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Franz Polzer ging aus der Bank geradeswegs zu Karl Fanta. Es war Dienstag.
Karl saß im Lehnstuhl, der an das Fenster gerückt war.
»Dienstag,« rief er, als Franz Polzer eintrat. Franz Polzer zog sich einen Stuhl ans Fenster.
»Wie geht es dir,« fragte er ängstlich.
Karl lachte.
»Eine kluge Frage! Wie es mir geht! Aber an übergroßer Klugheit hast du doch nie gelitten. Das soll keine Beleidigung sein, Franz. Eine bloße Feststellung! Wie es mir geht ohne Beine, mit Abszessen auf den Armen? Vorzüglich, lieber Franz, vorzüglich!« Er lachte und sah Franz durch seine große Hornbrille böse an.
Franz Polzer schwieg. Er war diese Ausbrüche Karls, die er fürchtete und nicht hindern konnte, gewöhnt. In letzter Zeit sprach Karl sehr viel, nahezu ohne Unterbrechung. Es war, als fürchte er eine Pause im Gespräch.
»Aber dir, lieber Polzer, wie geht es dir? Du stehst doch mitten drin im vollen Menschenleben, ha, ha! Was macht sie, deine Frau Klara Porges? Welch ein Name, wahrhaftig! Nimmt sie zu wie bisher, die Witwe? Und stellst du sie zufrieden, Polzer? Ich hätte ja wenig Vertrauen zu dir!«
»Ach Gott,« sagte Franz Polzer, »du weißt doch, daß meine Beziehungen zu ihr rein äußerliche sind. Ich wohne bei ihr zur Miete. Sie ist aus achtbarem Hause!«
Karl Fanta lachte laut:
»Aus achtbarem Haus! Franz, Franz, die Dienstage sind die hellen Augenblicke in meinem Leben. Aus achtbarem Haus! Junges Mädchen aus achtbarem Haus ...« Er hörte auf zu lachen.
»Ich will sie sehen, deine achtbare Frau Klara Porges, Polzer. Ich habe dich darum gebeten.«
»Sie ist eine ungebildete Frau,« sagte Polzer. »Was willst du mit ihr?«
»Sst,« sagte Karl Fanta und neigte sich im Stuhl vor. »Sie dürfen es nicht hören! Ich muß sie sehen! – Ich muß fort von hier!«
»Fort von hier?« fragte Polzer erschrocken. »Du? Wohin?«
Karl Fanta blickte nach der Tür. »Sie hassen mich,« sagte er leise. Seine Augen flackerten. »Sie wollen meinen Tod!«
»Wer?« Polzer sprang auf. »Wer deinen Tod!«
»Sie! Blicke nur nicht so ungläubig! Sie will meinen Tod. Sie will wieder frei sein. Sie hat Furcht vor mir, ja, darum auch!« »Dora?«
»Dora! Sie hat mich geheiratet, als ich anders aussah. Nun liege ich da ohne Füße. Ein Stumpf. Meine Arme sind auch schon bedeckt mit Abszessen. Meine Handfläche ist immer feucht, trotzdem ich nichts tue. Und dieser Wanst, der immer fetter wird und voller wie ein aufgeblasener Sack, und die Qual mit dem Stuhl ...! Ich will einen Pfleger haben, Polzer, einen bezahlten Pfleger, hörst du, aber sie läßt es nicht zu, sie will mein Sterben nicht aus den Augen verlieren. Und am Ende erhole ich mich wieder, denkt sie. Sie hält es eben nicht aus.« »Dora hält es nicht aus?«
»Ich halte es nicht aus, Polzer! Ich nicht! Sie tut geduldig, lammfromm, wer würde es denken? Welch eine Aufopferung! sagen die Leute. Verbindet meine stinkenden Wunden. ›Riechst du es, wie es stinkt?‹ frage ich. Aber sie lächelt mild, als rieche sie es nicht. ›Du hältst ja das Gesicht weit weg,‹ sage ich. ›Du hältst es nicht aus, Dorachen, mein Herzchen,‹ sage ich. ›Gib dein Näschen nur nahe,‹ sage ich. Da gibt sie die Lippen so nahe, daß man glauben könnte, sie wolle den Eiter wegküssen. Ich sehe es genau, daß sie lächelt und keine Miene verzieht und atmet laut und tief, als sei es ein Duft von Rosen. Aber ich durchschaue das, ich durchschaue es, Polzer. Ich glaube, sie geht hinaus und erbricht sich. Ein Greuel bin ich ihr. Aber klug ist sie, klug. Sie kann warten, denkt sie. Lange kann es nicht mehr dauern. Wozu noch Aufregungen, Zwist und Geschrei! Haha, wenn ich so einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Beine werden mir wohl nicht mehr wachsen. Aber leben bleiben könnte ich noch so wie ich bin, unbeweglich, stinkend, schwitzend, fett, aus Bosheit, Polzer, verstehst du, aus purer Bosheit am Leben bleiben. Wenn ich einen Pfleger hätte, denkt sie, brauchte ich sie nicht mehr. Daß ich keinen habe, zwingt mich, sie nicht zu erzürnen. Ich muß nett sein, lächeln, daß sie mich nicht sitzen läßt. Ich darf ihr nicht sagen, was ich weiß. Es nützt auch so nichts, hat keinen Zweck. Sie würde mich morgens hier ans Fenster stellen und sitzen lassen. Wenn ich einen Pfleger habe, lasse ich mich immerzu durch alle Zimmer rollen, Polzer, da kann mir nichts entgehen. Ich bin da und bin da. Ich bin überall. Dann sage ich alles, was ich weiß, Polzer, alles. Und dann gehe ich fort von hier.«
»Wohin willst du, Karl?«
»Zu dir vielleicht, vielleicht zu dir. Laß mich die Witwe sehen. Ich sehe dicke Weiber gern. Früher liebte ich wohl magere. Nun nicht mehr, Polzer. Dora ist mager wie ein Kind, Polzer. Brüstchen, kaum eine Handvoll!«
»Sprich nicht so, Karl,« sagte Polzer.
»Haha, ich soll wohl nicht so sprechen, wie? Ich soll wohl Schamgefühl haben, weil sie soviel davon hat, wie? Weißt du, daß sie es mit anderen Männern hält? Schüttle bloß den Kopf, Polzer. Du verstehst es ja, du hast ja Erfahrung, alter Frauenkenner, was? Schürzenjäger, wie? ›,Sprich nicht so, Karl!‹« Er ahmte seine Stimme nach. »Gerade so werde ich sprechen, weil du so ein Jüngling bist. Weißt du, was ich nun mache, Polzer, jeden Abend? Du sollst es hören. Ich befehle ihr, daß sie sich auszieht. Das erstemal wollte sie nicht. Was will er, dachte sie, dieser Stumpf ist doch kein Mann mehr. Da hatte sie recht. ›Dorachen,‹ sagte ich, ›ich will dich wieder sehen. Wie damals,‹ sagte ich, bittend, weißt du. ›Ich weiß, ich bin nun kein Mann mehr. Aber doch,‹ sagte ich, ›Dorachen, tu es doch.‹ Da sah sie mich an und dann tat sie's. Wie ein Mädelchen von vierzehn Jahren noch immer. ›Dorachen,‹ sage ich, ›komm ganz nah.‹ Ich kann die Hände nicht heben. ›Bücke dich, Dorachen,‹ sage ich, ›ich will deine Brüstchen in die Hände nehmen, Dorachen.‹ Sie bewegte sich nicht. ›Warum nun nicht,‹ sage ich. ›Bin ich, weil ich so krank bin, auf einmal dein Gatte nicht? Vor fünf Jahren durfte ich es, weil ich alles konnte, und nun, weil ich mehr als deine Brüstchen streicheln nicht mehr kann, darf ich auch das nicht?‹ Da trat sie nahe an mich heran und beugte die Brüste bis zu meinen Händen. Ich sah aber, daß sie sich schämte. Warum schämte sie sich früher nicht? Haha! Was sie alles tat und geschehen ließ, ohne sich zu schämen! Auf einmal schämte sie sich. Sie weinte fast. Weißt du, warum sie sich schämte, warum sie weinte, Polzer? Weil ich so unglücklich bin? Nein, nein, glaube das nicht! Weil sie sich von mir angreifen lassen muß, der ich kein Mann mehr bin, schämt sie sich, ihre Brüste wie Sachen angreifen lassen von einer Sache! Ich bin eine Sache, Polzer, eine Sache. Nun tu ich's fast jeden Tag, Polzer, jeden Tag! Sie soll sehen, was sie an mir für einen Gatten hat, Polzer, mag sie mich hassen! Nächstens, wenn du kommst, Polzer, rufe ich sie. Ich will dich zusehen lassen, Polzer. Du sollst sehen, wie sie mich liebt.«
Polzer erschrak über Karl Fantas Gesicht, das sich zu einem starren Lachen verzerrt hatte. Er wandte sich ab und blickte aus dem Fenster auf den Fluß und die grünen Hügel am anderen Ufer.
Karl Fanta sank in den Lehnstuhl zurück, das gedämpfte Sprechen hatte ihn ermüdet.
»Ein Glas Wasser!« sagte er.
Polzer reichte es ihm.
Karl Fanta trank.
Dann ergriff er Polzers Ärmel.
»Sie bringt mir Männer ins Haus,« sagte er. »Ich kann es nicht hindern. Ich muß fort, Polzer,« sagte er.
»Wie kannst du es glauben, Karl, Karl,« sagte Polzer. Er war verwirrt und hilflos.
»Ich habe Verdacht,« sagte Karl Fanta und sah Franz Polzer an, »begründeten Verdacht.«
»Gegen mich?« fragte er erschrocken.
Karl ließ ihn los.
»Gegen dich? Hahaha! Narr! Gegen dich!«
»Gegen wen hast du Verdacht?«
»Gegen sie,« rief er. Er machte eine Pause und horchte. Dann fuhr er wieder leise fort: »Sieh nach, Polzer! Jemand ist hinter der Tür.«
Polzer sah nach. Niemand war hinter der Tür.
»Ich sitze da. Sie hat mich gewaschen, gefüttert, verbunden. Der Bub ist in der Schule, die Köchin ist in der Küche, das Mädchen ist einkaufen gegangen. Dora ist in den Hinterzimmern. Auf einmal gehen Türen, Schritte, ja, jemand ist gekommen. Manchmal höre ich Flüstern, ganz leise, wer es nicht weiß, würde es nicht hören. Nun ist er da, mit ihr, Polzer.«
»Wer?«
»Wer? Vielleicht ein Freund, der mich sonst besucht, vielleicht der Hausbesorger, der Fleischer, der Bäckerjunge. Vielleicht täglich ein anderer. Nun ist es schon zehn Minuten, sie können soweit sein: da läute ich. Nun kommt sie. Ruhig, ohne Aufregung, kaum eine leichte Röte auf den Wangen. Das Haar hat sie wohl rasch zurechtgestrichen. ›Dorachen,‹ sage ich, ›ich bin nun mal soweit, daß ich die Einsamkeit nicht ertrage.‹ Ich sehe sie fest an dabei. ›Laß das Wirtschaften da hinten, Dorachen. Nimm ein Buch und lies vor.‹ Sie setzt sich und liest. Ich lasse sie eine Stunde lesen. Soll er hinten vergehen; dabei lasse ich sie nicht aus den Augen. ›Nun ist genug,‹ sage ich, ›ich bin müde. Vielleicht schlafe ich jetzt ein wenig. Geh nur du ruhig wieder nach hinten.‹ Sie schlägt das Buch zu und geht. Mag sie mich noch mehr hassen. Vielleicht bringen sie mich um zusammen. Durch Gift. Ich bin krank und niemand würde Verdacht schöpfen. – Du mußt mir helfen, Polzer! Deine Witwe soll kommen. Sie soll mir einen Pfleger suchen, Polzer! Wirst du sie bringen, nächsten Dienstag, deine Klara?«
»Was soll ich Dora sagen?«
»Daß du sie vorstellen willst. Daß sie dich darum gebeten hat. Bring sie, bring sie, Polzer!«
Beim Weggehen trat Polzer in Franzens Zimmer ein.
Franz Fanta gab ihm seine Aufgaben mit, daß Polzer sie für ihn mache. Polzer fuhr ihm durch das schwarze Haar.
»Du mußt es bis morgen fertig haben, Polzer,« sagte Franz Fanta. »Und mache keine Fehler hinein! Morgen komme ich es holen. Daß es fertig ist, Polzer, hörst du?«
Dora stand in der Tür.
»Wie sprichst du, Franz!« sagte sie. »Herr Polzer ist zu gut zu dir. Opfert dir soviel Zeit und du tust gerade, als ob es so sein müßte.«
»Bitte, Polzer,« sagte Franz, »vergiß es nicht!« Er hatte sich wieder gesetzt und begann weiter in dem Buch zu lesen, von dem er beim Eintritt Polzers aufgestanden war.
»Grüße Frau Porges,« sagte er.
Polzer trat in den Flur. Dora folgte ihm.
»Ich muß mit Ihnen sprechen, Herr Polzer,« sagte sie. »Warten Sie einen Augenblick. Ich hole mir den Hut und gehe mit Ihnen.«
Sie gingen die Treppe hinab und schwiegen. Dora war bleich und erregt.
»Er ist nur auf sich bedacht,« sagte sie, als sie vor dem Haus standen. »Aber ist er nicht ein schöner Junge? Karl soll geradeso ausgesehen haben, als er fünfzehn war.«
»Wirklich,« sagte Polzer. Sie gingen auf der Straßenseite, die am Flußufer lag. Es war kühl geworden und dämmerte. Aber noch immer glitten Boote über den Fluß.
»Wirklich,« wiederholte Polzer und blieb stehen. Er sah Dora an, die seinem Blick auswich. Er war erstaunt, daß er nie daran gedacht hatte. Nun erinnerte er sich.
»Wirklich,« sagte er.
Er sah auf den Fluß. Plötzlich ergriff Dora seine Hand. Polzer wandte sich ihr zu. Er sah in ein erregtes Gesicht.
»Hat er es Ihnen erzählt, Polzer?« fragte sie.
»Was denn erzählt,« fragte Polzer.
Sie hatte ihn losgelassen und hielt mit den Händen das eiserne Geländer umklammert, das die Straße gegen den Fluß abschloß. Ihre großen schwarzen Augen glänzten von Tränen.
»Er quält mich, er quält mich,« sagte sie leise.
Polzer schwieg einen Augenblick.
»Sie sollten einen Pfleger aufnehmen,« sagte er dann.
»Nein, nein,« rief Dora, »das darf nicht sein. Dann würde es erst anheben. Er würde sagen, daß ich ihn nicht liebe, daß ich einen Pfleger genommen habe, um mich ganz meinen Liebhabern ... oh Gott, oh Gott, Herr Polzer ... Daß mir vor seinen Wunden graut, wissen Sie, Herr Polzer, hat er es Ihnen nicht gesagt? Nein, ich darf keinen Pfleger nehmen, Herr Polzer, sonst ist die Hölle los. Und nun, wissen Sie, daß er aus dem Haus will, zu Ihnen will er, Herr Polzer. Sie, sagt er, seien der einzige, Sie kenne er von Jugend an, Sie würden ihn aufnehmen. Hat er es Ihnen gesagt?«
»Er deutete es an, Frau Fanta.«
»Wissen Sie, warum das alles ist? Im Grunde würde er gar nicht daran denken. Bloß um mich zu quälen, Herr Polzer, bloß darum. Er würde auch nicht gern gehen, schon weil er Franz so liebt. Er wird es trotzdem tun, um mich zu quälen.« Sie schwieg einen Augenblick. Dann ergriff sie Polzers beide Hände und sah ihn fest an. Er wich ihrem Blick aus und sah zu Boden.
»Sie können es verhindern,« sagte sie. »Darum bin ich mit Ihnen gegangen. Ich wollte Sie darum bitten. Lassen Sie es nicht zu!«
»Was soll ich tun?« fragte Polzer.
»Raten Sie ihm ab! Er soll bei mir bleiben! Nur nicht fortgehen. Ich ertrage diese Schande nicht. Man wird sagen, ich habe ihn schlecht behandelt, weil er krank war. Und was soll ich dem Kind sagen, Herr Polzer? Mag er mich weiter quälen! Oh, Sie wissen nicht, was ich leide.«
Sie begann laut zu schluchzen. Polzer sah sich um. Auf der anderen Seite der Straße ging ein Mann vorbei, der sich nach ihnen umwandte.
»Beruhigen Sie sich, Frau Fanta,« sagte Franz Polzer. »Es gehen Leute vorbei.«
Sie hob das Gesicht auf. Eine Locke ihres Haares hatte sich gelöst und hing schwarz in die Wange. Sie sah ihn an. Er fühlte, daß sie von ihm Hilfe erwarte, und wußte nicht, was er sagen solle.
»Liebt er Sie denn nicht mehr?« fragte er nach einer Pause unsicher, ob er mit dieser Frage Dora nicht wieder zu Tränen bringen werde.
Sie zuckte die Achseln.
»Manchmal ist mir, als müsse er mich noch lieben. Wie anders könnte man sich das alles erklären! – Wissen Sie, was es ist?«
Sie kam ihm so nahe, daß er ihren Atem warm an der Wange fühlte. »Er hat kein Herz mehr. Sein Herz ist auch von Geschwüren zerfressen. Darum ist er so grausam zu mir.«
Sie sah ihn fest an. Er fühlte, daß diese Erklärung all ihrer Leiden ihr etwas Geheimnisvolles sei, etwas schwer Erdachtes, dem man nicht widersprechen dürfe.
»Ja, er ist sehr grausam zu mir,« sagte sie noch einmal.
»Und Sie lieben ihn?« fragte er.
»Ich habe ihn sehr geliebt,« erwiderte sie. »Er war so schön, erinnern Sie sich noch? Als er aus Italien kam und um mich anhielt. So schlank und braungebrannt. Nur seine Augen waren damals schon müde. Wenn man das alles hätte ahnen können,« sagte sie mit verhaltener Stimme.
»Sie hätten ihn nicht genommen, wenn Sie das alles gewußt hätten?«
»Nein! – Nein!« rief sie und sah um sich nach allen Seiten, als suche sie Hilfe. »Wenn ich es gewußt hätte ... Die Ärzte sagten doch, er sei in Italien ganz gesund geworden. Und nach einem Jahr war es aus. Erinnern Sie sich! Am linken Fuß zuerst, Abszeß um Abszeß! Nein, nein, wenn ich es gewußt hätte, Herr Polzer, wo denken Sie hin! Aber nun es so ist, begreifen Sie es doch!«
Er wußte nicht, was er begreifen sollte.
Sie atmete schwer. Sie schien ihn vergessen zu haben. Er rührte sich nicht. Dora sah auf den Fluß.
Sie wandte sich um und reichte ihm die Hand. Sie lächelte müde.
»Verzeihen Sie mir,« sagte sie leise.
Er zog den Hut, indessen sie schon über die Straße schritt und im Haustor verschwand.
Franz Polzer eilte nach Hause. Er war erregt und beunruhigt. Hier bereiteten sich Veränderungen vor, deren Ausgang noch nicht abzusehen war. Wenn der Kranke zu ihm übersiedeln sollte, in welches Zimmer würde ihn Frau Porges aufnehmen? In das Zimmer mit den guten Möbeln wohl nicht. Am Ende mußte dann er, Polzer, zu ihr ins Zimmer übersiedeln, ständig Bett an Bett mit ihr schlafen. Was würde da über ihn kommen! Doras Weinen klang noch in seinem Ohr. Wenn Karl übersiedelte, am Ende würde sie Dinge tun, die Bestürzung und Verwirrung verbreiten konnten. Als sie so starr ins Wasser sah, war ihm gewesen, als denke sie an Tod. Nächsten Dienstag mußte er Frau Porges mitnehmen. Vielleicht war das gut, so peinlich es war. Es schien ihm wahrscheinlich, daß Frau Porges mit Karl Fantas Plan, zu ihr zu übersiedeln, nicht einverstanden sein würde. Vielleicht auch konnte sie Frau Fanta überreden, Karl einen Pfleger zu nehmen. Es war möglich, daß die beiden Frauen einander gut verstünden. Er wollte Frau Porges gelegentlich alles sagen. Das Bewußtsein, das nächste Mal nicht mehr allein zu Karl Fanta zu müssen, war insofern angenehm, als ihn die Gegenwart von Frau Porges vor Karls und Dora Fantas erregten Bekenntnissen schützen mußte, denen er hilflos und ratlos gegenüberstand. Die Witwe würde die Ruhe behalten und vielleicht würde sie alles zum Guten wenden.
Da am nächsten Tage Franz seine Aufgaben holen sollte, stand Polzer am Morgen zeitig auf. Er schrieb die Aufgaben sauber auf weiße Bogen Kanzleipapier, ohne auch nur einmal ein Wort zu streichen. Aus der Bank eilte er heim, um Franz nicht zu verfehlen. Er hörte seine Stimme aus der Küche. Polzer ging in sein Zimmer. Er wartete, bis Franz zu ihm käme. Er hatte absichtlich die Tür geräuschvoll geschlossen und im Flur sich geräuspert, daß man in der Küche sein Kommen höre.
Polzer ging etwa eine Viertelstunde im Zimmer unruhig auf und ab, ehe Franz eintrat.
Polzer gab ihm die Aufgaben. Franz warf einen raschen Blick darauf.
»Ist auch kein Fehler darin, Polzer?«
»Ich glaube, es ist kein Fehler darin. Was macht der Vater, Franz?«
»Ach Gott,« sagte Franz, »der Vater! Ich glaube, dem Vater wird's nicht mehr besser gehen, wie?«
»Man soll immer hoffen, Franz!«
»Ja, ja ... sag einmal, Polzer, man sagt, ich sehe so aus, wie der Vater einmal ausgesehen hat. Ob ich auch einmal so krank sein werde wie er?«
Polzer zog ihn an sich. Er drückte den Kopf des Knaben an seine Brust. Er war gerührt durch Franz Fantas Frage. Seine Hand lag einen Augenblick lang auf Franzens weichem Haar. Er zog sie rasch zurück, betroffen von verschwimmenden Erinnerungen an des Knaben Vater, an Aufgaben aus dem »Übungsbuch«, an Tränen und ferne Zärtlichkeit.
»Du wirst gewiß nicht krank sein,« sagte er.
»Er quält uns sehr,« sagte Franz, »die Mutter und mich. Die Mutter glaubt, du könntest uns helfen.«
Polzer hielt Franz Fanta fest. Er fühlte seine schlanken Glieder an seinem Leib, fühlte, wie die Brust Franzens sich atmend senkte und hob.
Der Knabe sah Franz Polzer an.
Polzer wich dem Blick aus. Er fühlte den Pulsschlag des Knaben. Das war ein Gesicht, das er gesehen hatte. Dora hatte recht. Polzer bestürzten und beängstigten vergessene Ähnlichkeiten. Franz Fanta sagte:
»Du hast mich lieb, Polzer?«
Da erschrak Polzer und ließ den Knaben los.