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Näher und näher rückte der 19. Dezember. Frau Annemarie war vor dem ersten öffentlichen Debüt ihres Nesthäkchens aufgeregter als Ursel selbst. Sie hatte geglaubt, in den nun bald fünfundzwanzig Jahren ihrer Ehe mit Rudi etwas von seiner Ruhe, seinem Gleichmaß profitiert zu haben. Ja, prosit Mahlzeit! Bis auf den Grund ihrer Seele hatte die Nachricht von Ursels erstem Konzert sie aufgewirbelt.
Das Mädel war so selbstbewußt, so sicher – wenn es nur nicht Schiffbruch litt. Das Berliner Publikum, dem täglich die erlesenste Musikkost vorgesetzt wurde, war anspruchsvoll. Eine noch namenlose junge Sängerin hatte es nicht leicht, sich durchzusetzen.
»Rudi, was meinst du? Hältst du Ursels Konzertprogramm für richtig? Das Heideröslein und das Wiegenlied liegen ihr. Auch die Schubertlieder; für das Ständchen bringt sie das Schelmische auf. Aber »Ich liebe dich, so wie du mich« von Beethoven, das halte ich für verfehlt. Sie ist noch viel zu jung, zu unbeschwert vom Leben, um die ganze Tiefe und Reife dieses Liedes empfinden und zum Ausdruck bringen zu können. ›An die Musik‹ würde ich entschieden für geeigneter halten.«
»Weible – Annemie – das laß Professor Langes Sorge sein. Wenn er das Programm so zusammengestellt hat, wird er halt wissen, warum. Im übrigen, wenn ich ehrlich sein soll, ich wünsch' unserem Ursele gar nicht solch einen Bombenerfolg. Der würde ihr nur Spätzli in den Kopf setzen. Sie bohrt sowieso schon immerzu, daß sie zum neuen Jahr zum Bühnenstudium übergehen will. Ich verlaß mich auf Professor Lange. Der weiß, daß ich's nimmer zugeb'.«
»Ich wollte den Bombenerfolg ganz gern in Kauf nehmen, wenn er nur schon gewiß wäre«, seufzte Frau Annemarie besorgt. »Nicht mal vor meinem Abiturium habe ich solch einen Bammel gehabt. Die Kinder können es einem gar nicht danken, was man um sie sorgt.«
»Sie geben's halt an ihren eigenen Kindern wieder ab; so ist's ein ewiges Geben und Nehmen in den Generationen. Aber Frauli, du bist mir in der Tat arg nervös durch das dumme Konzert geworden. Deinetwegen wollt' ich, 's wär erst vorüber.«
»Ich kann gar nicht an das Nachher denken. Alle meine Gedanken endigen in dem Neunzehnten. Dabei ist's so notwendig, daß ich mich um die Weihnachtsvorbereitungen kümmere. Aber mir fehlt tatsächlich die Spannkraft dazu.«
»Schämst dich nimmer, Weible? Kenn' ja meine tapfere Annemie gar nicht wieder«, schalt der Professor energisch. »Das Schlimmste ist doch, das Mädel rasselt 'nein. Tät' ihr gar nicht mal viel schaden, solch ein kleiner Dämpfer auf ihr Selbstbewußtsein.«
»Rabenvater!« rief Annemarie, im Ernst empört. »Wie kann man so etwas auch nur im Scherz sagen.«
»Ist halt mein voller Ernst«, beteuerte der Professor.
Ursel selbst, um welche die mütterlichen Gedanken ständig sorgten, beschäftigte sich innerlich gar nicht so viel mit dem bevorstehenden Konzert. Nie hätte es die Ursel für möglich gehalten, daß es noch etwas anderes daneben geben könne, was ihr nur halb so wichtig sein könnte. Wer ihr das vorher gesagt hätte, den würde sie glatt ausgelacht haben. Und doch war es der Fall. Zwar studierte sie fleißig mit Professor Lange ihr Konzertprogramm und auch daheim für sich. Mit Milton hatte sie seit jenem Tage nicht wieder musiziert, trotzdem er sich ihr öfters als Begleiter für das bevorstehende Konzert anbot. Ja, es war offensichtlich, daß sie ihm aus dem Wege ging. Wenn sie auch nach wie vor an den bewußten Mittagen zum Essen kam, die gemütliche Plauderstunde nach Tisch unterblieb. Mit dem letzten Bissen eilte sie schon wieder davon, weil Professor Lange eine Korrepetitionsstunde für sie eingelegt hatte. Es gelang Milton nicht, sie allein zu sprechen. Einige Male hatte er versucht, sie an der Hochschule zu erwarten. Da war sie aber stets mit einem Schwarm von weiblichen und männlichen Hochschülern erschienen, daß er sich still zur Seite gedrückt hatte.
Warum mied Ursel ihn? Warum? Hatte er sie mit seinen feurigen Worten erschreckt oder gar beleidigt? Sie mußte doch längst wissen, wie es um ihn stand, daß er kaum einen Gedanken mehr hatte, der nicht um das blonde deutsche Mädchen kreiste. Unmöglich, ohne sie heimzukehren nach Brasilien, den Ozean zwischen sich und ihr zu legen. Ganz undenkbar. In Tönen hatte er es ihr oft gesagt, was er für sie empfand, oft hatte er einen seligen Widerklang aus ihren Liedern vernommen. Und nun? Fand sein Wort nicht den Weg zu ihrer Seele, wie seine Musik es getan? Sehnte sie sich nicht gleich ihm, ihr Leben mit dem seinigen zu vereinigen?
Margarida, das heitere, leichtlebige Kind heißerer Zonen, kannte den Bruder nicht wieder. Still und in sich gekehrt ging er umher. Seine freie, offene Liebenswürdigkeit war einer düsteren Verschlossenheit gewichen. Oft brütete er stundenlang vor sich hin. Nicht einmal zur Musik hatte er Lust.
Auch Ursel mußte Miltons verändertes Wesen auffallen. Und mit dem sechsten Sinn, welcher den Frauen in solchen Fällen gegeben ist, brachte sie dasselbe in Zusammenhang mit sich selbst. Ach, er tat ihr ja so unsagbar leid, wenn sie sah, wie er litt. Aber litt sie nicht gleich ihm? Nein, noch tausendmal mehr. Er war nicht vor einen so folgeschweren Entschluß gestellt wie sie, wurde nicht von den widerstreitendsten Empfindungen hin und her gerissen. Wenn Ursel der Mutter liebevolles Umsorgen auch im kleinsten spürte, dann erschien es ihr unmöglich, all diese zärtliche mütterliche Liebe aufzugeben, um einer anderen sie vorläufig noch nicht beglückenden, sondern nur quälenden Liebe willen. Ihr trauliches väterliches Nest auf deutscher Erde mit einem fremden Wohnsitz im fernen heißen Lande unter ganz anderen Lebensbedingungen zu vertauschen. Oh, sie wußte schon Bescheid in der Tropenheimat der Tavares. Marga und Milton hatten ihr ausführlich von allem erzählt. Von dem Vater, der ein ebenso tüchtiger Handelsherr war, wie ein eleganter Gentleman und Sportsmann. Von der Mutter, einer Italienerin, von welcher Marga die Schönheit und Milton die musikalische Begabung geerbt hatte. Und dann die alte treue Mulattin Teresa, die für die Familie kochte, all die Neger und Negerinnen, welche die Dienerschaft ausmachten. O Gott, Ursels Herz krampfte sich zusammen – hatte sie Milton wirklich lieb genug, um mit diesen Schwarzen, vor denen sie noch eine kindliche Scheu hatte, zusammen zu hausen?
Das waren schwere, schwere Überlegungen für die mit dem Leben sonst so leicht fertig werdende Ursel. Mehr als einmal war sie drauf und dran, sich ihrer »Muzi« anzuvertrauen. War sie nicht ihre beste Freundin? Wenn Mutti es erst weiß, wird alles wieder gut – wie oft hatte sich für sie als Kind bei mancher kleinen Sorge dieser beruhigende Trost bewahrheitet.
Aber diesmal fand Ursel nicht den Weg zu ihrer Mutter. Da gab es soviel zu beraten, ob das mattlila Crêpe-de-chine-Kleid, das der Weihnachtsmann schon im voraus brachte, mit rundem oder mit spitzem Ausschnitt gearbeitet werden sollte. Was für Schuhe und Strümpfe sie dazu tragen könnte. Ob sie beim Auftreten eine Verbeugung machen oder nur mit dem Kopfe nicken sollte. Welches Lied am hübschesten als Zugabe wäre, wenn sehr geklatscht werden würde. Denn der Applaus stand für Ursel bombenfest.
Von Tag zu Tag verschob Ursel die Aussprache mit ihrer Mutter, und schließlich bis nach dem Konzert. Wozu sollte sie ihr und sich vor dem wichtigen Tage Unruhe und Aufregung bereiten.
Auch an Vronli dachte Ursel. Die Schwester mit ihrer ruhigen, klaren Art würde vielleicht auch ihr die Ruhe wiedergeben können. Aber sie wußte im voraus, welche Frage Vronli, die selbst so glücklich war, als erste an sie richten würde: »Liebst du ihn genügend, um alles, was dir sonst lieb ist, um seinetwillen aufzugeben?« Was sollte sie dann antworten? Vermochte sie sich doch allein keine Antwort darauf zu geben.
Der Vater? Ursel wies diesen Gedanken weit von sich. Der behandelte sie immer noch als Nesthäkchen. Auslachen würde er sie sicher ob ihrer abenteuerlichen Zukunftspläne, geradeso wie damals, als sie ihm die Eröffnung gemacht, zur Oper gehen zu wollen. Für eine Kinderei würde er die ganze Sache halten – und sicher Milton sein Haus verschließen. Nein – nein, das durfte nicht sein.
Der 19. Dezember stand im funkelnden Silberrauhreifkleid. Jeder Ast im Garten, jeder Strauch hatte sich der jungen Künstlerin zu Ehren mit silberfunkelndem Reifgeschmeide behängt. An den Fenstern blühten die Eisblumen.
Der Aufgeregteste heute im Lichterfelder Professorenheim war Cäsar. Er mußte wohl etwas von der Wichtigkeit des Tages ahnen, denn jedem war er im Weg. Der Professor hatte keine Zeit für den sonstigen herablassenden Klaps, er eilte in die Sprechstunde, um dieselbe pünktlich schließen zu können. Frau Annemarie, die in ihrem Biedermeierzimmer stundenlang neben ihrem Flickkorb oder mit einem guten Buche zu sitzen pflegte, war heute unstet und aufgescheucht wie Cäsar selber. Zu keiner Arbeit konnte sie sich entschließen. Zum soundsovielten Male hatte sie bereits Ursels Staat, der längst bereit lag, einer Musterung unterzogen. Sie brachte der am Flügel mit halber Stimme ihre Lieder durchprobenden Ursel bald ein mit Zucker geschlagenes Ei, bald heiße Milch für den Hals, bald ein Gläschen Sherry, um sich Mut zu trinken. Trotz Ursels Protestes, daß sie das wirklich gar nicht nötig hätte. Auch Hans hatte seine vorbildliche Pomadigkeit heute eingebüßt. Nicht etwa, daß ihn Ursels Konzert allzusehr erregte – er war wie sie der festen Überzeugung, daß es vorzüglich gehen würde –, aber sein neuer Smoking, den er sich endlich hatte bauen lassen dürfen, war noch nicht geliefert worden. Es erschien ihm unmöglich, daß das Konzert ohne den Smoking stattfinden könne. Sogar die beiden Mädchen, Trude und Auguste, waren in heller Aufregung. Sie mußten sich sputen, um mit allen Obliegenheiten zur Zeit fertig zu werden. Denn ihr liebes Fräulein Ursel mußten doch auch sie bei ihrem ersten Auftreten bewundern. Die junge Künstlerin hatte ihnen beiden Billette verehrt. Eine alte Gartenfrau, die öfters mal half, hütete inzwischen gemeinsam mit Cäsar das Haus.
Wirklich am allerruhigsten war Ursel selber. In der Hochschule am Vormittag hatte man schon darüber voller Verwunderung den Kopf geschüttelt. Wie konnte man nur so sicher und vertrauensselig sein. Sie, die Mitschüler, hatten ja mehr Lampenfieber für die junge Debütantin, als diese. Fräulein Neudorf hatte höhnisch geäußert, daß Hochmut vor dem Fall käme, und daß man ja heute abend sehen würde, daß es höchste Zeit sei, den alten Professor Lange zu pensionieren, wenn er ein solches unfertiges Gänschen in die Öffentlichkeit hinausließ. Unbekümmert um all die gutgemeinten Ratschläge, die man ihr gab und um böswilligen Künstlerneid hatte Ursel auf die mitleidige Frage: »Na, wie ist Ihnen denn heute zumute, Hartensteinchen?« freudig geäußert: »Wenn's nur schon so weit wäre – ich kann die Zeit gar nicht erwarten.«
Professor Lange, mit dem sie im Saal Generalprobe abgehalten, hatte ihr aufmunternd die Wange geklopft: »So, nun machen Sie mir keine Schande – singen Sie heute abend ebenso gut.« Worauf seine junge Schülerin strahlend versprochen hatte: »Noch tausendmal besser!«
Und nun war es soweit. Frau Annemarie in ihrer nervösen Erregtheit hatte alle Uhren vorgestellt, daß die niemals pünktliche Tochter wenigstens zu ihrem ersten Konzert nicht zu spät kam. Der Professor hatte pünktlich den letzten Patienten abgefertigt; Hansis Smoking war geliefert worden. Das Auto, zu dem sich der Professor schweren Herzens entschlossen hatte, hielt vor der Hochschule.
»Nun mach deine Sache gut, mein Mädel, und geht's schief, ist's halt auch kein Unglück«, damit entließ der Vater Ursel.
Die schlüpfte, gefolgt von der Mutter, durch einen Seiteneingang ins Künstlerzimmer. Frau Annemarie hatte ungefähr dieselben Empfindungen wie Abraham, da er seinen Sohn Isaak opfern sollte. Wie ein Opferlamm erschien ihr ihr Nesthäkchen, das ganz vergnügt und munter schwatzte. Nachdem die Mutter noch verschiedene Male Kleid und Frisur – ob unterwegs auch nichts in Unordnung gekommen sei – begutachtet hatte, nachdem sie Ursel Wein und Bonbons aufgedrungen und sie energisch von der Tür, die zum Podium führte, weggezogen hatte, da diese neugierig in den Saal spähen wollte, wo all ihre Bekannten saßen, meinte Ursel schließlich lachend: »Weißt du, Muzi, ich glaube, es ist besser, du gehst in den Saal. Da hast du mehr Abwechslung und merkst dein Lampenfieber nicht so doll.«
»Nein, mein Mädel, ich bleibe bei dir, ich stehe dir zur Seite.« Eiskalt waren Frau Annemaries Hände. Ursel wärmte sie in den ihren. »Muzi – Muzichen, wie kannst du dich nur so aufregen. Paß mal auf, was für einen Beifall ich haben werde. Wenn du tüchtig klatschst, werden deine Hände schon warm werden.«
Hochschüler und Hochschülerinnen erschienen im Künstlerzimmer. Sie mußten doch sehen, wie eine von ihnen sich an einem so schicksalsschweren Tage, den jeder ersehnte, und vor dem jeder bangte, ausnahm.
»Hartensteinchen spricht ihrer Mutter Mut zu – gerade umgekehrt ist die Sache hier wie sonst«, amüsierten sich die Kollegen. Wie ein Wundertier betrachteten sie Ursel, die, abgesehen von ihrem süßeren Liebreiz, von einer Munterkeit und einer wenn auch etwas erregten Freudigkeit war, als läge das Konzert schon mit glänzendem Erfolg hinter ihr. Sie nahmen Frau Professor Hartenstein mit in den Saal, damit diese ihr Küken nicht etwa noch mit ihrem Lampenfieber ansteckte.
Die übrigen Künstler, ein ungarischer Geiger mit einem schwer auszusprechenden Namen und ein Pianist mit wildem Haarbusch, erschienen mittlerweile. Der Geiger stimmte sein Instrument. Der Pianist fuhr sich nervös durch seinen Haarschopf. Sie waren aufgeregter als die junge Dame, die zum erstenmal das Podium betreten sollte. Professor Lange sah nach seinem Schützling, schaute ihr prüfend in das vergnügte Gesicht und nickte beifällig: »So ist's recht.« Mit ihm kamen Klavierbegleiter und Notenumdreher. Margarida steckte den schwarzen Krauskopf in das Künstlerzimmer, küßte die Freundin zärtlich und drückte ihr einen Busch dunkelroter Rosen – zu dieser Jahreszeit etwas Märchenhaftes – in die Hand. Es war ein ständiges Kommen und Gehen in dem Künstlerzimmer.
Der eine, nach dem Ursel ausschaute, erschien nicht. Aber ein großer Strauß zartlila Orchideen brachte der Diener für Fräulein Ursula Hartenstein. Eine Karte war nicht dabei. Dessen bedurfte es auch nicht. Ursel wußte, wer allein der Spender der kostbaren Blüten sein konnte. Sie löste eine derselben aus dem Strauß und befestigte sie an ihrem Kleide. Ein süßer, fremdländischer Duft entströmte der Blüte, wie ein Gruß aus anderen Zonen.
Konzertprogramme wurden gebracht. Zum erstenmal sah Ursel ihren Namen gedruckt. Also so sah das aus, wenn man berühmt wurde. Oh, sie wollte den Namen zu Ehren bringen! Ursula Hartenstein sollte wie ein Stern am Kunsthimmel der Musikwelt aufgehen und dort strahlen.
Was für einen süß berauschenden Duft die Orchideenblüte ausströmte – Ursel empfand den Blumenhauch fast schmerzhaft. Sicher bekam sie Kopfweh davon. Die Blüte wurde von ihrem Kleide gelöst und dafür eine von Margas dunklen Rosen vor gesteckt.
Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Das Klingelzeichen ertönte. Frau Annemarie, die mit krampfhaft ineinander verschlungenen Händen und entfärbten Lippen dem Bericht einer Bekannten über die klugen Aussprüche ihres vierjährigen Sprößlings lauschte, erschien es wie das Armsünderglöcklein, das zur Richtstatt rief.
Der Pianist betrat das Podium, fuhr sich einige Male erregt durch die Mähne und begann ein Klavierkonzert. Er spielte technisch vorzüglich, die Innerlichkeit blieb er dem Werk schuldig. Frau Annemarie hörte nichts von der Musik. Nur irgendein Geräusch vernahm sie, welches das laute Klopfen ihres Herzens und das Rauschen ihres Blutes zu übertönen schien. Möchte er doch bis in alle Ewigkeit fortspielen, daß der Moment, wo Ursel aus ihrem Künstlerzimmer heraus mußte, nie erschien! Daß es selbst der zärtlichsten Mutter nicht vergönnt war, ihr Kind vor der mitleidlosen Kritik der Menge zu schützen!
Die erste Beifallssalve – der schwarze Haarschopf fiel nach vorn, der Pianist verneigte sich dankend. Man sprach einige Worte, tauschte Meinungen aus. Dann wurde es Frau Annemarie grün vor den Augen, trotzdem oben auf dem Podium etwas in lila aufgetaucht war.
Einen Moment – nur einen kurzen Moment ward es Ursel beklommen zumute. Dann schaute sie mit großen Blauaugen auf die schwarze Menschenmenge vor sich. War das ulkig, so ein Konzertsaal aus der Vogelperspektive des Podiums. Da saßen ja all ihre Lieben, nein, wie blaß ihre kleine Muzi ausschaute! Die Großmama lächelte ihrem Liebling unmerklich zu. Daneben Hanne in dem ererbten Schwarzseidenen mit feierlich gefalteten Händen wie in der Kirche. Da waren die Schulfreundinnen Edith und Ruth, aufgeregt und stolz. Die Hochschüler alle, Fräulein Neudorfs säuerliche Miene. Marga nickte ihr lebhaft zu; Vronlis ruhigfreundliches Gesicht neben den blitzenden Brillengläsern des Schwagers; alle, alle waren da. Wo aber steckte Milton? Vergeblich spähte Ursel nach seinem scharfgeschnittenen bronzefarbenen Gesicht – da kamen die ersten Töne zum »Heideröslein« vom Flügel her:
»Sah ein Knab' ein Röslein stehn« –
blumenhaft süß erklang es. Blumenhaft wirkte das goldhaarige Geschöpfchen da oben.
»War so jung, so morgenschön ...«
Wie bezaubert hingen all die Augen an den Lippen der jungen Sängerin. Zwei Augen, zwei tiefschwarze Augen saugten ihren holden Anblick förmlich in sich hinein. Sie tranken ihr die süßen Töne von den Lippen. Gleich einer Hypnose empfand die Sängerin den zwingenden Blick jener Augen, da – sah sie ihn. Ganz hinten, in einer der letzten Reihen. Ihr Auge tauchte in das seine.
»Knabe sprach: ›Ich breche dich,
Röslein auf der Heiden.‹
Röslein sprach: ›Ich steche dich,
Daß du ewig denkst an mich – – –‹«
aller Trotz, alles Aufbäumen gegen eine fremde, stärkere Gewalt kam in den Tönen zum Ausdruck.
»›Und ich will's nicht leiden!‹«
Da hatte sie den Blick aus dem Bann jener dunklen Augen gelöst.
»Und der wilde Knabe brach
's Röslein auf der Heiden – – –«
Gebrochen war er, der wilde Trotz. Rotes Herzblut fühlte man aus den Tönen sickern.
»Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.«
Wie Tränen perlten die Töne von Ursels Lippen. Tief senkte sie den Kopf.
Stille. Keine Hand rührte sich. Ein jeder der Zuhörer lebte den Seelenschmerz, der aus der schlichten Weise klagte, mit. Und dann brach es plötzlich elementar los – ein nicht endenwollendes Beifallsklatschen.
Erschreckt hob Ursel den blonden Kopf. Sie hatte vergessen, daß sie auf dem Konzertpodium stand, die Menge ringsum, bis auf den einen, vergessen. Mit zuckenden Lippen lächelte sie Dank.
Wo blieb die stolze Freude, das Glücksgefühl? Während Ursel sich dankend verneigte, sang und klagte es noch immer in ihr:
»Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt es eben leiden.«
Das zweite Lied, ein Straußsches Wiegenlied, folgte: es gab Ursels aufgerührter Seele wieder Ruhe, Frieden. Licht und zart wie ein Engel, der das schlummernde Kindlein behütet, schwebten die Töne dahin.
Wieder lebhafter Beifall, der sich nach dem dritten Liede, dem mutwilligen »Ständchen« von Brahms noch steigerte. Wieder und wieder rief man sie heraus. Die begeisterte Menge ruhte nicht eher, bis sie das »Ständchen« noch einmal sang.
Nun saß sie in dem Künstlerzimmer, während der Geiger seiner Violine feurige, ungarische Weisen entlockte. In tiefen Zügen atmete sie den süßschwülen Hauch der Orchideen.
Pause. Man drängte sich in das Künstlerzimmer. Professor Lange klopfte seiner Schülerin in freudiger Anerkennung die Wange. »Brav gemacht – solch ein erstes Konzert kann man sich gefallen lassen.« Die Hochschüler und Freundinnen kamen mit Blumen. Marga schmiegte sich an die Gefeierte. Vronli drückte ihr mit schwesterlich frohen Augen die Hand. Vater und Mutter blieben im Saal, wo man sie ebenfalls beglückwünschend umdrängte. Der Druck, der auf Frau Annemaries Brust gelegen, war gewichen. Und doch – zu einer reinen Freude kam sie nicht. Etwas Quälendes war in ihr. Aus dem ersten Liede, das Ursel gesungen, war es zurückgeblieben. Ihr Kind litt, das hatte die Mutter mit tausend Schmerzen ihm nachempfunden. Was war mit ihrer Ursel?
Das Klingelzeichen rief zum zweiten Teil des Konzertes. Pianist und Geiger vereinten sich in einem Duett. Das Künstlerzimmer hatte sich geleert. Ursel war allein darin zurückgeblieben. Da öffnete sich noch einmal die zum Gang hinausführende Tür. Ohne hinzublicken, wußte Ursel, wer jetzt kam. Ihr Herz sagte es ihr mit jähem Schlag.
Milton Tavares stand vor ihr. Nach ihren beiden Händen griff er. »Mein Röslein«, flüsterte er leidenschaftlich und zog sie an sein Herz. Da empfand sie nicht mehr das quälende »Weh und Ach« – da war es vorbei, das Sichaufbäumen gegen etwas, das stärker war als sie. Nicht an ihre Künstlerlaufbahn dachte sie – noch an das fremde, ferne Land –, nur eins wußte sie: er allein war ihre Zukunft – ihre Heimat.
Als Ursel wieder das Podium betrat, glühten ihre Wangen, strahlten ihre Augen in seligem Glück. Ihre Hand hielt den Strauß Orchideen. Die beiden Schubertlieder »Ich schnitt es gern in alle Rinden ein« und »Freudevoll und leidevoll« jubelte sie aus voller Seele heraus. Und dann kam wie ein Bekenntnis das Beethovenlied von ihren Lippen: »Ich liebe dich, so wie du mich.« Nur für einen sang sie.
Ergriffen lauschten die Zuhörer. Frau Annemaries Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Ahnte die Mutter in dem Ausströmen jenes tiefinnerlichen, reifen Gefühls, daß ihr Kind sich von ihr löste?
Tosende Beifallsbezeigungen, sich immer wieder erneuernd, umrauschten die junge Sängerin. Bis Ursel dem unermüdlichen Klatschen nachkam und noch ein Lied zugab.
»Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn.
Im dunklen Laub die Goldorangen glühn – – –«
Ursel war nicht mehr im Zweifel, welches von den für eine Zugabe mitgebrachten Liedern sie wählen sollte. Nur dies eine gab es, was sie singen konnte – ihr Schwanengesang an ihrem ersten Konzert.
»Kennst du es wohl?
Dahin – dahin
Will ich mit dir, du mein Geliebter, ziehn.«
Nicht jubelnd in unbeschwertem Jugendglück, wie Frau Annemarie es an jenem Sommerabend von Ursels Lippen vernommen – wie ein festes, heiliges Gelöbnis klang es.
Jäher Schmerz durchzuckte das Herz der Mutter. Plötzlich wußte sie es, daß sie ihr Nesthäkchen verloren hatte. Daß es dem fremden Manne in fremdes Land folgen würde. In tiefem Weh erkannte es Frau Annemarie mit untrüglichem Mutterinstinkt.
Das Konzert war zu Ende. Man umdrängte und feierte die junge Künstlerin. Man beglückwünschte die Eltern zu der heute begonnenen Ruhmeslaufbahn ihrer Tochter. Die Großmama drückte ihren Liebling an das Herz: »Mein Urselchen, daß ich diesen Tag noch erleben durfte!« Hanne streichelte ihr mit den verarbeiteten Händen die zarte Wange: »Jotte doch, Herzeken, wie scheen du das allens jelernt hast. Scheener können die Engel bei unserm Herrjott es auch nich.«
Händedrücke, Gratulationen, Blumen, Worte der Begeisterung und Ruhmesprophezeiungen – wie durch einen Nebel sah und hörte die gefeierte junge Sängerin das alles. Dann zerriß der Nebel plötzlich – Milton war zu ihr getreten, zog ihre Hand an die Lippen und flüsterte, nur ihr verständlich: » Marovilhosa – wundervoll! Dank – oh, viel, viel Dank für dein Lied.«
Nun saßen sie wieder im Auto, Ursel warm verpackt von zärtlicher Mutterhand. Eine starke Abspannung hielt sie nach allem, was der heutige Abend ihr gebracht, umfangen. Ganz gegen ihre Gewohnheit schwieg sie.
Auch Frau Annemarie sprach nicht. Das Herz war ihr so voll, zum Zerspringen voll. Sie nahm die Hand ihrer Jüngsten, als sollte ihr dieselbe gleich entrissen werden.
»Na, sagt mal, Kinder, was ist denn halt mit euch Weibsleut' heute los?« verwunderte sich der Professor. »Sonst schwätzt ihr soviel daher, daß einem manchmal der Kopf raucht, und jetzt tut ihr, als ob die Ursel mit Trommeln und Trompeten reingerasselt sei und nimmer solch eine freundliche Aufnahme bei dem Publikum gefunden hätt'. Aber zur Bühne wird trotzdem nicht gegangen, du Schlingel, verstehst?« Professor Hartenstein zupfte seine Tochter am Ohr. Denn heimlich war er unsagbar stolz auf sie.
»Nein, Vaterle, ich gehe nicht zur Oper.«
Nanu? Solche Gefügigkeit, und noch dazu nach einem derartigen Erfolg, der ihr doch sicher zu Kopf gestiegen sein mußte, war doch sonst nicht Ursels Sache.
Ursel saß und kämpfte mit sich. Sollte sie es gleich sagen? Die beste Anknüpfung hatte sie jetzt dazu. Und feige war sie niemals – was einem schwer wird, frisch angepackt. Nein, für sich war die Ursel nicht feige. Wohl aber für die, welche ihr gegenüber saß, so blaß, mit so traurigen Augen, als ahnte sie bereits etwas. Für ihre Muzi, die den ganzen Tag um sie gesorgt hatte, und der sie nun zum Dank den größten Schmerz bereiten wollte.
Das Auto ratterte – ratterte immer denselben Rhythmus, und Ursel schwieg und atmete den süßen Duft der Orchideen. Hans redete ohne Punkt und ohne Komma. Es war, als ob er mit der Schwester die Rollen ausgetauscht hätte.
»Ich bringe dir noch ein Glas heißen Tee ans Bett, mein Mädel«, sagte Frau Annemarie daheim, als Ursel sich vom Vater und von ihr mit besonderer Zärtlichkeit verabschiedete. Heute noch mußte sie ihr Kind sprechen, heute noch Klarheit haben.
Ursel lag bereits, als Frau Annemarie in ihr Stübchen trat. Sie sah blaß aus, aber ihre Augen leuchteten. In der Hand hielt sie eine der Orchideen.
»So, trink, mein Herz. Die Blumen werde ich mit hinunter nehmen, sie machen im Schlafzimmer Kopfschmerzen.«
Ursel schüttelte den blonden Kopf. Sie wurde rot. »Ich möchte sie gern bei mir behalten. Bitte stelle sie mir zwischen die Fenster, Muzi.«
Schweigend kam die Mutter Ursels Wünschen nach. Dann setzte sie sich zu ihr auf den Bettrand und schlang den Arm um sie. Wie vor Jahren, da sie noch ihr kleines Nesthäkchen gewesen. Ach, sie mußte es ja jetzt noch tausendmal mehr schützen und behüten.
Und wie früher schmiegte Ursel den Blondkopf an der Mutter Brust.
Sanft, mit unsagbarer Zärtlichkeit streichelte Frau Annemarie Ursels Goldhaar. Jetzt hieß es stark sein, ihr Kind brauchte jetzt seine beste Freundin.
»Nun, mein Urselchen, bist du heute glücklich?« kam sie Ursel, die sichtbar mit sich kämpfte, entgegen, und es war ihr, als ob sie sich selbst dem Henker ausliefere.
Ursel nickte. Sie antwortete nicht.
»Über den schönen Erfolg, mein Herz?« O Gott, wie beklommen ihre Stimme klang.
Der blonde Kopf an der Mutter Brust schüttelte verneinend. Und dann schlang Ursel plötzlich in elementarem Gefühlsausbruch die Arme um den Hals der Mutter und schluchzte zum Gotterbarmen.
»Sprich dir's von der Seele, mein Mädel.« Alle Kraft, all ihre Energie riß Frau Annemarie zusammen. Jetzt kam's – sie selbst beschwor es herauf.
»Mutti – mein Muzichen – ich – ich hab' ihn – ich hab' ihn ja so lieb!« Da war es heraus.
Eine lange Pause folgte.
»Ich wußte es –.« Tonlos klang der Mutter Stimme.
»Ja, Muzi, du weißt es? Oh, wie hab' ich mich davor gebangt, es dir sagen zu müssen. Liebes, liebes Muzichen, nicht traurig sein, nicht weinen! Das kann ich nicht ertragen.«
»Ich hab' es kommen sehen – ich hab' es gefürchtet – – –« Wie zu sich selbst sprach Frau Annemarie. »Ursel, mein Herzenskind, du bist noch so jung, so unerfahren – weißt du denn, was für einen Schritt du tun willst? Hast du ihn denn lieb genug, um deine Eltern und Geschwister, deine Heimat und Kunst, um alles ihm zu opfern?«
Ursel nickte schweigend. Die Tränen würgten sie im Halse. »Muzi, mach es mir nicht noch schwerer«, bat sie mit tränenerstickter Stimme. »Ich habe mit mir gerungen und gekämpft, wochenlang. Mit mir und mit meiner Liebe zu Milton. Sie ist stärker als ich, als alles, was ich bisher empfunden und von meiner Kunst je erhofft habe. Seit heute abend weiß ich es, daß mir der Jubel und die begeisterte Anerkennung des Publikums nichts ist – ohne ihn.«
Da zwang Frau Annemarie das eigene Weh mit Kraft herunter.
»Mögest du glücklich werden, mein Herzenskind!« Es klang wie ein Gebet. Innig küßte sie ihr Nesthäkchen, das von ihrem Elternhaus fortstrebte in unbekannte Fernen.
Fest, ganz fest hielt Ursel ihre Mutter.
»Muzi, wo ich auch bin, ob hier oder in Brasilien, du bleibst meine allerbeste Freundin!«