Hermann Ungar
Die Verstümmelten
Hermann Ungar

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17

Karl hatte aufgeschrien. Es gellte Polzer wie aus weiter Ferne in den Ohren. Aber er konnte den Blick nicht vom Kopf wenden. Der Pfleger schob nun Karl in Frau Porges' Zimmer.

Der Rumpf lag halbbekleidet ohne Kopf quer über dem Bett. Als Sonntag mit Karl zurückkehrte, hörte Polzer sie sprechen:

»Wie entsetzlich,« sagte Karl, »wie entsetzlich häßlich!«

»Die Schönheit, Herr Fanta,« entgegnete ihm der Pfleger, »ist an Toten nicht mehr zu erkennen.«

Polzer wollte aufstehen, aber er vermochte es nicht. Wie lange sollte das dauern? Er sah den Kopf an. Die Lider waren halb herabgefallen. Es war, als blinzelten die Augen aus einem schmalen weißen Spalt. Man sollte den Kopf forträumen, ganz fort, damit alles vorüber sei.

Karl richtete sich auf. Er atmete laut. Er blickte den Pfleger an. Der Pfleger stand mit geneigtem Haupt in der Mitte des Zimmers.

»Hilfe,« schrie Karl, »Hilfe! Es muß etwas geschehen. Das kann doch nicht so bleiben! Den Kopf...«

»Man soll alles unverändert lassen, bis die Polizei kommt,« sagte der Pfleger Sonntag. »Es ist so die Regel. Bald wird Ihre Frau kommen, Herr Fanta, dann werde ich gehen, das Notwendige zu veranlassen.«

Der Pfleger war in Frau Porges' Zimmer gegangen. Polzer fühlte Karls Blick auf sich. Ja, ja, es war etwas geschehen. Wenn man sich bloß entsinnen könnte, aber es war wohl schon zu lange her. Nun war alles vergessen. Der Pfleger kam wieder. Man hörte seinen Schritt nicht. Er hatte einen lautlosen Schritt. Nur die Dielen knarrten nachts bei diesem Schritt. Er hielt das Messer in der Hand. Auf dem Messer war Blut. Warum reinigten sie es nicht ? Karl seufzte auf und ließ den Kopf sinken. »Das ist das Messer,« sagte der Pfleger. »Damit haben Sie es getan, Herr Polzer.«

»Geben Sie es fort,« sagte Karl, »was wollen Sie nun mit dem Messer?«

»Wo ist das Geld?« fragte der Pfleger.

Immer das Geld. Nun war es klar, man hatte ihr den Kopf vom Hals geschlagen. Wer? Was sagte der Pfleger? Oh Gott, am Ende war es wahr, und er, Polzer, hatte es getan. Das Haar, in dem das Geld war, war gelöst, aber der Scheitel war nicht zerstört.

Der Pfleger hob das Messer und breitete die Arme aus. »Christus,« sagte er, »Christus! Wir tun die Sünde um ihn. Um unsere Erniedrigung ist das Böse da, daß wir immer wieder die Sünde erleiden. Diese Sünde ist Ihre Sünde, und in dieser Welt ist keine Erlösung!«

Er drückte Polzer das Messer in die Hand.

»Sühnen Sie weiter die Tat!«

Polzer hatte sich erhoben. Warum verdeckten sie den Kopf nicht, daß er nicht mehr blinzle? Polzer sah Karl an. Karls Mund war offen. Sein Gesicht war erstarrt. Man sollte beten, dachte Polzer. Was wollte der Pfleger von ihm? Oh Gott, etwas lag dunkel in seinem Kopf wie ein Stein, etwas Entsetzliches war geschehen. Man mußte sich erinnern. Als er vorhin Karl gegenübersaß, ehe der Pfleger gekommen war, hatte Karl etwas gesagt. Er hörte den Klang von Karls Stimme, aber er erinnerte sich nicht. Bloß daß sie gelbe Ohren hatte, gelb wie Wachs, Ohren wie eine Leiche, erinnerte er sich. Er hatte es gesehen. Aber nun war alles vorüber. Vielleicht würde er nun wieder in die Bank gehen, jeden Morgen. Nun war sie fort. Etwas war mit einem Kind gewesen, mit einem weiblichen Kind. Nun hatte man sie erschlagen. Mit der Linken die Nase zugehalten, dann spannte sich die Haut über die Kehle. Es mußte schnell geschehen, denn leicht bildeten sich Fältchen. Oh Gott, vielleicht konnte es so gewesen sein.

Polzer stand vor Karl. Er hielt das Messer in der Hand. Hinter ihm war der Pfleger zu Boden gesunken. Die Perlen des Rosenkranzes glitten durch seine Finger. Er betete murmelnd. Es gibt keine Rettung als zu beten, dachte Polzer, stundenlang inbrünstig zu beten.

»Was willst du?« fragte Karl heiser. »Gib das Messer fort! Willst du mich töten? Ich werde schreien! Was habe ich dir getan? Hilfe, Hilfe!«

»Du hast etwas gesagt,« sagte Polzer.

Des Pflegers Murmeln verstummte.

»Was habe ich gesagt? Habe ich gesagt, daß ich sie ermordet habe? Habe ich das gesagt? Glauben Sie ihm nicht, Herr Sonntag! Ich habe nichts gesagt. Er ist der Mörder, niemand sonst kann es gewesen sein. Und gebt den Kopf fort, ruft die Polizei, macht ein Ende! Werft den Kopf aus dem Fenster auf die Straße, daß die Leute kommen, Hilfe, Hilfe!«

Der Pfleger hatte sich erhoben.

»Du hast etwas gesagt,« sagte Polzer.

»Gesagt, gesagt! Bleiben Sie, Herr Sonntag, ich habe nichts gesagt. Daß ich keine Füße habe, habe ich gesagt. Daß man mich töten kann, habe ich gesagt, daß du ein Kalb bist, habe ich gesagt. Gib das Messer fort, du bist der Mörder!«

»Bekennen Sie es,« sagte der Pfleger. »Sie haben es um ihr Geld getan.«

Polzer ließ das Messer fallen. Er sank in die Knie.

»Hilf mir,« sagte er.

Karl schwieg.

»Wer hilft mir,« sagte er leise. »Wer hilft mir?«

Der Pfleger näherte sich Karls Stuhl. Karl sah ihm mit aufgerissenen Augen entgegen.

»Bleiben Sie,« schrie er, »bleiben Sie! Ich helf ihm nicht! Was würd ich ihm helfen? Bleiben Sie!«

Die Klingel ging.

»Mit Ihrer Erlaubnis,« sagte der Pfleger und verneigte sich. »Ich gehe, Frau Fanta zu öffnen. Ich werde sie in das Nebenzimmer führen. Denn dieses könnte für eine Dame leicht unerträglich sein.«

Karl neigte sich weit vor. Aus seinem Mund floß Speichel. »Flieh,« flüsterte er, »flieh! Ich kann nicht sprechen. Er tötet auch mich. Ich weiß, wer den Kopf auf die Treppe geworfen hat. Es ist alles ins Kleinste bedacht, flieh, flieh!«

Ja, ja, dachte Polzer; man muß fliehen. Man muß fort von hier. Sie haßten ihn alle. Auch Franz kam nicht. Man muß zurückkehren. Man muß wieder im Laden stehen und den Scheitel der Tante sehen. Man muß es bis zu Ende tragen, dachte er. Es ist für uns so da.

Der Pfleger trat wieder ein. Man hörte aus dem Nebenzimmer Doras Schluchzen.

Polzer erhob sich vom Boden. Er wandte sich um und schritt langsam zur Tür.

Karl blickte ihm nach.

»Ich gehe fort,« sagte Polzer.

Karl richtete sich auf. Er warf den festgeschnallten Körper, daß der Stuhl sich bewegte:

»Nein,« schrie er, »nein! Du darfst nicht fortgehen, Polzer, du darfst mich nicht allein lassen, Polzer! Es geht mir an den Kragen, bleib, bleib, laß mich nicht allein mit diesem ...«

»Mit Ihrer Erlaubnis?« unterbrach ihn der Pfleger Sonntag eindringlich und ruhig. »Vielleicht werde ich Sie mit Herrn Polzer allein lassen. Es will mir derart angenehmer erscheinen.«

Karl atmete laut. Seine Stirne war feucht. Der Pfleger legte die Schürze ab und schlug sie um das Messer. Er schritt lautlos zur Tür seines Zimmers.

»Ich werde mich von Frau Fanta verabschieden. Die Höflichkeit erfordert es so. Ich kenne wohl die Pflichten des Anstandes. Bedecken Sie den Kopf der Verstorbenen mit einem Tuch, Herr Polzer!«

Er verneigte sich und schloß lautlos die Tür hinter sich.

Karls Kopf war zur Seite gesunken. Er bewegte sich nicht. Es schien, als habe er das Bewußtsein verloren.

 

Spracheigentümlichkeiten, Grammatik und Interpunktion des Textes der Erstausgabe wurden weitgehend beibehalten.


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