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Die Schüler hatten sich Josef Blaus Anordnung, die ihre Körper in Unbeweglichkeit festhielt, widerspruchslos gefügt. Aber nun drohte eine neue Gefahr. Für einen der nächsten Tage stand der Schulausflug bevor. Die Schüler begriffen gewiß wie der Lehrer die Besonderheit dieses Tages, der im Gang des Schuljahres wie kein anderer aus der Ordnung der Dinge fiel. Der Aufenthalt in einer allen, dem Lehrer wie den Schülern gleich ungewohnten Umgebung, die besondere Wirkung der sinnlichen Natur, die Bewegung und Erhitzung des Marsches, die Freiheit einer ständig wechselnden Ordnung, die erregende Vielfalt der Eindrücke des Gesichts und die Verlassenheit und Einsamkeit des Lehrers inmitten der Schüler zwischen Feldern, Wald und Himmel, seine Armut und Nichtigkeit in diesem Zusammenhang, die die Knaben fühlen mußten, machten die Gefahren an diesem Tag drohender, vielfältiger, unausweichlicher als an jedem anderen Tag. Die Möglichkeiten dieses Tages waren unberechenbar. Es gab keinen Plan für die Stunden dieses Tages, keine Ordnung, die dem Lehrer seine bestimmte Stellung und seinen Platz anwies wie in der Schule. Die Schüler würden singen, sich zerstreuen, ihn umringen, Fragen stellen, in Gasthöfen einkehren, um zu trinken, die Zucht würde gelöst sein vom ersten Schritt an am Morgen; die Zucht der Schule war untauglich für diesen Tag und Josef Blau kannte keine andere für solche Umstände geeignete. Vielleicht hatten sie Spottlieder bereit, sie auf dem Marsch oder im Gasthof zu singen. Spottlieder gegen ihn und Selma, vielleicht lockte ihre für diesen Tag befreite Kraft die Schüler unwiderstehlich, sich an Josef Blau zu vergreifen. Sie mußten nur ihn zerren, Trunkenheit vorschützend ihn an den Ärmeln zupfen, sie mußten nur ihn unterfassen und in scheinbarem Scherz zum Laufen zwingen, gar nicht ihn mit Schlägen überfallen, gar nicht die Kleider von seiner Brust reißen, ihn zu vernichten, seine Begegnung mit ihnen für die Zukunft unmöglich zu machen.
Er mußte die Gefahr kennen, wenn er ihr begegnen sollte. Wenn die Knaben Pläne hatten, mußte er versuchen, in diese Pläne einzudringen. Dann konnte er vielleicht durch Wort und Haltung der Ausführung zuvorkommen, durch seine Kenntnis abschrecken und verwirren. Modlizki kannte den Schüler Karpel. Es gab keine Wahl, als Modlizki aufzusuchen, heute noch. Vielleicht genoß Modlizki Karpels Vertrauen.
Josef Blau eilte nach Hause, die Hefte mit der neuen Arbeit der Schüler unter dem Arm. Als er den obersten Absatz der dunklen Treppe hinaufstieg, hörte er Stimmen aus seiner Wohnung. Er blieb stehen und lauschte. Er erkannte die Stimme der Mutter, der Onkel Bobeks Stimme antwortete. Er hörte den Schall der Laute, aber er verstand die Worte nicht.
Selma saß am Tisch und nähte. Eine Ecke des Tischs war für Blaus Mahlzeit gedeckt. Die Mutter und Selma hatten gegessen. Auf einem kleinen rot überzogenen Plüschsofa links vom Eintretenden saß Onkel Bobek. Onkel Bobek füllte mit seinem mächtigen Körper drei Viertel des Sofas. Onkel Bobek hatte die kurzen Beine von sich gestreckt und den Kopf, der ohne Hals im Fett von Nacken und Schultern lag, nach hinten gelehnt, daß man in die geblähten Nasenlöcher sah, aus denen schwarze Haarbüschel wuchsen. Sein Bauch wölbte sich nach oben wie eine Kugel. Im weiten Ausschnitt des Hemdkragens lag das Fett seines Doppelkinns. Die Mutter saß, Onkel Bobek zugekehrt, halb abgewandt vom Tisch. Ihre linke Hand lag auf der Tischplatte. Sie hielt den Kopf schief und lächelte. Die Beine waren übereinandergeschlagen und bis an die Knie entblößt.
»Da ist er!« rief sie, als Josef Blau eintrat.
Der Onkel blieb an seinem Platz. Er erhob sich ungern und nur mit Anstrengung. Er machte eine Bewegung mit der kleinen, fettgepolsterten Hand auf Josef Blau zu.
»Es wird Frühling«, sagte Josef Blau.
Die Mutter sah ihm angestrengt auf die Lippen. Onkel Bobek warf seinen schweren Körper, daß das Sofa krachte. Er patschte mit seinen Händen auf die gespannte Hose über den Schenkeln. Seine Hände waren klein wie Kinderhände. Sie schienen Josef Blau unheimlich in ihrem Mißverhältnis zum Körper. Zudem war ihre Haut von rosiger Zartheit, indes Onkel Bobeks Gesicht, von einem schwarzen Bartstreifen umrahmt, wie von innen schwarzblau schien.
Onkel Bobek wollte etwas sagen. Seine Worte begannen tief im Leib. Sie rasselten in seiner Brust, bevor sie aus dem Mund drangen.
»Ausgezeichnet, Blau! Ausgezeichnet! Frühling, Sommer, Herbst und Winter! Ich erlebe es nun fünfundfünfzigmal. Sehr interessant. Bald regnet es, bald schneit es. Sehr wichtig, sehr notwendig. Wozu das, frage ich, wozu, frage ich euch? Immer dasselbe. Notwendige Sachen, die Jahreszeiten!«
»Du bist immer unzufrieden«, schrie die Mutter.
»Unzufrieden? Ich mache mir meine Gedanken. Das ist alles. Oder nenne es unzufrieden. Auch gut. Aber ich höre es nun so lange, was Blau da sagt. Es wird Frühling! ruft er. Als ob es jemanden überraschen würde! Hat es Gott so eingerichtet, um uns Abwechslung zu machen? Heilige Jungfrau, das ist eine Abwechslung, wie in manchem Haushalt, wo es jeden Montag Kuttelfleck gibt, Dienstag Erbsen mit Speck und so fort, und jeden Sonntag Nierenbraten! Schöne Überraschung!«
»Das trifft mich nicht, Bobek, ich weiß nicht, wie du darauf kommst!«
»Von dir rede ich nicht. Das wäre ein Wunder, will ich sagen, wenn Gott nur eine Jahreszeit gemacht hätte, eine wo man nicht schwitzt und nicht friert und nicht einregnet. Notwendige Sache, der Frühling!«
Josef Blau hatte sich gesetzt. Martha brachte das Essen. Blau sah Selma an; Selma schlug den Blick nieder und rückte näher an den Tisch. »Der Lenz«, schrie die Mutter und wippte mit dem übergeschlagenen Bein. Dann schloß sie verzückt die Augen.
Onkel Bobek machte eine Handbewegung, als verbeuge er sich.
»Das schwache Geschlecht ist gegen mich und für die Poesie, siehst du! Aber wegen des Frühlings wollte ich nicht mit dir sprechen, Blau. Ich höre, du willst unterschreiben.«
»Gewiß, aber...«
»Es ist eine reine Formalität, du riskierst nichts. Ich werde alles in Ordnung bringen. Tausend Kronen mit Zinsen auf drei Monate macht zwölfhundert. Hier.« Er zog ein Wechselformular aus der Brusttasche. »Ich habe es gleich mitgebracht.«
Selma hatte die Arbeit vor sich auf den Tisch gelegt. Sie hatte runde rote Flecken auf den Wangen. Die Mutter trommelte mit den Fingern der Linken auf die Tischplatte. Selma sah Blau an. Dann sagte sie leise:
»Wir werden soviel brauchen, gerade jetzt.«
»Es wird da sein, Selma«, sagte Onkel Bobek und legte seine Hand beteuernd auf die Brust. »Ich wäre in einer entsetzlichen Lage, wenn du nicht unterschreibst, Blau, das kannst du nicht wollen! Es ist ein alter Freund von mir, der Geld leiht zu Zinsen, Berger heißt er. Er will es mir leihen. Aber zwei Unterschriften, sagt er! Zwei Unterschriften sind das Mindeste.«
»In drei Monaten zwölfhundert«, sagte Josef Blau. »Und wenn du nicht in der Lage bist?«
»In drei Monaten? Warum sollte ich nicht in der Lage sein, warum sollte ich es nicht sein in drei Monaten? Aber angenommen, daß ich es nicht bin, wird Berger nicht mit sich reden lassen? Er ist doch mein Freund, würde er es geben, wenn er es nicht wäre? Ein Wechsel, meinst du, ist ein Wechsel und die Freundschaft wird er vergessen, wenn es um sein Geld geht. Er wird dir an den Kragen, meinst du, mit dem Wechsel. Aber dazu kann es nicht kommen, Blau. Ich weiß, was ich euch schulde, und ich werde dich nicht im Stich lassen, so wahr mir Gott beistehen soll, oder wobei soll ich dir schwören?«
Josef Blau wehrte mit der Hand ab. Er nahm das Formular und unterschrieb.
»Es ist eine große Gefahr«, sagte er und reichte Onkel Bobek das Blatt.
Onkel Bobek barg den Wechsel in der Tasche.
»Es ist viel Geld«, sagte Selma. »Wir werden es nie bezahlen können. Auch wenn wir alles verkaufen.«
»Ihr? Ich, ich werde es bezahlen. Wer sagt, daß ihr es bezahlen sollt? Es wird da sein, Selma, zwölfhundert, auf den Tag und schlimmstenfalls«, er verstärkte seine Stimme, daß die Mutter ihn hörte, »schlimmstenfalls, am Ende gibt es doch die liebe Mathilde.«
Er sah die Mutter zärtlich an.
»Man muß das Seine zusammenhalten, wenn man eine alte Witwe ist. Vielleicht kann man es brauchen, man weiß nicht, wie und wozu.«
»Alte Witwe, haha«, rief Bobek und seine Hände patschten auf die Schenkel. »Frisch wie ein Apfel! Dir steigen noch die Männer nach auf der Straße, Mathilde! Weißt du, was sie sich heute gekauft hat, Blau? Das Wasser läuft einem im Mund zusammen...«
Er erhob sich ächzend und ging auf das Regal zu, das zwischen den Fenstern stand. Die Gläser auf der Kommode klirrten unter seinem Schritt. Auf dem Regal lag ein kleines, in Papier eingeschlagenes Päckchen. Er öffnete es sorgfältig und entnahm ihm mit den Spitzen von Zeigefingern und Daumen ein rosarotes seidenes Wäschestück, das er hochhob, daß es sich entfaltete und vor seinem Körper niederhing. Es war ein spitzenbesetztes, tief ausgeschnittenes Frauenhemd.
»Ach, nicht doch«, sagte die Mutter mit schmollend gespitzten Lippen.
»Wie niedlich«, sagte Onkel Bobek, »wie niedlich!« Sein Blick ging vom Hemd zur Mutter und wieder zum Hemd zurück.
Josef Blau erhob sich.
»Hör auf!« sagte er.
Er fühlte, daß er diesen Anblick nicht ertragen würde. Onkel Bobek hörte ihn nicht. Er schaukelte wie eine dicke, bärtige Balletteuse vor dem Fenster hin und her. Er hielt das Seidenhemd an den Fingerspitzen in Halshöhe vor den Leib. Das Fleisch des Doppelkinns lag auf den zarten Spitzen des Halsausschnitts.
»Wie niedlich«, wiederholte Onkel Bobek, »wie niedlich!«
Er lächelte lüstern. Die Mutter hatte den Kopf gleich einem schamhaften Mädchen zur Seite geneigt und die Augen niedergeschlagen. Sie verzog den Mund zu einem Schonung heischenden Lächeln. Die Tochter war über die Arbeit gebeugt. Sprang sie nicht auf, dem Onkel das Hemd der Mutter zu entreißen? Konnte sie es ertragen, die eigene Mutter so enthüllt zu sehen, mit deren planvollem Willen so zur Schau gestellt, zur Liebe gerüstet unter dem Panzer ihres Mieders mit Spitzenhemdchen und Höschen? Versank sie nicht in die Erde? Waren sie Mutter und Tochter oder zwei Weiber, durch nichts verbunden als durch den Willen des Geschlechts? Bot die eine die Freuden ihres schlaffen Leibes vor der anderen an, die dieser Leib empfangen und geboren hatte? Verhüllte die andere nicht ihr Antlitz? Schämte sie sich nicht für den eigenen Leib, der gebären wollte? Selma befeuchtete einen Faden zwischen den Lippen und drehte ihn zwischen den Fingern. Sie hielt die Nadel gegen das Licht und zog mit ruhiger Hand den Faden ein.
Josef Blau wandte sich ab. Er verließ das Zimmer ohne Gruß. Er eilte die Treppe hinab, an dem alten Hämisch, der, die graue Schildkappe tief in die Stirn gezogen, vor dem Haus in der Sonne saß, vorbei auf die Straße. Er eilte, als könne er mit dem beschämenden Anblick, der sich ihm oben geboten hatte, auch der Erinnerung entfliehen. Er wollte den Raum vergrößern, der zwischen ihm und diesem Zimmer lag. Wie Lot auf der Flucht wagte er nicht, sich umzuwenden und hinter sich zu sehen, als verfolgte ihn der fette Bobek, mit dem Spitzenhemd bekleidet, und als könne dieser Anblick ihn, den Lehrer, zu einer Salzsäule erstarren lassen.
Josef Blau durchquerte die Stadt. Die Hauptstraßen waren voll von Menschen, die ihn anstießen und drängten. Sie stauten sich vor den Auslagen der Geschäfte, in deren großen Glasscheiben sich die Sonne spiegelte. Er bog in eine Seitenstraße ein. Hier glitzerte kein Glas in der Sonne. Die Straße war wie ein enger schattiger Schacht, eingelassen zwischen den Wällen der hohen Häuser. Niemand stieß ihn an. Hier war kein Gewühl von Menschen. Kaum ein Handwerker, ein Weib mit einer Last, ein aus dem Büro heimkehrender Beamter kam ihm entgegen.
Er ging weiter ohne Ziel. Er verließ den Umkreis der inneren Stadt und betrat die Wege einer hügeligen, baumbepflanzten Anlage. Der Lehrer wich einer Lichtung aus, von der aus die Stimmen spielender Kinder an sein Ohr drangen, begegnete halbwüchsigen Burschen, die Schulmappen tragende Mädchen untergefaßt führten, und Kinderfrauen in bunter ländlicher Tracht mit weitgestärkten weißen Röcken. Josef Blau war müde vom schnellen Gehen und sein Kopf schmerzte. Er wollte sich auf eine Bank setzen, aber auf allen Bänken ringsum saßen Mütter oder Kinderfrauen mit lauten, lärmenden Kindern. Er wollte sitzen, den Hut abnehmen, vor sich hinsehen in das braune Laub des Herbstes, in dem Schwärme von Vögeln Nahrung suchten, und in das helle Grün der jungen Blätter an den Zweigen, in das die Vögel aufflatterten, wenn sein Schritt sie verscheuchte.
Auf einer Bank in der Sonne saß ein weißhaariger Mann mit goldgefaßter Brille. Sein Hut lag neben ihm auf der Bank, die Hände stützten sich auf die Krücke seines aufrecht gestellten Stocks. Als Josef Blau herantrat, sah der alte Mann auf. Josef Blau blickte in ein breites, ruhiges Gesicht mit kurzsichtigen Augen, die ihm gelassen entgegensahen. Josef Blau wollte sich zu diesem alten Mann setzen. Er wollte den Hut ziehen und grüßen. Er wollte hier bleiben, bis es dunkelte.
Hinter der Biegung des Weges wurden Stimmen laut und aus den Büschen, die den Blick versperrten, trat ein Trupp von Schülern mit Büchern unter dem Arm. Josef Blau hörte ihr lautes Gespräch und ihr ungebundenes Lachen. Es konnten Knaben aus seiner Klasse sein. Die Entfernung war zu groß, als daß der Lehrer es hätte erkennen können. Wenn er sich auf die Bank setzte, würden sie an ihm vorbeiziehen. Vielleicht rauchten sie, das Verbot nicht achtend. Josef Blau wollte nicht diese Begegnung, heute nicht und nicht vor dem lächelnden alten Herrn. Sein Kopf war wirr von allem, was heute darin war: der Wechsel, Bobek im Spitzenhemdchen der Mutter und der bedrohliche Ausflug. Josef Blau hatte den Ausflug nicht vergessen. Nun stand die Gefahr, der er begegnen sollte, wieder groß und gegenwärtig vor ihm. Er mußte zu Modlizki. Es ging nicht, es aufzuschieben, es mußte heute sein und jetzt, solange Modlizki zu sprechen war, daß Josef Blau ihm ins Gesicht sah und ihn nach der Absicht der Schüler fragte.
Er bog in einen Seitenweg ab, der vor einem hohen Bretterzaun endete. An den Holzplanken dieses Zauns entlang führte ein schmaler Fußweg. Josef Blau hielt den Blick vom Zaun abgewendet. Er wußte, daß in die Planken Herzen und Namen geschnitten, unzüchtige Bilder und Verse mit Graphit und Kreide an das Holz geschrieben waren. Der Fußweg mündete in eine breite Straße. Josef Blau betrat sie wenige Schritte von dem Haus entfernt, das er aufsuchen wollte. Er sah die Gittertür mit der in den Stein eingelassenen Klingel, die Bäume, die das tief im Park liegende Haus verdeckten, und die weiße, nackte Göttin mit lässig erhobenem, über dem Kopf geneigten Arm, die aus dem grünen Boskett hinter der Gartentür wuchs. Einige Häuser weiter gegen die Straße zu wohnte der Schüler Karpel. Die Straße war leer, es drang kein Laut aus den Häusern und aus den Gärten. Nur da und dort bellte ein Hund auf, um gleich wieder zu verstummen. Es war 16 Uhr. Die Herren schliefen, die Diener schlichen lautlos über die Treppen und Gänge und über den gepflegten Kies der Gartenwege.
Wenn Josef Blau auf die Klingel drückte, würde die Gittertür surrend aufspringen. Er würde an der lässigen Göttin vorbei um das Boskett schreiten und dann das einfache schloßartige Gebäude mit den grünen Fensterladen und dem runden Toreingang erblicken, zu dem eine breite Steintreppe anstieg. Im Torbogen würde Modlizki stehen, unbeweglich, beunruhigend wie immer, und sich verneigen vor Josef Blau, als sei er, Modlizki, nicht der einzige in der Stadt, der ihn von damals kannte, als Blau die langärmeligen, abgelegten Röcke, Westen und langen Hosen wohltätiger Mitbürger trug. War seine Ehrfurcht Hohn? Würde sie sich nicht plötzlich in überrumpelndes, Gestalt, Antlitz und Stimme entfesselndes Gelächter verwandeln?
Josef Blau drückte auf die Klingel. Die Gittertür sprang auf. Als er rund um das Boskett geschritten war, erblickte er Modlizki. Modlizki stand in der Tür, schwarz, mit hochgeschlossener Weste, die sorgfältig geknüpfte weiche Masche wie stets unter dem Kinn. Josef Blau sollte fliehen. Onkel Bobek hatte recht: »Er hat einen bösen Blick«, hatte Onkel Bobek gesagt. »Wenn ich ein Kind hätte, würde ich es vor ihm verbergen.« Aber was wußte Onkel Bobek von ihm? Wer wußte von ihm? Was wußten die Knaben von ihm, an die er sich planvoll herangemacht hatte, Josef Blau zu vernichten? Modlizki haßte die Ordnung, die als gut und gerecht galt, die Knaben, denen er gefällig war, den Herrn, dem er diente, aber ihn, Josef Blau, sein Weib, sein Kind und alles, was mit Josef Blau zusammenhing, mit einem besonderen Haß. Modlizki wollte vernichten. Daß Modlizki beschränkt war und ohne Bildung und von wirren Ideen besessen, beruhigte nicht. Denn es war doch eine Ordnung in allem, was Modlizki sagte, eine verwirrende, beängstigende Ordnung, es klang alles, als sei es nicht ohne Vernunft, es nahm gefangen, man konnte sich nicht entziehen, man kehrte wieder, Modlizkis Haß zu ergründen, zu besänftigen, zu mildern. Vielleicht lag es an Modlizki und nicht an dem, was er sagte, daß man nichts fand, es entgegenzusetzen, an seinem Blick und seinem unbewegten Gesicht und seiner Haltung und seiner tiefen gleichbleibenden Stimme, die von allem sprach, nur davon nicht, wovon Josef Blau sprechen wollte, jeder Erinnerung daran auswich. Aber einmal mußte es kommen, daß Josef Blau davon beginnen konnte und ergründete, warum er ihn von allen am tiefsten haßte, vielleicht weil Josef Blau der Genösse seiner Jugend, Armut und Niedrigkeit gewesen und zu Achtung und Stellung aufgestiegen war. Doch Modlizki wußte, daß die, denen Josef Blau vorgesetzt war, ihn nicht achteten. Vielleicht war es doch das andere, die Beleidigung, die Modlizki nicht vergessen hatte von damals, er dachte daran, wenn er mit Josef Blau sprach, seit damals haßte ihn Modlizki, damals hatte es begonnen! Sie waren Kinder und aßen in wohlhabenden Häusern, täglich in einem anderen Haus, jeder für sich an ungedeckten Küchentischen. Aber einmal in der Woche, es war am Donnerstag, Josef Blau erinnerte sich genau, trafen sie in einem Haus zusammen, beim Kaufmann Wismuth, sie aßen in der Küche und standen auf und gingen, nachdem sie der alten Magd gedankt hatten, die Genoveva hieß, ein seltener Name, aber in dieser Gegend nicht so selten, daß man sich ihn hätte merken müssen. Josef Blau bekam das Stipendium und wurde in das Gymnasium aufgenommen und am Donnerstag darauf holte das Fräulein ihn aus der Küche, wo er mit Modlizki saß, an den gedeckten Tisch ins Zimmer und Modlizki ließen sie draußen. Sein Vater war ein Trunkenbold gewesen, die Mutter wusch in den Häusern. Josef Blau sagte nichts und gehorchte. Er begriff nicht anders, als daß er gehorchen mußte, als die Tochter ihn holte. An der Tür zögerte die Tochter und wandte sich nach Modlizki um und Josef Blaus Blick folgte ihrem Blick. Da sah Josef Blau Modlizkis Augen: sie waren so voll Haß, daß Josef Blau der Atem stockte. Doch schon hatte Modlizki den Kopf wieder in gehorsamer Ehrfurcht geneigt. Das Fräulein zögerte noch, aber vielleicht wagte sie nichts ohne Auftrag des Vaters oder vielleicht hatte auch sie Modlizkis Blick gesehen. Sie wandte sich und ging. Josef Blau folgte ihr. Er schloß die Tür hinter sich zur Küche und zu Modlizki. Das war es, das hatte Modlizki nicht vergessen, daß Josef Blau an diesem Tag aufgestiegen war an den gedeckten Tisch im Zimmer und den Gespielen und Genossen vergessen und beleidigt hatte, Modlizki dachte daran, und er rächte sich und ließ Josef Blau nicht sprechen und erklären und wich der Gelegenheit aus. Er ließ Josef Blau immer wieder kommen, denn er kam vielleicht nicht nur Modlizkis Pläne zu erraten, auch das trieb ihn vielleicht, es Modlizki zu erklären und Modlizki zu versöhnen, aber Modlizki wollte keine Versöhnung, er wollte nicht aufhören zu hassen.
Modlizki schritt Josef Blau entgegen, ohne Eile wie immer, den Kopf mit den schwarzen, in der Mitte gescheitelten Haaren leicht nach links geneigt. Seine großen schwarzen Augen ruhten ernst und unbeweglich auf Josef Blau, seine Haltung war gemessen, von bescheidener Ehrfurcht, er lächelte nicht und in seinem gelben Gesicht mit der langen Nase bewegte sich nichts. Aber die Unbeweglichkeit war nicht Ruhe, sie schien in Gestalt und Antlitz mit Gewalt gehalten, die Gemessenheit gespielt wie auf der Bühne, alles gleichsam auf einen Zweck vorbereitet und beängstigend.
Sie traten in eine holzgetäfelte halbdunkle Halle. Josef Blau setzte sich in einen geschnitzten Stuhl mit dem Rücken gegen das Fenster. Es war gut, daß der Raum dunkel war. Es war leichter, im Dunkeln zu sprechen. Josef Blau sah sich im Zimmer um. Er erkannte ausgestopfte Tierköpfe und Waffen an den Wänden. Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch.
»Du hast gelesen?« fragte Josef Blau.
»Ein lächerliches Buch, soweit mir ein Urteil zusteht«, erwiderte Modlizki. »Es will Gerechtigkeit und allgemeine Gleichheit einführen.«
»Warum lächerlich?« fragte Josef Blau. »Warum setzt du dich nicht, Modlizki?«
Modlizki verneigte sich. Er setzte sich in angemessener Entfernung auf die Kante eines freistehenden Stuhls. Er saß aufrecht, den Rücken nicht angelehnt.
»Ich bin es, der bei dir zu Gast ist«, sagte Josef Blau, »wozu diese Förmlichkeit?«
»Ich bin mir bewußt, welche Auszeichnung ich erfahre.«
Seine Stimme war gleichmäßig und tief. Kein höhnischer Beiklang färbte sie scharf.
»O Gott!« sagte Josef Blau. Er sah Modlizki an.
Modlizkis Gesicht war ruhig und ernst. Modlizki schwieg.
»Warum lächerlich?« fragte Josef Blau von neuem.
»Damit ist nicht geholfen, meine ich.«
»Man soll es lassen wie es ist?«
»Es ist nicht das Wichtigste, meine ich.«
»Das Wichtigste wäre?«
»Wenn sie meinem Herrn alles weggenommen haben und sein Gut verteilt, bleibt er ein Herr. Ein Herr, dem man alles weggenommen hat.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Ich bin nicht befähigt, es auszudrücken.«
»Sprich, sprich, Modlizki!«
»Nun, daß man ihnen die Güter nimmt, meine ich, darauf kommt es nicht an. Vielleicht müßte man verhindern, daß sie ihre Fingernägel pflegen, die Wäsche wechseln, Klavier spielen und den Damen die Hände küssen zum Beispiel. Wenn ich Revolution machen wollte, das wäre meine Revolution, meine ich. Vielleicht, daß es unnütz ist, das Hab und Gut zu enteignen, solange das bleibt, das ganze Getue, was sie als Anstand bezeichnen, die Gesittung, die feinen Formen, die alten Bilder und so. Diese Dinge unterscheiden sie. Sie werden für höhere gehalten.«
Josef Blau dachte an die weiße Göttin im Garten. Er hörte Modlizkis tiefe, verhaltene Stimme. »Du nimmst daran teil«, sagte er. »Du bist nicht ausgeschlossen.«
»Mein Vater stand auf einer Leiter, als er beim Diebstahl ertappt wurde«, sagte Modlizki. »Er stürzte zu Boden und starb. Ich habe von Jugend an Frostbeulen an den Füßen. Ich will es nicht vergessen.«
»Niemand kann es vergessen«, sagte Josef Blau leise.
Modlizki blickte gerade aus vor sich hin. Nach einer kleinen Pause sprach er weiter.
»Ich vermesse mich vielleicht nicht, wenn ich sage, daß ich ein guter Diener bin.« Er schien angestrengt nachzudenken. Josef Blau dachte daran, daß Modlizki das Haus der Eheleute Colbert, die sich seiner angenommen und ihn halb als Pflegekind, halb als Diener gehalten hatten, hatte verlassen müssen, da er sich etwas hatte zuschulden kommen lassen, was den Sitten eines vornehmen Hauses zuwider war. Niemand hatte es von Modlizki erwartet. Modlizki setzte fort, als hätte er Josef Blaus Gedanken mit gedacht.
»Ich verstehe es, geräuschlos zu servieren. Mir ist der Ort jedes Kleidungsstücks und der Anlaß, zu dem es getragen wird, bekannt. Es ist mir bekannt, welche Bestecke aufgelegt und aus welchen Gläsern die verschiedenen Getränke genossen werden. Der Wein wird verläßlich gehalten. Ich bin anwesend, wenn die Dame abends Klavier spielt. Ich höre, aber ich höre gewissermaßen nicht zu. Die Herrschaften hören zu und schwärmen. Ich bin Diener. Ich bitte mir aus, daß man von mir verlangt, daß ich mit schwärme.«
Modlizki erhob sich. »Dieses lehne ich ab. Meine Anwesenheit bei Klavierspiel, Gespräch, Mahlzeit und Reise ist beruflich. Ich lehne eine persönliche Teilnahme ab. Es war mir nicht gegeben, es Herrn Colbert anders begreiflich zu machen als dadurch, daß ich meinen Schließmuskeln ihre Freiheit gewährte, während die Mahlzeit vollzogen wurde. Wenn verlangt wird, daß ich aufhöre, Diener zu sein, bekenne ich mich zu meinem Vater. Herr Colbert hatte das rechte Gefühl, meine ich, wenn er mein Betragen als den Hauch des Umsturzes bezeichnete.«
Modlizki stand vor Josef Blau und sah ihn starr an.
Hat er nicht recht, dachte Josef Blau? Vor Blau saßen die Knaben, wohlgenährt, mit gepflegten Händen, das überhebliche Lächeln wohlhabenden Selbstvertrauens um die Lippen. Das konnte man nicht enteignen.
»Du kennst den Schüler Karpel«, sagte Josef Blau. Er blickte zu Boden.
»Der junge Herr wohnt einige Häuser von hier entfernt in dieser Straße. Ich werde durch sein Vertrauen ausgezeichnet.«
»Er ist mein Schüler.«
»Es ist mir bekannt. Er nannte den Namen. Ich verstand, daß es meine Stellung nicht gestattete, darauf hinzuweisen, daß ich bisweilen durch den Besuch seines Lehrers geehrt werde.«
»Was tut er?« fragte Josef Blau. »Was will er?«
»Der junge Herr ist reif für sein Alter. Er liebt es, die Frauenhäuser in der Kasernengasse aufzusuchen. Ich hatte mehrmals die Auszeichnung, ihn zu führen.«
Es war gut, daß kein Licht brannte. Josef Blau fühlte die Hitze des Bluts, das ihm in die Wange drang. Was war das? Also sprach Modlizki davon, mit ruhiger Stimme, ohne Scham? Es bestätigt sich alles, dachte Josef Blau, es bestätigt sich alles.
»Ihn zu führen...« wiederholte er laut.
»Ich werde nicht für Gefühle bezahlt und gehalten. Ich erfülle Wünsche. Auch unausgesprochene. Ich bin nicht da, vor sittlichen Gefahren zu bewahren.«
Josef Blau war es, als habe Modlizki diesen Satz betonter ausgesprochen, um einen Ton schärfer als das andere. Er haßt den Schüler, dachte er. »Modlizki«, rief er und hob die Hand, als bereite er sich vor, sie nach dem andern auszustrecken. »Wir sind miteinander...«
»Ich will das Licht andrehen«, sagte Modlizki.
Josef Blau wehrte mit der Hand ab.
Er neigte den Kopf gegen die Brust.
»Der Schulausflug steht bevor«, sagte er leise. »Sind Vorbereitungen im Gange?«
»Vorbereitungen?«
»Vorbereitungen gegen mich. Sie hassen mich. Es ist kein Zweifel.«
»Es ist mir nichts bekannt«, sagte Modlizki.
»Nichts bekannt, für den Ausflug? Und sonst? Du weißt es!«
»Ich werde es wissen«, erwiderte Modlizki.
Ein Glockenzeichen ertönte.
»Der Herr Rat sind vom Schlaf erwacht«, sagte Modlizki.
»Der Herr Rat spielen Ping-Pong nach dem Schlafen, sich zu erfrischen.«
Josef Blau reichte Modlizki die Hand.
»Du spielst mit ihm?«
»Ich spiele nicht. Herr Rat benützen mich als Gegenüber.«
Die Tür sprang surrend vor Josef Blau aus dem Schloß. Es war sechs Uhr abends. Die Straße war dunkel. Erst an der Ecke der Hauptstraße brannte eine Laterne.