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Josef Blau begriff nicht gleich, was hier vor sich ging. Bobek saß da in Hemdsärmeln, den Oberkörper zurückgelehnt, ohne Kragen und mit geöffneter Weste. Neben ihm stand die Mutter, das Gesicht gerötet, die Haare wirr. Die Bluse hatte sich aus dem Gürtel geschoben. Selma kam ihm entgegen. Er blickte an ihrer Gestalt hinab. Sie trug nun lange Röcke, die die Beine bis zu den Schuhen bedeckten. Selma errötete. Sie senkte den Kopf.
»Er will feiern«, sagte sie. »Er schickte Martha um Wein. Kalbsbraten hatte er selbst mitgebracht. Die Mutter mußte ihn für ihn kochen. – Ich habe für dich aufgehoben.«
»Da ist er ja«, schrie nun Onkel Bobek. »Zurück vom Ausflug? Frische Luft macht Hunger. Setz dich, Blau. Jawohl, du mußt mit uns feiern. Ohne dich hätten wir das Geld nicht. Nicht wahr, Mathilde? Wozu es sich aufheben, pflege ich zu sagen, wozu? Setz dich, Blau, an meine Seite, an meine grüne Seite!« Er legte ihm den schweren Arm auf die Schulter und drückte ihn auf einen Stuhl.
Selma stellte einen Teller Kalbfleisch vor Blau hin.
»Iß, mein Junge, iß und trink!« Er stieß mit ihm an und nötigte ihn, zu trinken. »Auf ... auf ... also auf alles, verstehst du mich? Auf alles, Mathilde!«
Die Mutter leerte ihr Glas in einem Zug.
»Es ist viel zu feiern«, sagte Bobek, »viel zu feiern! Sieh sie dir an, jawohl, hier sitzt sie, ist sie nicht schön wie eine Junge?«
»Aber Bobek ...« sagte die Mutter.
»So wahr mir Gott helfe, das ist sie! Wie eine Junge! Sie ist taub, sagst du? Wenn du ihr ein Liebeswort zuflüstern willst, mußt du es brüllen, meinst du? Gib es zu, Blau, daß du es sagen wolltest, gib es zu!«
Er brachte ihm sein Gesicht ganz nahe. Ein saurer Weingeruch wehte Josef Blau entgegen.
»Nicht daß ich wüßte«, sagte Josef Blau.
»Sie ist nicht taub, sage ich! Geheilt, sage ich! Vor einer Stunde noch konntest du lächeln und ›Alte Sau‹ sagen, und sie dachte, du sagst ein Kosewort. Aber wie der Wein dem einen die Zunge löst, löst er dem ändern die Ohren, hahaha, hat ihr die Ohren gelöst!« Er schlug sich auf die Schenkel. »Paßt auf, Blau und Selma, wir wollen eine Prüfung abhalten, hörst du mich, Mathilde?«
»Du tust gerade so, als ob man sonst neben mir schießen könnte, ohne daß ich es höre«, sagte die Mutter.
»Nichts für ungut, liebe Mathilde.« Onkel Bobek tätschelte ihre Schulter. »Paß auf, liebe Mathilde, ich will jetzt ein Wort sagen, was rede ich, flüstern werde ich es, hahaha, hinhauchen, und du wirst es wiederholen, laut und deutlich. Einverstanden?«
Die Mutter nickte bejahend.
»Also los«, sagte Onkel Bobek, »aber erst Wein her, daß ich mir die Kehle feucht mache, ich will flüstern wie ein Engel.«
Er stieß mit Blau und der Mutter an. Selma saß abgewandt und nähte.
»Nun kommt's«, sagte Onkel Bobek. Er spitzte den Mund und riß die Augen angestrengt auf. »Potschamber«, flüsterte er mit zärtlicher Betonung.
»Potschamber!« rief die Mutter.
»Hahaha, die Prüfung bestanden!« rief Onkel Bobek. Er warf sich lachend hoch, daß der Stuhl unter ihm krachte. »Habe ich es nicht mit einer Engelsstimme gesagt und alle Liebe hineingelegt, Mathilde?«
Die Mutter blickte stolz die Anwesenden der Reihe nach an.
Josef Blau schob den geleerten Teller beiseite. Er hatte erst nicht essen wollen, aber der Wein hatte ihm Hunger gemacht und nun machte er ihn müde. Wenn er die Augen schloß, wußte er, würde er einschlafen. Es war gut, daß er Karpel sich nicht in den Weg gestellt hatte, Josef Blau hätte die Arme gehoben, den Mund weit aufgerissen, schreckhaft ausgesehen und noch schreckhafter »Modlizki!« geschrien. Aber Karpel wäre am Ende nicht davongelaufen. Karpel hätte ihn verfolgt, die Hände gerungen, immer einen Schritt hinter dem weit ausschreitenden Lehrer, ihn um Gnade gefleht, der kalt und hart blieb, von Zeit zu Zeit bloß sich starren Gesichts umwandte, den Schüler abzuweisen. Er hätte sich keine Zusage abringen lassen, daß er den Schüler schonen wollte, bis hierher nicht, ans Haus, wo Karpel noch immer seinem Schritt gefolgt wäre, vielleicht bis in die Wohnung, in der sich jetzt Josef Blaus Sieg bei diesem Anblick in eine beschämende Niederlage verwandelt hätte. Bobek hätte vielleicht auch den Schüler aufgefordert dazubleiben, am Fest teilzunehmen, das Bobek sich selbst gab, seiner eigenen Freßlust und Sauflust, und Karpel wäre Zeuge dieser Szenen geworden, auch der Trunkenheit seines Lehrers. Denn der ungewohnte Wein stieg Josef Blau in den Kopf und fiel in die Glieder, die von einer seltsamen Gewichtslosigkeit waren. Er wollte den Aufforderungen Bobeks zu trinken, nicht mehr entsprechen, aber es war schwer, dem Dicken nicht Bescheid zu tun, der zudringlich wurde und den man nicht reizen konnte ohne Gefahr, daß er wie ein Tier um sich schlug. Er sah Selma über ihre Arbeit gebeugt. Sie blickte nicht auf. Sie schämte sich seiner, der durch sein Tun vielleicht alles aufs Spiel setzte, der Lust nicht harten Widerstand leistete – nein, er leistete ihn nicht, so sehr er sich auch bemühte –, das vergaß, das er nicht vergessen sollte, daß er mit jedem Wort, jedem Schritt etwas Unwiderrufliches beging, sich und die mit ihm zusammenhingen, auslieferte. Er sagte leise »Gericht«, aber es hatte heute keine Macht, es war ein Wort, sonst nichts, es zwang ihn nicht, und er vermochte nicht, es zu zwingen, daß es schreckenerregend sei wie sonst.
Onkel Bobek hatte seine Rechte in den Rückenausschnitt der Mutter gesteckt.
»Ein Mädelchen ist es, so wahr mir Gott beistehe, soll mal einer kommen und sagen, daß es eine taube Nuß ist. Hahaha, da ist noch frisches Fleisch in der Schale. Martha, ist noch Braten da? Bring her, mein Kind!«
Martha brachte einen Teller mit Kalbfleisch, den sie vor Bobek auf den Tisch stellte. Bobek klopfte ihr auf den Rücken. Martha stand zitternd und wagte erst wegzutreten, als Onkel Bobek sich über das Fleisch gemacht hatte.
Er strich Messer und Gabel erst am Tischtuch ab. Dann schnitt er das Fleisch in große Stücke. Er aß schmatzend, mit offenem Mund. Von Zeit zu Zeit wischte er das Fett mit dem gepolsterten Handrücken aus dem Bart. Seine Augen glänzten. Er benagte die Knochen mit den Zähnen und saugte dann schlürfend das Mark aus ihnen. Sein Atem ging schnaufend. Bisweilen lehnte er sich zurück und stieß einen gurgelnden Glückslaut aus. Dann nahm er das Glas und spülte mit dem Wein die halbgekauten Fleischstücke in den Magen.
Die Mutter hatte sich erhoben und das Zimmer verlassen. Nun kehrte sie wieder, eine Flasche Kümmel in der Hand.
»Hast du Kümmel, Mathilde? Tausendsassa, bei dir wäre man gut aufgehoben, ja, ja.«
Onkel Bobek sah das Gläschen, das die Mutter vor ihn hingestellt hatte, träumerisch an. Dann setzte er es an und trank. Er schüttelte sich und stellte das geleerte Glas hart auf den Tisch.
»Brrr, das bringt den Magen in Ordnung, das hält jung. Nach jedem Essen und nach jeder Flasche ein Glas oder zwei. Ihm auch!« Er wies auf Josef Blau. »Trink auf mein Wohl, Blau. So, so, das brennt die Kehle aus, sag ich, wer bis zum Achtzigsten täglich Kümmel trinkt, wird alt, sag ich, haha! Wo hast du es her, Mathilde? Heimlich im Kasten?«
»Für alle Fälle«, schrie die Mutter.
»Wir wollen Inspektion in deinem Kasten halten, was du so hast für alle Fälle. Rück heraus mit allem, sag ich, Mathilde!« Er rollte die Augen und neigte sich über den Tisch gegen sie. »Wozu hebst du es auf, hier«, schrie er, »hier!« und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Rücke heraus, zahle, zahle!«
»Kann sein«, sagte die Mutter und lächelte ihm zu.
Onkel Bobek senkte den Kopf. Dann goß er sich und Josef Blau ein neues Gläschen ein. Er versäuft und verfrißt es, dachte Josef Blau, das Geld, für das ich Bürgschaft geleistet habe.
»Trink«, sagte der Onkel.
Es wird schon nicht schlimm werden, dachte er. Am Ende zahlt es doch die Mutter, hatte Bobek gesagt. Er nickte Selma zu.
»Kümmel«, sagte Onkel Bobek, »Kümmel! Da wächst das alles und einer kommt und kocht es und macht Schnaps daraus. Ja, ja. Glaubst du, ich hätte nicht selbst danach verlangt, wenn die liebe Mathilde ihn nicht gebracht hätte. Das gehört dazu. Als wir heirateten, die selige Martha und ich, hatten wir das Essen beim Wirt ausgerichtet in Puhonitz. Ja, ja! Das war eine Frau! Rührselig und immerzu in die Kirche. Wir essen, dreißig Leute, Burschen und Weiber und auch die Alten geben nicht nach. Suppen, Kalbfleisch, Schweinernes, Hühner, zwei Kälber und zwei fette Schweine, vom Kopf bis zum Schwanz, dazu Knödel und Kraut in Fässern. Und erst Bier, dann Schnaps. Und nicht mit Maß, hahaha! Ich mit Martha obenan. Sie ißt nicht, mein Teller wird nicht leer, und nach jedem Happen ein Kübel Bier oder ein Wasserglas Schnaps hinterdrein. Es ist ein Gejohle und Geschrei. Man hört sein Wort nicht wie die Kinnladen krachen und die Zungen schnalzen und die Lippen schmatzen. Der Puhonitzer Wirt ist bekannt weit und breit. Die Martha war neunzehn auf den Tag, hatte von früh an rote Flecken im Gesicht, wagt nicht, mich anzusehen, kein Wort, sitzt da und schaut auf den Tisch. Wenn sie Witze machen wegen dingsda, wie das so ist bei Neuvermählten, wird sie rot bis zu den Haarwurzeln, sie lacht nicht und schweigt. Manchmal spür ich, sie schaut mich so von der Seite an, wenn ich aber die Hand auf sie legen will, schiebt sie mich weg. Die andern stehen schon auf und tanzen, man räumt die Tische weg, da ist Geschrei von draußen, ein Wagen ist da, die Burschen aus Holitz, zwölf Stück, sie wollen meine Hochzeit feiern. Ich kann nicht stehen mehr. Sie kommen her, setzen sich alle um den Tisch, man bringt wieder Suppen und Kalb und Schwein und Bier und ich wieder von vorne weg alles noch einmal. Martha sagt nichts, sitzt da, die Burschen trinken ihr zu; tu Bescheid, schrei ich, aber sie nickt bloß, da kommt der Wirt zu mir, flüstert mir ins Ohr, was, sag ich, kein Kümmel da, kein Schnaps? Da schreien die Holitzer auch, daß sie Schnaps wollen, das Fleisch ist fett, sie wollen auf das Wohl der Neuvermählten trinken, schrein sie. Das überlebe ich nicht, sage ich zu Martha, wenn da kein Schnaps kommt, diese Schande. Der Wirt schickt ins Dorf zu allen, indes tu ich den Holitzern Bescheid mit Bier und immer mit einem Auge nach der Tür, ob noch kein Kümmel kommt. Es wird doch einer Kümmel haben im Dorf, denk ich, der Wirt zuckt von der Tür die Achseln, da fangen die Holitzer an zu singen. Wie sie fertig sind, fange ich ein neues Lied an, daß die Zeit vergeht, versteht ihr mich? Ich drehe mich zu Martha um, denn sie hätte dran denken können, denke ich, da sehe ich sie, sitzt das Mädel da, im Brautkleid mit Myrthen und weint. Die Tränen rinnen ihr in den Mund. Da erbarmt sie mich und ›Weine nicht, Martha‹, sage ich, ›der Kümmel wird da sein!‹ Und da kommt auch der Wirt. Er hat ihn bei einem Bauern bekommen, der ein Fäßchen hatte, wie die liebe Mathilde, auf alle Fälle. Aber die Martha, Gott hab sie selig, weint weiter. Sie ist rührselig, Gott verzeih mir, es ist kein Grund mehr zu weinen. Aber das weiß niemand als ich, daß sie an ihrem Hochzeitstag keinen Tropfen getrunken hat. Die Burschen glauben, daß sie betrunken ist und das ist gut.«
Onkel Bobek versank in Sinnen.
Selma erhob sich und holte ein Tuch. Onkel Bobek hatte ein Schnapsglas über den Tisch gegossen. Sie schien Josef Blau größer als sonst in den langen dunklen Kleidern. Nun verfolgt sie niemand mehr auf der Straße, dachte er, alles wird gut. Karpel, nach der heutigen Begegnung, wagt nicht, sich ihr zu nähern, niemand. Heute nacht wollte er ihr alle Geheimnisse entreißen. Heute würde er zu ihr sprechen. Er liebte sie, aber bis heute wußte sie es nicht, er selbst hatte es noch nicht gewußt. Er wollte aufstehen, hier vor allen die Hand um sie legen, er konnte so gut stehen wie sonst. Der Wein hatte ihn leichter gemacht, aber er schwankte nicht. »Selma«, konnte er sagen, »der Kümmel wird da sein.« Ganz heiter, voll Liebe würde sie ihn ansehen wie noch nie mit den hellen feuchten Augen, dem offenen Mund, der die blanken Zähne freiließ. Was würde sie antworten? »Ich danke dir.« Vielleicht so.
Josef Blau hörte ein Klirren und Krachen. Onkel Bobek hatte sich erhoben und den Stuhl umgeworfen. Seine Hand suchte einen Halt, fuhr über den Tisch, warf die Schnapsflasche um, die fallend ein leeres Schnapsglas zerschlug. Onkel Bobek fand eine Stütze an der Mutter, der er um den Hals hing. Die Mutter führte ihn zum Sofa, auf das er schnaubend fiel.
»Es ist genug«, schrie die Mutter. »Nimm die Gläser weg, Selma!«
»Es ist sechs Uhr«, sagte Selma und sah den Onkel an.
Der Onkel hatte die Augen geschlossen.
»Er wird hier schlafen«, sagte die Mutter.
Sie nahm ihm die erloschene Zigarre aus der Hand und reinigte seine Weste von Aschenresten. Indes nahm Selma die Gläser und Teller vom Tisch und legte das Tischtuch zusammen. Martha, die man gebeten hatte, länger zu bleiben, reinigte die Tischplatte mit einem feuchten Lappen von der klebrigen Flüssigkeit, die an ihr haftete. Selma öffnete das Fenster.
Josef Blau hörte es wie ein großes Rauschen an seinem Ohr, wie ein lärmendes Auf und Nieder, das ihn hob und wieder sinken ließ. Aber jetzt war ihm, als näherte sich ein Schritt. Er kam die Treppen hoch, es klopfte. Josef Blau öffnete die Augen. Er erhob sich.
»Herein!« sagte Selma.
Die Tür öffnete sich. Josef Blau hielt sich an der Stuhllehne. Das war Lehrer Leopold, der eintrat. Er hatte sich umgekleidet, trug einen dunkelbraunen Anzug mit Stehkragen und bunter Krawatte. Der Zipfel eines bunten Tuchs hing aus der linken Brusttasche seines Rocks. Josef Blau sah Onkel Bobeks offene Weste. Er wollte hineilen, Onkel Bobek anstoßen, ihn auf den Mangel aufmerksam machen, aber Onkel Bobek hatte schon die Augen geöffnet und mühte sich mit den Knöpfen.
Nun hörte er Lehrer Leopolds ruhige Stimme, die keinen Widerspruch zuließ. Er wollte erfahren, wie Josef Blau nach Hause gekommen sei.
»Was denn?« fragte Selma. »Was ist geschehen?«
»Eine kleine Ohnmacht«, sagte Josef Blau. »Es ist alles in Ordnung.« Er hörte seine eigene Stimme wie die eines Fremden. Sie war brüchig und rauh und klang hoch gegen die volle, tiefe Stimme des Lehrers Leopold.
Nun erhob sich Onkel Bobek. Er ging auf den Gast zu. Er stützte sich auf Stuhllehne und Tischrand. Lehrer Leopold wich nicht zurück vor dem dichten Dunst von Wein und Schnaps, der ihm von Onkel Bobek entgegenwehte.
»Bobek«, sagte Onkel Bobek. Er reichte dem Gast die Hand und hielt sie fest.
Lehrer Leopold nannte seinen Namen.
Onkel Bobek stellte ihn den Frauen vor, die Hand des Gastes immer fest in seiner Hand haltend.
»Wir haben gefeiert, wie Sie sehen. Sie verzeihen einem Mann in meinen Jahren... ich habe mir Bequemlichkeiten gestattet.« Erwies auf den nackten Fleischwulst seines Halses, die Hemdsärmel und die offene Weste. »Nehmen Sie Platz, Herr Professor, hier, hier! Und du, meine liebe Mathilde, wie wäre es... errätst du es...? Eine Tasse Kaffee, meine ich, das wäre ein Einfall!«
Die Mutter verließ das Zimmer.
»Sie entschuldigen mich, Herr Professor«, sagte sie.
»Kaffee, Herr Professor«, sagte Onkel Bobek, der sich wieder auf seinen Platz gesetzt hatte, »Kaffee tut zu jeder Zeit gut. Man kann ihn immer genießen. Wir haben ein kleines Familienfest hinter uns – unsere liebe Mathilde versteht es ausgezeichnet-und Sie einen langen Marsch. Es wird uns allen wohltun.«
Lehrer Leopold saß neben Selma; er sah Selma an, die ganz nahe an den Tisch gerückt war. Josef Blau entging nicht, daß sie errötete. Schämte sie sich der langen Röcke, ihres Leibes, der Josef Blaus Kind trug? Onkel Bobek sprach ohne Unterbrechung. Manchmal verirrte sich seine Zunge und tastete am Gaumen, bevor sie das Wort fand, das sie sagen sollte. Der Lehrer tat, als höre er ihm zu. Aber sah er nicht heimlich Selma an? Sein Gesicht war von Sonne gerötet. Er war gesund, hatte breite Schultern. Seine Brust war gewölbt und unbehaart. Josef Blau hatte sie gesehen: der Lehrer Leopold war nackt, die Sonne schien auf seinen Rücken, er stand im Gras und um ihn standen die Knaben nackt und bewegten wie Sonnenanbeter die Leiber. Nun saß er neben Selma. Vielleicht fühlte sie durch seine Kleider, wie seine Haut nach Luft roch, nach Wald und Gras.
Lehrer Leopold lächelte. Onkel Bobek sprach. Er brauchte gewählte Ausdrücke. Er machte Josef Blau lächerlich durch alles, was er sagte. Er sprach laut und schnaubend.
»Wenn man ihn zu bereiten versteht«, hörte Josef Blau ihn sagen, »darauf kommt es an. Er darf nicht gekocht werden, das wäre grundfalsch. Aufgebrüht, hören Sie wohl, bloß aufgebrüht, daß ein dicker Extrakt bleibt, kein dünnflüssiges schwarzes Wasser. Sie haben gegessen und getrunken, sehen Sie. Ihr Kopf ist müde, in den Därmen tobt es. Sie trinken ein Täßchen, im Magen ordnet es sich, nach links, nach rechts, der Kopf wird klar. Sie können ihn auf nüchternen Magen trinken: er wärmt, er macht Blut. Können Sie dagegen etwas einwenden, Herr Professor?«
»Gewiß, er ist auf alle Fälle weniger schädlich als Bier, Wein oder Schnaps.«
»Hier sind wir. Das war das Wort. Darauf kommt es an, Herr Professor. Die Unterdrückung der Trunksucht! Die Unterdrückung der Trunksucht! An der Trunksucht gehen wir zugrunde. Der gebildete Mensch trinkt ein Glas Bier, zwei, drei, eine Flasche Wein und zwischendurch einen Kümmel. Alle Hochachtung, Herr Professor! Aber das Volk ist ohne Bildung. Wir haben zu Hause ein Schwein gehabt, einen Invaliden, der trank Brennspiritus aus Wassergläsern. Eine Ausnahme? Ich sage Ihnen, ein täglicher Fall. Die Unterdrückung der Trunksucht, darauf kommt es an, wenn wir gesunden wollen. Sehen Sie die Wirtschaft, Handel und Wandel, der Gewerbefleiß... man muß sich dagegen erheben.« Er machte einen vergeblichen Versuch aufzustehen und blickte sich, Zustimmung heischend, im Kreise um.
Lehrer Leopold lachte laut.
»Herr Bobek, sprechen Sie doch von etwas anderem. Ein Thema, das die gnädige Frau interessiert!« Er lächelte Selma zu. »Die Trunksucht, das ist ein Thema für Männer.«
»Ich habe bloß meine unmaßgebliche Meinung geäußert, die für mich natürlich allein ausschlaggebend ist«, sagte Onkel Bobek verletzt.
»Er hat getrunken«, sagte Selma leise ohne aufzusehen.
»Oh, ich verstehe!« Lehrer Leopold lachte, daß man seine weißen Zähne sehen konnte, und sah Onkel Bobek unbefangen an. Die Mutter stellte Kanne und Tassen auf den Tisch. Der neue Lehrer saß zwischen ihr und Selma. Onkel Bobek ließ sich auf einem Stuhl neben Selma nieder, so daß Josef Blau zwischen Bobek und der Mutter saß. Onkel Bobek schnitt über dem Kaffeetopf Brot mit dem Messer in große Brocken und ließ sie in den Kaffee fallen. Josef Blau wagte nicht aufzusehen. Er hätte aufstehen können und fortgehen. Aber die Schande wäre geblieben. War das Leuchten in Lehrer Leopolds Augen nicht sonderbar? Warum war er gekommen? Seinetwegen? Selma schwieg. Am Ende stieß sie der neue Lehrer unter dem Tisch mit dem Fuß an, gab ihr geheime Zeichen. Er war schön, groß, ein Mann, ein Mann für Selma, größer als sie, die Arme rund und hart. Vielleicht, wenn er sich erhob, um zu gehen, würde sie ihm folgen. Wie sie schmatzten, Onkel Bobek und die Mutter, der neue Lehrer mußte es hören. Sollte er ihnen die Tassen aus den Händen schlagen? Sie sprachen, es war ein wirres Geräusch von Worten. Josef Blau mußte mitsprechen, er mußte etwas sagen, man hatte ihn vergessen. Sie saßen da, als sei er gestorben. Vielleicht war es so. Selma war seine Witwe und dieser hier mit dem blonden Haar war an Josef Blaus Stelle. Josef Blau mußte etwas tun, daß sie bemerkten, daß er da war. Er hatte zuviel Wein und Schnaps getrunken. Aber man mußte nicht reden, es konnte etwas anderes sein. Er konnte die Tasse zu Boden fallen lassen, am Tischtuch reißen, daß alles auf die Erde fiel und der Kaffee über Lehrer Leopolds neuen braunen Anzug rann. Warum hatte er sich ihn angezogen? Haha, seinetwegen? Josef Blaus wegen? Er hatte Selma vorher noch nicht gesehen, aber man sprach von ihr, die Schüler hatten es ihm auf dem Ausflug erzählt, die Leute stießen einander auf der Straße an: das ist der Lehrer Blau, der die große schöne Frau hat, ein Prachtstück, und sie blinzelten mit den Augen. Blinzelten Selma und Lehrer Leopold nicht mit den Augen? Sie hatte die Lippen, die sie von Zeit zu Zeit mit der Zunge befeuchtete, gespitzt und lächelte dem Lehrer zu. Sie hielt den Arm waagrecht vom Leib gestreckt, wenn sie die Tasse zum Mund führte, und spreizte den kleinen Finger.
Josef Blau vermochte nicht, den Kaffee zu trinken. Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Nun reichte die Mutter wieder Schnaps in kleinen Gläsern.
»Selma, meine Nichte, trinkt nicht«, sagte Onkel Bobek. »Mit Rücksicht ... Sie werden schon selbst bemerkt haben.«
Selma errötete. Auch Lehrer Leopold schwieg.
»Ja, ja«, fuhr Onkel Bobek fort, »die Menschen von heute, das hält nichts mehr aus. Unsere Mütter kamen nieder wie wir uns zum Essen setzen. Da wurde nicht viel Wesens davon gemacht ...«
Josef Blau erschrak. Er hielt den Atem an. Was würde nun kommen? Er sah starr Onkel Bobek an. Lehrer Leopold fiel Onkel Bobek ins Wort.
»Ach, Herr Bobek, man ist leicht geneigt, die Vergangenheit gegen die Gegenwart herauszustreichen. Ich finde unsere Zeit ganz gut, die Frauen wie die Männer. Sind Sie meiner Meinung, gnädige Frau, oder sind Sie auch unzufrieden mit den Zeitgenossen wie Herr Bobek?«
Selma lachte. Sie sprachen, als ob Josef Blau nicht anwesend sei. Er mußte etwas sagen. Die Gedanken jagten einander in seinem Kopf. Lehrer Leopold war Selma zu Hilfe geeilt, als Onkel Bobek vom Niederkommen zu sprechen anfing. Sie hatte ihm vielleicht einen Blick gesandt. Sie wandte sich schon an ihn. Er hatte sie gerettet. Josef Blau hatte es wohl bemerkt. Sie strebten zueinander, alle, die hier saßen, wußten es. Man mußte sich in den Weg stellen, solange es Zeit war. Er sah Selma neben Leopold, nackt, das lange blonde Haar gelöst. Oder vielleicht sollte man alles geschehen lassen. Sie wird aufstehen wie das Mädchen in der Dichtung, er konnte sich nur an den Namen nicht erinnern, wie hieß sie doch, und hinter ihm hergehen, stumm und unabweisbar. Aber er lebte noch, er öffnete den Mund, sie sahen ihn nicht mehr, aber gleich sollten sie wieder von ihm wissen.
»Wir wollen turnen«, sagte er.
Das hatte er nicht sagen wollen. Es war dumm. Er hätte lieber etwas anderes sagen sollen. Wie kam das in sein Gehirn? Sein Kopf war wirr, kein Zweifel. Lehrer Leopold nickte ihm zu. Bobek goß die Schnapsgläser voll. Seine Hand zitterte und er beschmutzte das Tischtuch.
»Sie haben recht«, sagte Lehrer Leopold, »man hat den Körper lange vernachlässigt. Man beginnt wieder, einen gesunden und wohlgebildeten Leib zu schätzen. Ich bin Turner.«
Er lehnte sich zurück. Selma wandte den Blick nicht von ihm. Onkel Bobek hatte sich erhoben und bewegte sich vorsichtig aufs Sofa zu.
»Man muß dem Körper geben, was er braucht«, fuhr der neue Lehrer fort. »Man muß ihn bewegen, der frischen Luft aussetzen, der Sonne, viel nackt sein!«
»Ach, Sie!« schrie die Mutter.
»Ich meine es ernsthaft. Wir haben nun einmal einen Körper, wie wir einen Geist haben. Man soll sich dessen nicht schämen. Es klingt wohl sehr dumm, gnädige Frau?«
Er sagte es zu Selma, als seien sie beide allein. Als sei niemand im Zimmer. Der schnaubende Bobek nicht, der sich mit geschlossenen Augen auf dem Sofa hin und her warf, die Mutter nicht, und er nicht, Josef Blau.
Selma hatte rote Flecken im Gesicht. Ihre Brust bewegte sich bei jedem Atemzug. Sie antwortete nicht, denn aus Onkel Bobeks Mund stieg ein langgezogener Ton, der tief aus dem Leib kam. Onkel Bobek winkte beschwichtigend mit der Rechten.
»Mit Vergebung«, sagte er, »Mensch sein heißt schwach sein. In meinen Jahren kann man es nicht mehr so halten. Es war ein junger Wein, liebe Mathilde.«
Lehrer Leopold erhob sich. Er küßte Selma die Hand. Onkel Bobek hatte die Augen wieder geschlossen. Die Mutter wollte ihn am Hemdärmel zupfen, aber Lehrer Leopold hielt sie zurück.