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12. Kapitel. Vronli.

In dem großen Säuglingssaal des Schwabinger Krankenhauses quarrte es munter durcheinander. Aus all den Gitterbettchen, die wie Vogelbauer längs der Wand klebten, erhoben sich Stimmchen. Als ob die Kleinen wüßten, daß ihre treue Pflegerin sie auf einige Zeit verlassen wollte.

Schwester Vroni schritt noch einmal von Bett zu Bettchen. Klopfte hier einen kleinen Schreihals beruhigend, rückte dort eine Wärmflasche zurecht, bündelte noch in aller Geschwindigkeit strampelnde Beinchen in reines Leinen.

»So, Schwester Lotte, nun überlasse ich Ihnen meine kleine Schar. Sorgen Sie bloß gut für sie. Sie glauben es gar nicht, wie schwer es mir fällt, von meinen Kleinen fortzugehen. Das Keuchhustenkind drüben in der Ecke muß, sobald die Anfälle vorüber sind, frisch umgezogen werden. Hier auf dieser Seite sind mehrere Darmkatarrhe. Keinen Tropfen Milch, nur Tee und Haferschleim. Mehrere Masernkinder habe ich auch dabei. Da müssen Sie besonders große Vorsicht mit den Augen haben. Dieses elende Würmchen wird mit der Sonde ernährt. Und jetzt zum Schluß hier mein Sorgenkind, das zu früh Geborene, das ich nun schon vierzehn Tage mit der allergrößten Sorgfalt zu erhalten suche. Das lege ich Ihnen besonders ans Herz, Schwester Lotte. Hoffentlich finde ich sie alle, meine Kleinen, gut imstande wieder, wenn ich heimkomme.« Schwester Vroni warf noch einmal einen liebevollen Blick auf all die Gitterbettchen, dann reichte sie der jungen Hilfsschwester, die sie vertreten sollte, die Hand zum Abschied. »Nun ist es aber Zeit für mich. Von der Oberin habe ich mich bereits verabschiedet.«

»Schwester Vroni, ich hab' doch halt öfters schon vertreten, aber so hat sich noch keine Schwester um das, was sie zurückließ, gekümmert wie Sie. Froh waren sie alle, daß sie nun endlich auf Urlaub durften. Die Zeit konnten sie gar nit erwarten. Und Sie stehen hier und können sich nimmer trennen. Sie werden halt noch den Zug versäumen.«

»Das schon nicht, Schwester Lotte. Ich bin sicher pünktlich. Aber nun Gott befohlen.« Schwester Vroni griff nach ihrem kleinen Handkoffer.

So – nun war sie draußen. In tiefen Zügen atmete sie die frische Morgenluft ein. Ah – das tat gut nach der Krankenhausatmosphäre da drin. Die Straßen waren noch wenig belebt. Da schlug es gerade sieben Uhr vom Turm. Sie konnte noch gut zu Fuß gehen bis zum Hauptbahnhof. Die blauweißen Tramwagen rissen ein zu großes Loch in ihre bescheidene Kasse. Und nach der Nachtwache, der dritten schon in dieser Woche, tat die Wanderung wohl. Das Kofferchen war leicht. Schwester Vroni fuhr in Berufskleidung auf Urlaub, das war viel bequemer.

Hier in Schwabing, dem Künstler- und Studentenviertel, schlief noch alles zu dieser frühen Stunde. Da kneipte man die Nächte durch in den Bräus und schlief bis in den Tag hinein. Aber je mehr sie sich dem Mittelpunkt der Stadt näherte, um so belebter wurde es. Vor allem Touristen, durch Lodenanzug und Rucksack kenntlich, eilten aus den Hotels dem Zentralbahnhof zu. Vor dem Malteserbräu stand eine umfangreiche Händlerin mit ihrer Gemüseequipage und labte sich, trotz der frühen Stunde, bereits an einer Maß Bier. Immer lebhafter wurde es, und nun war die junge Schwester mittendrin in dem Getriebe auf dem großen Platz vor dem Hauptbahnhof.

Sie hemmte den Schritt an einem Obstkarren. Etwas Obst wollte sie noch einkaufen für die Reise. Ursel aß Bananen so gern, und diese Tiroler Äpfel mußte der Vater haben. Mutter bevorzugte Pflaumen – an jeden ihrer Lieben dachte Vronli, nur an sich selbst nicht. Eine große Tüte im Arm trat sie an die Bahnhofssperre, hinter welcher der Berliner Zug einbrausen mußte. Trotzdem Vronli die Zeit kaum erwarten konnte, ihre Lieben, die sie jetzt fast ein Jahr nicht gesehen, in die Arme zu schließen, dachte sie gar nicht daran, eine Bahnsteigkarte zu lösen. Sie war an größte Sparsamkeit gewöhnt, denn das Säuglingsschwesterngehalt war nicht allzu üppig. Und Vronli setzte ihren Stolz drein, in pekuniärer Hinsicht unabhängig von den Eltern zu sein. Die Futterpakete, mit welcher die Mutter sie regelmäßig bedachte und welche mit soviel Liebe zusammengestellt waren, daß Vronli jedesmal ganz gerührt davon war, bildeten ihre einzige Beihilfe.

In die wartende Masse, unter der sich auch Vronli befand, kam Bewegung. Schwarze Rauchwolken erfüllten die Halle. Der Berliner Zug brauste ein.

Aus dem Fenster eines Abteils lehnte schon geraume Zeit, seitdem die verheißungsvollen Anpreisungen der verschiedenen Bräus an Käufer- und Zaunwänden dem Fremden anzeigten, daß man sich München näherte, ein goldhaariger Mädchenkopf. O Gott, war man denn noch immer nicht da! Die ganze lange Nachtfahrt war der Ursel nicht so lang geworden, wie die letzten Minuten. Sie freute sich unsagbar auf Vronli. Hatte sie doch zuerst gar nicht gewußt, wie sie die Trennung ertragen sollte. Denn bei all ihrer Verschiedenheit waren die Schwestern ein Herz und eine Seele. Frau Annemarie, nicht weniger erwartungsvoll, ihre Große nun endlich wieder zu haben, trat neben Ursel. Angestrengt überflog ihr Auge die Menschenreihen, aus denen Winke und Zurufe die Einfahrenden begrüßten. Vronli schien nicht darunter zu sein, aber man konnte sie bei der immerhin noch raschen Einfahrt leicht übersehen haben.

Ursel begann aufgeregt sich den Bahnsteig entlang durch das Menschengewühl, das sich umarmte, küßte und die Hände schüttelte, hindurchzudrängeln – vergebens. Keine Vronli wollte sich zeigen. Enttäuscht kehrte sie zu den bei dem Gepäck harrenden Eltern zurück.

»Vronli ist nicht da. Gewiß ist ihr etwas dazwischen gekommen. Irgendeins von den Würmern mußte gewiß noch eine frische Windel kriegen. Die Vronli ist ja immer so pedantisch. Oder aber sie hat sich verspätet – – –«

»Das tut's Vronli nimmer. In der Pünktlichkeit ist sie ganz meine Tochter«, meinte der Vater kopfschüttelnd. »Eher glaub' ich, daß sie hinter der Sperre geblieben, wir wollen halt 'naus gehen. Hier ist sie doch nicht mehr.« Sein Auge überflog noch einmal den jetzt sich leerenden Bahnsteig.

»Hinter dem Käfiggitter soll die Vronli stehen? Ja, warum denn bloß?« verwunderte sich Ursel.

Aber da hatten Mutteraugen bereits eine vom Gitter her winkende Gestalt in blauweißgestreifter Schwesterntracht entdeckt.

»Vronli – meine Vronli – – –«

Nein, wirklich – die Frau Professor lief doch tatsächlich wie ein junges Mädel den Perron hinab, schneller als die Ursel war sie an der Billettsperre. Was kümmerte es sie, daß der Bahnbeamte ihre Fahrkarte verlangte, die ihr Mann mit pedantischer Gründlichkeit in seiner Brieftasche verstaut hatte, weil Weibsleut' sie halt doch nur verlieren. Endlich – endlich hatte sie ihre Älteste wieder in den Armen, nach der ihr doch arg bange gewesen die ganze Zeit, trotzdem sie es sich selbst kaum zugestanden.

»Mutterle, mein liebes. Oh, wie gut schaust du aus, kaum älter als Ursel. Nein, was ist das Mädel groß und erwachsen geworden! Wo ist denn der Backfischzopf hingekommen? Grüß dich Gott, Vaterle. Wir müssen eilen. Der Zug ins Gebirge ist stets überfüllt.« Trotzdem aus jedem Worte Vronlis die innige Freude des Wiedersehens sprach, vermochte sie dieselbe doch äußerlich nicht so an den Tag zu legen wie Ursel, die sie beinahe vor Glückseligkeit erdrückte.

»Vronli, du Affenschwanz, warum stehst du denn hier und nicht auf dem Bahnsteig? Wir haben uns die Augen nach dir ausgeschaut.« Zärtlich hängte sie sich in den Arm der großen Schwester und ließ es gern geschehen, daß diese ihr, trotzdem sie ihren eigenen Koffer zu tragen hatte, auch noch den größten Teil des Handgepäcks abnahm. Das war von jeher zwischen den Schwestern so Sitte gewesen. Vronli trug stets den größten Teil der Last, welche Ursel zukam.

»Ja, daß die Bahnsteigkarte Geld kostet, daran denkst du nicht, du Leichtsinn«, verteidigte sich Vronli lachend.

»Na, die paar Mark«, machte Ursel verächtlich. Es war ihr unverständlich, wie man sich deshalb auch nur um eine Minute des früheren Beisammenseins bringen konnte.

»Die Vronli hat recht«, stimmte der Vater zu. »Auf fünf Minuten früher oder später kommt's nimmer an.« Während seine Gattin sich innerlich mehr Ursels Auffassung zuneigte. Mit glücklichen Augen betrachtete Frau Annemarie die vor ihnen gehenden Mädchengestalten. Vronli überragte Ursel, die durchaus nicht klein war, noch um einen halben Kopf. Stattlich und kräftig war sie, die Vronli. Die schlichte Schwesterntracht paßte gut zu ihrem lieben Gesicht mit dem glatten, dunkelblonden Scheitel.

Ursel schien das weniger zu finden. »Warum reist du denn bloß als Nonne?« zog sie die Ältere auf. »Ich habe ein neues Lodenkostüm bekommen, sieh nur. Stilvoll, was? Hast du gar keine anderen Kleider mit?« In dem eleganten Hotel, auf das Ursel in Mittenwald hoffte, war es doch peinlich, sich in diesem Aufzuge mit der Schwester zu zeigen.

»Nur noch Bluse und Rock im Koffer, Kleines. Ich bin dir wohl nicht fein genug, wie?« lachte Vronli sie aus. Trotzdem die Schwestern so lange getrennt waren, kannte die Ältere die Jüngere doch ganz genau.

»Ih wo, darauf kommt es ja gar nicht an«, verneinte Ursel, rotwerdend. »Die Hauptsache ist, daß wir wieder beisammen sind.« Und das war in diesem Augenblick wirklich ihre Meinung.

Nun saß man glücklich in dem überfüllten Zug nach Partenkirchen, wo man dann nach Mittenwald umsteigen mußte. Das heißt, eigentlich saß nur Frau Annemarie. Der Professor und seine Töchter standen draußen auf der Plattform der Gebirgsbahn. Denn Rudolf Hartenstein mußte Wiedersehen feiern mit allem, was ihm aus seiner Studentenzeit, die er zum Teil in München zugebracht, lieb und vertraut gewesen. Da waren die beiden Zwillingstürme der Frauenkirche, die in seine Studentenbude geschaut. Dort der vornehme Kuppelbau des Justizpalastes, daneben der Glaspalast der Münchener Künstlerwelt.

»Ja, Vronli, da hat sich halt nix verändert. Schaut's, Kinderle, dort im Thomasbräu hab' ich halt jeden Abend meine Salzbrezel und meinen Radi zum Abendbrot verzehrt. Ja, das waren Zeiten!«

»Bessere als jetzt, Rudi?« fragte da die Stimme seiner Frau neckend. Frau Annemarie war in die Tür getreten. Keine drei Meter Entfernung mochte sie zwischen sich und ihre Lieben legen. Mit ihnen gemeinsam wollte sie all das Schöne, was sich ihnen jetzt bieten würde, genießen.

»Bessere, Frauli? Nun, das wohl nimmer.« Er reichte ihr zärtlich die Hand. »Aber schau, es ist ratsam, du gehst wieder 'nein oder eins von den Mädeln. Wir müssen halt auf unser Gepäck achten.«

Aber keins von den Mädeln hatte Lust dazu. Die Vronli wollte gar zu gern den Fremdenführer spielen und ihren Angehörigen die Schönheiten ihrer jetzigen Heimat zeigen. Und die Ursel war niemals gewöhnt, irgendwo zurückzustehen. Noch dazu hier, wo sie mit begeisterten Augen all das Neue, auf das sie Vater und Schwester aufmerksam machten, in sich hineintrank. Natürlich war es die Mutter, die wieder mal Verzicht leistete. Denn das freundliche Anerbieten eines Mitreisenden, auf das Gepäck zu achten, erschien dem vorsichtigen Professor doch nicht annehmbar.

So saß denn Frau Annemarie wieder zwischen Rucksäcken und Koffern eingeschachtelt und teilte ihren Blick zwischen den Schönheiten des Starnberger Sees, an dessen Ufer der Zug entlang fuhr, und ihren Lieben da draußen.

Nein, wie verschieden die beiden Mädel waren. Kaum denkbar, sie für Schwestern zu halten. Die goldblonde Ursel in ihrer Lebhaftigkeit, die der Vater an die »Leine« genommen hatte, aus Angst, daß sie von der Plattform herunterfallen könnte. Und die bei weitem nicht so hübsche, aber doch mindestens so sympathisch wirkende ältere Schwester mit den klaren grauen Augen, aus denen die ruhige Güte des Vaters blickte. Aber jetzt, als Vronli lachte – Ursel hatte sich gewiß wieder einen Ulk geleistet –, als eine Perlenreihe prachtvoller Zähne sichtbar wurde, dachte Annemarie voll Mutterstolz: »Das hat sie doch von mir.«

Das bayerische Hochgebirge tauchte in blaugrauen Konturen am Horizont auf. Der Mitreisende, ein noch jüngerer, hagerer Herr mit goldener Brille, der sich vorhin erboten, auf das Gepäck zu achten, nannte Hartensteins die Namen der Spitzen und Höhenzüge, die allmählich immer sichtbarer wurden.

»Da – die Zugspitze.«

»Schnee, da liegt ja noch Schnee!« schrie Ursel in elementarer Begeisterung los.

»Freilich, mein Fräulein, Neuschnee allerdings, den wird die Sonne bald wieder verjagt haben«, meinte der Reisegenosse, über ihre naive Begeisterung lächelnd.

Als man in Partenkirchen, wo nach Ursels Urteil ein Menschengewühl war, wie daheim am Potsdamer Platz, eine Stunde Aufenthalt hatte und sich im Wartesaal an einer Tasse Kaffee stärkte, bat der Fremde um die Erlaubnis, an demselben Tisch Platz nehmen zu dürfen. Hartensteins waren eigentlich nicht so sehr begeistert davon. Was hatte man sich nicht alles zu erzählen, wobei ein Fremder störend war. Ursel brannte darauf, der Vronli zu berichten, daß Onkel Hans die Tante Margot heiraten würde; daß sie nun doch Gesang studieren dürfte. Und daß die Tavares so gern mit ihnen mitgereist wären, aber daß der Vater leider gemeint habe, ein Aufenthalt an der See sei für Margas Gesundheit ratsamer. Das wußte Vronli doch alles noch nicht, überhaupt die Tavares! Wenn sie auch der Schwester brieflich von den neuen Freunden vorgeschwärmt hatte, sie mußte ihr doch ganz ausführlich von ihnen erzählen.

Vronli wiederum hatte manche Frage nach Hansi, den Verwandten und Freunden daheim auf dem Herzen. Die hätte den Eltern gern von ihrer Tätigkeit berichtet. Besonders den Vater über seine Meinung nach verschiedenen komplizierten Fällen, die sie glücklich durchgebracht, gefragt. Aber der fremde Herr war so freundlich und bescheiden, daß man ihn unmöglich abweisen konnte.

»Dr. Ebert, Oberlehrer aus Berlin«, stellte er sich den Herrschaften vor.

»So siehste aus!« Nur mit Mühe hatte Ursel diesen rangenhaften Berliner Ausruf unterdrückt. Denn dem Fremden mit seiner langen, etwas nach vorn geneigten Gestalt und der goldenen Brille vor den kurzsichtigen Augen, sah man den Lehrer schon aus der Entfernung an.

Es ergab sich auch bald im Gespräch, daß er recht bewandert in den bayerischen Bergen, in denen er fast immer die Sommerferien zugebracht hatte, war. In Mittenwald war er schon mehrfach gewesen und konnte Hartensteins wertvolle Fingerzeige und Ratschläge über ihr künftiges Eldorado geben. Der Professor machte sich dankend Notizen. Der Oberlehrer ließ sich in ein Gespräch mit den Damen ein. Aber Vronlis ruhige Sachlichkeit war es vor allem, die ihm gefiel. Schließlich plauderten die beiden ausschließlich miteinander. Frau Annemarie hatte genug damit zu tun, sich still ihrer wieder vor ihr sitzenden Ältesten zu freuen. Ursel, die es nicht gewöhnt war, irgendwo zweite Geige zu spielen, besonders wenn Herren dabei waren, fühlte sich vernachlässigt und ein wenig ärgerlich. Wie kam denn dieser lange Schullehrer dazu, ihre Vronli, die sie so lange nicht gesehen, derart in Beschlag zu nehmen. Sie plinkte der Schwester zu, dem »mopsigen« Gespräch doch ein Ende zu machen. Aber Vronli, die das Gespräch über Vererbungs- und Erziehungstheorie, die sich schon bei den ganz Kleinen geltend macht, durchaus nicht langweilig fand, merkte das nicht mal. Ursel mußte deutlicher werden.

»Komm, Vronli, wir wollen ein bißchen hinausgehen, es ist so warm und stickig hier im Wartesaal«, unterbrach sie das Gespräch der beiden.

Vronli war sogleich dazu bereit. Arm in Arm schritten die Schwestern draußen auf und ab.

»Wie konntest du dich bloß so eingehend mit dem langweiligen Menschen einlassen, Vronli«, machte Ursel sogleich ihrem Herzen Lust.

»Dr. Ebert ist ganz und gar nicht langweilig, Urselchen. Er spricht sehr interessant und macht dabei den Eindruck eines bescheiden und vornehm denkenden Menschen.«

»Puh – wenn ich das schon höre!« Ursel schüttelte sich. »Die ganze Langweile meiner Schulzeit weht mich aus jedem seiner Worte an. Und was er für eine Haltung hat, wie ein zusammenklappbares Taschenmesser. Gut, daß der Rucksack ihn nach hinten zieht, sonst würde er nach vorn überklappen.«

»Ursel – aber Urselchen! –« Vronli mußte lachen, ob sie wollte oder nicht. »Dein loses Mündchen hast du dir noch immer nicht abgewöhnt. Auf das Äußere kommt es doch bei wertvollen Menschen nicht an.«

»Oh – man kann wertvoll und dabei doch schön sein. Da solltest du mal Milton Tavares sehen. Was hat der für eine elegante Haltung. Und bildhübsch ist er mit seiner Bronzehaut und den schwarzen, blitzenden Augen. Den solltest du mal kennenlernen.« Ursel tat, als ob es außer Milton Tavares gar keinen anderen gab.

Vronli zuckte gleichmütig die Achsel. »Wenn er sonst keine Vorzüge hat – – – – –«

»Oh, bitte sehr«, unterbrach sie die Jüngere lebhaft. »Er ist ein Violinkünstler, herrlich spielt er. Und liebenswürdig ist er und klug und so drollig, wenn er die deutsche Sprache verdreht.«

»Weiter nichts?« fragte Vronli, um Ursel zu necken.

»Und reich ist er – unglaublich reich. Sein Vater ist der Kaffeekönig von Brasilien. Und vor allem ist er ein glühender Verehrer von mir«, zählte Ursel die Vorzüge des Brasilianers auf.

»Hahaha!« Vronli mußte von Herzen lachen. »Kleines, du bist doch noch derselbe Backfisch geblieben, obgleich der Backfischzopf jetzt hochgesteckt ist. Wenn einer ein Paar schwarze Augen hat und aus Brasilien ist, gleich bist du futsch.«

»Durchaus nicht«, verteidigte sich Ursel, rotwerdend. »Gerade das Gegenteil habe ich gesagt. Er ist in mich verschossen.«

»Na, schwärme du nur ruhig weiter für deinen Kaffeeprinzen.« Diesmal war es Vronli, welche die Jüngere aufzog.

»Und du für deinen Kathederhelden«, gab die schlagfertig zurück. »Gut, daß er nach Tirol geht und nicht etwa nach Mittenwald. Da sind wir ihn bald los.«

»Mittenwald ist das letzte bayerische Dorf. Es liegt hart an der Tiroler Grenze. Und Dr. Ebert wird seinen Aufenthalt unweit davon auf der Paßhöhe in Seefeld nehmen. Wir haben gemeinsame Bergtouren verabredet.«

»Viel Vergnügen dazu! Ich hoffe, in Mittenwald feschere Gesellschaft zu finden«, sagte Ursel ablehnend. Zu ihrem Mißvergnügen gewahrte sie, daß der Oberlehrer bei der Weiterfahrt mit freundlicher Selbstverständlichkeit – »edle Dreistigkeit« nannte es Ursel – wieder dasselbe Abteil der Karwendelbahn, die über Mittenwald nach Innsbruck führt, wie sie bestieg. Daß er sich dienstbereit mit ihren schwersten Gepäckstücken belud, fand sie dagegen ganz in der Ordnung.

»Jetzt kommt eine herrliche Fahrt«, sagte der Oberlehrer, und seine Augen leuchteten hinter den Brillengläsern. »Die Karwendelbahn ist eine der schönsten Bergbahnen. Sie durchtunnelt die Martinswand auf Tiroler Gebiet. Sie müssen mal eine Fahrt nach Innsbruck herunter machen, meine Herrschaften. Es werden in Mittenwald Grenzscheine ausgegeben.«

Der Reisegenosse hatte nicht zuviel gesagt von der Schönheit der Fahrt. In jähem, gewaltigem Felsabsturz baute sich das Karwendelgebirge vor ihnen auf. Stumm schauten sie auf diese fast beklemmend großartige Bergwelt. Nur Ursel verstummte nicht. Die machte ihrer Begeisterung über die blumenreichen Matten, die bimmelnden, buntscheckigen Kühe und die hohen Berge unbekümmert Luft.

In Mittenwald war Hartensteins Reiseziel erreicht. Der Vater verabredete mit dem weiterfahrenden Dr. Ebert schon für die nächsten Tage eine gemeinsame Wanderung, was Ursel recht überflüssig fand. Aber als sie dann hinaustraten, als Mittenwald mit seinen bunten Häuschen so malerisch lieblich die grünen Hänge hinaufkletterte, während auf der andern Seite düster und dräuend die schroffe Bergwand zu Tal stürzte, da waren sie alle restlos begeistert.

»Kinder, seht doch nur, die entzückenden bunten Malereien und Sprüche an den Bauernhäusern«, rief Frau Annemarie entzückt.

»Und diese Blumenpracht – das kleinste Hüttchen hat farbenprächtige Bergnelken und Rosmarin am Fenster«, stimmte auch Vronli ein.

»Ursele, du bist hier am richtigen Platz. Schau, Mittenwald ist halt der Ort der Gitarren- und Geigenbauer. Also ganz musikalisch. Dort drüben ist das Posthotel, in dem wir hoffentlich Unterkunft finden werden«, erklärte der Vater.

»Das ist das Hotel, an welches du geschrieben hast, Vater? Stimmt das auch gewiß? Das sieht doch gar nicht so elegant und vornehm aus.« Ursel rümpfte die Nase. Sie fühlte sich durchaus nicht am richtigen Platz.

»Umso besser. Was, Annemie, in ein elegantes, steifes Hotel passen wir nimmer 'nein.« Der Vater nahm den Arm seiner Frau, während die Töchter folgten.

Ja, man hatte die gewünschten Zimmer für den Herrn Professor reserviert. Drüben in der Dependance lägen sie. Da hätten's die Herrschaften ruhiger. Da wohne sich's gar gut. Sogar der Herr Goethe habe mal in demselben Hause übernachtet, eine Tafel vermelde es noch. So teilte der biederfreundliche Wirt seinen neuen Gästen mit.

»Im Hause, wo Goethe übernachtet hat, werden wir logieren. Kinder, was werden uns da für Träume umgaukeln«, rief Frau Annemarie lustig.

»Puh, ist das eine alte Bude«, flüsterte Ursel schaudernd ihrer Schwester zu, die mit andächtigem Schauer die Gedenktafel am Hause studierte, daß am 7. September 1786 Goethe auf seiner italienischen Reise hier übernachtet habe. »Ich glaube, hier gibt es Ratten und Mäuse.« Ursel sah furchtsam in die düsteren Ecken des altertümlichen Hausflurs.

Aber die Zimmer droben waren so hell, so sauber und freundlich, daß Hartensteins recht zufrieden mit ihrer Unterkunft waren. Besonders Vronli fand die bäuerischen Möbel und das geblümte Kattunsofa urgemütlich.

»Du hast wirklich einen gewöhnlichen Geschmack, Vronli. Ich bin doll enttäuscht. Dein Oberlehrer, der paßt in solchen Gasthof hinein. Wenn ich mir die Tavares hier vorstellen sollte – – – –«

»Die gehören ja auch nicht in unser einfaches bayerisches Bergland, sondern nach Brasilien«, lachte sie Vronli aus. »Mädel, was haben dir die Ausländer für einen Sparren in den Kopf gesetzt. Den muß dir der kräftige Bergwind hier ordentlich ausblasen.«

Im Nebenzimmer hatte Frau Annemarie Bruchstücke von der Unterhaltung ihrer Töchter aufgefangen. »Du glaubst nicht, Vronli, wie froh ich bin, daß Ursel wieder ein paar Wochen mit dir zusammen ist«, sagte sie, als sie später Arm in Arm mit ihrer Ältesten einen Nachmittagsspaziergang nach dem herrlich gelegenen Lautersee unternahm. »Ich hoffe soviel von deinem günstigen Einfluß auf das anspruchsvolle Mädel. Merkst du es nicht, daß unser hübsches Hotel gar nicht nach ihrem Geschmack ist? Sie hat sich da Gott weiß was für ein großartiges modernes Haus ersten Ranges vorgestellt.«

»Davor hätte ich in meinem Schwesternkleid Reißaus genommen, Mutterle. Aber die Ursel tut halt nur so. Es ist nicht halb so schlimm. Sie hat bereits mit der Resi und dem Seppel im Haus Freundschaft geschlossen. Aber ich halte den Verkehr mit den Brasilianern für sie nicht für günstig. Ursel läßt sich noch zu leicht von Glanz und Reichtum blenden.«

»Wir haben aus denselben Gründen den Verkehr nach Möglichkeit eingeschränkt, Vronli. Ja, Vater ist sogar ziemlich ablehnend gewesen, als sie sich uns nach Mittenwald anschließen wollten. Erstens hätte unser gemütliches Beisammensein darunter gelitten und dann –«, die Mutter stockte einen Augenblick. Aber als ihr Blick das ruhigfreundliche Gesicht Vronlis unter der Schwesternhaube streifte, fügte sie mit der ihr eigenen Ehrlichkeit hinzu: »Ich habe auch noch andere Bedenken, Vronli. Dir kann ich sie ja anvertrauen. Du bist so reif und so verständig, weit über deine Jahre hinaus. Ich wünschte, du könntest der Ursel etwas davon abgeben. Ja, unser Urselchen. Ich habe Sorge, daß sie sich vielleicht mit dem Brasilianer was in den Kopf setzen könnte. Daß es mehr als Freundschaft ist, was sie für ihn empfindet. Sie ist sich selbst darüber wohl noch gar nicht klar. Aber eine Mutter spürt doch jeder Regung ihres Kindes nach. Er ist ein prächtiger Mensch, dagegen ist gar nichts zu sagen. Aber Brasilien, wo die Affen herkommen – – –«. Frau Annemarie, die eben noch ganz versorgt dreingeschaut, lachte plötzlich wieder.

»So ist's recht, Mutterle, nimm die Kinderei doch nur nicht ernst. Die Ursel ist ja noch ein halbes Kind. Freilich imponiert ihr das alles, die Eleganz und der Reichtum der Ausländer. Aber augenblicklich lebt sie doch nur in dem Gedanken, eine berühmte Musikerin zu werden. Da kannst du unbesorgt sein, Mutterle.«

»Vronli, du tust mir gut. Daß ich dich entbehren muß, mein Mädel! Da hab' ich doch in der ersten halben Stunde, in der wir uns allein sprechen, dir gleich mein Herz mit seiner Sorge ausgeschüttet. Anstatt, daß die Sache umgekehrt ist, und du mir von dir berichtest.«

»Von mir ist nicht viel zu berichten, Mutterle. Das wenig Wissenswerte, mal ein Theater- oder Museumsbesuch, darüber seid ihr ja durch meine Briefe orientiert. Sonst vergeht ein Tag wie der andere, gleichmäßig wie die Uhr.«

»Theater- und Museumsbesuche interessieren mich augenblicklich nicht, Kind. Von dir selbst will ich etwas erfahren. Ob du dich wirklich befriedigt fühlst in deinem Wirkungskreise. Ob es nicht Stunden gibt, wo du dich heimbangst; ob du Menschen gefunden hast, die dir nahegetreten. Das will deine Mutter wissen, mein Herz.«

Stumm griff Vronli nach der Hand der Mutter und drückte sie. »Ich bin es gar nicht mehr gewohnt, Mutterle, daß jemand nach meinem inneren Menschen fragt. Ein Jahr lang bin ich jetzt nur Schwester Vroni gewesen, die ihre Pflichten hat und die ihr Denken und Fühlen nur auf diese Pflichten einzustellen hat. Kaum, daß ich mich mal auf mich selbst besinnen kann. Freilich befriedigt mich die Arbeit, wenn mein Mühen von Erfolg gekrönt wird und ich ein junges Menschlein dem Würgengel abgerungen habe. Aber es gibt natürlich auch Stunden, wo man mal verzagt, wo man unterzugehen glaubt in der gleichmäßigen, sich ständig erneuenden Strömung der täglichen Arbeit. Wo man sich hinaussehnt zu irgend etwas Anderem, Freudigem. Aber, wie gesagt, das sind kaum Stunden, eigentlich nur Augenblicke der Schwäche, die von der Notwendigkeit der Arbeit schnell wieder verdrängt werden.« Sinnend schaute Vronli in das buntfröhliche Blühen der Alpenblumen längs ihres Weges.

Die Mutter zog ihren Arm fester an sich. »Ich hab's geahnt, Vronli, ich hab's manchmal zwischen deinen Zeilen herausgelesen. Ein junges Menschenkind braucht auch noch etwas anderes, als nur die Arbeit und die Befriedigung der Pflichterfüllung. Das ist keine Schwäche, sondern ein natürliches Empfinden. Wie gern wäre ich in solchen Stunden bei dir, mein Mädel, es wäre doch besser gewesen, du wärst in Berlin geblieben.«

Aber Vronli schüttelte den Kopf. »Nein, Mutterle, es ist besser so. Ein selbständiger Mensch wie ich muß mal eine Zeitlang allein mit dem Leben fertig zu werden versuchen. Schon um zu wissen, was man an seinem Daheim hat.«

Still schritten sie nebeneinander weiter, bis Ursels Ruf: »Eine Gemse, da – dort oben an dem Grat – habt ihr sie gesehen?« sie aus ihrer Versonnenheit emporriß.

Der Professor, der mit Ursel vorangegangen, erwartete die Damen. »Herrlich ist's, gelt?«

»Wir müssen uns schämen, Rudi. Vronli und ich haben uns nach der langen Trennung so eingehend miteinander unterhalten, daß wir kaum etwas von der herrlichen Gegend gesehen haben. Wenigstens nicht bewußt.«

»Weibsleut' – müßt ihr denn immer und immer schwätzen. Dazu nehm' ich euch halt mit ins schöne Bayernland«, polterte der Professor scherzhaft. »So – jetzt bleibst bei deinem Ehemann, Annemie. Schaut's nur den prachtvollen Sonnenuntergang. Ich mein', so farbenprächtig geht die Sonne nur in Süddeutschland unter. Bei euch im grauen Norden sieht man so etwas nicht.« Das süddeutsche Blut des Professors machte sich geltend.

»Und wie steht's mit der Waterkant, Rudi? Am Meer haben wir oft so prachtvolle Abendfärbungen genossen«, verteidigte seine Frau den Norden.

»Also hier ist's schön – und da ist's schön. Und es wird halt noch viel schöner – juchhu!« Das grüne Hütlein des Professors flog in die Lust.

Nein, war der Mann ausgelassen, in Ferienstimmung wie ein junger Bursch. Von seinen Patienten hätte wohl keiner den ernsten Arzt hier wiedererkannt.

»Ach, Rudi, ich bin dankbar dafür, daß ich mit dir und den Kindern – dem Hansi hätt' ich's auch gegönnt, aber der muß ja in die Schule – hier so herrliche Tage genießen darf«, sagte Frau Annemarie glücklich.

Ja, herrliche Tage wurden es für die Professorenfamilie. Petrus meinte es gut mit ihnen und ließ die Sonne jeden Tag in goldenerem Glanze erstrahlen. In dem gemütlichen Gasthaus bei den braven Wirtsleuten fühlte man sich bald ganz daheim. Selbst Ursel war damit ausgesöhnt, daß es kein elegantes Hotel war, in dem man zu Mittag und Abend sich in Staat werfen konnte. Sie ging in ihrem hübschen kleidsamen Dirndlkleid zur Freude aller, die sie sahen. Sie sang auf den Bergfahrten so hell und freudig, daß manch einer stehenblieb und der prachtvollen Stimme lauschte. Und daß selbst der Vater sie eines Tages zu packen kriegte: »Mädele, wenn du mal später die fremden Menschen durch deine Stimme halb so erfreust wie uns hier, dann will ich's nimmer bereuen, meine Einwilligung für die Hochschule gegeben zu haben.« Das war ein froher Triumph für die Ursel.

An Vronli schloß sie sich wieder so fest und zärtlich an wie früher, als sie noch Kinder waren. Wenn damals keiner mit Ursels eigensinnigem Köpfchen fertig werden konnte, die größere Schwester verstand es, auf Ursel richtig einzuwirken. Auch jetzt in den kurzen Ferienwochen machte sich ihr günstiger Einfluß auf die leicht empfängliche Seele der Jüngeren geltend. Vronlis Einfachheit und schlichte Art, über die sich Ursel lustig machte, färbte doch unmerklich ab. Das Bild der Tavares mit ihrer Eleganz verblaßte hier ein wenig in der ursprünglichen Bergwelt.

Aber es gab auch Stunden, ja ganze Tage, wo Ursel sich trotz der großartigen Natur wieder nach den Freunden sehnte. Wo sie sich überflüssig vorkam, vernachlässigt. Das war an den Tagen, an denen man gemeinsame Ausflüge mit dem in Seefeld wohnenden Oberlehrer Dr. Ebert unternahm. Man hatte gegenseitig aneinander Gefallen gefunden. Die Herren verstanden sich gut und mit der jungen Säuglingsschwester schien der Oberlehrer sich noch besser zu verstehen. Meistens wanderten die beiden zusammen. Gott, war das mopsig, wenn die zwei sich so ernsthaft unterhielten. Ursel hatte zuerst versucht, daran teilzunehmen. Aber bald merkte sie, daß sie mit ihrem kecken Mündchen, das immer irgendein übermütiges Wort fand, nicht zu dem tiefer den Dingen auf den Grund gehenden Gespräch paßte. Sie hatte bisher mit Herren immer nur auf lustigem Neckfuß gestanden; das war die Grundader ihres Wesens und ihrer Unterhaltung. Selbst mit Milton Tavares gab es stets ein scherzhaftes Wortgeplänkel und Lachen, solange die Musik nicht andere Saiten in ihnen ertönen ließ. Wie konnte man sich nur über Weltanschauung und Philosophie, über politische und volkswirtschaftliche Dinge stundenlang unterhalten. Ursel fand es geradezu ungehörig von den beiden, daß man so wenig Rücksicht auf sie nahm. Rollte sie nicht wie das fünfte Rad am Wagen immer nebenher? War es nun in die steinerne Bergwüste des Karwendelhauses oder in das liebliche Inntal mit seinen lachenden Ufern und blauen Tiroler Bergen. Das war Ursel nicht gewöhnt, daß sie nicht den Mittelpunkt bildete, daß man sie seitlich liegen ließ. Ja, der gelehrte, langweilige Schulmeister blickte offensichtlich von seiner geistigen Höhe auf sie herab, nahm sie gar nicht für voll. Einmal hatte er sogar gewagt »kleines Fräulein« zu ihr zu sagen. Aber das wagte er nicht noch einmal. Ursel hatte ihn den ganzen Tag dafür mit Nichtachtung gestraft. Nur schade, daß man nicht recht wußte, ob er es überhaupt bemerkt hatte. Denn eigentlich hatte er doch nur Augen für Vronli.

Oh, war die Ursel eifersüchtig! Nicht etwa auf die Schwester – o nein –, sie gönnte ihr die langweilige Unterhaltung und den noch langweiligeren Ritter von der Feder durchaus. Aber auf den »Pauker« selber – so pflegte Hans seine Lehrer zu bezeichnen – war die Ursel brennend eifersüchtig. Vronli vergaß ja ihre Anwesenheit vollständig in der Unterhaltung mit ihm. Sie merkte es gar nicht, wenn Ursel gekränkt zurückblieb und sich den Eltern anschloß. Ja, sie hatte Ursel sogar mal in ihrer ruhigen Art recht energisch verwiesen, als diese im gemeinsamen Stübchen ihr loses Mundwerk frei laufen ließ und Glossen über den Wandergefährten machte. Sie sei ein ganz unreifes Mädel, das einen solchen Menschen überhaupt noch nicht verstehen und würdigen könne. Ursels Abneigung gegen den Oberlehrer ward dadurch natürlich noch verstärkt.

Dies hinderte aber nicht, daß Vronli eines Tages – auf einer blumigen Alm, von der man weit hinaus in die Innebene hinunterschaute, war es – mit glücklichen Augen vor die Eltern trat und ihnen Dr. Georg Ebert als ihren Verlobten zuführte.

»Ach, nee!« entfuhr es der Ursel, nichts weniger als erfreut, während die Eltern frohen Blickes Vronlis Erwählten als Sohn begrüßten.

»Er ist ein Prachtmensch, dem man ruhig die Zukunft seines Kindes ans Herz legen kann«, sagte der Professor später freudig bewegt zu seiner Frau.

»Freilich, Rudi – er ist unserer Vronli würdig. Nur einen Fehler hat er – eins verzeih' ich ihm nicht –, errätst du es? Er macht mich zur Schwiegermutter!«


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