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Ich mochte 16 Jahre alt sein, hatte schon die Nibelungen, Herren Walther von der Vogelweide, Bruchstücke des Parzifal in der alten Sprache gelesen, hatte auch die Bekanntschaft mit dem armen Heinrich des Hartmann von der Aue gemacht. Da spielte mir der Zufall ein Buch in die Hand, das einzelne Lieder des ritterlichen Sängers Ulrich von Liechtenstein enthielt.
Natürlich hatte ich mit diesen Jahren auch schon etliche Literaturgeschichten, aus denen man seine Weisheit fix und fertig beziehen kann, verschlungen, und hatte mir das Urteil über den Liechtensteiner: »Talent zweiten Ranges, Verfallserscheinung des entarteten Rittertums« wohl gemerkt.
Nebenbei – in der Kunstgeschichte hat man schon lange aufgehört, absolute Werturteile abzugeben. Man sucht dort die Entwicklungslinie – hütet sich aber davor, zu sagen, daß Rafael größer sei als Michelangelo oder umgekehrt. Denn dort hat man erkannt, daß Werturteile immer subjektiv sind, sich zudem im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte zwar nicht die Kunstwerke wohl aber die Augen und die Meinungen der Betrachter ändern. Ich trat also durchaus nicht mit einer vorgefaßt guten Meinung an die Gedichte heran, fand sie aber zu meiner Überraschung so reizvoll, daß ich sie, so gut es ging, übersetzte.
Leider gelang es mir damals nicht, bis zum Frauendienst vorzudringen – und ich sah mich genötigt, meine weiteren Kenntnisse aus zweiter Hand zu ergänzen. Was ich da fand, war nicht gerade ermutigend. Narr, Halbnarr, pathologische Erscheinung – das sind so einige Urteile, die ich mir gemerkt habe. Außerdem wurden die Geschichten von dem Waschwasser, von der Hasenscharte, von dem abgehackten Finger aufgetischt und entsprechend glossiert.
Dann riß mich das Leben in eine andere Bahn, als ich sie mir selbst vorgezeichnet gehabt hatte.
Nur manchmal, wenn mir der Zufall das dünne Heft in die Hand spielte, in der meine Übertragungen mittelhochdeutscher Gedichte enthalten waren, ich wieder einmal las:
In dem wonnesüßen Maien,
Wenn der Wald gekleidet staht,
Sieht man wandeln wohl zu Zweien
Alles, was nach Liebe gaht.
Und ist miteinander froh –
Das ist recht – die Zeit will's so.
Wenn sich Lieb zu Liebe findet
Frohen Mut die Liebe leiht.
In der beiden Herz sie kündet
Hohe Freud zu jeder Zeit.
Trauer kennt die Liebe nicht.
Wenn man Lieb bei Liebchen sieht.
dann dachte ich mir: »Eigentlich möchte ich doch einmal den ganzen Ulrich in der Hand haben.«
Auf meine alten Tage wurde ich Pfadfinderführer.
Und da kam eine größere Tagung der österreichischen Jugend in Unzmarkt, an der auch ich mit meinem Fähnlein teilnahm. Als ich die Fahrt vorbereitete, fiel mir ein, daß ich vom Eisenbahnzuge aus bei Unzmarkt die Ruine einer mächtigen Burg, der Frauenburg, die einstens das Eigen des Liechtensteiners gewesen, gesehen hatte. Da mußte ich doch den Jungens etwas vom Liechtensteiner erzählen können! Ich stöberte in den Bibliotheken meines Aufenthaltsortes und hatte das Glück, den Frauendienst zu finden.
Schon nach kurzen Tagen konnte ich den stattlichen Band aus der Hand legen. Mein Interesse war von Aventüre zu Aventüre gewachsen – fand ich doch hier nicht nur eine unglaublich reich fließende Quelle für die Kulturgeschichte des deutschen Volkes, sondern auch einen ganzen Mann, die erste deutsche Selbstbiographie.
Dann stand ich in der Kirche der Frauenburg vor dem schlichten romanischen Grabsteine, der das liechtensteinsche Wappen und die Inschrift: »Hie leit Ulrich dises houses rehtter erbe« trägt, schritt durch die Trümmer, die einstens ein festes Schloß gewesen waren, stand mit meinem Lieb auf dem Altane, von dem aus Ulrich in den Hof seiner Burg geblickt haben muß. Groß und gewaltig ragten die Mauern um die Stätte, auf der nun Tausenden von Jungens und Mädels eine Feldmesse gelesen ward, zu der frische Stimmen, in denen die Sonne der Jugend lag, die alten einfachen Lieder sangen, die der Wandervogel wieder belebt hat. Dort legten ein Junge und ein Mädel in meine Hände das Gelöbnis ab, treu der Heimat und dem Volke und allzeit bereit zu sein.
Später, am nächtlichen Lagerfeuer, in dessen Schein die bunten Wimpel aufleuchteten, wurde die alte Zeit, wurden Worte des Liechtensteiners lebendig. Gestalten der Vergangenheit stiegen empor – leise klirrten Rüstungen durch die Nacht, jubelten Geigen und Flöten, klangen Lieder, die sich sehnsüchtig um Söller und Erker, um Fenster und Zinne rankten. Schäfte krachten im Ritterspiel, Frauen von traumhafter Schöne schritten durch die Reihen. Der Wortführer war – der Liechtensteiner! Jauchzend sang er seine Weisen von Frauengüte und Frauenhuld, lieh dem, was sie alle bewegte, Ausdruck, war der Mittler zwischen uns und unserer eigenen Vergangenheit, die wir schlechter kennen, als jene Roms. Leutselig setzte er sich in seinem Wappenrocke zu uns, zeigte uns die Ideale, die ihn und seine Zeit erfüllten, die Gedanken und Empfindungen, die ihn und sie bewegten.
Dem, was in dieser Nacht unklar geblieben war, brachten die nächsten Stunden die Lösung.
Da standen wir, wieder in der Mondnacht, die so viele Heimlichkeiten birgt und so viele entschleiert, in den Überresten der gewaltigen Burgen, die sich die Salzburger Erzbischöfe, Fürsten des deutschen Reiches, eine Stadt über der Stadt, auf den Höhen über Friesach erbaut hatten, blickten nach Süden, in das Land, welches höhere Gesittung, Kraft und Glaube deutsch gemacht und deutsch erhalten haben. Hier spürten wir den ungeheuren Willen zur Macht, zum Ruhme, der die Zeit durchdrang, der sie so erfüllt, daß sie Erscheinungen gebiert, die nur in der italienischen Renaissance ihr Gegenstück haben. Hier in Friesach begrüßte uns nicht ein Einzelner, auch nicht ein Stand, – das ganze große, heilige, römische Reich deutscher Nation war es, das zu uns sprach. Hier erkannten wir aber auch, welche Kraft dem Rittertums innewohnte, welche Werte noch heute in ihm liegen – Werte, die man bloß aufzuheben braucht.
Doppelbogige romanische Fenster aus weißem Marmor leuchteten hell aus dem wilden Weine, dem Efeu, der sie umwucherte. Die Tannen rauschten im Winde ihr Lied vom Werden, Vergehen und wiederum Werden, tief unter uns leuchteten die Lichter des Städtchens, das, noch heute von Graben und Mauer umgeben, im friedlichen Schlafe lag.
Es war das feste Haus eines Kirchenfürsten, in dem wir weilten; dort oben im Turme, der als ungeheure finstere Masse sich in den Himmel erhob, leuchteten noch Fresken in der bischöflichen Kapelle, deren Erbauer den Liechtensteiner gekannt haben mag. Durch die Bogengänge, in denen unsere Schritte bloß den Hall weckten, sind einst Prälaten, Äbte, in feierlich glitzerndem Ornate geschritten, in ihren Wölbungen hingen Schwaden von Weihrauch. In das dunkle Psalmodieren der Männer klangen silbern die hellen Stimmen der Sängerknaben. Aber man hört auch Stahl klingen. Unter dem Pluviale trägt der Domherr den Panzer, neben dem Ministranten schreitet der Page, der Helm und Schwert des geistlichen Herren trägt. Denn der Bischof ist nicht nur Diener Gottes – er ist auch Fürst, ein Diener des deutschen Kaisers, darf nicht nur Fürst heißen, muß es auch sein, um das Land, das er vom Reiche hat, zu schützen, sein eigenes Bistum und des Reiches Sache zu wahren.
Als Fürst mußte der Bischof auch einen Hof halten, mußte mit den Waffen des Geistes ebenso vertraut sein, wie mit jenen der Kraft. Große Gedanken wurden da und dort geboren, wanderten weiter, wirkten sich auch in den Grenzlanden aus. Man mußte für die zunehmende Bevölkerung in friedlicher Arbeit neuen Boden gewinnen, ihn landwirtschaftlich und geistig urbar machen, harte Bauern als Kulturvorposten in die Einöde schicken, ihnen als Haupt, als ragenden Turm, zu dem sie voll Vertrauen sich flüchten, aber auch aufschauen konnten, einen Mann setzen, der, unbeirrt, die Sache, deren Sendbote er war, verkündete, für das Recht, für die Witwen, Armen und Waisen eintrat, bereit war, dafür sein Leben hinzugeben.
Der Ritter zog zu Zeiten an den Hof seines Lehensherren – und mit ihm das bunte Leben der Gegenwart in die Burg des Bischofs und Fürsten. Das ganze Leben mit seinen Höhen und Tiefen, seinem Hasse und seiner – Liebe.
Und so hörten wir denn in Friesach nicht nur das Kyrie Eleison, die Choräle der Frommen, sondern auch das Tandaradei Walthers von der Vogelweide. Hinter dem Fenster lachte roter Frauenmund, sangen helle Stimmen Maienlieder. Lautenklang schwebte um das Gemäuer. Ja – das Weltliche siegte über das Kirchliche, so daß das Kreuz fast unsichtbar ward – auch hier die Banner der Frau Minne stolz auf den Türmen flatterten.
Unendlich war der Reichtum, der auf uns einströmte. Bild um Bild kam, jedes führte tiefer in die Vergangenheit, öffnete neue Pforten des Verstehens.
Dann leuchtete im Mondschein an einer Mauerecke ein Stein mit dem Flechtmuster bedeckt, das die Langobarden mit sich brachten. Der letzte Karolinger, Kaiser Arnulf von Kärnten, der seine Pfalz im kärntnerischen Moosburg hatte, sprach zu uns.
*
Zurückgekehrt nahm ich den Frauendienst neuerlich zur Hand. Und je mehr ich mich in ihn vertiefte, um so wertvoller erschien er mir, um so mehr dauernde Werte fand ich in ihm. So viele, daß ich die absonderlich ungünstigen Wertungen immer weniger verstand. Tieck hat den Frauendienst übersetzt. Seine Arbeit hat, trotz vieler Mängel, zwei Auflagen erlebt – ein Umstand, der beweist, daß schon damals das Empfinden dafür vorhanden war, daß in dieser Lebensbeschreibung mehr steckt, als eine bloße Chronik. Beide Auflagen sind natürlich schon lange vergriffen.
Und nun reitet Herr Ulrich von Liechtenstein in neuem Gewande wieder in die Welt. Und auch diesmal steht eine Frowe neben seiner Ausreise.
Daß der Liechtensteiner nicht wörtlich übersetzt werden darf – das habe ich an Tieck gesehen. Deshalb habe ich mich nicht sklavisch an den Text gehalten, wie er mir in der von Beckstein im Rahmen des Sammelwerkes »Deutsche Dichtungen des Mittelalters« besorgten Ausgabe (Leipzig, Brockhaus 1888) vorlag, sondern habe, wo es mir wünschenswert erschien, Freiheit, manchmal große Freiheit, walten lassen.
Denn meine Absicht ist nicht darauf gerichtet gewesen, eine genaue Übersetzung zu geben. Ich wollte vielmehr eine, auch heute lesbare Neubearbeitung schaffen, die sich zwar tunlichst enge an den mittelhochdeutschen Text anschließt – aber Längen kürzt, Wiederholungen vermeidet, das, was zusammen gehört, vereinigt, bin bei aller Gewissenhaftigkeit so verfahren, wie es mir vom künstlerischen Standpunkte aus notwendig schien.
Denn – dies sei hier mit aller Klarheit gesagt – ich hatte nicht die Absicht, eine Ausgabe zu schaffen, die gelehrten Zwecken dienen soll. Ich wollte ein Buch entstehen lassen, das in die Hand jener – hoffentlich vielen – gelangen möge, denen es nicht um die Erklärung dunkler Stellen, um Richtigstellung falscher Lesarten, um allerlei Kleinkram, sondern um das Leben zu tun ist, das im Gewande der ihnen schwer verständlichen Sprache einherschreitet, die im Frauendienst nicht ein Studienobjekt, sondern ein Denkmal sehen, das der Liechtensteiner sich, seinen Frowen, seiner Zeit errichtet hat, und das uns die Jahre, in denen er lebte, ganz anders näher bringt, als Urkunden oder sonstiger gelehrter Apparat.
Man darf nicht übersehen, daß Herr Ulrich selbst durch Gelehrsamkeit nicht übermäßig beschwert, anscheinend des Lesens und Schreibens nicht kundig, Dichter und Lehrer, Realist und Idealist war.
Wer also hier eine Arbeit sucht, wie sie etwa Studenten beim Studium der antiken Klassiker benutzen, dem rate ich, das Buch aus der Hand zu legen, denn er wird sich bloß ärgern. Wem es aber darauf ankommt, zu wissen, wie Ulrich von Liechtenstein sein Leben gelebt – der greife zu dem Werke. Um möglichst vielen Wünschen entgegenzukommen, habe ich einige Strophen in der Sprache des Originales gebracht. Andere habe ich in Reime übersetzt – den größten Teil aber habe ich frei in Prosa übertragen. Von den Liedern habe ich nur jene aufgenommen, bei denen es mir schien, daß meine Übersetzung den Duft des Originales so ziemlich bewahrt hat – oder die mir zum Verständnisse des Dichters erwünscht dünkten. Hiebei war es nicht immer möglich, das Versmaß des Originales durchweg beizubehalten – wie denn überhaupt die Gedichte mir die größten Schwierigkeiten machten, schon deswegen, weil mir die Gabe des Reimes fehlt.
Es ist eine große, reiche Zeit, in die uns Ulrich von Liechtenstein führt. Es ist unsere eigene Vergangenheit, die wir so wenig kennen, daß es notwendig sein wird, den Lesern ein, wenn auch flüchtiges Gesamtbild der Verhältnisse, aus denen der Liechtensteiner erwuchs, zu geben.
Oberflächlichkeit hat uns gewöhnt, einzelne Epochen der Geschichte als einheitliches Ganzes zu betrachten. So nehmen sich nur wenige die kleine Mühe, den Fäden nachzuspüren, die von der Gegenwart in die Vergangenheit führen, jene aufzudecken, die in die Zukunft weisen. Dies dürfte mit der geringen politischen Begabung der Deutschen zusammenhängen, und das hat zur Folge, daß viele schon die Stimmen des Tages nicht verstehen, von den Geschehnissen überrascht werden.
Und so vergißt man für die Vergangenheit umso leichter, daß die Kultur ein Fließendes ist, daß sie auch in der Antike je nach Ort, Zeit und Umständen verschieden war, daß ihr Entstehen und Vergehen auf unaufhörlichen, oft auch unsichtbaren insbesondere innerlichen, aber auch äußeren Vorgängen beruht. Auch ist das Interesse, das die Forscher erfüllt, oftmals von den Dingen des Tages abgekehrt. Sie betonen, wie es ihr Recht ist – das, was jeweils ihnen Höhepunkt, oder besonders wichtig erscheint – vermitteln dies den Laien, die sich daraus ein Weltbild zimmern. Um ein geläufigeres Beispiel zu nennen, will ich auf die Rolle des Sportes in der Antike verweisen, die, den Fachleuten schon lange bekannt, erst in den letzten Jahrzehnten schärfer herausgearbeitet zu werden beginnt.
Wenn wir Herren Ulrich verstehen wollen, so müssen wir – wenn auch oberflächlich – die Grundlagen der Kultur zu seiner Zeit kennen – oder, wie man es auch sagt, dem Milieu, aus dem er erwuchs, nicht völlig fremd sein.
Und da müssen wir ziemlich weit zurückgehen. Denn jedes Gebiet hat zu seiner Zeit die geschichtlich gewachsene, eigene Kultur, die nur hier und sonst nirgends vorkommt.
Das Gebiet, um das es sich hier handelt, hat eine reiche Vergangenheit, dabei so bewegt, daß wir bis auf jene Tage zurückgehen müssen, da Roms Macht die Grenzen des Reiches bis an die Donau und den Rhein vorgeschoben hatte, um einen Grund zu finden, auf dem man weiter bauen kann.
Damals entstand unter der Mischung römischer und sog. barbarischer Elemente im heutigen Frankreich, in Süddeutschland, Österreich, Ungarn usw. neben der offiziellen, direkt von der Stadt Rom abhängigen, eine eigene Provinzialkultur, von der man in den Lehrbüchern nicht viel hört, deren Auswirkungen aber in Gestalt von Grabsteinen, keramischen und sonstigen Funden die Museen der genannten Gebiete füllen und uns beweisen, daß neben dem römischen Elemente andere, je nach dem Lande verschiedene, Kräfte an der Bildung dieser Kultur mitgewirkt haben.
Man kann also schon in dieser Zeit, da Rom allmächtig war, nicht von einer Einheitlichkeit der Kultur sprechen. Aber die römische Kultur ist die Grundlage, auf der die anderen erwuchsen – sie ist es, die ihre Erscheinung bestimmt.
Diese Provinzialkultur griff, wie es fast selbstverständlich ist, auch über die Grenzen des römischen Reiches, wirkte auf die anschließend hausenden sogenannten barbarischen Stämme, die in ihr auch vertraute Züge finden mußten, da sie unter dem Einfluß von Stammesgenossen entstanden war.
Als das römische Reich zusammenbrach, in den Alpenländern die Provinzialen abgezogen wurden, folgten nicht alle dem Rufe. Ein Teil blieb, wofür zahlreiche Ortsnamen den Beweis geben, zurück, vermittelte im Vereine mit anderen Resten der früheren Herrschaft den Eindringenden weitere Kenntnisse der römischen Errungenschaften. Im Gebiete des südlichen Frankreich, in dem die Romanisierung am weitesten vorgeschritten war, war diese Einwirkung besonders stark, sicherte ihm einen Vorsprung vor anderen Landstrichen, die daher zunächst nachhinkten, dadurch die Grundlage für eine abweichende Entwicklung erhielten.
Die Germanen aber nahmen diese Einwirkungen nicht bloß auf – sie verarbeiteten sie, wie etwa die europäische Kunst des neunzehnten Jahrhunderts die Einwirkungen der japanischen verarbeitet hat, zu einer eigenen Kultur, die der Ausdruck nicht mehr des römisch-provinziellen Wesens, sondern ihres Geistes war. Die Grundzüge der weiteren Entwicklung sind so bekannt, daß man von einer umfassenderen Darstellung absehen kann. Wohl aber dürfte es notwendig sein, jene Elemente der österreichischen Sonderentwicklung hervorzuheben, die für das Verständnis Ulrichs von Liechtenstein notwendig sind.
Da sei zunächst betont, daß die Alpenländer noch ganz anderen Einflüssen ausgesetzt waren, als etwa Deutschland. Denn hier rollte Völkerwoge über Völkerwoge heran. Zuerst waren es die Langobarden, deren Kunstübung und Art von Oberitalien ausstrahlend, Wirkung ausübte. Dann kamen die Slaven, die sich sogar seßhaft machten, und wenn schon keine höhere Kultur, so doch eine neue Sprache brachten. Sie drangen bis nach Tirol vor, wurden zwar am Lurnfelde bei Spittal an der Drau geschlagen, blieben aber ansässig und dadurch wenigstens rassisch an der Schöpfung der Kultur der Alpenländer beteiligt.
Dann kamen Bayern, Franken, die zerstörenden Einflüsse der Ungarneinfälle.
Die Bevölkerung muß lange Zeit recht dünn gewesen sein. Für die frühe Zeit können wir dies aus Paulus Diakonus, dem Geschichtsschreiber der Langobarden schließen, der uns von der Flucht eines Ahnherren aus byzantinischer Geiselhaft berichtet. Die führte durch einen der einst fruchtbarsten Landstriche des ehemaligen römischen Reiches, in welchem Stadt auf Stadt folgte. Er und seine Genossen ritten Tage um Tage, bis sie endlich, wahrscheinlich in der Gegend des heutigen Samobor, den ersten Menschen – ein slovenisches Weib – begegneten.
Der heilige Rupert fand Juvavum in Trümmern – Vindobona war im besten Falle ein Fischerort – Virunum, Teurnia usw. waren verschwunden. Man kann daher aus diesen und anderen Erwägungen heraus ruhig annehmen, daß, als die neuen Kolonisten kamen, die Natur den Menschen in den Alpenländern besiegt und verdrängt hatte. Der Wald mit seinen Bewohnern, wie Bär, Luchs, Wolf, hatte nicht nur die Äcker, Wiesen und Gärten, sondern auch die Dörfer, Flecken und Städte verschlungen, daß nur hie und da in dem Meere von Baumgipfeln Rodungen bestanden, vereinzelte Rauchsäulen die Anwesenheit von menschlichen Behausungen kündeten, noch vereinzeltere Blockhäuser, zusammengeflickte Trümmer von Kastellen, günstig gelegene Villen die Burgen der neuen Herren darstellten.
Die nahmen an der allgemeinen Entwicklung des deutschen Stammes wohl teil. Aber infolge der geographischen Lage, der politischen Verhältnisse, des fast unausgesetzten Waffendienstes, in verschiedenem Maße. Denn es ist klar, daß die Fortschritte der Heimat eher zu jenen gelangten, die in dem von der Donau durchflossenen Tale saßen, als zu jenen, die im Gebirge einen Engpaß zu bewachen, im Süden mit fremdstämmigen Untertanen sich herumzuschlagen hatten. Aber auch jene, die an dem Strome hausten, hatten in allererster Linie der Schild des Reiches zu sein, waren Grenzer, etwa in dem Sinne, in dem es die alten Grenzer der österreichisch-ungarischen Monarchie gewesen sind.
Für sie waren die Hauptsache eine feste Burg, Waffen, Pferde, Speise und Trank. Dann erst konnten die Errungenschaften der Kultur folgen.
Trotzdem leisteten sie, unbemerkt, ohne es selbst zu wissen, eine Arbeit, deren Umfang ein verschiedener war, die man oft übersieht und die doch die größte Bedeutung hatte.
Sie germanisierten den im Lande zurückgebliebenen Römer, den Slaven, etwaige Bruchstücke anderer Völker und schufen so die Grundlage für den Deutsch-Österreicher, der aus Widersprüchen zu bestehen scheint, und doch eine Einheit ist.
Diese Arbeit ist langsam, ohne Gewaltanwendung vor sich gegangen. Wir wissen nicht, wo sie begonnen wurde, inwieweit slavisches Blut sich mit dem deutschen mengte, ob und welche Rolle die Provinzialen hiebei spielten. Wir wissen nicht, ob die Weinhänge der Wachau auf die Bildung des Charakters bestimmend einwirkten, oder ob slavische Leichtlebigkeit selbst in den Gebirgsschluchten den Humor nicht verlor, was wir dem Einflusse der das Land durchziehenden Straßen verdanken. Wir sehen nur das Ergebnis und können schließen, daß der Prozeß der Schaffung des Deutschösterreichers – der dem Wohlleben geneigt und ein Spartaner, ein Nörgler, Optimist und Realist, ein trinkfester Kerl, ein genialer Kopf und ein miserabler Organisator sein kann, früh begonnen haben muß.
Von alldem, von den Kämpfen mit Ungarn, Slaven, den ungeheuren Schwierigkeiten des Bodens weiß man in Deutschland wenig, versteht es daher nicht, daß die Alpenländer in gewissen Belangen zurückbleiben mußten.
Denn ihr Leben war Kampf. Dafür aber wurzelte das einmal Errungene umso fester, ging, wie die von Geramb herausgegebenen Brauchtümer beweisen, nicht so leicht verloren.
Und im Augenblicke, in dem eine gewisse Entspannung eintrat, man nicht mehr bloß Soldat sein mußte, machen sich die Herren, macht sich die ganze Bevölkerung daran, den Vorsprung einzuholen! Wer die Verhältnisse kennt, muß all diese Leistungen unserer Vorfahren ungemein hoch bewerten. In manche Täler gelangt man auch heute noch, trotz Eisenbahnen, Fahrrad und Auto nur in mühseliger Wanderung. Und mitten in der Wildnis stand eine Burg, im Sommer kein Vergnügungsaufenthalt, im Winter nicht viel besser als ein Gefängnis. Und auf ihr saßen Leute, ähnlich den ersten Kolonisten Amerikas, die nicht verzagten, die die Wirtschaft führten und in die Höhe brachten, Recht sprachen, die Sitte hochhielten, mit den Zentren der Kultur in Verbindung blieben, die geistigen Bestrebungen der Zeit kannten, auf eine uns heute fast geheimnisvoll erscheinende Weise so an dem Leben der Zeit teilnahmen, daß mit einem Male ein völlig anderes Bild vor unseren Augen steht, als es etwa das Jahr 900 oder auch 1000 bot.
Denn die grüne Wüste des Waldes ist im Verschwinden, zum Teile schon verschwunden. Dörfer sind da, kleine Städte, Märkte. In den Tälern stehen Mühlen, und in den Bergen suchen Knappen nach Gold und Silber.
Dome wachsen aus dem Boden.
Und wenn man nach dem Grunde dieses Wandels fragt, so erhält man wohl eine Menge kluger Antworten. Aber sie befriedigen innerlich so wenig wie die Gründe, die man für den Zusammenbruch des römischen Reiches zu hören bekommt. Man kann sehr hübsch von dem Segen der Friedensjahre, von der natürlichen Vermehrung der Bevölkerung, von der Macht der Herren und der Kirche, von der natürlichen Entwicklung, dem Bergsegen, dem Einfluß des Ostens, der Stärkung, die der Boden durch Jahrhunderte dauernde Brache erfuhr, reden, eine Vermehrung der Handelsbeziehungen, die Entstehung von Industrien, die Erwerbung neuer Fertigkeiten nachweisen – man wird dadurch wohl kenntnisreicher – der Kern der Frage aber bleibt doch unklar, verschlossen. Es bleibt auch fernerhin unerklärt, woher die expansiven geistigen, körperlichen und wirtschaftlichen Kräfte kommen, die eine so verstärkte Ausübung der Landwirtschaft, der Bautätigkeit, der Kunst und Wissenschaft, des Bergbaues ermöglichen – noch ein Überschuß bleibt, der sich in Gestalt der Kreuzzüge gegen Osten ergießt. Vielleicht, daß man verstehen könnte, wenn man Amerika zum Vergleiche heranzöge.
So muß man sich damit begnügen, die Tatsache eines allgemeinen Aufstieges festzustellen, und sich mit der Erkenntnis zu befassen, wie er sich in den Alpenländern ausgewirkt hat.
Wir sehen Klöster, die Grundlage innerer Kolonisation – die Horte von Kunst und Wissenschaft erstehen. Kirchen werden gebaut, die Burgen werden größer; ihre Mauern sind mächtig – die Räume sind wohnlicher und zahlreicher. Die Lebensführung ist, so bescheiden sie auch nach unserem heutigen Maßstabe gemessen, erscheinen mag, doch schon anspruchsvoller. Die Städte gürten sich mit Mauern, Münzstätten entstehen, Handel und Gewerbe blühen. Insbesonders das Fischerdorf an der Donau, Wien genannt, nimmt einen bedeutenden Aufschwung.
Mit der allgemeinen Zunahme des Wohlstandes Hand in Hand geht eine Verfeinerung des Lebens, die von zwei Seiten bestimmt wird. Von der Kirche auf der geistigen, dem Hofe als dem Mittelpunkte des Staatswesens und der Gesellschaft, von der anderen Seite.
Den Einfluß der Kirche kann man kaum hoch genug veranschlagen. Es erscheint nicht notwendig, auf alle jene Dinge hinzuweisen, die man in jeder Reichs- und Rechtsgeschichte nachlesen kann. Wohl aber muß hervorgehoben werden, daß die Klöster zu jener Zeit nicht die Orte der stillen Beschaulichkeit, des Nichtstuns waren, als die man sie uns gerne hinstellt. Denn sie unterhielten nicht nur Schreibstuben, waren dadurch eine Pflegestätte der Wissenschaft und der Kunst – auch die technischen Errungenschaften gingen meist von dort aus. Denn die Mönche waren nicht bloß Schreiber – sie waren auch Baumeister, Maler, Ärzte, Landwirte, Steinmetze, Walker, Arbeiter in Metall. Sie betrieben die Glaserzeugung, gerbten Leder, rodeten Wälder, legten Siedelungen an, entsumpften Moore, gruben Teiche, kurz sie waren es, die den Fortschritt trugen.
Es war daher nicht bloß Frömmigkeit, die sich in der Errichtung neuer Stifte äußerte, sondern auch wirtschaftliche und staatliche Klugheit, die sich dadurch die letzten Errungenschaften auf den verschiedensten Gebieten des Wissens und der Technik sichern wollte. Denn durch die Stifte wurden aus Einöden fruchtbare Landschaften – entstanden neue Industrieen, verschaffte man sich Kräfte, die nicht bloß Gotteshäuser, sondern auch Burgen, Straßen, Brücken und Kanäle zu bauen verstanden, dem Adel und dem Bauern zeigten, was man aus dem Boden herausholen konnte, allerlei Kunstfertigkeiten lehrten, die Geld in das Land brachten.
So war, um sich modern auszudrücken, die Anlage eines Klosters eine produktive Investition, die außerdem für das Seelenheil von Bedeutung war.
Da unter solchen Umständen der geistliche Stand – man kann sagen – selbstverständlich, hohes Ansehen genoß, traten auch Söhne und Töchter vornehmer Familien in denselben, wurden Geistliche, beziehungsweise Mönche und Nonnen.
Ferner waren die weltlichen Herren meist des Lesens und Schreibens unkundig, hielten sich daher einen in diesen Künsten bewanderten Kaplan, dem es auch oft oblag, die weibliche Jugend der Burg darin und in Medizin zu unterrichten, der, weil er die Urkunden zu lesen verstand, Verbindung mit seinem Kloster, seinem Bischöfe hatte, oft Berater auch in weltlichen Dingen wurde.
So drang der Einfluß der Kirche durch tausend Kanäle in die Bevölkerung, konnte bestimmend an dem Aufbaue der neuen Kultur wirksam sein.
Die zweite Kraft waren die Höfe, die wohl unter dem Einflüsse der Kirche standen, aber doch anders wirkten. Denn sie waren als die Residenz der Herren der Mittelpunkt des politischen und gesellschaftlichen Lebens, sie schufen die Begriffe der Höfischheit, der Zucht und »Maße«. Hier kam man zu Beratungen, zu Festen aller Art zusammen, fanden die Ideale des Rittertums, die, so sehr sie auch von Frömmigkeit erfüllt waren, doch nicht durchweg den Beifall der Kirche fanden, Pflege und Ausbildung. Hierher wurden die Knaben zur Erziehung gegeben, hier lernten sie reiten, die feine Sitte, den Gebrauch der Waffen, den Umgang mit edlen Frauen, erhielten sie im Wege der mündlichen Belehrung Anregungen von allerlei Art, wurden sie mit den Rechten und Pflichten eines Ritters bekannt gemacht. Es muß ausdrücklich betont werden, daß, wenn auch die meisten der Großen Analphabeten waren, dies doch nicht bedeutet, daß man sie mit Hinterwäldlern auf eine geistige Stufe stellen darf. Denn wir haben vor lauter Druckerschwärze fast darauf vergessen, daß auch das gesprochene Wort ein Bildungsmittel ist, daß man ein Denker sein kann, ohne deswegen eine Bücherei zu besitzen, gleich zur Feder zu greifen, um seine Gedanken der Nachwelt zu überliefern. Beinahe ein jeder, der in den Alpen gewandert ist, wird sich zu dieser Erkenntnis durchgerungen haben. Denn es müßte sonderbar zugegangen sein, wenn er nicht da und dort die Bekanntschaft mit Bauern gemacht hätte, deren positives Wissen sich nicht weiter erstreckt, als das, was ihnen die Volksschule geboten hat, und die doch tiefe Gedanken haben, sie zu entwickeln verstehen und trotzdem lieber etliche Festmeter Holz hacken, als daß sie ihren Namen schrieben. So ähnliche Persönlichkeiten muß man sich an den Höfen vorstellen, aber auch Staatsmänner, Krieger, Rechtskundige und Sänger.
Diese Pflege des Gesanges ist eines der stark sichtbaren Zeichen, daß geistige Interessen rege sind. Der Sänger ist ein berühmter Mann – und auch rittermäßige verschmähen es nicht, diese Kunst zu üben, der sich sogar die Herren zuwenden.
Die Verbreitung, die der Minnesang in den Alpenländern fand, die Rolle, die er am Hofe der Babenberger spielte, lassen erkennen, daß er nur ein Glied in der langen Kette der Entwicklung ist, daß die Liebe zur Musik, die Begabung zu derselben schon damals im Volke lag – und daß der Minnesang daher nicht etwas grundsätzlich Neues, ein reiner Importartikel aus dem Westen sein kann, sondern daß es sich bei ihm um ein Etwas handelt, das schon lange – wenn auch in veränderter Gestalt und uns unbekannt – bestand, am Hofe, in der Hand der Ritter bloß eine Verfeinerung, eine besondere Ausbildung erfahren hat. Und man kann erkennen, daß Gesang und Musik damals eine Rolle spielten, nicht viel anders, als sie ihnen heute in der Stadt der Tänze und der Lieder, in Wien, zufällt. Denn man sang nicht bloß, wie wir es tun, Lieder – sondern man sang auch zum Tanze Geschichten, wie dies noch heute der Guslar in Bosnien tut. Lieder vermittelten Neuigkeiten, Gedanken – ja sie konnten in der Hand Walters von der Vogelweide sogar zur gefährlichen politischen Waffe werden. So waren die Höfe die Ergänzung des geistigen Lebens, das seinen Ausdruck in den Klöstern fand.
Das Bild wäre unvollständig, wollte man nicht noch ausdrücklich das Rittertum erwähnen, welches dem Leben des Laienstandes einen Idealismus gab, der uns noch heute mit Staunen erfüllt.
Die Führung im geistigen Leben hatte unbestritten die Kirche, oder, wenn man will, die Frömmigkeit, eine Frömmigkeit, von der wir uns heute kaum eine Vorstellung machen können, als deren sichtbaren Ausdruck wir die romanischen Dome bewundern, während unzählige andere Denkmale derselben der völligen Vernichtung anheim gefallen und uns höchstens aus schriftlichen Quellen bekannt geblieben sind.
Die Macht der von der Kirche vertretenen Gedanken können wir an der Tatsache der Kreuzzüge erkennen, von denen zwei in die Lebenszeit Ulrichs von Liechtenstein fallen. Beide haben wohl in erster Linie Interesse für romanische Völker – denn Romanen waren die meisten Teilnehmer an jenem, der zur Gründung des lateinischen Kaisertums Konstantinopel führte, sowie an dem Kreuzzuge Ludwigs des Heiligen von Frankreich. Doch sie verdienen schon deshalb Erwähnung, weil Ulrichs Frowe ihn in das heilige Land schicken will, dies der Beweis dafür ist, daß die geistige Einstellung, der sie ihren Ursprung verdankten, noch wirkte. Es ist unzweifelhaft, daß in dieser seltsam einfachen und für uns doch komplizierten Zeit nicht bloß die Frömmigkeit, sondern auch Abenteuerlust, die Aussicht auf materiellen Gewinn, die Triebkraft, die in dem Gedanken liegt, für die Befreiung der Grabstätte des Herren vom Joche der Ungläubigen zu kämpfen, einen starken Anstoß zur Teilnahme an den Kreuzzügen gaben. Man kann auch auf die germanische Wanderlust hinweisen, die noch nicht erstorben ist und auch zur ersten Entdeckung Amerikas führte, kann auf das romantische Element verweisen, das heute noch einen starken Zauber auf jugendliche Gemüter ausübt; doch langt das alles nicht hin, um die ungeheure Gewalt der Idee zu verwischen, die sich darin äußert, daß man seines Seelenheiles willen auf das Irdische verzichtete, sich, seine Angehörigen, Gott empfahl, eine gesicherte Existenz verließ, und in eine Zukunft zog, die mit größter Wahrscheinlichkeit ein Ende vom Schwerte des Feindes, durch Seuchen oder durch einen Schiffsunfall in sich trug.
So betrachtet sind die Kreuzzüge weniger ein Beweis dafür, wie sehr die Kirche, sondern wie sehr die Frömmigkeit die Gemüter beherrschte, so zwar, daß es kaum einen Unterschied zwischen Kirche und Laien gibt, die Laien vielmehr einen Bestandteil der Kirche bilden, die Kirche aber als eine Zusammenfassung der Geistigkeit der ganzen Bevölkerung erscheint.
Die Bedeutung der Kreuzzüge ist in kultureller Hinsicht ungeheuer groß. Brachten sie doch den in sich ziemlich abgeschlossenen Kreis der Kultur Zentraleuropas in weitgehendste Berührung mit den verschiedensten anderen Kulturen, mit Erscheinungen, die fremd waren. Man machte die Bekanntschaft mit dem Meere, seinen sonderbaren Erscheinungen, mit seefahrenden Völkern, allerlei Getier. Man lernte den Orient, seine Einwohner, deren Sitten und Bräuche, wenn auch auf sehr oberflächliche Art kennen. Man erfuhr von Moscheen, Karawansereien, von allerlei Künsten, Wissenschaften, Sprachen. Und jene, die zurückkamen, brachten die Kunde von all den seltsamen Dingen, zeigten die Rose von Jericho, Fläschlein mit Jordanwasser, köstliche Stoffe, erbeutete Waffen, führten Gefangene in sonderbaren Trachten mit. Dazu erzählten sie von den eigenen Abenteuern, von den Dingen, die sie gehört hatten. Vom Magnetberge, vom Vogel Rock, von unerhörten Schätzen, von Menschen, die das Auge auf der Brust trugen. So wurde der Gesichtskreis erweitert – gleichzeitig aber dem Hange nach Abenteuern, nach Phantastik, neue Nahrung zugeführt. Das Rittertum selbst entwickelte sich durch die enge Berührung der Ritter der verschiedenen Nationen und durch die Kämpfe mit den Sarazenen. Die Ritterorden entstanden, die Zuzug aus aller Herren Länder erhielten, durch die man zur genauen Kunde von den Feinden kam. So wurde zwei Jahrhunderte hindurch der Westen durch den Osten mächtig angeregt, wirkte der letztere durch tausend Kanäle auf Europa ein – führte zur Blüte des Rittertums, das seinen Inhalt durch den Kampf mit den Ungläubigen erhielt.
Neben der Kirche und den Höfen erfüllten den Geist des Ritters noch das Lehenswesen, der Gedanke der Treue gegen den Herren, der Wunsch, zu tun, was Rechtens sei. Deshalb sollte er ja die Witwen und Waisen beschirmen, für die Schwachen eintreten – was bei allem Idealismus sich natürlich auch im Gegensinne auswirken konnte.
Wir haben nun Kirche, Hof und Rittertum als Machtfaktoren der Zeit kennen gelernt – und nun kommt noch ein viertes – das nicht übersehen werden darf.
Man sagt, daß Liebe und Hunger die Welt regieren – und so dürfte es genügen, auf den Einfluß der Minne hinzuweisen. Denn sogar unsere nüchterne Zeit gibt uns täglich Gelegenheit, wenn nirgends anderes, so unter der Rubrik »Gerichtssaal« der Zeitungen uns davon zu überzeugen, daß ihre Macht ungebrochen ist, durch sie heute noch Männer zu Narren, Verbrechern, Märtyrern werden, ihr Einfluß ein so ungeheurer ist, daß sich ihm nichts entziehen kann.
Aber wenn auch dieser Hinweis genügt – so ist es doch von Interesse, nachzuforschen, welche Komponenten gewirkt haben, um den Begriff, den wir als Minne kennen, zu schaffen, dadurch das Weib in der Gestalt der »Frowe« aus seiner Hörigkeit zu lösen und auf den Thron zu setzen, die Liebe von einer fleischlichen Angelegenheit zu einer der feinsten Gefühle zu machen. Die meisten, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben, haben sehr weit ausgeholt. Sie haben den Tacitus in die Hand genommen, haben von der Wertschätzung der Frau bei den alten Germanen angefangen, haben Rechtsstellen zitiert, haben eine große, bewundernswerte Gelehrsamkeit aufgeboten, um zu zeigen, daß eine gerade Linie vom alten Germanien zum Minnedienst führt, haben meines Erachtens damit wenigstens bewiesen, daß in der germanischen Rasse die Anlage zur idealistischen Betrachtung des Verhältnisses zwischen Mann und Frau gelegen ist.
Andere wieder haben den Minnedienst mit der Verehrung Marias, der Mutter des Heilands, in Verbindung gebracht, leiten den idealistischen Einschlag der Minne auf dies als Urgrund zurück.
Ich bezweifle nicht, daß die Verfechter dieser beiden Ansichten im Rechte sind – aber doch nicht ganz. Sie haben nämlich einen Faktor übersehen, den allerdings erst wir im Verlaufe des Weltkrieges Gelegenheit hatten, kennen zu lernen. Ich meine damit die Erscheinung, daß fast jeder Mann, auch wenn er nicht in einer exponierten Stellung sich befand, sich in seinen Gedanken fast unausgesetzt mit dem Daheim, seiner Frau, seinen Kindern, seinen Eltern, seiner Braut, seiner Geliebten beschäftigte, und daß dabei ein ganz merkwürdiger Prozeß, nämlich der der Sublimierung des weiblichen Teiles der Nahestehenden vor sich ging.
Es ist dies merkwürdig – und wenn man darüber zu denken beginnt, doch nicht besonders verwunderlich. Es ist das eine Reaktion auf das Entbehren des gewohnten Umganges – eine Vorsichtsmaßregel der Natur, um das Verkümmern jener Eigenschaften, die im geselligen Leben notwendig sind, zu verhindern, eine intellektuelle Ableitung der Erotik – es erinnert an den Jäger in prähistorischer Zeit, der sich auf seinen langen einsamen Jagdzügen so intensiv mit seinem weiblichen Ideale beschäftigte, daß er daran zum Künstler wurde, uns die ersten Bildwerke (Venus von Willersdorf) hinterlassen hat.
Ich glaube, man kann die Beobachtung, die man während des Krieges machte, ohne weiteres auf die Vergangenheit übertragen.
Und nun denke man an die kühnen Fahrten der Normannen, der Wikinger, der Isländer, die Grönland besiedelten – an die Besatzungen einsamer Festungen, an die Kreuzzüge, an denen die Blüte Europas teilnahm, an die vielen kleineren Kriegszüge, die aber auch leicht Monate, ja sogar Jahre dauerten, während welcher man ein Lagerleben führte, oft lange Spannen Zeit eine Frau nicht einmal sah. Man war in ständiger Gefahr, wußte nicht, ob man heimkehren würde. Da hatte man Zeit und Ursache, sich, ebenso wie der Soldat es vor etlichen Jahren tat, mit denen, die man liebte, im Geiste zu beschäftigen, die schlechten Seiten zu vergessen, nur mehr die guten zu sehen, sie zu höheren Wesen emporzuloben. Und wenn man dazu den Einfluß der Lieder rechnet, in denen von Treue und Liebe gesungen ward, so versteht man, daß jene der Gesellen, die kein weibliches Wesen zu Hause gelassen, sich Mariam, der gütigen Himmelskönigin zuwendeten, so daß aus dem idealistischen Urgrunde, der Marienverehrung, und der Sublimierung durch die junge Kraft ein Etwas entstand, vor dem wir heute manchmal gerührt, manchmal kopfschüttelnd stehen, mit dem wir bisweilen nichts Rechtes anzufangen wissen. Denn es ist fast selbstverständlich, daß eine junge Zeit, ein junges Volk so sind, wie die Jugend selbst. Das heißt, es sind für jenen, der ein geistiges Ding für sich betrachtet, es aus seinem Zusammenhange löst, als ob es ein anatomisches Präparat wäre, es nicht bedenkt, daß das Leben ein Fließendes ist, in dem die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sich berühren, Widersprüche da, die denen keine Widersprüche sind, die sich erinnern, wie absurd sich bisweilen der Most gebärdet, ehe er ein guter Wein wird. Vor allem muß man bedenken, daß auch der idealst veranlagte Mensch sich dem Einflusse der Körperlichkeit nicht entziehen kann, er von Wolkenkuckucksheim herabsteigen, essen, trinken, schlafen muß. Auch der Asket, der seinem sündhaften Leibe flucht und ihn kasteit, kann von ihm nicht los, muß mit seiner Existenz, wenn auch rechtend, rechnen; denn sonst wäre er nicht.
Die Minne macht keine Ausnahme. Denn der Minnende schmachtet seine Dame nicht bloß an – er begehrt sie auch. Sie ist ihm Göttin – aber auch Weib! Man darf nicht sagen: göttliches Weib, denn diese Redewendung hat einen üblen Beigeschmack erhalten. Wohl aber darf man sagen, daß die Frau zur Göttin wurde – um wieder Weib zu werden. Darin spiegelt sich die innere Entwicklung fast eines jeden jungen Mannes, der nicht bloß vegetativ dahindämmert. Fast bei jedem Jungen kann man eine Zeit beobachten, in der er die Mädchen in die Rubrik »Gänse« einreiht. Dann verliebt er sich – und die Mitzi, Fritzi, Mia oder wie sie heißen mag, ist ein höheres Wesen, dessen Besitz ihn selig machen würde. Und so heiratet er sie schließlich.
Das Sonderbare bei der Minne ist der Umstand, daß sie oft auf eine Verherrlichung des Ehebruches hinausläuft, der bei den Germanen strenge verpönt war, es auch blieb, und daß sich bei einer weitgehenden Betonung der Treue eine Art Verpflichtung zur Hingabe herauskristallisierte. Am weitesten entwickelte sich der Minnedienst im Süden Frankreichs, in der Provence, in der es angebliche Gerichtshöfe der Liebe, Cours d'amour, gegeben haben soll. Es besteht darüber ein französisches Buch, das mir leider unerreichbar blieb, nach welchem sich auch Ehemänner dem Spruche dieses Gerichtes unterworfen haben sollen, selbst, wenn er zu ihren Ungunsten ausfiel.
Man wird sich daher nicht wundern, wenn man im Minnesange manchmal sehr urwüchsige Töne findet, und auch Ulrich von Liechtenstein macht kein Hehl daraus, daß es sein Wunsch sei, das Lager seiner Frowe zu teilen. Stark geistig eingestellte Kreise, dann jene, in welchen das Gegenteil der Fall ist, werden es vielleicht merkwürdig finden, daß die Liebe eine so große Rolle im Leben der Zeit spielen konnte. Ich finde es nicht nur aus den oben erwähnten Gründen für selbstverständlich. Denn die Sänger, deren Lieder die damalige Gesellschaft entzückten, waren, wie die Zuhörer selbst, zumeist junge, gesunde und starke Menschen, die, von keinen großen Sorgen beschwert, im Sinne der Zeit in Wohlstand lebten, noch nicht so weit verkünstelt waren, wie wir, und deren Interessen an Tiefe ersetzen mußten, was ihnen, am Heute gemessen, an Breite abging.
Über den Umfang dieser Interessen klärt uns Ulrich von Liechtenstein auf. Er nennt zuerst »die reinen, süßen Weib«, dann Speise und Trank, gute Pferde und schöne Kleidung, sowie schönen Helmschmuck, die Gnade Gottes, Ehre, Bequemlichkeit und Vermögen. Und wenn man sich dann an die Gegenwart erinnert, analysiert, was heute Gesprächstoff ist, die Männer beherrscht – so kommt man zu dem Ergebnisse, daß wir eigentlich nicht viel weiter gekommen sind; ja sogar eher einen Rückschritt zu verzeichnen haben. Denn statt »der reinen süßen Weib« müßte stehen die Kokotte, statt der Pferde das Auto, statt des Helmschmuckes das Kartenspiel. Um Gott und Ehre kümmern sich die wenigsten, höchstens, wenn es einmal eine Sensation gibt.
Wohl aber werden Bequemlichkeit und Vermögen betont. Und man kann sagen, daß bei einer modernen Wertung nicht das Weib, sondern das Geld an die erste Stelle kommen würde. Denn mit dem kann man sich auch ein Weib verschaffen, um das man seiner Zeit kämpfen mußte, dem man sich durch die dabei gezeigte Tüchtigkeit zu empfehlen hatte.
Man kann daher im Minnedienst auch eine Art Zuchtwahl erblicken – und ich muß gestehen – ich wünsche dem deutschen Volke eine Jugend, die zu einer ähnlichen Anschauungsweise gelangte, Idealismus und Realismus in jeder Art vereint, wie wir sie im Rittertume finden.
Das sind die allgemeinen Züge der Zeit – und nun müssen wir daran erinnern, daß die Babenberger oberhalb Wiens, am Leopoldsberg, eine Burg besaßen, eine zweite an der Stadt erbauten, daß sie zu den mächtigsten deutschen Fürsten gehörten, glänzenden Hof hielten, Beschützer der Dichtkunst waren. Schon hatte der Kürnberger, hatte Dietmar von Aist gesungen – gab es Klöster wie Zwettl, Heiligenkreuz, Ossiach.
Längs der Donau waren die Scharen der Kreuzfahrer gezogen, kam der östliche Einfluß, der im Eiapopeia wiederklingt. Die Landwirtschaft erlebte eine Blüte, die den Bauern zum reichen Manne machte, daß er – wie die Lieder des von Reuental es beweisen – es versuchen durfte, es den Rittern gleich zu tun.
Das ganze Gebiet der Ostmark ist von Leben, drängenden, gärenden Kräften erfüllt.
So beschaffen ist der Hintergrund, vor dem sich das Leben Ulrichs von Liechtenstein abspielte.