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Die furchtbar drohende Russengefahr, die sich in das blühende Ostpreußen verheerend hineingewälzt hatte, war durch den großen Sieg des Feldmarschalls zum Stehen gebracht worden. Aber die armen, von Haus und Hof vertriebenen Menschen, die vor den sengenden, plündernden und mordenden Kosaken, wie sie gingen und standen, flüchten mußten, denen konnte Hindenburg nicht helfen.
Da mußten andere einspringen.
In endlosen Scharen überschwemmten sie die großen Städte. Täglich kamen Züge, mit ostpreußischen Flüchtlingen vollgepfropft, auf dem Schlesischen Bahnhof in Berlin an.
Das gab heiße Arbeit für die freiwilligen Hilfstruppen dort. Die jungen Pfadfinder mußten sich fast verdoppeln, um allen Ansprüchen gerecht zu werden. Man hatte sie vom Schulunterricht befreit, da die Nachmittagsstunden nicht ausreichten.
Kehrte Hans Braun spät am Abend abgejagt nach Hause zurück, dann konnte er nicht genug von dem Elend erzählen, welches er dort auf dem Bahnhof stündlich zu sehen bekam. Verstörte, aus der Heimat und ihrer friedlichen Beschäftigung herausgerissene Menschen, die all ihr Hab und Gut in einem Bündelchen trugen, spien die langen Eisenbahnzüge aus. Im Viehwagen zusammengepfercht Menschen, Ziegen und Hühner, alles durcheinander. Trauernde, denen liebe Angehörige von den Kosaken erstochen oder verschleppt worden waren. Eltern, die nach ihren Kindern jammerten, und weinende Kleinen, welche elternlos umherirrten – ein traurig, traurig Bild, das sich tagtäglich vor den jungen Augen der Pfadfinder entrollte.
Aber auch die erhebende Empfindung, dieser furchtbaren Not wirksam mit steuern zu helfen, erfüllte die Seelen der jungen Leute. Wenn Hans daheim von seinem Tagewerk berichtete, dann kam ihm trotz all des Jammers, den er mit angeschaut, ein Frohgefühl, eine innere Befriedigung, wie man sie nur hat, wenn man hilfreich gegen andere gewesen ist, mit Hintenansetzung seiner eigenen Person. Das war für den Obersekundaner wenigstens ein kleiner Ersatz dafür, daß er selbst noch nicht mit ins Feld hinausdurfte, wie er es nur zu gern wollte.
Die mitfühlende Großmama hatte jedesmal Tränen in den Augen, wenn sie von dem Elend der Geflüchteten hörte. Sie half und gab, wo sie nur konnte.
Klaus und Annemaries Teilnahme war, wie das bei Kindern der Fall zu sein pflegt, mit Neugierde und dem Interesse an dem Abenteuerlichen untermischt. Aber auch Klaus opferte seinen letzten Groschen, der eigentlich vernascht werden sollte, für die Ostpreußen. Nesthäkchen jedoch bestimmte den Inhalt ihrer Fremdwortkasse, die schon allen möglichen guten Zwecken hatte dienen sollen, jetzt endgültig für die armen Flüchtlinge.
Wie die Zeppeline jetzt Antwerpen mit Bomben belegten, so bombardierten die jüngeren Geschwister den großen Bruder mit ihren Fragen.
»Erzähle doch, Hans, was macht ihr Pfadfinder eigentlich da auf der neu eingerichteten Flüchtlingsstation am Bahnhof?« begehrte Klaus zu wissen, der mit heimlichem Neid auf die Tätigkeit des Großen blickte.
»Da nehmen wir mit einer Roten-Kreuz-Schwester zusammen die Namen der ankommenden Flüchtlinge auf, ihren früheren Wohnort und ihr Reiseziel.«
»Seid ihr aber neugierig, wozu denn bloß?«
»Täglich kommen Anfragen von Verwandten der Flüchtlinge, ob der eine oder die andere schon durch Berlin durchgekommen ist. Da müssen wir Pfadfinder natürlich Bescheid wissen und Auskunft geben können. Viele Familien sind in dem Tumult der Flucht, der fürchterlichen Überfüllung der Züge, voneinander gerissen und getrennt worden. Die holen sich ebenfalls bei uns Auskunft über den Verbleib ihrer Angehörigen. Manche haben Verwandte in Berlin, zu denen wir Pfadfinder sie führen müssen, denn die ostpreußischen Bauern, die kaum jemals ihre Heimatsscholle verlassen haben, finden sich doch in dem großen Berlin nicht zurecht. Wir bringen die Flüchtlinge von einem Bahnhof zum andern, wenn sie weiterreisen, oder wir rufen auch ihre hiesigen Verwandten herbei, die sie vielleicht gern während ihres kurzen Aufenthaltes in Berlin sprechen wollen. Die Obdachlosen bringen wir in das Unterkunftshaus. Wir helfen die Hungernden speisen, verteilen die gespendeten Lebensmittel und Kleidungsstücke. Denn die Not ist entsetzlich. Oft haben die Leute keinen Rock auf dem Leibe. Kinder sind manchmal, in sinnloser Angst vor den Kosaken, im Hemd aus den Betten gerissen worden und müssen nun hier erst eingekleidet werden. Für all das haben wir mit Sorge zu tragen. Der Pfadfinder ist eben Mädchen für alles!« Der Obersekundaner lachte über seinen Witz, trotzdem die Erinnerung an all das geschaute Elend ihm nahe gegangen war.
Großmama sah traurig vor sich nieder. Wieviel Menschenglück vernichtete dieser unselige Krieg! Ach, daß er bald siegreich beendet wäre! Klaus hatte mit blitzenden Augen gelauscht, ach, wie er den Hans beneidete! Aber in zwei Jahren war er auch so weit, um dem Pfadfinderbunde anzugehören – wenn der Krieg doch bloß noch so lange dauern würde! So standen sich die einsichtigen Wünsche des Alters und die törichten der Jugend gerade gegenüber.
Nesthäkchen hatte leise das Zimmer verlassen, die großen Brüder sollten nicht sehen, daß es Tränen in den Augen hatte, denn es gab jedesmal Neckereien, wenn Annemarie mal weinte. Besonders Klaus tat sich rühmlichst dabei hervor. Heute hätte aber auch er sein Schwesterchen wahrscheinlich in Frieden gelassen, galten doch ihre Tränen fremdem Unglück.
Fräulein rief nach dem kleinen Mädchen.
»Annemie, du hast ja noch gar nicht fertiggegessen. Hier ist noch ein Ei für dich, und deine Schinkenstüllchen liegen ja auch noch da – wo steckst du denn bloß?«
Da trocknete Nesthäkchen geschwind die verräterischen Tränen und kam wieder zum Vorschein. Es warf einen Blick auf den noch immer mit allerhand guten Sachen voll besetzten Tisch, trotzdem die ewig hungrigen Jungenmagen der Brüder schon ihr möglichstes geleistet hatten. Wieviel kleine Ostpreußenkinder konnten davon noch satt werden!
»Fräulein, ich kann nicht mehr essen – ich habe wirklich schon genug!« beteuerte Annemarie. Dann wandte sie sich an die Großmama, deren gütiges Herz sich ja schon so oft bewiesen hatte. »Liebes, einziges Großmuttchen, darf ich dem Hans nicht mein Abendbrot für die hungrigen Ostpreußenkinder mitgeben? Ich habe ja soviel heute mittag zu essen bekommen. Und die armen, kleinen Flüchtlingskinder müssen hungern und frieren!« Da brachen sie sich doch Bahn, die abscheulichen Tränen, welche die Jungen nicht sehen sollten. Aufschluchzend schmiegte die weichherzige Kleine den Blondkopf an den weißhaarigen der Großmama.
Keiner von den Brüdern foppte heute Nesthäkchen. Der daneben sitzende Hans klopfte ihr beruhigend den Rücken; und Klaus schob ebenfalls sein Butterbrot, von dem er bereits den Belag heruntergegessen hatte, mit kühnem Entschluß dem älteren Bruder zu.
»Da, meins kannst du auch morgen mitnehmen.« Denn Klaus war trotz all seiner dummen Streiche ein von Herzen guter Junge.
Großmama tröstete ihren kleinen Liebling. »Iß nur, mein Herzchen, von den beiden Stüllchen werden die verhungerten kleinen Flüchtlingskinder doch nicht satt. Dazu sind ihrer zu viele. Wir packen einen Korb mit mehreren ganzen Broten und Butter, ein paar Würsten und Schinken, das hilft schon eher, den kann Hanne morgen nach dem Schlesischen Bahnhof bringen.«
»Ich nehme ihn auch selbst – es ist keine Schande, für das Vaterland einen Korb zu tragen!« Der Herr Obersekundaner, dem früher das kleinste Paket peinlich gewesen war, da er glaubte, es könne seiner Männlichkeit Abbruch tun, meldete sich freiwillig. So erzog der Krieg die Jugend.
»Und Wäsche und Kleider wollen wir auch für die armen Kinder mitschicken, daß sie nicht mehr im Hemdchen herumzulaufen brauchen und frieren müssen«, bat Annemarie noch immer schluchzend.
»Ja, ja, mein Kleines, wir revidieren morgen alle Sachen, nun iß du aber auch!«
»Revidieren ist ein Fremdwort!« selbst unter Tränen hielt Nesthäkchen der Großmama ihren feldgrauen Soldaten hin. Dann endlich ließ Annemarie es sich wieder schmecken. Aber als sie nachher im Bett lag, konnte sie nicht einschlafen. Diesmal waren es nicht die Gedanken an den im Krieg weilenden Vater und an das unbekannte Schicksal ihrer fernen Mutti, was Annemarie wach hielt. Nein, die armen, von Haus und Scholle vertriebenen Ostpreußen waren es, deren trauriges Schicksal den Schlummer von Nesthäkchens Blauaugen scheuchte.
Wieviel kleine Flüchtlingskinder mochten wohl heute kein Bettchen haben, in dem sie die müden Glieder strecken konnten! War sie denn eigentlich besser als all die armen Kleinen, daß es ihr so gut ging? Und war sie denn jemals dankbar dafür gewesen? Hatte sie es nicht als etwas ihr Zukommendes stets hingenommen, daß sie eine schöne Stube hatte, ein warmes Bett, Kleidung und Essen? Ja, war ihr nicht all die Liebe, die ihr von ihren guten Eltern zuteil geworden, als etwas ganz Selbstverständliches erschienen, bis zu dem Augenblick, da die Eltern in ihrem Heim fehlten?
Das waren merkwürdig ernsthafte Gedanken, die heute in dem sonst von allerlei ausgelassenen Dummheiten angefüllten Köpfchen des Wildfangs herumspukten. Auch der Mond, ihr guter, alter Freund, war darüber verwundert.
Aber was für ein erstauntes Gesicht machte der Vollmond erst, als er sah, daß seine kleine Freundin lautlos ihr Lager verließ. Daß sie sich zur Tür schlich und horchte, ob auch Fräulein nicht käme und sie wieder ins Bett zurückjagte. Nanu, Doktors Nesthäkchen hatte doch nichts Schlechtes im Sinn?
Nein, der Mond brauchte gar nicht solch ein grimmiges Gesicht zu machen – Annemarie tat nichts Böses. Bei seinem Silberschein suchte sie in aller Nacht von ihren eigenen Kleidern, was sie nur irgend entbehren konnte, für die armen Flüchtlingskinder heraus – eher fand sie keine Ruhe. Hans sollte gleich morgen früh alles mitnehmen, nicht einen Tag durften die Kinder mehr frieren.
Zuerst ging es an den weißen Schrank, in dem ihre schöne Wäsche, zierlich mit hellblauen Bändern gebunden, aufgestapelt lag. Ach, wieviel Hemden und Höschen hatte sie, die konnte sie fast alle fortgeben. Denn Hanne, die immer so nett zu ihr war, würde gewiß gern öfters in der Woche für sie waschen. Da brauchte sie eigentlich gar nicht mehr als zwei. Ebenso war es mit den Leibchen, Stickereiröckchen und Schürzen. Alles wanderte in den großen, weißen Puppenwagen, den sie zu diesem Zwecke leer gemacht hatte. Die Puppen, die aus ihrer Nachtruhe gerissen wurden, machten bestürzte Gesichter.
Nur zwei Stück von jeder Art Wäsche behielt die Kleine für sich selbst zurück. Dann ging es an den Kleiderschrank. Hier wurde ihr die Auswahl ungleich schwerer.
Das rote Musselinkleid mit den weißen Punkten war ihr Schulkleid, das konnte sie unmöglich fortgeben. Das hellblaue Leinenkleid wies noch das Andenken an den Hindenburgsieg auf, in Gestalt von rötlichen Himbeerflecken. Da mußte sie sich ja ihrer Unordentlichkeit vor den Ostpreußenkindern schämen. Aber vielleicht das rosa Blümchenkleid? »Ach nee, nee – das hat meine Mutti noch selbst genäht, das gebe ich nicht fort!« sagte Nesthäkchen ganz laut zu sich selbst. Das weiß-blau gestreifte? Ja, das konnte sie ganz gut entbehren. Sie trug es zwar besonders gern, weil sie sich damit nicht so sehr in acht zu nehmen brauchte, da es nicht leicht schmutzte. Aber das brauchte sie wirklich nicht mehr. Auch nicht das weiße Matrosenkleid, das trug sie ja doch bloß Sonntags. Und die feinen Stickereikleider alle waren natürlich ganz unnötig. Damit mußte man sich bloß immer so eklig vorsehen, daß man sie nicht zerdrückte. Aber zu den Stickereikleidern gehörten auch die breiten Seidenschärpen. So wanderten auch Annemaries grünschottische, die mattrosa und die hellblaue Schärpe, die Fräulein in Seidenpapier sorglich aufhob, mit in den Puppenwagen. Sonst dachten die Ostpreußenkinder am Ende, sie besäße gar keine Schärpe.
Hüte und Mäntel brauchten die kleinen Flüchtlinge auch. Von ihrer geliebten Matrosenmütze mochte sich Nesthäkchen nicht trennen, die war so schön bequem, man konnte sie hinschleudern, wohin man wollte. Aber den schwarzen Lackhut, den gab sie leichten Herzens. Den weißen Florentiner mit dem Feldblumenkranz hätte sie eigentlich gern behalten, weil ihre Freundin Margot denselben hatte, und sie wie Zwillinge damit aussahen. Lieber gab sie das feine Spitzenhütchen von der Großmama, an dem man nicht mal zupfen und anfassen durfte.
Bei den Mänteln war die Auswahl nicht groß. Die Kieler Jacke mit den Goldknöpfen brauchte sie zwar selbst, aber – ach was, die frierenden Kinder brauchten sie gewiß notwendiger. Und die Sportjacke war ihr überhaupt schon zu klein. Es ging zwar auf den Herbst, wo es manchmal recht kühle Tage gab. Na, dann zog sie eben ihren Wintermantel an, damit würde sie auch nicht gleich verschwitzen.
Ach, du Himmel, beinahe hätte sie ja die Stiefel vergessen! Dann hätten die armen, kleinen Dinger barfuß laufen müssen. Ihre Sandalen liebte sie besonders, die wurden nicht verschenkt. Aber alle anderen, weiße, braune und schwarze Schuhe und Stiefel, flogen auf das zarte Spitzenhütchen, das man nicht mal anfassen durfte, und auf die mattblaue Schärpe, die Fräulein sorglich in Seidenpapier aufbewahrte.
Nun war der Puppenwagen vollgetürmt mit Nesthäkchens schönsten Sachen, auch daneben auf der Erde lagen noch verschiedene kleine Berge von Kleidungsstücken, die der Puppenwagen nicht mehr faßte. Noch einen befriedigten Blick warf das kleine Mädchen beim Schein der silbernen Vollmondlaterne auf sein Werk, dann kroch Nesthäkchen wieder ins Bett. Und mit seligem Lächeln war es nach wenigen Minuten entschlummert.
Allerdings, als Fräulein eine Stunde später das Kinderzimmer betrat, lächelte die nicht.
Barmherziger – was hatte die Krabbe denn bloß da angestellt?
Ihre besten Sachen hatte sie ja aus den Schränken herausgerissen. Die schön geplätteten Stickereikleider waren zusammengeknüllt unter den Stiefeln, und das Spitzenhütchen, das Großmama wie ihren Augapfel hütete, lag sogar auf der Erde.
Ärgerlich begann Fräulein in diesem Wirrwarr wieder Ordnung zu schaffen. Sie verstand gar nicht, was Annemarie damit bezweckt hatte, und hielt es nur für Ungezogenheit. Na, die wollte sie ihr morgen früh schon austreiben.
Aber als Fräulein jetzt all die Kinderwäsche entdeckte, schlug sie sich an die Stirn. Nein, daß sie auch nicht eher daran gedacht hatte. Natürlich für die Ostpreußenkinder hatte Annemarie das alles hervorgekramt. Da durfte sie gar nicht allzu sehr schelten. Wenn auch das unverständige, kleine Mädel die am wenigsten für arme Kinder geeigneten Sachen ausgewählt hatte – es war aus gutem, mitleidigem Herzen heraus geschehen.
Während Annemarie friedlich schlief und im Traum die kleinen Ostpreußenkinder mit ihren feinen Sonntagssachen froh herumstolzieren sah, wanderte ein Stück nach dem andern wieder in die Tiefen der weißen Schränke zurück. Der Mond aber lachte sich ins Fäustchen.
Am nächsten Morgen wurde Fräulein in aller Herrgottsfrühe durch angstvolles Geflüster geweckt.
»Fräulein, geliebtes Fräulein, wach' doch bloß auf,« klang es mit gedämpfter Stimme erregt aus Nesthäkchens Bett, »bei uns ist heut' nacht eingebrochen worden!«
»Was – was ist los – – –« im Nu war Fräulein ermuntert. »Hast du jemand gehört oder gesehen, Annemie – sind Kostbarkeiten entwendet – wir müssen sofort die Polizei benachrichtigen!« Entsetzt sprang Fräulein aus dem Bett.
»Wo hast du jemand gehört, Annemie?« Fräulein flog vor Aufregung an allen Gliedern.
»Nirgends, Fräulein«, Nesthäkchen wagte nicht laut zu sprechen, denn die Diebe konnten ja noch in der Wohnung sein. »Aber es ist bestimmt gestohlen worden – alle meine Wäsche und Kleider, die ich für die Ostpreußen geben wollte, haben sie mitgenommen.«
Da sah Fräulein das kleine Mädchen verdutzt an, und dann brach sie in ein lautes Gelächter aus.
Ja, hatte denn Fräulein am Ende vor Schreck den Verstand verloren? Sowas sollte manchmal vorkommen – wenn die Einbrecher sie nun hörten!
»Kind – Annemie – was bist du für ein Dummchen, mir solchen Schreck einzujagen! Die schönen Kleider, die du alle herausgerissen hast, habe ich selbst gestern abend wieder, wie sich's gehört, in den Schrank geräumt. Laß dir das bloß nicht noch einmal einfallen, alle deine Sachen hier herumzustreuen!« jetzt lachte Fräulein nicht mehr.
»Die sollten doch für die Flüchtlingskinder sein«, Nesthäkchen atmete aber doch auf, daß es keine Diebe gewesen waren, die ihnen einen Besuch abgestattet hatten.
»Nun sag' bloß mal, Annemie, was sollen die armen Kinderchen wohl mit deinen Stickereikleidern, Schärpen und weißen Hüten anfangen? Das ist doch alles viel zu unpraktisch für sie. Die haben keine Hanne, die für sie wäscht und plättet.«
»Aber die Wäsche und Stiefel sind doch praktisch, die hättest du wenigstens draußen lassen können, Fräulein«, das kleine Mädchen war durchaus nicht überzeugt.
»Annemiechen, die brauchst du doch selbst noch«, gähnend kroch Fräulein wieder ins Bett.
»Na, wenn man bloß weggibt, was man nicht mehr braucht, das ist bestimmt nicht das Richtige. Großmama sagt, nur was einem schwer fällt, hat Wert – man muß Opfer bringen lernen!« So philosophierte Nesthäkchen vor sich hin, während Fräulein ganz gemütlich wieder zu schnarchen begann.
Aber diesmal fand selbst Großmama, daß ihr Enkeltöchterchen etwas zu freigebig gewesen war. Sie selbst traf mit Fräulein eine verständige Auswahl unter den Sachen aller drei Kinder. Es wurde ein stattlicher Korb voll, und wenn auch keine Spitzenhütchen und Seidenschärpen dabei waren, die kleinen Ostpreußenkinder hatten von den warmen Wollsachen und festen Stiefeln sicherlich mehr. Obenauf aber hatte Annemarie noch von ihrem Spielzeug gelegt – denn ein bißchen freuen sollten sich die armen Flüchtlingskinder, die keine Heimat mehr hatten, doch auch.