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Über ein Jahr war seit jenen Sonnentagen in den bayerischen Bergen dahingegangen. Manche Veränderung hatte es in den kleinen Kreis des Hartensteinschen Familienlebens gebracht. Man hatte Hochzeit gefeiert. Zuerst eine stille Hochzeit, die von Hans Braun und Margot Thielen. Dann hatte Frau Annemarie sich darein finden müssen, nun würdige Schwiegermutter zu sein. Wenn der Professor guter Laune war und sie necken wollte, rief er sie stets mit diesem neuen Ehrentitel.
Im Norden Berlins, irgendwo da draußen am Wedding, wo das Realgymnasium lag, an dem Dr. Ebert unterrichtete, hatte Vronli ihr junges Heim aufgeschlagen. Drei Zimmer waren es, klein und bescheiden. Ursel blickte ein wenig naserümpfend auf das Glück ihrer Schwester. Himmel, war das eine häßliche Arbeitergegend. Kaum ein grüner Baum ringsum zu sehen, und die Wohnung so eng, so spießbürgerlich. Kein elektrisches Licht, keine Zentralheizung, wie vor hundert Jahren. Dabei machten Vronli und ihr Mann einen so glücklich zufriedenen Eindruck, als wünschten sie sich gar nichts Besseres. Wenn Ursel sich auch mit dem Schwager allmählich angefreundet hatte, die Ansichten vom Glück waren eben verschieden. Sie, Ursel, würde sich in einer solchen Wohnung höchst unglücklich fühlen. Für sie mußte das Glück vornehmer ausschauen.
Vorläufig aber lag das Glück für Ursel nach einer ganz anderen Richtung. Da hatte sie ganz andere Wünsche und Ziele. War sie doch denselben in dem Jahre fleißiger Arbeit, eifrigen Studierens an der Hochschule um ein gut Teil näher gerückt. Ursel Hartenstein war, wie es ihr bisher meist im Leben gegangen, auch unter den Studierenden und Lehrern der Berliner Hochschule der Liebling geworden. Diesmal war es nicht ihre reizende, bestrickende Persönlichkeit allein, sondern vor allem ihr Können, das die Lehrer wie die Schüler in Erstaunen setzte. Andere hatten wohl noch größeres Stimmaterial, aber diesen süßen Schmelz, diese samtweiche Tönung wie Ursel Hartensteins Stimme zeigte keine. Ihr Gesang klang edel, vornehm, sie hatte bei Frau Gerstinger eine gute Grundlage bekommen. Freilich war ihre frühere Lehrerin, sowohl wie Fidelio, recht wenig erbaut davon gewesen, daß die Schülerin, die zu so glänzenden Hoffnungen berechtigte, ihnen untreu wurde. Frau Gerstinger hatte sogar von Undank gesprochen und das weiße Wollknäuel sie feindselig angeknurrt. Aber Ursel sah doch, daß sie recht getan, an der Hochschule zu studieren, anstatt bei der bonbonlutschenden Primadonna und ihrem Fidelio. Das war ein ganz anderes ernstes Arbeiten und Streben, regelrecht und mit Disziplin, wie in der Schule. Nur daß Ursel hier keine Dummheiten machte, die ließ sie sich höchstens für die Pausen, sondern mit glühendem Eifer bestrebt war, alle Mitstudierenden möglichst zu überflügeln. Als Professor Lange sie zum erstenmal den Herren Kollegen als ein junges, hoffnungsvolles Talent vorstellte, da stand es bombenfest bei ihr, daß sie diese Hoffnungen erfüllen müsse. Mit derselben Zähigkeit, mit der sie sich an der Bank gegen die sie nicht interessierende Tätigkeit aufgelehnt hatte, machte sie sich jetzt an das Studium ihrer geliebten Musik. Oh, es gab auch manche Klippen, die Ursel in dem ersten Arbeitsjahre vor sich aufragen sah, die es mit Geduld und Ausdauer zu bewältigen galt. Fabelhaft war es geradezu, wie das Mädel, das bisher nie einer ernsten Tätigkeit geneigt gewesen war, keine Mühe und keine Arbeit scheute, um das Verlangte zu leisten, um vorwärts zu kommen. Rudolf Hartenstein stand manchmal vor einem Rätsel. Das hatte er seiner Jüngsten nicht zugetraut, daß sie sich so ins Zeug legen würde. Denn es handelte sich nicht allein um Gesang. Da gab es auch andere Fächer, Theorie, Musikgeschichte, Treffstunde, Deklamation, die Ursel unbedingt weniger Freude machten und für die sie doch oft bis abends spät lernte und arbeitete.
Professor Lange hatte dem Vater berichtet, daß Ursel seine begabteste Schülerin wäre. Das Fräulein Tochter erfuhr nichts davon, denn »dem Mädel schwillt halt gar zu leicht der Kamm«. Aber seiner Annemarie teilte Rudolf Hartenstein es mit.
»Siehst du, Rudi, man darf sich seinen Kindern gegenüber nicht auf einen allzu rigorosen Standpunkt stellen. Man muß ihre Lebensarbeit in Bahnen leiten, die ihren Neigungen entsprechen, wo sie mit Herz und Seele dabei sind. Paß auf, wir werden an unserem Urselchen noch große Freude erleben. Und daß du dem Hansi gestattet hast, an der landwirtschaftlichen Hochschule zu studieren, anstatt Medizin, die ihn nun einmal nicht lockt, war sicher ebenso richtig. Der Junge ist froh und glücklich bei seiner Arbeit und denkt nicht mehr an Amerika.«
»Na ja, Weible, man muß sich halt gewöhnen, daß man seine Kinder nimmer für sich erzieht. Aber recht hast schon: die Hauptsache, sie leisten was in dem, was sie ergreifen, und ihre Tätigkeit ist ihnen halt eine Freud'.« –
Die Hochschule für Musik lag in Charlottenburg, unweit der Braunschen Wohnung. Hatte Ursel am Nachmittag noch Unterricht, so blieb sie zu Tisch bei der Großmama. Das war jedesmal ein Fest für das Haus in der Knesebeckstraße. Die alte Hanne wußte nicht, was sie alles kochen und backen sollte an den Tagen, wo »unser Kind« erwartet wurde. Die Großmama saß schon eine Stunde vorher auf ihrem Erkerplätzchen und schaute nach Ursels graziöser Gestalt in dem blauen Kostüm aus. Am Fenster nebenan blickte man sich ebenfalls die Augen nach ihr aus, dort wurde sie nicht weniger sehnsüchtig erwartet als von der Großmama.
Die Tavares lebten immer noch im Braunschen Hause, als ob es gar kein Land jenseits des Ozeans mehr gäbe. Milton Tavares fand, daß er noch nicht genug in kaufmännischer wie in musikalischer Beziehung in Deutschland gelernt habe. Das betonte er in jedem seiner Briefe, wenn der Vater mal ein wenig auf den Busch klopfte, ob die Kinder denn noch nicht ans Heimkommen dächten. Margarida hatte sich jetzt auch gut eingelebt. Sie beherrschte die deutsche Sprache, hatte nach wie vor bei ihrer Freundin Ursel Hartenstein Unterricht und fühlte sich bei Frau Doktor Braun wie Kind im Hause. Wenn ihr wirklich mal bange wurde nach ihrem schönen Heimatlande und nach den Eltern, so wußte ihre alte Pensionsmutter mit warmem Herzen solche Stimmungen zu heilen.
Es war wieder mal Dienstag, an dem Ursel nachmittags zur Chorstunde in die Hochschule mußte. Seit einer halben Stunde stand Milton Tavares schon draußen auf dem blumenlosen Balkon, trotzdem der feuchtgraue Novembertag mit seinem Regenschleier recht wenig einladend für solche Sommervergnügungen war. Marga schien sich bei Einkäufen in der Stadt verspätet zu haben. Aber nicht nach der Schwarzhaarigen schaute Milton Tavares aus, sondern nach einer Goldhaarigen. Wo sie nur blieb, die Ursel? Der Unterricht schloß doch um ein Uhr für sie. Zum soundsovielten Male zog der junge Mann seine elegante Uhr aus der Tasche. Halb zwei – sie würde doch nicht etwa heute ausbleiben?
Trotzdem man unter den Regendächern, die vom Balkon gesehen, wie schwarze Pilze die Straße entlang wanderten, kaum das Gesicht der sich Nähernden sehen konnte, bedurfte es dessen nicht für Milton. Der kannte Ursels raschen, elastischen Schritt ganz genau, kannte jede Bewegung, mit der sie die Musikmappe hin und her schlenkerte. Aber soviel er auch schaute, der bekannte Schritt wollte nicht erklingen, die Erwartete sich nicht zeigen.
Milton Tavares fröstelte. Er schlug den Kragen seiner eleganten Hausjoppe hoch. Brrr – war das ungemütlich in diesen grauen Novembertagen hier in Deutschland. Er sehnte sich nach der heißen Sonne seines Heimatlandes. Und doch – was ihn hier fesselte, war stärker als das, was ihn in Brasilien lockte. Sobald Ursel Hartenstein erschien, vergaß er den häßlichen grauen, deutschen Winter. Dann wurde es licht und warm in ihm, oh, noch viel heißer als die Tropentemperatur Brasiliens. Sie war seine Sonne, die goldhaarige Ursel, der Brennpunkt, um den sich alle seine Gedanken drehten.
Nervös zog Milton schon wieder die Uhr. Ein Uhr vierzig – das ging nicht mit rechten Dingen zu, da mußte irgend etwas passiert sein. Wenn Ursel es mit Pünktlichkeit auch niemals sehr genau nahm, so arg hatte sie sich noch nie verspätet. Die Hochschule war ja nur fünf Minuten entfernt. Das richtigste war, er sprang schnell einmal herum, nachzusehen, wo sie blieb. Das lange untätige Warten war nichts für seine impulsive Natur. Schon hatte Milton den Regenulster übergezogen und war die Treppe hinunter, trotz Hannes energischen Protestes: »Jetzt wird nich noch mal wegjelaufen, ich komm schon mit die Suppe.«
Vor der Haustür hielt ein Droschkenauto. Margarida sprang leichtfüßig heraus und warf dem Chauffeur einen Geldschein zu, der die Summe für die Fahrt bei weitem überstieg.
»Ah, Milton – du wartest wohl schon auf mich?« fragte sie den Bruder in ihrer Heimatssprache. Unter sich sprachen die Geschwister stets portugiesisch.
»Freilich – aber ich habe noch einen kleinen Weg, gleich bin ich wieder zurück. Gehe nur inzwischen nach oben, Marga.« Nicht einmal der Schwester mochte er es eingestehen, daß ihm die ausbleibende Freundin keine Ruhe ließ. Sogar sich selbst gegenüber beschönigte er seine Ungeduld. »Ich bin es Frau Doktor Braun schuldig, daß ich mich nach ihrer Enkelin umsehe.«
Als der Brasilianer den Steinplatz überquert hatte, sah er bereits einen bräunlichen Regenmantel vor dem Portal der Hochschule ganz gemütlich auf und ab schlendern. Daß er zu Ursel gehörte, war außer Zweifel, trotzdem er dem Brasilianer den Rücken wandte. Goldenes Haar, wie nur sie es hatte, quoll unter dem Lederhütchen hervor. Aber er ging nicht allein, der bräunliche Regenmantel. Ein gelber Gummimantel wanderte daneben. Auf und ab – ohne Schirm, als sei es das herrlichste Maienwetter, und nicht ein Novembergeriesel, das einen in der Seele frösteln machte.
Oder war es etwas anderes, was Milton Tavares plötzlich eiskalt an das Herz griff?
Die beiden waren im lebhaften Gespräch, so angeregt, daß die junge Dame das Näherkommen des Brasilianers gar nicht bemerkte. Bis er ihr in einer jähen Eifersuchtsaufwallung den Weg vertrat.
»Ah, Herr Tavares!« Erfreut streckte Ursel ihm die Hand entgegen. »Was haben Sie denn hier zu suchen?«
»Sie«, gab der Brasilianer, zu stolz, um eine Ausrede zu erfinden, geradezu zur Antwort. »Es ist bald zwei Uhr. Madame Hanne hat schon gebringt der Suppe. Und Frrau Grroßmama sitzt an Fenster und wartet.« Daß er selbst gewartet habe, sogar auf dem Balkon, das behielt er für sich.
»Oh, ist es wirklich schon so spät, daß man jemand nach mir aussendet? Da haben wir uns aber tüchtig verschwatzt, Paul. Also wir reden morgen weiter von der wichtigen Angelegenheit.« Ursel nahm sich nicht mal erst Zeit, ihren Begleiter vorzustellen, sondern schüttelte ihm verabschiedend die Hand.
Ganz gegen seine Gewohnheit schritt der Brasilianer schweigend neben Ursel her, sie ritterlich mit seinem Schirme beschützend. Wer war jener Paul, der sie so lange aufgehalten hatte, daß sie darüber das Heimkommen vergaß? Sicher ein Musikschüler. Die Noten, die er unter dem Arm trug, ließen darauf schließen. Und was war das für ein wichtiges Gespräch, das morgen fortgesetzt werden sollte? Der Brasilianer spürte brennende Eifersucht in der Brust.
»Nun, Herr Tavares, ist Ihnen bei dem Regenwetter die Sprache davongeschwommen?« fragte Ursel, ihn erstaunt von der Seite betrachtend.
»Werr ist Paul?« gab der Brasilianer statt einer Antwort die Frage zurück.
»Paul? Was für ein Paul? Ach so, Sie meinen den jungen Tenor. Famose Stimme, wird sicherlich mal was Großes erreichen.«
Dem Brasilianer war das durchaus gleichgültig. »Sie sind bekannt mit ihm serr gutt?« Dieses war ihm weniger gleichgültig.
»Ja, natürlich, wir studieren doch zusammen.«
»Nennt alle Schülers an Hochschule sich bei Namen oder nur Paul?«, wollte der eifersüchtige Brasilianer noch wissen.
Ursel sah ihn groß an. Und plötzlich mußte ihr wohl ein Licht aufgehen, denn sein schwarzes Auge blitzte vor mühsam zurückgedrängter Erregung.
»Wir Hochschüler nennen uns meistens beim Vatersnamen. Aber was interessiert Sie das denn eigentlich?« fragte sie mit spitzbübischem Lächeln. Sie dachte ja gar nicht daran, ihm zu sagen, daß der junge Hochschüler mit Nachnamen Paul hieß. Es machte ihr ungeheuren Spaß, ihn weiter zappeln zu lassen.
»Serr interessiert. Sie promenieren mit Paul vierzig Minuten bei häßliches Regenwetter, hin, her. Frrau Grroßmama wartet, Madame Hanne wartet mit Suppe, Marga wartet, mich wartet. Ich will wissen, warrum Sie tun das?« In seiner Eifersucht sprach er in befehlendem Ton.
Damit kam er ja aber bei Ursel an die Rechte. Sie warf den goldblonden Kopf mit dem Lederhütchen zurück und sagte abweisend: »Weil es mir Spaß macht. Und im übrigen geht Sie das durchaus nichts an.«
»Oh, geht an mir viel, serr viel.« Da waren sie an dem Braunschen Hause angelangt.
Man war oben bereits zu Tische gegangen. Es mußte auf die übrigen Pensionäre, einem Schweden, einer Russin und einer Schweizerin, Rücksicht genommen werden.
Mit ingrimmigem Gesicht empfing Hanne die beiden. »Na, später kannste woll auch nich kommen, Urselchen. Führ' man bloß nich sone neuen Moden hier ein. Und Sie, Herr Tavares, brauchen auch nich jrade loszujondeln, wenn ich mit die Suppe komme. Nachservieren is 'n andermal nich!« sagte sie kurz und bündig.
Sonst pflegte Ursel die gute Alte bei derartigem Brummen, das öfters mal vorkam, sogleich durch ein gutes Wort zu besänftigen. Heute ärgerte sie sich über sie.
»Dann muß ich eben, wenn es mal wieder später wird, wo anders essen«, sagte sie kurz.
Auch der Brasilianer vergaß seine höfliche Entschuldigung, die er sonst stets bereit hatte.
Nanu? Hanne sah den beiden erstaunt nach. Hatten die sich miteinander verkracht? Das sah doch beinahe so aus. Aber diese Entdeckung hob merkwürdigerweise die schlechte Laune der Alten. Ja doch, ja – ordentlich sollten sie sich miteinander zanken. Viel zu dicke befreundet war ihr das Urselchen mit den »Schwarzen«. Die brave, alte Hanne sah kein gutes Ende davon und hatte allen Ernstes, trotz der »noblichsten Trinkjelder«, ihrer Dame vorgeschlagen, den Brasilianern den Laufpaß zu geben. Davon wollte aber Frau Doktor Braun mit ihrem menschenfreundlichen Herzen nichts wissen. Die beiden Tavares fühlten sich bei ihr zu Hause, sie sollten, so lange sie in Deutschland blieben, auch ein Heim bei ihr haben.
Mit aufmunterndem Lächeln reichte Hanne Ursel die Schüssel. »Nimm, Kindchen, nimm! Ich hab' dir dein Leibjericht jekocht, Karpfen blau mit Meerrettichsoße.«
Aber Ursel aß trotzdem nicht viel. Und gebrauchte dabei ihr Mündchen doch bei weitem nicht zur Unterhaltung, wie das sonst der Fall war. Selbst der Großmama fiel die ungewöhnliche Schweigsamkeit ihres Lieblings auf.
»Du hast wohl heute einen anstrengenden Vormittag hinter dir, mein Herz?« erkundigte sie sich teilnehmend.
»Ih wo, ich hatte Ensemblestunde mit Paul, die mir viel Freude machte.« Irgendein kleiner Teufel legte der Ursel diese Worte auf die Lippen.
Der Brasilianer hatte sich bisher kaum an der Unterhaltung der anderen beteiligt. Aber das war nur Ursel aufgefallen und allenfalls noch Hanne, die es mit Genugtuung wahrgenommen. Denn Frau Doktor Braun pflegte vor jedem Fischessen lächelnd zu verkünden: »So, jetzt sind wir alle miteinander böse. Beim Fisch darf man nicht reden. Sonst bekommt man eine Gräte.« Was aber natürlich die junge Welt durchaus nicht an der Unterhaltung hinderte.
»Warum bin ich eigentlich ärgerlich?« fragte sich Ursel im stillen. »Ich war doch so froh heute vormittag. Weil Milton Tavares irgendwelche dumme Eifersuchtsgedanken hat? Was gehen die mich an? Ich kann tun und lassen, was ich will, und bin ihm keine Rechenschaft darüber schuldig.« Und sie zwang sich, die Scherze des Schweden übermütig wie sonst zu parieren, mit Marga, der Russin und der Schweizerin lebhaft zu plaudern. Nur Milton existierte heute nicht für sie. Aber ihre Fröhlichkeit kam ihr nicht so recht von Herzen. Wie unbequem, daß Milton auch gerade ihr gegenüber seinen Platz hatte und sie, sobald sie vom Teller aufblickte, sein stummes, finsteres Gesicht sah.
Was wollte er denn eigentlich von ihr? Sie hatte ihm doch nichts getan. Das wäre ja noch schöner, wenn sie nicht reden konnte, mit wem sie wollte. Ursels Trotzkopf meldete sich.
»Omama, heute war ein Glückstag für mich. Paul hat mir zugeredet, mich zum ersten Januar für das Opernfach prüfen zu lassen. Er meint, ich werde sicher zugelassen; dann wollen wir zusammen Partien einstudieren.«
Da wurde der Stuhl ihr gegenüber jäh gerückt. Der Brasilianer erhob sich, trotzdem die Süßspeise noch nicht aufgetragen war, entschuldigte sich bei Frau Doktor und verließ das Zimmer.
»Oh,« sagte Margarida bedauernd, »Bruder Milton ist err nicht gesund?«
Ursel, an welche die Frage gerichtet war, zuckte gleichgültig die Achsel. Aber merkwürdig – Hannes Kunstwerk, die Schokoladenspeise, wollte auch bei Ursel nicht so recht rutschen.
Nach Tisch legte die Großmama sich stets ein wenig aufs Ohr. Ursel pflegte inzwischen bis zu Beginn der Hochschule mit ins Zimmer zu ihrer Freundin Marga zu gehen. Milton Tavares war dann ebenfalls Stammgast bei seiner Schwester. Die Geschwister hatten sich ein Instrument geliehen, das bei Marga im Zimmer stand, damit sie unabhängig von ihrer Pensionsmutter und den übrigen Pensionären spielen konnten, wann sie Lust hatten. Frau Doktor Braun hielt ihr Mittagsschläfchen in ihrem Schlafzimmer ganz hinten, am andern Ende der Wohnung. So konnte man nach Tisch ruhig musizieren. Das pflegten die drei Freunde auch stets zu tun. Ja, manchmal waren sie so vertieft in ihre Musik, daß Ursel die Zeit und die Hochschule darüber vergaß. Erst Hannes ärgerlich an die Tür bumbernde Faust: »Urselchen, Kind, hör' auf mit das Jedudel, es is jleich vieren, du mußt in deine Stunde«, pflegte sie dann an ihre Pflicht zu erinnern.
Heute stellte sich Milton nicht in Margas Zimmer ein. Zum erstenmal blieb er aus. »Brruder Milton hat Schmerrzen in Kopf, liegt auf Chaiselongue«, berichtete Marga, die nach ihm sah, besorgt der Freundin.
Oh, Ursel wußte ganz genau, was das für Kopfschmerzen waren. Deshalb brauchte Marga nicht in Sorge zu sein. Sie war grenzenlos enttäuscht, daß er nicht erschien. Hatte sie doch die Absicht gehabt, ihn mit einem guten Wort wieder zu versöhnen. Und nun war er »verknurrt« und die Nachmittagsstunde, auf die sich Ursel stets am meisten freute, erschien ihr heute langweilig und schal.
»Wollen wir spielen oder willst du singen, Urrsel?« fragte Marga sie.
»Ach, ich habe heute schon so viel Musik gemacht, am liebsten ruhe ich mich ein bißchen aus«, gab sie ausweichend zur Antwort und schmiegte sich in den Schaukelstuhl.
»Gutt – Brruder Milton hat auch Schmerzen in Kopf, mag nicht hörren Musik«, überlegte Marga.
Das erweckte wieder bei Ursel Trotz. Was – aus Rücksicht für Milton sollte sie nicht spielen, der überhaupt ganz andere Schmerzen als Kopfweh hatte – nun gerade!
Da saß sie auch bereits am Klavier und paukte drauf los. Motive aus Wagneropern, Verdi, Mozart, alles bunt durcheinander, wie es ihr gerade einfiel. Lustig sang sie den Text dazu und riß mit ihrer gezwungenen Heiterkeit auch Marga mit. »Oh, wie so trügerisch sind Weiberherzen«, klang es aus »Rigoletto« zu dem lauschenden Brasilianer hinein. Nein, das sollte sich Herr Milton denn doch nicht einbilden, daß Ursel sich seinetwegen in ihrem Vergnügen stören ließ.
Heute brauchte Hanne nicht an die beginnende Hochschule zu erinnern. Pünktlich zehn Minuten vor vier stülpte Ursel wieder den Lederhut auf das Blondhaar. Milton Tavares hielt es nicht mal der Mühe für wert, sich von ihr zu verabschieden.
Ursel war das Weinen näher als das Lachen, als sie die Treppe hinunterstieg. Ihr Trotz vermochte das Weh, das sie empfand, nicht zu unterdrücken. Hatte sie ihn denn wirklich so arg gekränkt?
Von dem Pfeiler des Hausportals löste sich eine schlanke Männergestalt. Ein Regenschirm ward über Ursels Kopf gestülpt – Milton Tavares hatte unten auf sie gewartet. Stumm schritt er neben ihr her. Kein Wort sprach er.
Ursel sah ihn ein wenig unsicher von der Seite an. Dann aber nahm sie all ihre Keckheit zusammen. »Warum begleiten Sie mich denn, wenn Sie mit mir schuß sind?« fragte sie patzig.
»Schuß?« Das Wort und sein Begriff »böse sein« war ihm fremd.
»Na ja, ich meine verknurrt«, erklärte sie in etwas besserer Stimmung.
Ursel war eine vorzügliche Sprachlehrerin. Das Wort »verknurrt« hatte der Brasilianer bereits bei ihr gelernt.
»Serr verknurrt«, bestätigte er. »Aber begleiten, weil Regen, und Sie haben kein Schirm.«
»Oh, bemühen Sie sich nicht, Herr Tavares. Ich bin nicht aus Zucker und weiche bei Regen nicht auf.«
Nichtsdestoweniger wich er nicht von ihrer Seite.
»Warrum Sie sagen Herr Tavares zu mir?« fragte er plötzlich.
»Ja, wie soll ich denn sagen?« verwunderte sich Ursel.
»Wenn Sie sagen Paul zu frremdes Tenor, Sie können sagen auch Milton zu guttes Frreund. Name ist ebenso schön«, beschwerte sich der Brasilianer.
Aber er hielt erstaunt in seinem Ärger inne. Silberhelles Lachen war plötzlich an seiner Seite erklungen, so von Herzen kommend, als wüßte Ursel nicht, daß sie miteinander »verknurrt« seien.
»Warrum lachen Sie – lachen Sie aus mir?« fragte er mißtrauisch.
»Ach, Sie sind zu komisch, Herr Tavares. Pardon, ich sollte ja Milton sagen. ›Fremdes Tenor‹ heißt doch überhaupt Erich Paul – Paul mit Nachnamen. Verstehen Sie. Wir Hochschüler lassen eben das Herr und Fräulein untereinander weg und rufen uns einfach beim Vatersnamen. Na, sind Sie noch verknurrt, Herr Tavares?« fragte sie schelmisch.
»Milton,« verbesserte er, »wie heißt es?« Jetzt war er es, welcher der Ursel Sprachunterricht gab.
»Dummer Milton!« Damit war die Ursel auch schon lachend die Steinstufen zum Eingang der Hochschule emporgesprungen. Denn von der Turmuhr schlug es vier.
Draußen stand Milton Tavares im grauen Novembergeriesel und es war ihm zumute, als brenne brasilianische Tropensonne.