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Annemarie hielt Wort. Sie dachte stets daran, ihr Unrecht an Vera gut zu machen. In zarter Weise war sie bemüht, die Trauernde zu trösten und die Wunde, die das Schicksal dem armen Kind geschlagen, durch liebevolle Freundschaftsbeweise zu heilen.
Wie hätte auch ein deutsches Mädchen nicht Wort gehalten! Das taten doch nur die Italiener, daß sie Freunden ihr Wort brachen. Im Hause Doktor Brauns wurde nicht schlecht über die treulosen Bundesgenossen, die den einstigen Verbündeten heimtückisch in den Rücken fielen, hergezogen. Hans hielt lange Reden, deren Schluß stets war, daß auch er nun unbedingt zu den Fahnen müsse, da noch ein neuer Kriegsschauplatz gegen Süden eröffnet wurde! Klaus wünschte Italien mit unternehmungslustigem Armrecken »die schönste Kloppe«. Nesthäkchen aber dachte: »Wenn ich jemals wieder schlecht zu Vera bin, wäre ich noch schlimmer als die Italiener.«
Aus Frühling ward Sommer. Großmama hatte in dieser ernsten Zeit keine Lust, in einen Badeort zu reisen. Und doch war Berliner Schulkindern ein Hinauskommen in Gottes freie Natur notwendig. So wurde diesmal das Gut Arnsdorf zum Ferienaufenthalt gewählt. Es zog die Großmama zu ihrer zweiten Tochter Kätchen, da sie die ältere noch immer entbehren mußte. Und die drei Kinder konnten sich obendrein bei der Erntearbeit nützlich machen.
Das taten sie denn auch freudig unter Einsetzung all ihrer Kräfte. Mit Kusine Elli und den beiden Vettern um die Wette banden sie Garben, und luden sie das Getreide auf. Denn die Leute waren knapp auf den Gütern geworden; was handfeste Arme hatte, war im Krieg.
»Ihr müßt nächstes Jahr doppelte Brotkarten für euren Fleiß bekommen, Kinder«, scherzte Onkel Heinrich, der zur völligen Herstellung seiner Wunde noch einige Wochen Urlaub erhalten hatte. »Besonders das Kleine, das heute einen großen Strauß Mohn und Kornblumen für die Großmama gepflückt hat, anstatt für Brotgetreide zu sorgen. Ist das Vaterlandsliebe, he?«
»Das Kleine« wurde röter als der Mohn, trotzdem Onkel Heinrich nur Scherz machte.
»Annemarie hat sehr fleißig bei der Obsternte geholfen«, nahm sich Tante Kätchen ihres Nichtchens an.
»Ja, beim Futtern!« fiel einer der Vettern ungalant ein.
Nesthäkchen aber sah Tante Kätchen dankbar an. Es hatte die Tante diesmal ganz besonders lieb, weil – sie der Mutti so ähnlich war.
Klaus, der in Arnsdorf als Strolch von früheren Ferienaufenthalten her rühmlichst bekannt war, benahm sich diesmal merkwürdig zahm. Auch an dem wilden Strick war der Ernst der Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Der einzige Streich, den er sich leistete, war, daß er Tante Kätchens halbe Wirtschaft heimlich in einen alten ausgetrockneten Wassergraben schleppte, aus dem er sich einen wundervollen Schützengraben baute. Denn seitdem Onkel Heinrich den Kindern von dem Höhlenleben unter der Erde erzählt hatte, richteten sich alle Wünsche von Klaus darauf, ebenfalls solch ein Höhlenbewohner zu werden.
Mitten hinein in die emsige Erntearbeit jubelten die Siegesglocken Warschaus Fall. Die Hauptstadt Polens war in deutscher Hand, der Feind auf der ganzen Linie geschlagen und zurückgedrängt.
Doch immer weiter brüllten unersättlich die Geschütze, heulten die grausamen Granaten durch die herbstlich werdende Luft. Ob Ost, ob West, ob Süd, ob über, auf oder unter der Erde, mit unverminderter Heftigkeit tobte der Weltkrieg. Die siegreiche Heeresgruppe des General Mackensen marschierte über die Donau nach Serbien hinein, die Verbindung zwischen Abend- und Morgenland war geschaffen. Bulgariens tapfere Söhne schlossen sich als Verbündete den Zentralmächten an. Der zweite Kriegswinter begann.
Das Schubertsche Mädchengymnasium siedelte zu Oktober wieder in die gewohnten Räume über. Man bedurfte der Schule nicht mehr zu Lazarettzwecken, da genug Privatheilanstalten sich dafür zur Verfügung gestellt hatten.
Mit neuem Fleiß wurde in den alten Räumen geschafft. Unermüdlich regten sich emsige Mädchenfinger, die Kämpfenden, die schon das zweitemal das Weihnachtsfest fern von der Heimat begehen sollten, durch nützliche Gaben zu erfreuen.
Es war ein häßlicher, regengrauer Novembertag. Margot, Vera und Annemarie, die drei »Unzertrennlichen«, wie sie jetzt in der Klasse hießen, drängten sich beim Heimweg von der Schule unter einen Schirm, trotzdem jede den ihren bei sich hatte. Aber so war es viel gemütlicher, wenn man auch etwas naß wurde.
»Drei Würmchen unter einem Schirmchen«, lachte Annemarie und machte einen gewaltigen Satz über eine Pfütze hinweg. Natürlich mußten die andern beiden mithopsen.
»Weißt du noch, Annemie, wie du nicht mit mir unter einem Schirm gehen wolltest?« fragte Vera halb ernst, halb scherzhaft. Bis auf das rollende Rrr hörte man ihrer Sprache nichts Fremdes mehr an.
Annemarie legte der Freundin mit bittendem Blick die regenfeuchte Hand auf den Mund. Sie mochte nicht an jene häßliche Zeit erinnert werden.
»Aufgepaßt!« eine Straßenfegerin hätte das Kleeblatt unter dem Regenschirm bei einem Haar mit ihrer Schaufel fortgekehrt.
Das verursachte wieder Lachen und Hopsen.
»Heiliger Bimbam, jetzt gibt es schon Straßenfegerinnen, und eine Postillionin habe ich neulich auch schon gesehen«, rief Annemarie belustigt.
»Na, in den Warenhäusern sind doch jetzt auch überall Fahrstuhlführerinnen«, fiel Margot ein.
»Und auf der Stadt- und Untergrundbahn sieht man nur Schaffnerinnen« – – –
»Wenn der Krieg noch lange dauert, steht bald an den Straßenecken eine Schutzfrau anstatt eines Schutzmannes«, unterbrach Annemarie die Freundinnen übermütig.
»Eigentlich ist es gar nicht zum Lachen, sondern sehr ernst«, Margot war die Überlegteste von den dreien. »Zu uns kommt jetzt immer solche nette Briefträgerin. Die hat kleine unversorgte Kinder daheim und muß doch den ganzen Tag fort von Haus, um in dieser schweren Zeit durchzukommen.«
»Ja, es ist eine schwere Zeit«, nickte auch Annemarie mit drollig wirkendem Ernst. Sie dachte dabei an die Marmeladenbrote, die es jetzt statt der einstigen Buttersemmeln nur noch zum Frühstück gab. »Aber die Briefträgerin mag ich nicht, die hat uns noch keinen einzigen Brief von Mutti gebracht. So lange warten wir jetzt schon wieder auf Nachricht.«
»Die Briefträgerin kann sicher nichts dafür, Annemie«, verteidigte sie Margot.
»Am Ende sind die Fliegerbomben, die jetzt öfters auf London herabgerasselt sind, schuld, daß keine deutschen Briefe herausgehen dürfen, meint mein Bruder Hans. Ach, ich wollte, ich wäre ein armes Briefträgerinkind, das hat doch seine Mutter wenigstens des Morgens und des Abends.«
»Was soll ich erst sagen, Annemie!« ganz leise kam es von Veras Lippen.
Annemarie drückte zärtlich ihren Arm. »Du hast recht, Vera, ich bin ein ganz undankbarer Schlingel!«
Mittags aber, als Annemarie bei der dampfenden Suppe saß und sich unten im Hof ein dünnes Kinderstimmchen hören ließ, das zur Laute der Mutter um ein paar Pfennige sang, dachte sie wieder, während sie der Kleinen ein Geldstück hinunterwarf: »Wie gern wäre ich das arme Kind und sänge bei diesem Hundewetter aus den Höfen, hätte ich nur meine liebe Mutti bei mir!«
Großmamas weichem Herzen tat die kleine Sängerin leid. »Rufe das Kind herauf, Annemie, es ist noch ein Teller Suppe übrig. Das arme Dingelchen hat gewiß heute noch nichts Warmes bekommen.«
Annemarie entledigte sich strahlend ihres Auftrags. Ein gutes Kind hilft ja so gern.
»Die Mutter ist auch mitjekommen, die arme Frau ist blind. Und was das kleeen Wurm is, is janz durchnäßt«, meldete Hanne.
»O weh, für zwei reicht die Suppe nicht mehr. Hätten wir doch jeder etwas weniger gegessen«, sagte Großmama bedauernd.
»Großmuttchen, ich gebe meine Suppe, ja, bitte, bitte, erlaube es doch«, Nesthäkchen floh von Mitleid über. Hatte sie nicht die arme Kleine vor kurzem um ihre Mutter beneidet? Und nun war diese blind!
Großmama hatte nichts dagegen. Es schadet einem Kinde nichts, wenn es sich mal selbst Opfer auferlegt, um der Armut zu helfen.
Eigenhändig trug Annemarie ihren fast noch vollen Teller in die Küche und schaute mit frohen Augen zu, wie es der hungrigen kleinen Sängerin mundete. Fräulein mußte sie wieder zu Tisch zurückholen.
Drin aber schlug Hans, seit kurzem Oberprimaner, vor: »Wir wollen uns jeder etwas weniger Fleisch und Gemüse nehmen, dann bleibt noch genügend für die armen Leute.«
»Brav, Hans«, lobte Großmama. Selbst Klaus hatte die löbliche Absicht, seinen Appetit etwas einzudämmen; es wurde ihm auch bei dem Kohlgemüse nicht allzuschwer. Aber als Hanne, die sich noch immer nicht an die Kriegssparsamkeit im Haushalt gewöhnen konnte, noch einen Eierkuchen auftrug, meinte Klaus bedauernd: »Ich glaube, jetzt kann das Mädel aber schon satt sein!«
»Pfui, Klaus,« rief Nesthäkchen eifrig, »das arme Ding hat in der Küche den schönen Eierkuchen gesehen und gerochen und soll nun nichts davon haben? Das wäre schlecht von uns.«
»Ja, Herzchen, es wird aber schwer halten, zwei Teile mehr herauszubekommen.« Großmama sah zweifelnd auf die Eierkuchen. »Hanne hat nur auf sechs Personen gerechnet. Ich will ja gern auf den meinigen verzichten.« –
»Ich auch auf meinen!« fiel Annemarie ein, trotzdem es ihr durchaus nicht leicht wurde. Denn Eierkuchen mochte das Süßschnäbelchen besonders gern.
Hans erbot sich nun auch zum Verzicht, nur Klaus brummte: »Die Krabbe wird viel zu sehr verwöhnt, wenn sie so gutes Essen kriegt!«
Nesthäkchen aber trug ganz schnell, ehe es ihr wieder leid wurde, ihren Eierkuchen dem kleinen Gast hinaus. Und als sie das Aufleuchten der Kinderaugen sah, empfand Annemarie nur noch Freude über das Opfer, das sie gebracht.
Aber was war denn das?
Als sie jetzt wieder ins Zimmer zurückkehrte, da stand ja auf ihrem Platz ein ganzer Teller voll Eierkuchen. Keiner wollte wissen, wie der da hingekommen war. Jeden, den Nesthäkchen im Verdacht hatte, ihr sein Teil zugeschoben zu haben, lachte und schüttelte den Kopf. Zuletzt blieb bloß noch Klaus als gütiger Spender übrig, der einzige, der nur an seinen eigenen Magen gedacht hatte.
»Weißt du, Großmuttchen,« überlegte Annemarie, während sie es sich schmecken ließ, »eigentlich könnte das arme Kind doch öfters bei uns essen. Es hat die ganze Woche nur Kaffee und trockenes Brot zum Mittag bekommen. Wenn wir jeder ein ganz klein bißchen weniger kriegen, wird es auch noch mit satt, und oft bleibt doch noch etwas übrig. Zu Veras Tante kommt täglich ein Kriegskind zu Tisch, und drüben bei Thielens holt sich eine Familie zweimal die Woche das Essen.«
Großmama, die in aller Stille viel Gutes tat, war auch dazu sofort bereit. »Aber ich muß erst mal mit der Frau sprechen, daß man es auch keinem Unwürdigen zukommen läßt«, setzte sie noch hinzu.
Was war das für ein elendes Leben, von dem die Blinde berichtete! Annemarie, die sich neugierig hinter der Großmama hergeschlichen, traten die Tränen in die Augen. Der Mann war tot, und die Frau, die sich sonst durch Stühleflechten armselig ernährt, hatte jetzt in der Kriegszeit so gut wie nichts zu tun. Dazu die hohen Lebensmittelpreise – meist gingen Mutter und Kind hungrig ins Bett. Die paar Groschen, die die kleine Trude auf den Höfen durch ihren Gesang erhielt, reichten knapp zur Miete.
Großmama war eine tatkräftige Frau. Zuerst schickte sie die durchnäßte, vor Kälte zitternde Trude mit Fräulein und Annemarie ins Kinderzimmer und ließ ihr trockenes Zeug geben. Seit der Reichswollwoche war Annemarie schon manches wieder ausgewachsen, und Trude war trotz ihrer dreizehn Jahre nur klein und schmächtig. Bald hatte sie statt ihrer zerlöcherten Schuhe feste Stiefel auf den Füßen, und über dem warmen Wollkleid von Annemarie eine ausgewachsene Lodenpelerine von Klaus, deren Kapuze den Kopf vor Regen schützte. Auch die Mutter erhielt warme Sachen von Großmama und Fräulein.
Als die beiden mit innigen Dankesworten wieder in den kalten Novemberregen hinausgingen, von Hof zu Hof, da dachte Doktors Nesthäkchen: »Womit habe ich es nur verdient, daß es mir so gut geht!«
Nun stellte sich die kleine Trude täglich zu Tisch ein. Hanne, die als herrschaftliche Köchin zuerst etwas gebrummt hatte, daß ihr das »Bettelvolk« ihre schön gescheuerte Küche mit den nassen Füßen schmutzig trete, söhnte sich von Tag zu Tag mehr mit dem kleinen Gast aus.
Trude war wirklich ein liebes, und durch die Not über ihre Jahre verständiges Mädchen. Sie half, um ihre Dankbarkeit für das Mittagbrot zu beweisen, der Hanne stets beim Abtrocknen des Geschirrs und bot sich zu Botengängen und sonstigen kleinen Diensten an. Für die Mutter nahm sie das Essen mit nach Haus. Großmama, die nichts halb tat, hatte dafür Sorge getragen, daß der armen Blinden von dem Strickverein, dem sie angehörte, Wolle geliefert wurde. Jedes Paar Strümpfe, das sie brachte, wurde gut bezahlt. Denn der Verein wollte arme Frauen unterstützen, ohne daß es ein direktes Almosen war. Die Blinde strickte schneller und besser wie die meisten, die ihr Augenlicht hatten. So verdiente sie soviel, daß die kleine Trude nicht mehr auf den Höfen zu singen brauchte.
Öfters bat Annemarie das Kriegskind, noch ein bißchen zu ihr ins Kinderzimmer zu kommen. Da Trude ein wohlerzogenes, gutgeartetes Mädchen war, hatte weder Großmama noch Fräulein etwas dagegen einzuwenden. So saßen die Kinder des Glückes und das Kind der Armut denn an den langen Winternachmittagen traulich beisammen und strickten, beide um die Wette, für die Feldgrauen. Wie der Krieg draußen an der Front ein kameradschaftliches Band zwischen arm und reich gewoben, so tat er es auch in der Kinderstube.
Aber ein kleines Restchen von Vorurteil und überhebendem Stolz war trotz alledem in Nesthäkchens Herzen geblieben.
Annemarie und ihre fünf Freundinnen hatten in diesem Winter zum erstenmal ein Kränzchen. An jedem Sonnabend kamen sie zum Kaffee zusammen. Entweder wurde für die Soldaten gestrickt, oder sie nähten unter Fräuleins Anleitung für ihren Junghelferinnenjungen Kittelchen. Das waren wunderhübsche Nachmittage. Eine las irgendeine hübsche Erzählung vor, und die andern waren fleißig bei der Arbeit. Auch Veras blasse Wangen röteten sich dann vor Eifer, und ihre Augen bekamen wieder Frohsinn und Glanz im Kreise der fröhlichen Genossinnen.
Heute war bei Annemarie Kränzchen. Sie hatte ihr Zimmer besonders hübsch aufgeräumt und den Tisch eigenhändig zierlich gedeckt. Da Großmama auch Besuch erwartete, tranken die Kränzchenschwestern im Kinderzimmer Kaffee. Annemarie war durchaus einverstanden damit, sie fand es besonders gemütlich, Trude hatte ihr neulich einen Winterstrauß roter Beeren und Tannengrün, den sie in einem Blumengeschäft, für das sie öfters Botengänge tat, geschenkt bekommen, netterweise mitgebracht. Der prangte in der Mitte des weißgedeckten Tisches und machte ihn ganz festlich.
Es war gegen vier Uhr, gleich mußten die Freundinnen kommen. Annemarie stand am Fenster und spähte aufgeregt zu Margots Wohnung hinüber, die stets die erste war, da sie es am nächsten hatte.
Da klopfte es leise.
»Herein«, rief Annemarie und sprang zur Tür, in der Meinung, daß es Margot wäre.
Die schmale Gestalt des Kriegskindes schob sich schüchtern hinein.
»Wenn du erlaubst, Annemarie, kann ich heute nachmittag bei dir bleiben, Mutter braucht mich nicht«, sagte es bescheiden.
Annemarie schoß das Blut in das Gesicht. Sie wollte die Trude nicht gern verletzen, aber – das war doch wirklich unmöglich!
Trude, der ihr Zögern nicht entging, bemerkte jetzt erst den festlichen Tisch mit den sechs Tassen.
»Ach, du bekommst Besuch – entschuldige, das wußte ich nicht. Da will ich dich natürlich nicht stören«, freundlich nickte sie ihr noch einmal zu und zog sich ebenso bescheiden zurück, wie sie gekommen war.
Nesthäkchen aber blieb mit einem ganz eigenartigen Gefühl zurück. Es wußte nicht, hatte es recht oder unrecht gehandelt?
»Es ist doch bloß unser Kriegskind, und ich kann doch meinen Freundinnen nicht zumuten, mit einer, die auf den Höfen gesungen hat, zusammen Kaffee zu trinken«, beschwichtigte Annemarie das lästige Empfinden in ihrem Innern.
Doch das wollte sich nicht zur Ruhe bringen lassen. Konnte die Trude denn was dafür, daß sie das Kind armer Eltern war? War es nicht anerkennenswert, daß sie in Wind und Wetter gesungen hatte, um für die blinde Mutter den Lebensunterhalt zu verdienen? Und wie freundlich die Trude trotz der Abweisung gewesen war, nicht die Spur beleidigt ... Ach, am Ende war es auch gar nicht so schlimm, daß sie das Kriegskind nicht zum Bleiben aufgefordert hatte! Nesthäkchens sorgloses Wesen bekam wieder die Oberhand.
Aber es war merkwürdig. So richtig von Herzen vergnügt, so vor Übermut sprühend, wie sie es sonst war, konnte Annemarie heute nicht im Kränzchen sein. Sobald ihr Blick auf Trudes Winterstrauß fiel, wurden Nesthäkchens lustige Augen ganz ernst und nachdenklich. Was hätte es wohl geschadet, wenn das Kriegskind mit seinem Strickzeug hier unter ihnen gesessen hätte? Und für dasselbe wäre es sicher ein Festtag in dem armseligen Dasein gewesen.
Das Weihnachtskittelchen für den kleinen Max war soeben fertig geworden. Nun wurde hin und her überlegt, was man das nächstemal vornehmen wollte. Da sagte Annemarie plötzlich, die sich bisher nicht an den Verhandlungen beteiligt hatte: »Wenn Fräulein so gut wäre, uns zu helfen, möchte ich euch bitten, für unser Kriegskind ein Sonntagskleid zu nähen. Trude hat nur das alte ausgewachsene von mir, das muß sie Wochentags und Sonntags tragen. Was meint ihr dazu?«
»Ach, Annemarie, solch großes Kleid werden wir nicht zustande kriegen«, gab Margot zu bedenken.
»Warum denn nicht, da sind die Nähte eben etwas länger«, rief Ilse lustig.
»Muttchen hat mir ein wunderhübsches Kleid genäht, ganz einfach, die Ärmel wurden gleich abgeschnitten: nach dem Muster könnten wir es ganz gut machen«, Marianne stimmte eifrig zu.
Auch Marlene und Vera wollten sich gern beteiligen.
Annemaries nettes Fräulein war niemals Spielverderberin. Sie erklärte sich bereit, die Oberaufsicht zu übernehmen und die Maschinennähte zu nähen.
»Den Stoff liefere ich – Tante Albertinchen war so gut, mir gestern Geld zu einem Opernhausbillett zu schenken, ich sollte ›Hänsel und Gretel‹ sehen. Aber wenn ich sie bitte, daß ich statt dessen lieber Kleiderstoff für Trude kaufen möchte, wird sie es mir sicher erlauben«, rief Annemarie lebhaft. Sie fühlte plötzlich, wie die schwere Last, die ihr den ganzen Nachmittag auf der Seele gelegen, schwand. Ohne Unbehagen konnte sie jetzt des Kriegskindes Winterstrauß anschauen.
Noch eine wichtige Frage gab es zu erörtern – die Farbe des Kleides. Die meisten der unpraktischen kleinen Damen waren für mattblau. Aber schließlich bekannten sie sich doch zu Fräuleins Ansicht, daß ein rotes Kleid für die Trude praktischer sei.
Am nächsten Tage blieb der kleine Mittagsgast aus. Bis gegen Abend hielt Hanne das Essen warm, doch das Kriegskind kam nicht. Als es aber auch den darauffolgenden Mittag nicht erschien, meinte die Großmama: »Da ist sicher irgendwas nicht in Ordnung. Ich werde heute nachmittag Hanne mit dem Essen hinschicken und nachfragen lassen.«
Annemarie, deren Gewissen sich wieder bemerkbar machte – denn am Ende kam die Trude nicht mehr, weil sie ihr böse war – erbot sich, mit Fräulein hinzugehen.
So wanderten Fräulein und Doktors Nesthäkchen am Nachmittag in die schmale, schmutzige Gasse, die bei dem fahlen Dezemberlicht noch düsterer ausschaute.
»Hier wohnt die Trude?« unwillkürlich rümpfte Annemarie die Nase, als Fräulein ein baufälliges, wenig einladendes Haus betrat.
Auf dem engen Hof kribbelte es von Kindern. Sie mußten denselben durchschreiten, um in das Quergebäude zu kommen, in dem das Kriegskind zu Hause war.
»Puh – ist das hier eine Luft!« Das verwöhnte kleine Fräulein hielt sich die Nase zu, als es eine altersschwache Treppe emporstieg.
Vier Treppen hoch an einer Tür klopfte Fräulein. Ein kleiner musbeschmierter Junge öffnete. Annemarie blickte durch dicken Wäschedunst in die Küche, in der eine Frau am Waschfaß stand.
Fräulein fragte nach Trudes Mutter.
»Fritze, zeig mal die Damens Bescheid«, die Frau rubbelte weiter auf ihre Wäsche los.
Der musbeschmierte Fritze lief voran in einen stockdunklen Gang. Dort öffnete er eine der vielen Türen und schrie hinein: »Frau Lehmann, Se kriegen Besuch!«
Nesthäkchen hielt sich bang hinter Fräulein. Es war ihr unsäglich beklommen zumute in dieser Dunkelheit, Enge und Armut. Aber die kleine Stube, die sie jetzt betraten, war bei aller Dürftigkeit nett und sauber. Am Fenster, vor dem ein Primeltöpfchen blühte, saß die Blinde mit ihrem Strickzeug. Trude lag daneben auf einem aus zwei Holzstühlen gebildeten Ruhebett.
Als sie Fräuleins und Annemaries ansichtig wurde, verklärte sich ihr blasses Gesicht.
»Bleiben Sie sitzen, Frau Lehmann«, Fräulein drückte die blinde Frau, die höflich aufgestanden war, wieder auf ihren Schemel. »Wir kommen nur mal auf einen Augenblick heran, um zu hören, was mit unserem kleinen Mittagsgast los ist, warum die Trude sich nicht mehr bei uns sehen läßt?«
»Hast du einen schlimmen Fuß?« Annemarie wies erschreckt auf das linke, in festem Verband liegende Bein des Mädchens.
»Ich bin neulich gefallen, als ich von euch kam und habe mir das Bein gebrochen«, gab Trude Auskunft.
»O weh, armes Kind, mußt du große Schmerzen aushalten? Habt ihr auch einen Arzt?« erkundigte sich Fräulein mitleidig.
Ja, der Armenarzt war dagewesen, er hatte Stilliegen verordnet und wollte mal wieder mit vorsprechen.
Nesthäkchen, das sonst so kecke und redselige, brachte kein Wort heraus. Hätte es doch die Trude bloß nicht fortgelassen an jenem Kränzchennachmittag! Abends war Tauwetter eingetreten, da wäre die Trude sicher nicht gefallen.
»Aber wäre es nicht besser, wenn du im Bett bleiben würdest, Trude, du liegst so schlecht auf den Stühlen«, meinte Fräulein.
»Ich habe kein Bett«, Trude wurde rot bis an die hellblonden Haare.
»Wir haben es verkaufen müssen, wie es uns so schlecht ging«, entschuldigte sich die blinde Frau. »Trude schläft seitdem auf dem Strohsack. Ich möchte, daß sie jetzt mit dem kranken Bein in meinem Bette liegt, aber das will das Kind durchaus nicht.«
Lieber Gott – so arm war die Trude, daß sie nicht einmal ein Bett besaß? Und kein Sofa im Zimmer, nur die notwendigsten Möbel – in der Ecke auf der Erde der Strohsack. Annemarie tat das Herz weh. Zum erstenmal sah sie der Not so grade ins Angesicht. Und da hatte sie die arme Trude durch ihren dummen Stolz noch um ein paar frohe Stunden gebracht?!
»Ich komme bald wieder, sehr bald, Trude«, versprach Nesthäkchen beim Abschied.
Und das führte Annemarie auch aus. Sie überwand die Abneigung gegen das düstere, schmutzige Haus mit der Armleuteluft tapfer, um der kranken Trude durch ihren Besuch eine Freude zu machen. Bald brachte sie ihr ein hübsches Buch mit, bald einen besonders schönen Apfel oder ein Stückchen Kuchen, das sie sich selbst vom Munde abgespart. Doktors Nesthäkchen hatte es gelernt, an andere zu denken.
Gleich am nächsten Tage ließ die gute Großmama ein altes Bettsofa aus ihrer eigenen Wohnung in das armselige Stübchen bringen. Von nun an brauchte Trude nicht mehr auf dem Strohsack zu liegen. Jeden Abend trug Hanne der blinden Frau und ihrem Töchterchen das Essen zum nächsten Tage hin. Und das tat sie aus eigenem Antrieb, denn »man hat doch auch 'n Herz im Leibe.«
Aber als die Weihnachtskerzen zum zweitenmal das Dunkel der Kriegszeit durchleuchteten, da ward auch in das Stübchen der Not ein brennendes Tannenbäumchen geschoben. Und ein großer Korb dazu mit Eßwaren und praktischen Dingen. Obenauf aber lag das nette, rote Kleid, das Annemarie und die Kränzchenschwestern eigenhändig für das Kriegskind genäht hatten.