ganz gut«, beruhigte die Kleine Fräulein Hering.
Diese mußte wieder lächeln.
»Aber es ist nicht erlaubt, Annemie, während der Stunde zu essen; tu dein Brot jetzt fort.«
»Nee.« Klein-Annemarie legte das Blondköpfchen auf die Seite und blinzelte Fräulein Hering pfiffig zu, als ob sie sagen wollte: »Ich weiß ja ganz genau, daß du bloß Spaß machst.« Dann aber, als sie sah, daß Margot sie mit großen Augen anstaunte, hielt sie ihrer neuen kleinen Freundin ihr Brot freigebig hin: »Willst du mal abbeißen, Margot, es schmeckt fein; Hanne hat Braten raufgelegt.«
Margot schüttelte verlegen das Köpfchen. Fräulein Hering aber wußte nicht, ob sie lachen sollte oder ärgerlich sein.
Sie trat zu der kleinen Hungrigen, half ihr das Brot wieder in das Papier packen und sagte: »Wenn du mich lieb hast, Annemie, dann ißt du nie wieder in der Stunde, wirst du dir das merken?«
»Ja, natürlich,« Annemarie nickte einverstanden, »bloß wenn ich mal ganz schrecklich großen Hunger habe!« Dann sprang sie endlich zur Wandtafel und malte dort ein i nach, das sah aus wie der Siebenmeilenstiefel des Menschenfressers, und das Pünktchen sprang, statt darüber, irgendwo daneben als kleiner Däumeling. Dazu gab sie sich bei Fräuleins Kommando »stark herunter« so große Mühe, daß die Kreide von der Anstrengung mittendurch brach.
Nachdem noch einige andere Kinder die Tafel mit fürchterlichen Schlangenlinien, niedlichen spitzen Zuckerhütchen und hohen Bergen, die sämtlich ein i vorstellen sollten, beschmiert hatten, gebot Fräulein: »Schreibhefte und Federhalter herausnehmen!«
Wie strahlten da die blauen, grauen und braunen Kinderaugen, als der schöne, neue Federhalter mit der blanken Stahlfeder, der zu Haus immer nur von weitem bewundert worden war, zum erstenmal von den kleinen Händchen selbst geführt werden durfte. Als die niedlichen Tintenwischer alle neben den Tintenfässern aufmarschierten und die bunten Löschblätter im Schreibheft so lustig leuchteten.
»Vorsichtig, nur ein ganz klein wenig die Feder in die Tinte tauchen«, mahnte die Lehrerin, »und dann schreibt ihr zwischen den ersten beiden Linien ein schönes i.«
Hei – badeten da die Federn in dem schwarzen Tintensee, und die Fingerchen natürlich trotz aller Vorsicht mit.
»Fein herauf, stark herunter, fein herauf – Pünktchen!« kommandierte Fräulein Hering dazu.
Annemarie hatte in ihrem Eifer überhört, daß der Buchstabe nur in den ersten beiden Linien stehen sollte; sie malte ihr i in Riesengröße über die ganze Heftseite. Und da ihr das »stark herunter« nicht kraftvoll genug gelungen war, nahm sie kurz entschlossen den Federhalter verkehrt, tauchte ihn tief in die Tinte und schmierte nun mit dem Holzstiel lustig drauf los, denn tuschen tat sie für ihr Leben gern.
»Au, fein ist es geworden!« Mit heißen Bäckchen und einem stattlichen Tintenschnurrbart, denn Klein-Annemarie war in ihrer Aufregung mit dem tintigen Federhalter unter dem Näschen herumgefahren, hielt sie inne. »Zeig mal deines, Margot; och, ist das klein und mieserig!« Wer da Margots Gesichtchen betrübt über das abfällige Urteil dreinblickte, schlang Annemarie zärtlich ihre Tintenfinger um die Freundin.
»Sei nicht traurig, Margot,« rief sie dabei, ohne sich um Fräulein Hering zu kümmern, »du bist doch meine beste Freundin, wenn du auch solch häßliches i gemalt hast!«
»In der Stunde darf man nur sprechen, wenn man gefragt wird, Annemie.« Fräulein Hering, welche die verschiedenen Kunstwerke begutachtete, wandte sich jetzt zu den beiden. »Sieh mal an, mir gefällt Margots kleines i besser als dein Riesending, Annemie. – Aber wie siehst du denn bloß aus, Kind!« unterbrach sie sich entsetzt. »Gesicht und Hände alles voll Tinte, und deine kleine Freundin hast du ja auch ganz eingeschmiert. Das schöne, rote Musselinkleidchen von Margot zeigt den Abdruck von all deinen Tintenfingern, Annemie. Ihr schaut aus wie die Tintenbuben aus dem großen Tintenfaß des Nikolas.«
Annemarie lachte hell auf. Margot aber fing an zu weinen. Da schlang Annemarie bestürzt aufs neue den Arm um sie, dabei bekam Margots weißes Schürzchen auch noch ein paar schwarze Flecke ab; dann küßte Klein-Annemarie zärtlich die weinende Freundin mit ihrem Tintenschnurrbart auf die Wange.
In der darauffolgenden Pause versuchte Fräulein Hering vergebens, die beiden Tintenmädel zu säubern, aber die Tinte war echt und ging nicht ab.
»Ihr müßt zu Hause Zitrone und Bimsstein nehmen«, tröstete die Lehrerin.
Dann war Rechenstunde.
Annemarie lernte darin allerlei. Erstens, daß man sich nur mit dem Zeigefinger meldet und nicht mit allen zehn Fingerchen. Zweitens, daß man dabei nicht auf die Bank klettert. Und drittens, daß man auch seine beste Freundin während der Stunde nicht küssen darf.
»Ach Gott,« dachte Klein-Annemarie beklommen, »wie soll ich das bloß alles behalten! Na, Fräulein sagt ja, man muß zehn Jahre in die Schule gehen, bis dahin werde ich es am Ende doch gelernt haben.«
»Wieviel Geschwister hast du, Annemie?« unterbrach da Fräulein Hering Annemaries nachdenkliche Betrachtungen, denn es war ihr nicht entgangen, daß die Kleine mit ihren Gedanken wo anders war.
»Gar keine Geschwester, bloß zwei Brüder, Hänschen und Kläuschen«, war die Antwort.
»Nun passe mal auf, Annemie. Denk' mal, deine Mama gibt einem deiner Brüder drei Äpfel und sagt, er soll jedem von euch beiden einen abgeben, wieviel behält er da übrig?«
»Wenn sie die Äpfel Klaus gibt, alle drei, der ißt sie bestimmt allein auf und gibt uns nichts ab!« rief Doktors Nesthäkchen ohne Besinnen.
Fräulein lachte.
»Aber wenn sie nun die drei Äpfel deinem anderen Bruder gibt?«
»Hänschen – na, der wird vielleicht einen halben übrigbehalten«, überlegte Annemarie.
»Einen halben – nein, er muß doch einen ganzen übrigbehalten, wenn er euch jedem einen abgibt«, versuchte die Lehrerin ihr klarzumachen.
Aber Nesthäkchen rief: »Nee – i bewahre, Tante Fräulein Hering, da kennen Sie den Klaus schlecht. Der stibitzt Hänschen bestimmt noch einen halben Apfel weg!«
Da zog es die junge Lehrerin vor, ihre Rechenaufgabe lieber an einem anderen Kinde, das weniger unberechenbare Brüder hatte, zu beweisen.
Als die Glocke wieder »klinglinglinglingling« machte, war die Schule für die zehnte Klasse zu Ende.
Mit offenem Mäntelchen, mit falscher Matrosenmütze und dem prächtigen Tintenschnurrbart erschien Nesthäkchen unten im Schulhof, wo ihr Fräulein sie erwartete. Die war nicht sehr erbaut von dem Anblick ihres Pfleglings. Die Matrosenmütze wurde nach mehreren mißlungenen Versuchen endlich wieder richtig eingetauscht, und der Schnurrbart nach noch mißlungeneren, ihn am Brunnen fortzurasieren, schließlich geduldet.
Nesthäkchens Mund stand dabei keinen Augenblick still. Es erzählte begeistert von der Schule und von all dem Neuen, was es gelernt.
Auch Emilie, Margots Kindermädchen, war über das Aussehen der Kleinen entsetzt. »Das schöne, neue Kleid ganz voll Tinte; na, komm du nur nach Haus, Margot, dort setzt es sicher was!«
Da aber lehnte Annemarie zärtlich die Wange an das mit den Tränen kämpfende Kind.
»Weine nicht, Margotchen,« flüsterte sie, »wenn du Wichse kriegst, brauchst du bloß ganz laut zu schreien, dann komm' ich rüber und laß mir für dich die Haue geben, denn ich bin doch schuld an den Flecken!«
Und Arm in Arm zogen die beiden kleinen, tintenbeschmierten Freundinnen nach Haus.