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Der erste Weihnachtsfeiertag blinzelte durch die Spalte des Fenstervorhanges in das Kinderzimmer. Da drin in dem weißen Bett blinzelte ebenfalls jemand – Nesthäkchen. Annemarie hatte sich durch den weiten Schulweg so an das frühe Aufstehen gewöhnt, daß sie selbst jetzt in den Ferien nicht ausschlafen konnte.
Es war auch ganz gemütlich, noch ein wenig im Bett zu dösen und an den gestrigen Weihnachtsabend zu denken. Eigentlich war er hübsch genug dafür ausgefallen, daß die Eltern nicht dabei waren. Zuerst freilich, als Fräulein zur Bescherung läutete, und Vater und Mutti unter dem brennenden Weihnachtsbaum fehlten, da war es Annemarie heiß in die Augen geschossen. Aber sie hatte die Zähne fest zusammengebissen – nein, Großmuttchen durfte nicht merken, daß sie traurig war. Die gute Großmama! Mit wieviel Liebe hatte sie jedes Enkelkind bedacht und jedem seine geheimsten Wünsche abgelauscht. Da wollte sie nicht undankbar sein. Eine süße, kleine Uhr hatte Annemarie bekommen, schon lange ihr sehnlichster Wunsch. War es da ein Wunder, daß die Traurigkeit schnell verflog?
Und was hatte sie selbst für Freude bereitet! Großmama sollte die Mutti doch auch nicht vermissen, da hatte Nesthäkchen statt ihrer der Großmama, die für alle sorgte, den Weihnachtstisch aufgebaut. Etwas merkwürdig war er zwar ausgefallen. Da gab es einen Haken für das Schlüsselbund, das immer Reißaus nahm, und eine Stahlbrille, um die goldene Brille zu suchen, wenn die, was öfters geschah, verlegt war. »Nanu, wollene Ohrenklappen, ja, soll ich denn an die Front, Herzchen?« hatte die Großmama lachend gefragt. Und als Annemarie ihr erklärte, daß sie für Ohrenreißen bestimmt seien, weil Großmama neulich nacht daran gelitten, da lachte die alte Dame noch weit mehr. Aber auch Süßigkeiten gehören zu einem richtigen Weihnachtstisch. Eine Stange Lakritze, für zwei Pfennige Johannisbrot und Gummizucker, alles, was Nesthäkchen selbst gern naschte, hatte sie der Großmama aufgebaut. Da war es kein Wunder, wenn auch bei Großmama die ernsten Gedanken, die gerade heute zu ihren fernen Töchtern hineilen wollten, zerflatterten, und die Freude an den Enkelkindern die Oberhand gewann. Und als Tante Albertinchen mit den grauen Ringellöckchen noch gar durch einen für die Soldaten zu klein geratenen Kopfschützer von Annemarie erfreut wurde, im Fall sie mal Zahnweh bekam, da herrschte trotz der Abwesenheit der Eltern frohe Stimmung im Braunschen Hause.
Eigentlich verstand Annemarie jetzt im Morgengrauen gar nicht, daß sie gestern so vergnügt gewesen. Wo nicht mal ein Weihnachtsgruß von Mutti gekommen war! Dachte denn Mutti gar nicht mehr an ihre Kinder?
In dem Nebenzimmer rumpelte Hannes Teppichmaschine. Fräulein wollte noch immer nicht aufwachen. Die Türglocke schellte – der Briefdurchwurf klappte herunter – wie der Wind war Annemarie aus dem Bett und draußen. Täglich kehrte sie enttäuscht von ihrem Morgenausflug wieder zurück, sicher würde es auch heute so sein.
Die Zeitung, eine Feldpostkarte an Hans, aber hier dies – Nesthäkchens Augen wurden unnatürlich groß. Das waren doch Muttis liebe Schriftzüge, die sie schon mehrere Monate nicht mehr gesehen. – »Großmama – Fräulein – ein Brief – ein Brief von der Mutti!« Annemarie brüllte es durch das noch schlafende Haus, als ob Feuer wäre.
Aus allen Türen kamen sie herbeigestürzt in den sonderbarsten Verkleidungen. Aber wer achtete in diesem Augenblick darauf, daß Großmama in der begreiflichen Aufregung ihren lila Schlafrock verkehrt, mit der Futterseite nach außen, übergestreift hatte! Wer sah, daß Fräulein sich statt in ihr warmes Umschlagetuch, in die Tischdecke gewickelt hatte, und daß Hans in der Eile in die Hosen von Klaus hineingefahren war? Aller Augen waren nur auf den Brief aus dünnem, überseeischem Papier gerichtet, den Nesthäkchen jubelnd wie eine Siegesfahne in der Luft herumschwenkte.
Die stets ängstliche Großmama bemerkte nicht einmal, daß Annemarie als Barfüßchen herumlief, und das wollte viel sagen.
An Großmama war der Brief gerichtet.
»Meine Brille, Herrgott, wo ist denn bloß meine Brille jetzt wieder hin?« in höchster Aufregung begann Großmama zu suchen. Annemarie brachte schnell die Weihnachtsbrille herbei; wie gut, daß sie Großmama die geschenkt. Aber als Großmama sie auf die Nase setzte, um nun endlich den Brief zu lesen, da waren keine Gläser drin.
»Die sollst du dir erst vom Optiker einsetzen lassen, weil ich deine Nummer nicht wußte«, erklärte Annemarie.
Solange konnte Großmama unmöglich mit dem Studieren des Briefes warten. Hans erbot sich, ihn vorzulesen. Fräulein hüllte inzwischen die vor Kälte und Erregung zitternde Annemarie in eine warme Schlafdecke.
»Geliebte Mutter, meine lieben, lieben Kinder«, begann Hans zu lesen. »Soeben erhalte ich Euer Schreiben über Holland, das wochenlang unterwegs gewesen sein muß. Zu meiner größten Bestürzung ersehe ich daraus, daß Euch keine meiner vielen Nachrichten bisher erreicht hat, und Ihr Euch Sorgen um mich gemacht habt. Ich habe mindestens zweimal die Woche an Euch geschrieben, manchmal auch öfters. Denn daß ich mit meinen Gedanken unausgesetzt bei Euch weile, könnt Ihr Euch denken. Auf meine Bitten hat Vetter Charles Edward Nachforschung gehalten, woran es liegt, daß meine Briefe nicht an Euch gelangen, da doch Post von hier nach Deutschland geht. Genaues hat auch er nicht erfahren können. Nur soviel, daß ich wohl meinen Empfindungen und Wünschen für unser teures Vaterland allzu deutlich darin Ausdruck verliehen habe, ohne daran zu denken, daß jeder Brief, der aus England herausgeht, einer Prüfung untersteht. Der Vetter meint, es wäre ganz sicher, daß meine Briefe von der Zensur angehalten und nicht weiter befördert seien. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Darum will ich diesmal alles, was ich fühle, in mich verschließen, damit dieser Brief durchgelassen wird. Ich werde mich darauf beschränken, Euch die Tatsachen zu wiederholen, von denen ich annahm, daß Ihr sie längst kennt.
Die Kriegserklärung kam so überraschend für uns, die wir in unserer ländlichen Einsamkeit kaum die Zeitung lasen, daß sie Kusine Annchen und mich doppelt erschreckend traf. Ich war ganz krank vor Aufregung und wollte natürlich sofort heimreisen. Jedoch die Angst um Euch, besonders um meine kleine Lotte, die ich allein an der Nordsee wußte, und um meinen Mann, der ja gleich mit ins Feld mußte, verschlimmerte meinen Zustand derart, daß ich hoch zu fiebern begann. Tagelang lag ich bewußtlos, und als ich endlich erwachte, war die Frist, in welcher es den deutschen Frauen zustand, England zu verlassen, verstrichen. Ihr könnt Euch denken, wie unglücklich ich war, in dieser großen Zeit Euch fern bleiben zu müssen. Wenn auch der Vetter durchaus rücksichtsvoll gegen mich ist, er ist Engländer und hofft auf den Sieg seines Volkes, wie ich auf den des unserigen. Auch für Kusine Annchen, die von Geburt und im Herzen Deutsche, durch ihre Heirat aber Engländerin geworden, ist es schwer. Die Ärmste wird hin und her gerissen von entgegengesetzten Empfindungen. Wie furchtbar ich es empfinde, diese Tage, in denen alle Kräfte einer deutschen Frau dem Wohl der Allgemeinheit gehören, untätig in Feindesland zubringen zu müssen, könnt Ihr Euch nicht vorstellen. Ich hoffe auf die nächste Gelegenheit, wenn wieder Deutsche hinübergelassen werden. Gott gebe, daß dies sehr bald ist – denn ich sehne mich halbkrank nach Euch und dem Vaterland.
Auch von Euch habe ich nur spärlich Nachricht erhalten. Vielleicht sind aus demselben Grunde, aus dem meine Briefe von der Zensur zurückgehalten wurden, die Euren nicht hineingelassen. Was bisher an mich gelangt ist, sind außer dem letzten Brief über Holland nur die Ansichtskarten der Kinder. Daraus weiß ich wenigstens, daß Ihr gesund heimgekehrt seid, und daß Du, geliebte Mutter, Dich meiner verwaisten Küken so getreulich annimmst. Innigsten Dank für alle Deine Liebe! Daß unser Fräulein Dich unterstützt, ist mir eine Beruhigung. Hoffentlich sorgt auch meine kleine Lotte, soviel es in ihren Kräften steht, für die liebe Großmama, und mein lebhaftes Kleeblatt, besonders Klaus und Annemie, machen es Dir nicht allzu schwer, liebste Mutter! Sehr froh bin ich, daß Ihr, meine lieben Kinder, trotz Eurer Jugend, auch teilhabt an der großen Aufgabe unseres Volkes. Besonders über mein Nesthäkchen, das so eifrig für die Krieger strickt, habe ich mich recht gefreut. Wie bange ist mir nach meiner kleinen Lotte, die ich fast anderthalb Jahr nicht gesehen. Aber will's Gott, darf ich bald wieder bei Euch sein. In meinen Gedanken bin ich es schon jetzt. Hoffentlich höre ich weiter Gutes vom Vater und von Euch. Meine innigsten Wünsche für alle und für alles fliegen mit diesem Brief nach Deutschland. Möge er sein Ziel endlich erreichen! Seid aufs innigste umarmt
von Eurer getreuen Tochter und Mutter.«
Still, ganz still war's, nachdem Hans geendet. Großmama wischte sich mit dem Handrücken eine Träne aus den Augen. Den Kindern aber war es, als ob endlich wieder die Stimme der geliebten Mutter zu ihnen gesprochen. Der Obersekundaner als reifster, empfand schon, was es für die Mutter hieß, Deutschlands größte Zeit im Lande der Feinde durchleben zu müssen. Jeden Sieg, über den man daheim jubelte, verkleinert oder in lügenhafter Entstellung zu erfahren. Nesthäkchen flüsterte ganz leise, ganz sehnsüchtig: »Meine Mutti!« vor sich hin, Klaus aber war nicht sehr empfänglich für weichere Empfindungen. Dessen derbe Jungennatur bedrückte die Stille. Darum war er der erste, der sie unterbrach.
»Natürlich sind unsere Nachrichten an Mutti auch von den Engländern gemaust worden, das ist ja klar wie Kloßbrühe. Ich habe als Überschrift über jeden Brief gesetzt: Gott strafe England! Das werden sie nicht gern ins Land hineinlassen wollen.«
Lautes Gelächter folgte den Worten.
»Ja, mein Junge, wenn du deinem Herzen so unumwunden Luft gemacht hast, kannst du ihnen das auch nicht verdenken. Na, Gott sei Dank, daß überhaupt Nachricht da ist, und daß Muttchen wieder gesund ist!« Die alte Dame fühlte ihr Herz ein ganz Teil erleichtert.
»Das ist mein schönstes Weihnachtsgeschenk, daß Muttchen geschrieben hat«, sagte Annemarie mit leuchtenden Augen. Dann aber wandte sie sich ein wenig erschreckt an Großmama: »Nimmst du's auch nicht übel, Großmuttchen, aber mit deiner Uhr habe ich mich beinahe ebenso gefreut!«
Nachdem Großmama Nesthäkchen versichert, daß sie es sehr gut verstehen könnte, daß ein Kind den lang ersehnten Brief der Mutter über alle Geschenke setze, ging Annemarie beruhigt ans Ankleiden. Auch die übrigen vervollständigten ihren Anzug.
In früheren Jahren hatte Nesthäkchen die Weihnachtsfeiertage mit ihren neuen Spielsachen gespielt, oder die geschenkten Weihnachtsbücher von Anfang bis Ende gleich durchschmökert. Heute gab es anderes zu lesen.
Den ganzen Vormittag saß Annemarie über Muttis Brief; sie kannte ihn bald Wort für Wort auswendig. Denn er sollte dem Vater eingesandt werden.
»Großmuttchen, glaubst du, daß Mutti noch im alten Jahr nach Haus kommt? Sie schreibt doch, so bald als möglich. Und 1915, das ist doch noch schrecklich lange hin.«
Aber Großmama konnte Nesthäkchen keine befriedigende Antwort darauf geben. Die meinte, man müsse in Geduld hoffen, daß die Heimreise bald gestattet würde.
Geduldiges Hoffen ist gut für das Alter, Jugend will rasche Gewißheit. Annemarie beruhigte sich denn auch nicht bei Großmamas Worten, die kriegte einen nach dem andern im Hause an, wann Mutti wohl heimkäme.
Fräulein wurde ganz schwach von den unausgesetzten Fragen des kleinen Mädchens. Sie wußte sich keinen Rat mehr. Und schließlich tat sie Annemarie den Gefallen, mit dem Kopf zu nicken, daß die Mutter unbedingt bis Silvester wieder da sein werde.
Hanne war entgegengesetzter Meinung, es gelang selbst Nesthäkchens Beredsamkeit nicht, sie davon abzubringen. »Werden sich ja nicht schlecht hüten, die Englischen, jetzt die Deutschen rauszulassen, wo sie so bange sind, daß ihnen unsere Zeppelinekens nachts Bomben uff de Dächer spucken. Da wären se ja schöne dumm!«
Bruder Hans entschied sich für Anfang des neuen Jahres, im alten würde gewiß kein Zug mehr von England nach Deutschland abgelassen.
»Ja, Pustekohl,« fiel Klaus ein, »vielleicht Neujahr 1916. Interniert haben sie alle Deutschen, in große Gefangenlager werden sie gebracht, wo sie es entsetzlich haben, aber keine Heimreise!«
»Mutti nicht – Mutti wohnt doch bei den Verwandten, und bis Neujahr 1916 – haach – da ist doch der Krieg schon lange, lange vorbei! Vorläufig aber berappe erst mal fünf Pfennige für interniert, Kläuschen, denn das ist ein Fremdwort!« Nesthäkchen holte ihren kleinen Feldgrauen, der die Strafgelder schluckte, herbei.
Kläuschen zeigte wenig Neigung, in die Tasche zu greifen.
»Interniert ist das allgemein übliche Wort für die Festnahme von Zivilgefangenen, in jeder Zeitung steht's«, erklärte er großartig. »Das verstehst du nicht!«
»Es ist aber ein Fremdwort, und dafür hast du zu blechen«, das Schwesterchen beharrte dabei.
Die aufräumende Hanne, die als Schiedsrichter angerufen wurde, vertrat auch die Ansicht, man könne ebensogut statt interniert »eingespunnt« sagen. So half es nichts. Kläuschen mußte sich von seinem Sechser trennen.