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Dezember

 

I

Am 19. November 1825 starb Alexander I. in Taganrog.

Der Leibmedikus Tarassow öffnete die Leiche, weidete sie aus, füllte sie mit balsamischen Kräutern und aromatischem Spiritus, tat in den Bleisarg besondere, mit Eis gefüllte Kissen, zog der Leiche die Paradeuniform an und streifte ihr weiße Handschuhe über die Hände. So konnte der Kaiser noch zwei bis vier Wochen auf seine Beerdigung warten.

Seit einigen Wochen schon rasten aus Taganrog die Kuriere Dibitschs und des Fürsten Wolkonski nach Warschau und Petersburg. In Warschau saß Konstantin, in Petersburg die alte Kaiserin und Nikolaus.

Seit neun Jahren schon wohnte Konstantin dauernd in Warschau. Er war Statthalter des Königreichs Polen. Man hatte ihn nicht ohne Grund nach Warschau gesteckt. Er war das Entsetzen und die Schmach der ganzen Familie. Bereits vor zehn Jahren hatte Alexander mit Schrecken daran gedacht, daß Konstantin einmal den Thron besteigen werde. In aller Öffentlichkeit war damals die schöne Französin ermordet worden. Eine Kutsche kam angerast. Ein Mann stieg hastig aus und teilte ihr mit, ihre Freundin läge im Sterben. Die Französin stieg in die Kutsche, und man raste mit ihr nach dem Marmorpalais, dem Schlosse Konstantins. Dort schleppte man sie die Treppen hinauf. Gardesoldaten bewachten die Eingänge. Nach drei Stunden brachte dieselbe geschlossene Kutsche sie nach Hause zurück. Zwei Diener trugen sie. Ihr Mann kam ihr entgegengelaufen. Die Kutsche raste davon, und die Französin sagte zu ihrem Mann: »Ich bin entehrt. Ich sterbe.« Sie blutete und starb auf der Straße. Es gab einen Volksauflauf. Am nächsten Tage besuchte der französische Konsul den Minister des Äußeren. Konstantins Adjutant, ein zweifellos völlig unschuldiger Mann, wurde verhaftet. Alexander raufte sich die Haare. Dieser Konstantin mit seinen linkischen Manieren, mit seiner schlechten Körperhaltung, mit dem breiten, rosigen Gesicht und der vom Vater geerbten, aufgeworfenen Nase, dieser Zarensohn und Anwärter auf den Thron war ein öffentlich bekannter, gemeiner Mörder.

Eines Tages fand man vor den Fenstern des Palais der Kaiserin Elisabeth einen jungen Gardeoberst mit durchschnittener Kehle; ein dumpfes Gerücht ging um, wonach der Oberst Elisabeths Liebhaber gewesen und von Konstantin ermordet worden sei. Alle sagten sich von ihm los. Alexander wurde von Abscheu und Angst geschüttelt, wenn er mit seinem Bruder sprechen mußte. Auf all diese Dinge hin wurde Konstantin nach Warschau geschickt. In ihren Briefen nannte seine Mutter ihn: »Werter Konstantin Pawlowitsch«. Er wollte sich scheiden lassen, ein Skandal, wie er im Kaiserhause noch nie vorgekommen war. Die Mutter widersetzte sich lange. Endlich gab sie ihre Einwilligung unter der Bedingung, daß der »werte Konstantin Pawlowitsch« eine der deutschen Prinzessinnen heirate. Konstantin saß in Warschau, pfiff lustig vor sich hin und machte ein unanständiges Lied, in dem er seine Ehe mit einer deutschen Prinzessin mit einem Brand und einer Überschwemmung verglich. Offen machte er sich über die Familie lustig, zu der er gehörte. Der furchtbare Mensch hatte Humor. Endlich setzte er seine Scheidung durch und heiratete sofort Jeannette Grudsinska, eine Polin. Er bestieg mit ihr ein offenes Kabriolett, nahm selber die Zügel in die Hand und fuhr zuerst in die orthodoxe, dann in die katholische Kirche. Das gab wieder einen öffentlichen Skandal.

Jahre vergingen. Er wurde etwas ruhiger. Sein Blick wurde leer und unsicher, seine Haltung noch schlechter. Aus seinem Leben in Warschau wurde allmählich die grollende Einsamkeit eines verlorenen Sohnes. Bestuschew und Rylejew gaben ihm den Namen »Wundermann«. Maria Fjodorowna und Alexander freuten sich über seine Ehe. Es war ein guter Vorwand, den Mörder, der allen Angst einflößte, von der Thronfolge auszuschließen. Konstantin war mit dem Verzicht einverstanden. Allzu gut erinnerte er sich noch an den Tod seines Vaters Paul I., erdrosselt von Verschworenen seines Hofes (1801). Anm. d. Übers.. Wenn er davon sprach, pflegte er zu sagen: »Eine tolle Sache war das!« Doch sein Verzicht und Alexanders Verfügung über die Thronfolge wurden nicht veröffentlicht. Das Original der Urkunde übergab der Zar dem Metropoliten Filaret, der es in einem Heiligenschränkchen der Uspenski-Kathedrale verwahrte. Drei ziemlich nachlässige Kopien waren beim Staatsrat, beim Senat und bei der Synode deponiert. Wenn man Alexander wegen des Thronfolgers befragte, machte er eine hilflose Bewegung mit der Hand und hob die Augen zum Himmel. Das Manifest veröffentlichte er nicht. Die Urkunde mit Konstantins Verzicht war zugleich das Vermächtnis des Zaren. Er vermachte Rußland seinem jüngeren Bruder Nikolaus, genau wie jeder Gutsbesitzer sein Gut nach Willkür einem jüngeren Bruder unter Umgehung des älteren vermacht hätte. Warum zögerte er mit der Veröffentlichung? Das wußte niemand. Vielleicht, weil Nikolaus noch weniger beliebt war als Konstantin.

Zwei Jahre war Nikolaus auf Feldzügen im Ausland. Im dritten Jahre durchraste er ganz Europa und Rußland, und nach der Rückkehr übernahm er das Kommando des Ismajlow-Regiments. Er war verschlossen, kalt und streng. Er hatte ein weißes, leidenschaftslos strenges Gesicht. Als Kind war er ein wenig feige und hatte Angst vor Schüssen. Wenn der Instruktor ihm das Schießen beizubringen suchte, versteckte er sich in einer Gartenlaube. Stets suchte er die anderen zu übertrumpfen, der erste zu sein bei militärischen Übungen, beim Billardspiel, bei lustigen Streichen, beim Witzemachen. Alexander, der aller Welt gegenüber behauptete, der Thron sei eine Last für ihn, fürchtete Rivalen. Er zwang Nikolaus, die klägliche und bedeutungslose Rolle eines Brigade- und Divisionskommandeurs zu spielen. Doch Nikolaus spielte sie mit ungewöhnlichem Eifer. Das Militärleben war für ihn die einzig angenehme Lebensform. Als ganz junger Mensch bekam er einmal das Aufsatzthema: »Es soll bewiesen werden, daß der Militärdienst nicht der einzige ist, der für einen Edelmann in Frage kommt, daß es vielmehr noch andere Beschäftigungen für ihn gibt, die ehrenvoll und nützlich sind«. Nikolaus gab an den Instruktor ein leeres Blatt ab. Militärische Revuen und Paraden waren seine einzige Erholung. »Hier herrscht Ordnung, Strenge, unbedingte Disziplin. Keine Allwisserei, kein Widerspruch,« sagte er. Sein ganzes Leben lang konnte er nicht vergessen, daß er einmal einen Offizier getroffen hatte, der unter dem Militärmantel Zivilkleider trug. Das war für ihn etwas Unerhörtes, etwas ganz Unglaubliches. Alles, was zivil war, schien ihm verdächtig. Manchmal, im Felde, nahm er das Gewehr und machte alle Griffe mit solchem Geschick, daß kein Unteroffizier es mit ihm aufnehmen konnte. Er zeigte den Trommlern, wie man die Trommel schlagen mußte. Trotzdem beneidete er im geheimen seinen Bruder Michail und meinte, im Vergleich zu ihm könne er selber gar nichts. »Wie muß der erst sein?!« fragten sich die erstaunten Offiziere.

Michail, der Jüngste, stand ganz anders zum Militärdienst und zu Witzen. Er spielte mit Worten sowohl wie mit Soldaten. Seine Wortspiele machten die Runde am ganzen Hof. Im Gegensatz zu Nikolaus strebte er nie danach, der erste zu sein. Er hatte einfach Spaß an Witzeleien aller Art und am militärischen Drill. Eine schnurgerade Reihe marschierender Soldaten machte ihm rasendes, tierisches Vergnügen. Hoher militärischer Rang war das Imponierendste, was es für ihn gab. Seine Würde als Regiments-, Brigade- oder gar Divisionskommandeur schmeichelte ihm mehr als seine Großfürstenwürde. Er konnte es nicht verstehen, warum nicht alle Menschen in Rußland zum Militär gingen. Im Dienst war er erbarmungslos und verbreitete allein schon durch sein Äußeres Schrecken. Außerhalb des Dienstes spielte er gern den gemütlichen Kriegsmann. Er gab Wortwitze zum besten und machte den Damen den Hof. Nikolaus, den Michails Witz und gründliche Kenntnis der Militärartikel nicht schlafen ließen, zog sich allmählich von ihm zurück. Michail hielt sich an Konstantin, der kein Hehl machte aus seinem Haß gegen Nikolaus und ihn auf jede Weise verhöhnte. Kam Nikolaus durch Warschau, erwies er ihm kaiserliche Ehren. Wenn Nikolaus dann, ganz außer sich, ihn auf die Unziemlichkeit eines derartigen Empfangs hinwies, lachte Konstantin bloß und erwiderte:

»Das gehört sich so. Du bist ja ein großer Held!« Witzeleien, Wortspiele und Farcen waren beliebt bei allen drei Brüdern.

Von Konstantins Verzicht und davon, daß Alexander ihn zum Thronerben bestimmt hatte, wußte Nikolaus seit 1819. Michail erfuhr es erst 1821.

Augenblicklich wohnte Michail in Warschau bei Konstantin im Belvedere. Seine Gemächer waren bloß durch einen kleinen Raum von denen des Bruders getrennt. Seit einigen Wochen schien mit Konstantin etwas nicht zu stimmen. Immer wieder verfiel er in Nachdenken, und dann röteten sich seine grauen Wangen plötzlich. Ruhelos wanderte er stundenlang mit hochgezogenen Schultern durch die Zimmer; dann plötzlich machte er eine Bewegung, als hätte er eine lästige Mücke verscheucht, und entfernte sich rasch. Oft fehlte er sogar bei den Mahlzeiten.

Michail fragte ihn öfters:

»Was hast du?«

Konstantin antwortete widerwillig, abgerissen:

»Mir ist nicht ganz wohl.«

Allmählich fiel es Michail auf, daß bei seinem Bruder andauernd Kuriere aus Taganrog eintrafen.

»Was bedeutet das?« fragte er erstaunt.

»Nichts von Belang,« meinte Konstantin gleichgültig. »Der Zar bestätigt die Belohnungen, die ich für verschiedene Palastbeamte vorgeschlagen habe.«

Wenn Konstantin von Alexander sprach, sagte er stets »der Zar«.

Am 25. November 1825 gegen Abend sperrte sich Konstantin mit einem eben eingetroffenen Kurier in sein Zimmer ein. Kurz darauf wurde die Tür geräuschvoll und hastig aufgerissen, und Konstantin rief heiser:

»Michail!«

Michail warf eilig den Rock über und lief hin. Sein Bruder stand mitten im Zimmer, die Schultern hochgezogen, die Augen trüb, das Gesicht leicht gerötet.

»Maman?« fragte Michail. Er glaubte, die Mutter wäre gestorben.

»Nein, Gottseidank,« sagte Konstantin, der allmählich die Fassung wiedergewann. »Der Zar ist tot.«

Die Brüder schlossen sich ein.

Ratlos mit großen, eckigen Schritten durch das Zimmer wandernd, warf Konstantin seine abgehackten Worte hin und schaute streng den Bruder an.

Er hatte sich schon an den Gedanken gewöhnt, daß er nie den Thron besteigen werde. Jetzt aber, im entscheidenden Augenblick tat ihm der Verzicht leid. Die Macht schreckte und lockte ihn zugleich.

Mit seinen trüben Augen betrachtete er Michail aufmerksam und tastend und sagte leise:

»Und doch muß ich verzichten. Man hat mich nicht gern. In der Garde gärt es. Ich habe Berichte. Es wird mir gehn wie dem Vater. Es ist besser, ich bleibe in Warschau. Da hat man wenigstens seine Ruhe. Außerdem, unsere Mutter war stets gegen mich.«

Michail fragte vorsichtig, mit zusammengekniffenen Augen:

»Und dein früherer Verzicht?«

Mit scharfem Ruck machte Konstantin vor ihm halt:

»Das ist nichts Offizielles,« warf er schnell und grob hin. »Das Manifest ist nie veröffentlicht worden.«

Michail dachte nach.

»Warum glaubst du eigentlich, daß man dich nicht gern hat?« fragte er. »Man denkt einfach nicht mehr an dich in Petersburg.«

Konstantin nahm wieder seine Wanderung auf. Dann schien er plötzlich zu erwachen und sagte seufzend, ohne dabei Michail anzusehn, die einstudierten Worte:

»Nein, nein, ich habe verzichtet. Es bleibt dabei. Es ist mein Wille, auf den Thron zu verzichten.«

Mechanisch brummte er:

»Mein Wille ist unerschütterlich.«

Michail überlegte, dachte nach, kombinierte. So verging die Nacht. Es war fünf Uhr morgens. Konstantin setzte sich hin, um an die Mutter und an Nikolaus zu schreiben. Er schrieb zwei offizielle und zwei einfache, private Briefe: einen langen an die Mutter, einen kurzen Zettel an Nikolaus. Er schrieb, strich wieder aus, suchte nach möglichst vorsichtigen Worten und Wendungen. Der offizielle Brief an Nikolaus begann mit der Anrede: »An Seine Kaiserliche Majestät«. Es war ein ausweichender Brief. Konstantin bat seinen Bruder, ihm seinen bisherigen Rang und Titel zu belassen. Den Rang eines Generalinspekteurs der gesamten Kavallerie (das war Konstantins merkwürdiger Rang) konnte man nämlich behalten, auch wenn man Zar war. Konstantin betrachtete Michail eine Zeitlang und sagte dann:

»Bring auf jeden Fall die Briefe persönlich hin. Mach dich heute noch reisefertig.«

Er sah zum Bruder hinauf:

»Du wirst ja dort sehen,« meinte er unbestimmt. »Gib die Briefe ab,« verbesserte er sich.

Es war schon hell. Am Morgen mußte der Tod des Zaren bekanntgegeben werden. Unentschlossen sagte er zu Michail:

»Das Volk braucht von der Sache noch nichts zu wissen. Der Suite müssen wir's sagen.«

Er ließ die allernächsten Untergebenen zusammenrufen. Sie wußten alle schon längst, was los war. Der schlaue Nowossilzew sagte sachlich, als ob die Worte ihm bloß entschlüpften:

»Majestät, wir sind da.«

Konstantin tat so, als hätte er nichts gehört. Ohne die Herren anzusehn, gebeugt, mit gerötetem Gesicht infolge der schlaflosen Nacht begann er stockend:

»Der Zar ist heimgegangen. Ich verliere in ihm einen Freund und Wohltäter, Rußland einen Vater.«

Konstantin vermied stets das Wort »Bruder«, wenn er von Alexander sprach.

Bald kam er in Schwung. Eine Phrase nach der anderen schrie er hinaus; es schien, als verstehe er den Sinn seiner Worte selber nicht.

»Wer führt uns zu neuen Siegen? Niemand! Rußland ist verloren!« Den letzten Satz leierte er automatisch mehrere Male.

Ein General der Suite beschloß, sich besonders hervorzutun:

»Eure Kaiserliche Majestät, Rußland ist nicht verloren. Im Gegenteil: Es begrüßt …«

Konstantin begann in maßloser Angst zu zittern und wurde flammend rot. Er fiel über den zu Stein erstarrten General her, packte ihn an der Brust und brüllte wie ein Rasender:

»Schweigen Sie! Wie können Sie es wagen, derartige Worte in den Mund zu nehmen?! Wer gibt Ihnen das Recht, Entscheidungen vorwegzunehmen, die Sie nichts angehn?!«

Er machte einen Schritt zurück, faßte sich am Kopf und brummte dann:

»Wissen Sie auch, was Sie riskieren? Wissen Sie auch, daß man wegen derartiger Dinge nach Sibirien verbannt und in Ketten gelegt wird?!« – Dann, als er wieder Atem holen konnte: »Sie gehen sofort in Arrest! Geben Sie Ihren Säbel her!«

Michail warf dem Bruder einen vielsagenden Blick zu, worauf sich dieser aufmerksam im Kreise umsah, den Kopf einzog, kehrtmachte und in sein Arbeitszimmer ging.

Graf Kuruta, ein schlauer Grieche, der von allen Herren der Suite Konstantin am nächsten stand, wandte sich dem fassungslosen General zu: »Mon cher, was geht Sie die ganze Sache an? Rußland ist verloren? Na schön! In Gottesnamen! Lassen Sie Rußland doch verloren sein! Das sind doch alles bloß Worte. Wozu hatten Sie's nötig, ihm zu widersprechen?«

Alle lachten.

Noch am selben Tage reiste Michail nach Petersburg ab.

 

II

Blaß und finster, mit einer Kompresse um den Hals lag Rylejew im Bett. Er war eben erst erwacht. Jakubowitsch stürmte zu ihm herein. Er war kaum wiederzuerkennen. Die Augenbrauen waren zusammengezogen. Die Augen irrten wild:

»Hah,« rief er, »du schläfst noch? Ich hab eine Freude für dich! Der Zar ist tot! Ihr habt ihn mir entrissen! Ihr!«

Rylejew sprang vom Bett auf und fragte leise:

»Woher weißt du das?«

»Von Bestuschew. Er weiß es vom Prinzen.«

Er holte aus der Seitentasche den zerfetzten Parolebefehl an die Garde.

»Acht Jahre lang hab ich das an meiner Brust getragen. Acht Jahre lang hab ich nach Rache gelechzt. Alles umsonst. Er ist tot!«

Er zerriß das Papier und lief weg.

Rylejew ging im Zimmer auf und ab.

Alle Pläne schienen zu scheitern.

Am 12. März 1826 wäre Alexanders fünfundzwanzigjähriges Regierungsjubiläum gewesen. Die Vorbereitungen für diesen Tag hatten bereits begonnen. Der Zar sollte die Parade abnehmen über das dritte Korps. In dieses Korps hatte er 1820 die meuternden Semjonower gesteckt. Pestel hatte das gesamte Korps in der Hand. Am Tage der Parade sollte Alexander getötet werden. Zwei Aufrufe lagen fertig vor: der eine an das Heer, der andere an das Volk. Ein Teil des dritten Korps sollte gegen Moskau marschieren. Unterwegs sollten sich ihm die übrigen Truppen anschließen, deren Erregung den Siedepunkt erreicht hatte. In Moskau sollten die aufständischen Truppen vom Senat die Umgestaltung des Staates fordern. Der Rest des dritten Korps sollte Kiew besetzen und sich dort halten. Gleichzeitig sollten Rylejew und Trubezkoj die Garde und die Flotte zum Aufstand bewegen, die Zarenfamilie erledigen und die gleiche Forderung an den Senat stellen wie das dritte Korps. Jetzt hatte Alexanders Tod alles auf den Kopf gestellt.

Vorsichtig klopfte es an der Tür.

Trubezkoj trat ein, schleichend, langsam.

Er war sehr leise, sehr behutsam, weshalb Rylejew, dem diese Eigenschaften fehlten, ihn für stark hielt.

»Also Schluß! Der Zar existiert nicht mehr. Als die Messe zu Ende war, trat der Stabschef der Garde an Nikolaus heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Nikolaus ging leise hinaus, und alle folgten ihm in den Palast. Jetzt wird der Eid geleistet für Konstantin. Vorläufig geht die Sache glatt.«

Rylejew ging noch immer durchs Zimmer, die Hand an die Stirn gepreßt. Er sagte nichts.

»Im übrigen ist das alles nicht so schlimm,« fuhr Trubezkoj langsam fort. »Die ganze Kraft liegt bei den Mitgliedern des Südbundes. Sie werden losschlagen. Es ist täglich zu erwarten. Aus allem geht hervor, daß die Lage außerordentlich ist und entscheidend für unsere Absichten. Wir müssen bereit sein.«

Er verabschiedete sich hastig.

Rylejew saß auf dem Bett, die Ellbogen auf die Knie gestützt, den Kopf zwischen den Händen.

Wieder klopfte es an der Tür. Nikolaj Bestuschew trat ein.

Aufgeregt, sich überhastend, sagte er zu Rylejew:

»Also, der Zar ist tot, und du weißt von nichts!«

»Ich weiß.« Rylejew konnte nur mit Anstrengung sprechen. »Eben waren Jakubowitsch und Trubezkoj da.«

Bestuschew ging auf und ab und rang die Hände.

»Du bist gut! Im übrigen sind wir alle einander wert. Der Zar ist tot, und wir erfahren es sozusagen erst aus dem offiziellen Manifest.« Er faßte sich am Kopf. »Vollständige Passivität! Keiner weiß von was! Keiner kümmert sich um was!«

Rylejew schwieg noch immer. Dann sagte er langsam und wiegte sich hin und her, wie vor körperlichem Schmerz:

»Ja, danach können wir uns einen Begriff machen von unserer Ohnmacht. Ich selber habe mich getäuscht. Es besteht kein fester Plan. Keinerlei Maßnahmen sind getroffen. Die Zahl der Mitglieder in Petersburg ist gering.«

Er biß sich auf die Unterlippe, zog die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach.

Endlich erhob er sich und richtete sich gerade auf.

»Wir müssen handeln. Eine solche Gelegenheit darf nicht verpaßt werden. Ich fahre los. Das Terrain sondieren.«

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und sah Bestuschew aufmerksam, fast ruhig an:

»Geht sofort zu euren Truppenteilen. Stellt die Stimmung fest bei den Truppen und im Volke.«

Es klopfte wieder. Alexander Bestuschew trat herein.

»Aufrufe! Aufrufe schreiben an die Soldaten!« rief er außer Atem und grüßte die Anwesenden mit leichtem Kopfnicken, ohne jemandem die Hand zu reichen.

Alle machten sich daran, die Aufrufe zu schreiben.

Am gleichen Tage wurde Trubezkoj zum Diktator gewählt.

Von diesem Morgen an schloß sich Rylejews Tür nicht mehr. Die Aufstandsleitung hatte bei ihm ihr Quartier aufgeschlagen.

 

III

Miloradowitsch, der Militärgeneralgouverneur von Petersburg, war ein Serbe, ein untersetzter Mann mit ergrauendem Haar, beweglichen, schwarzen Äuglein und der heiser resoluten Sprechweise eines eingefleischten Militärs. In diesen Tagen verfügten über den Zarenthron zwei Personen: Maria Fjodorowna und er. Seit der Ermordung Pauls fühlte Maria Fjodorowna sich dazu berufen, das Schicksal des Zarenthrons zu lenken. Sie lehnte Konstantin ab und war der Ansicht, daß von Rechts wegen nur ihr zweiter Sohn Nikolaus Anspruch auf das große Familiengut Rußland erheben könne. Das war eine rein häusliche Angelegenheit. Testamentarisch fiel Rußland demjenigen zu, den die Familie für geeignet hielt. Miloradowitsch dachte darüber anders. Er erschien bei Nikolaus und erklärte ihm in aller Ruhe:

»Hoheit, die Garde hat nichts für Sie übrig. Wenn Sie Kaiser werden, stehe ich für nichts ein.«

Nikolaus erblaßte:

»Kennen Sie die Verfügung des verstorbenen Zaren?«

Miloradowitsch antwortete ruhig:

»Diese Verfügung ist Privatsache. Rußland kann man nicht testamentarisch vermachen. Die Garde hat bereits den Befehl bekommen, dem gesetzlichen Thronfolger den Treueid zu leisten.« –

Am 27. November um zwei Uhr mittags fand eine außerordentliche Sitzung des Staatsrats statt. Fürst Golizyn trat mit großer Energie für das Testament Alexanders ein. Er wußte: Wenn Alexanders Testament nicht befolgt wurde, dann mußten sich alle, die dem verstorbenen Kaiser nahegestanden hatten, auf ein höchst unsicheres Schicksal gefaßt machen. Er setzte den Anwesenden auseinander, daß die Nichtbeachtung des Zarenwillens ein Staatsverbrechen darstelle. Fürst Lobanow-Rostowski antwortete hochmütig von oben herab:

»Les morts n'ont point de volonté.«

Admiral Schischkow besah sich die Versammlung mit seinen entzündeten Augen und wackelte vor Altersschwäche mit dem riesigen, von grauen Haaren wie von einem Zelt überdeckten Kopf. Zahnlos lallte er:

»Sofort den Eid abnehmen! Das Reich darf keinen Augenblick ohne Herrscher bleiben.«

Da stand Miloradowitsch auf und rief heiser:

»Nikolaj Pawlowitsch hat feierlich dem Recht entsagt, das ihm auf Grund des Testamentes zusteht. Ein russischer Herrscher kann das Thronerbe nicht auf Grund eines Testamentes antreten.«

Alle verstummten. Es war nicht gut, einem Mann, hinter dem sechzigtausend Bajonette standen, zu widersprechen.

Nikolaus leistete den Treueid. Die Regierung auch. Von diesem Tage an wich Miloradowitsch nicht von Nikolais Seite. Auf Schritt und Tritt folgte er ihm. Nikolaus haßte ihn, aber Miloradowitsch blieb stets der gleiche: Er machte seine Witze, lachte heiser – und wich nicht für eine Minute aus der Nähe Seiner Hoheit. Tagelang ging er nicht mehr zu seiner Geliebten, der Tänzerin, und war ungemein zerstreut. Er verließ sich zu sehr auf seine sechzigtausend Bajonette. Vielleicht standen sie auch gar nicht hinter ihm! Die Geheimpolizei arbeitete. Ihre verschwiegensten Geheimnisse verwaltete ein sehr tüchtiger Mann, Fjodor Glinka. Ganze Tage saß er gebeugt über geheimen Verordnungen, und Abend für Abend suchte er jene Wohnung auf im Hause der Russisch-Amerikanischen Handelskompagnie, an der Blauen Brücke …

 

IV

Michail fuhr in wahnsinnigem Tempo. Ohne haltzumachen, raste er über Kowno und Schaulen. Bis Mitau wußte niemand etwas von Alexanders Tod. Als in Olaa die Pferde gewechselt wurden, sagte der Adjutant zu ihm:

»Hoheit, ein Reisender aus Petersburg hat hier erzählt, daß Seine Hoheit Nikolaus Pawlowitsch, sämtliche Truppen, die Regierung und die Stadt Konstantin den Treueid geleistet haben.«

Michail riß den Mund auf. Unwillkürlich klammerte sich seine Hand fester um die Mappe mit Konstantins Briefen.

Was nun, wenn der Treueid einem ganz anderen Herrscher geleistet werden soll?

In vier Tagen legte er den ganzen Weg zurück.

Am 1. Dezember um 6 Uhr morgens war er bereits im Palast. Er eilte zu seiner Mutter. Nikolaus wußte bereits von seiner Ankunft und lief ihm entgegen, aber die Tür zu den Gemächern der Mutter wurde ihm vor der Nase zugeschlagen. Er biß die Zähne zusammen, setzte sich im Vorzimmer hin und wartete:

»Na schön! Mon cher frère!«

Als Michail endlich wieder herauskam, sah er besorgt aus. Die Brüder umarmten sich flüchtig, und Nikolaus führte ihn in sein Arbeitszimmer. Der unvermeidliche Miloradowitsch kam mit.

Das Spalier der Hofleute verbeugte sich vor ihnen. Alles warf gespannte, durchdringende Blicke auf Michail und suchte aus seinem Gesichtsausdruck die Neuigkeiten zu erraten, die er mitgebracht hatte. Michail machte ein steinernes Gesicht.

»Wie geht es Seiner Majestät dem Zaren?« fragte schmeichlerisch Baron Albedil.

»Gut,« erwiderte Michail hastig.

»Darf man Seine Majestät bald hier erwarten?« erkundigte sich Graf Benkendorff und suchte, ihm ins Gesicht zu schauen.

»Mir ist nichts von einer Reise bekannt,« entgegnete Michail, ohne ihn anzusehn.

»Wo befinden sich Seine Majestät jetzt?« fragte Bludow, liebenswürdig lispelnd.

»Ich habe meinen Bruder in Warschau verlassen,« gab Michail trocken zur Antwort.

Jetzt waren die Brüder bei Nikolaus im Zimmer. Miloradowitsch war zusammen mit ihnen eingetreten. Er klirrte laut mit den Sporen und ließ sich in einen Sessel nieder.

Auch Michail setzte sich. Er zuckte die Schultern und machte ein finsteres Gesicht:

»In welche Lage hast du mich gebracht? Alle sprechen von Konstantin als dem Zaren. Was nun? Ich versteh das nicht.«

Er sah Miloradowitsch drohend an, holte düster Konstantins Brief aus der Mappe und reichte ihn Nikolaus.

Als dieser die Adresse: »An Seine Kaiserliche Majestät« las, erblaßte er und ging wortlos im Zimmer hin und her. Dann blieb er vor Michail stehen und fragte ihn mit gemachter Gleichgültigkeit:

»Wie geht es Konstantin?«

Michail schielte zu Miloradowitsch hinüber.

»Er ist schlechter Stimmung, aber unerschütterlich,« sagte er und betonte das letzte Wort.

»Unerschütterlich? Inwiefern?« fragte Miloradowitsch und warf den Kopf zurück.

»Unerschütterlich in seinem Willen,« antwortete Michail ausweichend.

In diesem Augenblick öffnete Miloradowitschs Adjutant vorsichtig die Tür und schaute hinein.

»Exzellenz!« rief er. »Im Newski-Kloster ist ein großer Brand ausgebrochen. Das Feuer droht, um sich zu greifen.«

Miloradowitsch ächzte ärgerlich, schlug sporenklirrend die Hacken zusammen und ging hinaus.

Michail sah Nikolaus an:

»Ich versteh dich nicht! Existieren eigentlich Dokumente oder nicht?«

»Natürlich existieren Dokumente,« antwortete Nikolaus langsam.

»Dann hast du, mon cher frère, dadurch, daß du der Garde nachgegeben hast, einen formalen coup d'Etat begangen. Das ist Revolution. Du bist ein Revolutionär. Ja, ja, kein Zweifel.«

Nikolaus lächelte und schwieg.

Dann wandte er sich mit gedämpfter Stimme wieder an Michail:

»Ist Konstantin fest entschlossen, zu verzichten?«

Seine grauen Augen hingen suchend am Gesicht des Bruders.

Michail antwortete mit einer Frage:

»Was meinst du? Kann Konstantin trotz aller dieser Dokumente den Thron besteigen?«

Nikolaus sagte gar nichts und blinzelte zum Fenster hinaus. Draußen fiel Schnee. Er wirbelte über den Platz und klebte an den Fenstern. Ein ruhiger, träger Wintermorgen.

»Was nun? Bei dem zweiten Treueid, bei der Aufhebung des ersten, wie soll das werden?« Michail zuckte ratlos die Schultern. »Wenn ein Stabshauptmann zum Major befördert wird, so ist das eine glatte Sache, und kein Mensch wundert sich darüber. Etwas ganz anderes ist es aber,« hier hob Michail ernst den Finger, »wenn eine Rangstufe übersprungen und ein Leutnant zum Hauptmann befördert wird.«

In militärische Sprache übersetzt erschien ihm der Fall klarer und folgenreicher.

Nikolaus sah forschend den Bruder an:

»Du bist also ganz sicher, daß Konstantin ernstlich auf den Thron verzichtet?«

Michail zuckte die Schultern:

»Er ist nicht beliebt.«

Unentschlossen sagte Nikolaus, ohne den Bruder anzusehn:

»Warum ist ein zweiter Treueid so schrecklich für dich? Das ist doch schließlich gar nicht so gefährlich. Das Ganze ist eigentlich nichts weiter als eine private Familiensache.«

Michail machte wieder eine ratlose Geste:

»Versuch das mal jedem einzelnen unter dem Pöbel und den Truppen zu erklären, daß es sich um eine Familienabmachung handelt, und warum sie so und nicht anders ausgefallen ist!«

Nikolaus überlegte:

»Die Hauptsache,« sagte er leise. »Die Hauptsache … Auch ich bin bei der Garde nicht beliebt.«

»Die Kanaillen!« murmelte Michail. »Beliebt … Nicht beliebt … Bei denen ist keiner beliebt.«

Und wieder fragte Nikolaus den Bruder und sah ihn durchbohrend an (diesmal sprach er französisch; wenn die Brüder aufrichtig miteinander sein wollten, sprachen sie immer französisch):

»Glaubst du, Konstantin meint es ernst mit seinem Verzicht?«

Michail sah ihn nicht an und machte eine unbestimmte Bewegung:

»Wie soll ich das wissen? Er hat mir nichts gesagt. Du mußt das selber beurteilen nach seinen Briefen.«

»Aus den Briefen ersehe ich nichts.« Nikolaus seufzte und machte ein finsteres Gesicht.

Eine Zeitlang saß Michail da und trommelte mit den Fingern. Dann kam ihm der Gedanke an sich selber, und er sagte:

»Weiß der Teufel, in was für eine Lage du mich gebracht hast! Konstantin kann ich den Treueid nicht leisten, dir genau so wenig. Alle fragen sie mich. Zum Teufel damit!«

Nikolaus schwieg. Er saß da und schrieb an Konstantin.

Der Tag verging.

Tatsächlich begannen die Hofleute zu tuscheln. Weder Michail noch seine Suite hatten den Treueid auf Konstantin geleistet. Da mußte irgend etwas nicht in Ordnung, irgend etwas Unheilvolles im Gange sein. Von der Suite kroch das Getuschel zu den Hofleuten, von diesen in die einzelnen Paläste. Bald drohte es, aus den Palästen auf die Straßenplätze zu kriechen. –

Längst schon war ein Kurier nach Warschau unterwegs mit einem Brief von Nikolaus, in dem er Seine Kaiserliche Majestät den Zaren Konstantin Pawlowitsch anflehte, nach Petersburg zu kommen. Die Mutter allerdings schrieb etwas anderes an Seine Kaiserliche Majestät: Sie bat um die offizielle Kundgebung entweder der Thronbesteigung oder des Verzichtes. Doch von Konstantin kam keine Antwort.

Voller Sorgen besprach sich am Morgen des 5. Dezember Nikolaus mit Michail (er hatte eben eine Unterhaltung mit Benkendorff gehabt):

»Dein Aufenthalt hier wird allmählich unmöglich. Konstantin schweigt. Keine Minute dürfen wir warten. Sonst geschieht ein Unglück. Mama bittet dich, zu ihm zu fahren. Entweder – oder! Entweder soll er sofort kommen und die Regierung antreten oder offiziell seinen Verzicht bekanntgeben. So geht es nicht weiter. Fahr heute noch. Halte unterwegs die Kuriere auf und öffne die Depeschen, um ja keine Antwort zu verfehlen. Jetzt bittet dich Mama zu sich.«

Michail verzog das Gesicht und ging zur Mutter. Marja Fjodorownas Sekretär händigte ihm eine Vollmacht aus:

 

»Inhaber dieser offenen Verfügung, Seine Kaiserliche Hoheit der erlauchte Herr Großfürst Michail Pawlowitsch, mein wertester Sohn, ist von mir bevollmächtigt, in meinem Namen alle von Kaiser Konstantin Pawlowitsch an mich adressierten Briefe, Pakete usw. in Empfang zu nehmen und zu öffnen.

Maria.«

 

Sie unterhielt sich lange mit Michail. Dann umarmte sie ihn und hob warnend den Finger:

»Quand vous verrez Constantin, dites et répétez-lui, que si l'on en a agi ainsi, c'est parce qu'autrement le sang aurait coulé.«

Michail zuckte abwehrend die Schultern und brummte:

»Il n'a pas coulé encore, mais il coulera.«

Gleich am selben Tage reiste er Hals über Kopf nach Warschau zurück. Dicht vor der Stadtzollschranke ließ er plötzlich die Kutsche halten und rief die zwei Generäle seiner Suite heran, die zusammen mit ihm reisten. Er überlegte:

Sollte man nicht umkehren?

Dann aber machte er eine resignierte Bewegung mit der Hand und fuhr weiter.

 

V

Als Wilhelm von Rylejew herauskam, war er in glänzender Stimmung. Sein Herz schlug anders als sonst. Anders als sonst war der Schnee unter seinen Füßen. Leute kamen ihm entgegen, Mietdroschken trabten vorbei. Die Sonne flutete über den Schnee. An der Admiralität läutete das Glockenspiel. Zwölf Uhr mittags. Vor einer halben Stunde hatte Rylejew ihn in die Geheimgesellschaft aufgenommen. An den Fensterauslagen der Buchhandlung Smirdin drängten sich die Menschen. Wilhelm trat auch heran. In einem Fenster hingen zwei Bilder: Das eine stellte einen Mann mit Habichtsnase und tiefen, schwarzen Augen dar, das andere einen Jüngling mit zurückgeworfenem Haupt.

»Riego, Quiriga,« flüsterte Wilhelm erstaunt. »Komisches Zusammentreffen!« – In dem anderen Fenster, dem die ganze Aufmerksamkeit des Publikums galt, war ein großes Bild Konstantins ausgestellt. Ein rotwangiges, breites Gesicht mit vorstehenden Backenknochen, mit scharf umgrenzten, blonden Koteletts und undurchsichtig klaren Augen blickte herausfordernd fröhlich die Zuschauer an. Unter dem Porträt stand: »Seine Kaiserliche Majestät, der Selbstherrscher von Rußland, Zar Konstantin I.«

»Dem seligen Väterchen aufs Haar ähnlich,« bemerkte ein Kleinbürger in kurzem, blauem Rock. »Das Näschen genau so kurz und aufgeworfen, daß es reinregnen kann.«

»Warum machen Sie sich Sorgen um die Nase, Onkelchen?« erwiderte ein junger Kaufmann. »Man kann auch ohne Nase regieren. Das ist keine große Kunst.«

Ein Offizier in Pelzmantel schielte zu ihnen hinüber und lächelte.

»Für den Anfang nicht übel, solche Gespräche! Nicht wahr?« wandte er sich rasch in französischer Sprache an Wilhelm.

Wilhelm lachte, machte einen tiefen Atemzug und ging weiter. Alles war so merkwürdig an diesem Tag.

Ein langer Gardeoffizier im Pelz kam sporenklirrend vorbei. Er unterhielt sich lebhaft mit einem Mann im Biberpelz. Vielleicht auch diese …? Wilhelm lächelte glücklich.

Plötzlich, er wußte selber nicht, warum, überwältigte ihn das unwiderstehliche Bedürfnis, auf der Stelle Gribojedow zu sehen.

»Ach, Alexander, Alexander!« sagte er laut, und sein Gesicht war naß von Tränen, ohne daß er es merkte.

»Wenn es doch bloß möglich wäre, jetzt, in dieser Stunde, hier auf dem Newski Gribojedow oder Puschkin oder Dunja zu treffen!!«

Wilhelm nahm eine Droschke und fuhr zu seinem Bruder Mischa. Er hatte eben von Rylejew erfahren, daß Mischa schon längst zu der Gesellschaft gehörte.

Er fand ihn finster, schweigsam, besorgt. Eine Sekunde lang dachte er wie aus weiter Ferne an den Vater. Er warf den Mantel ab, stürmte auf den Bruder zu, umarmte ihn und brach in Schluchzen aus.

»Mischa, Bruder, wir gehn zusammen, bis zu Ende, du Lieber,« murmelte er.

Mischa sah ihn an und lächelte verlegen. Er schämte sich irgendwie, wich dem Blick des Bruders aus und fragte ihn kurz, abgebrochen, so wie sie als Kinder miteinander zu sprechen pflegten:

»Schon lange?«

»Eben erst,« sagte Wilhelm und lächelte sinnlos.

Sie schwiegen. Das Sprechen fiel ihnen schwer. Eigentlich war es auch überflüssig. Sie waren einfach froh und schämten sich beide ein wenig.

Mischa lächelte den Bruder an:

»Willst du frühstücken?«

Sie erhoben die Gläser und stießen wortlos an.

»Ich komme zu dir in Rylejews Auftrag. Er will wissen, wie die Sache steht.«

Sofort schlug Mischa einen sachlichen Ton an:

»Auf die Gardeequipage ist fester Verlaß. Dorofejew und Kuroptjew müssen gleich da sein. Sie wissen alles. Sprich mit ihnen.«

Dorofejew und Kuroptjew waren die Hauptagitatoren bei den Matrosen. Wilhelm kannte sie schon lange. Sie kamen bald.

Mischa fragte sie fröhlich:

»Na, wie steht's?«

Dorofejew wand sich vor Verlegenheit, und Kuroptjew starrte finster vor sich hin.

»Ihr könnt ruhig sprechen,« ermunterte sie Mischa. »Mein Bruder weiß alles.«

Dorofejews Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln:

»Bei Gott, Euer Hochwohlgeboren,« sagte er zu Wilhelm. »Wo man hinsieht, sind die Menschen unzufrieden. Von uns schon ganz abgesehen. Sie wissen, von uns heißt es ja: ›Für's Vaterland spring ich in die Bresche, – mein Lohn sind Senge, Haue, Dresche. – Das Vaterland schützt der Matrose, – drum zieht man ihm besonders stramm die Hose. – Wer uns am meisten kujoniert, – im Dienst am schnellsten avanciert.‹ (Dorofejew sagte das Liedchen mit geläufiger Sicherheit wie ein Sprichwort her und schien sehr zufrieden, daß er sich nicht verhaspelt hatte). Na ja. Die Matrosen sind unzufrieden. Das ist selbstverständlich. Aber auch die anderen haben's nicht schön, wie es scheint. Alle wollen ein anderes Leben.«

Wilhelm stürzte auf ihn los und drückte ihm die Hand. Dorofejew wurde verlegen und hielt die Hand hin wie ein Stück Holz. Es war eine schwielige, harte Hand.

Mit dem Selbstbewußtsein eines altgedienten Seemanns sagte Kuroptjew zu Mischa:

»Seien Sie unbesorgt. Ich kenne unser Bataillon wie meine eigene Tasche. Wenn es sein soll, gehn wir alle vor wie ein Mann. Sie brauchen bloß zu uns zu kommen und zu kommandieren: ›Also los, Brüder! Vorwärts marsch! Auf den Platz raus!‹ – Wir gehn alle los, wie wir stehn und liegen!«

 

VI

{VII fehlt}

Als Wilhelm nach Hause kam, war Lowuschka Puschkin da. Er lag auf dem Sofa zusammengerollt wie ein Igel und schlief friedlich. Sascha war nicht zu Hause. Wilhelm rüttelte Lowuschka und lachte ihm ins verschlafene Gesicht.

»Lowuschka! Lieber Freund!« Er küßte ihn.

Was war Lowuschka doch für ein herrlicher Mensch!

Erstaunt sah er sich um. Er hatte auf Wilhelm gewartet und war zufällig eingeschlafen.

Dann erinnerte er sich an den Zweck seines Kommens und holte gleichgültig ein Papier aus der Tasche.

»Wilhelm Karlowitsch, Alexander hat Verse geschickt. Da sind welche, die auch Sie betreffen. Er bittet, sie Ihnen zu übergeben.«

Vor sechs Wochen ungefähr hatte Wilhelm zusammen mit Jakowlew, Delwig, Illitschewski, Komowski und Korff den Lyzeumsjahrestag gefeiert, und alle hatten auf Puschkins Gesundheit getrunken.

Der Clown der zweihundert Nummern hatte sich an die alten Streiche erinnert und alles Mögliche angestellt. Es war sehr lustig.

Auf dem Blatt, das Lowuschka jetzt Wilhelm übergab, standen Puschkins Verse zu dem Jahrestag. –

Lowuschka war längst weg, aber Wilhelm saß noch immer da, das Blatt in der Hand.

Leise, mit gedehnter Stimme las er:

Der Musendienst verträgt den Alltag nicht.
Groß und erhaben muß das Schöne sein.
Doch blendet uns der Jugend grelles Licht,
Wir laufen nach dem eitlen, bunten Schein.
Die Reue kommt dann immer viel zu spät,
Den Weg zurück, den finden wir nicht mehr …
Mein Schicksalsbruder, so wie ich Poet,
Wir büßen beide unsern Leichtsinn schwer!

Unmerklich wurde seine Stimme zum Flüstern, und die Lippen verzogen sich krampfhaft; er las mit Anstrengung, kaum noch die Worte begreifend:

Schluß, Wilhelm, Schluß! Sie ist nicht wert, die Welt,
Daß wir uns quälen, daß wir leiden.
Der Einsamkeit verborgnes, stilles Zelt
Soll Ruh und Rettung sein uns beiden.

Er schluchzte kurz auf wie ein Kind, wischte sich aber gleich die Tränen und begann im Zimmer auf und ab zu gehn. Nein, nein, das ist nun auch vorbei. Es wird keine Einsamkeit mehr und keine Rast geben. Mit der Jugend ist es Schluß, vorbei. Sie ist verflogen, zerstoben. Nur Puschkin ist noch übrig als ein Rest von ihr. Ihn würde er nie vergessen. Schluß. –

Es dämmerte. Semjon trat ein und zündete die Kerzen an.

 

Brief Wilhelms an Dunja.

»Meine Geliebte!

Sie schreiben, Sie wollen zu Weihnachten nach Sakup. Welche Freude für mich! Was gäbe ich darum, wieder bei Ihnen zu sein, zusammen mit Ihnen im Hain spazieren zu gehn oder an Sagussino vorbeizufahren! Genug. Ich möchte Ihnen etwas sagen: Bis vor kurzem hat das Schicksal schwer auf mir gelastet. Jetzt aber kommt eine entscheidende Zeit für mich.

Wir werden glücklich sein. Meine Haare werden grau, mein Herz ist voll von Ihnen, und jedem schlägt einmal im Leben die Stunde, wo er mit dem alten Luther sagen muß: Hier stehe ich, ich kann nicht anders.

Ich bin dem Glück so nahe wie noch nie. Sie sind meine Freude.

Ihr Wilhelm.

Alles, was vor Ihnen war, war nur ein Irrtum.«

 

VIII

Nikolaj Iwanowitsch Gretsch war sehr erstaunt, Wilhelm zu so ungewohnter Stunde in seiner Druckerei zu treffen. Als Wilhelm ihn bemerkte, versteckte er eilig eine Korrektur in der Seitentasche. Der Metteur sah verlegen drein. Wilhelm stotterte:

»Sonderbar, Nikolaj Iwanowitsch! Ich hab hier irgendwo einen Aufsatz von mir, einen Aufsatz vom vorigen Jahr verlegt. Jetzt hab ich endlich die Korrektur gefunden.«

Nikolaj Iwanowitsch zuckte die Schultern:

»Ist der Artikel denn nicht erschienen?«

»Nein, nein, er ist nicht erschienen,« sagte Wilhelm schnell.

Nikolaj Iwanowitsch warf einen schrägen Blick auf den Metteur, auf Wilhelm, nahm diesen dann beiseite und flüsterte ihm zu:

»Ich hab nichts gesehen. Ich weiß von nichts. Ich denke mir auch nichts.«

Wilhelm nickte hilflos und lief hinaus. Scharf sah ihm Nikolaj Iwanowitsch nach.

Was Wilhelm in der Tasche hatte, war nicht die Korrektur eines alten Aufsatzes, sondern ein Flugblatt. –

Er verbrachte sonderbare Nächte. Rylejew und die Brüder Bestuschew, Alexander und Nikolai, hatten ihm bei irgendeiner Gelegenheit davon erzählt, daß sie vorhätten, in der Nacht Soldaten anzusprechen und sie rebellisch zu machen. Drei Nächte schon gingen sie durch die Stadt. Sie sprachen mit jedem Soldaten, der ihnen begegnete, und unterhielten sich mit den Wachtposten. Das machte ihnen Wilhelm jetzt nach.

In der ersten Nacht war er sehr schüchtern, nicht etwa aus Furcht vor Denunziation, sondern weil es ihm schwer fiel, wildfremde Menschen anzusprechen, und noch schwerer, die Unterhaltung mit ihnen durchzuführen.

Zuerst stieß er auf einen Riesengardisten von einem Moskauer Regiment, nach der Uniform zu urteilen. Wilhelm sprach ihn an:

»Wohin, Freund?«

Es war im Ismajlow-Viertel.

»Zur Semjonow-Brücke, in die Kaserne. Hab mich verspätet.«

»Ausgezeichnet. Da haben wir denselben Weg,« sagte Wilhelm. »Wir können zusammengehn. – Wie lebt ihr denn?«

Der Soldat musterte Wilhelms Gesicht:

»Schlimm.« Er seufzte tief. »Vielleicht wird's jetzt etwas besser, unter dem neuen Kaiser.«

Wilhelm schüttelte den Kopf:

»Besser sicher nicht.«

»Woher wissen Sie das?« fragte der Gardist und sah ihn von der Seite an.

»Den neuen Kaiser läßt man gar nicht nach Petersburg. Das Testament des seligen Zaren wird verheimlicht. In diesem Testament wird die Militärdienstzeit um zehn Jahre herabgesetzt.«

Gierig hörte der Soldat zu.

»Alles ist möglich,« meinte er.

Lange gingen sie schweigend nebeneinander her.

»Das lassen wir uns nicht gefallen!« rief der Soldat plötzlich und blieb stehen. »Hat man so was schon gehört?! Das gibt's nicht! So ein Papier vor den Soldaten verstecken!«

Seine Stimme zitterte vor Zorn.

»Kannst es deinen Kameraden erzählen,« sagte Wilhelm. »Vielleicht kommt die Wahrheit bald heraus.«

»Ich dank auch sehr. Gerechtigkeit muß sein. Das gibt's nicht! So ein Papier unterschlagen!« Einen Augenblick noch blieb er stehn und schritt dann hastig weiter ins Dunkel.

Sie waren gerade am Zeughaus. Wilhelm wartete, bis er nicht mehr zu sehen war, dann ging er zu dem Wachtposten, bat ihn um Feuer und sprach mit ihm.

Drei Winternächte hintereinander begegneten so die Soldaten merkwürdigen Herren. Einer von ihnen war ein baumlanger, linkischer Mensch, der fast wie ein Narr anmutete. Die Herren wußten alle etwas, was man den Soldaten verheimlichte.

 

IX

Sonntag, den 13. Dezember. Mitternacht.

Mit Hilfe zweier Gardisten von der Wache hebt in Taganrog der Leibarzt Tarassow den schweren Deckel des Bleisarges hoch. Aufmerksam betrachtet er die ausgeweidete Leiche. Er schaut in das gelbe Gesicht mit den blau angelaufenen Augen und den schwarzen Lippen.

»Teufel noch mal! Wieder ein Fleck! Wenn es noch länger dauert als vierzehn Tage, dann garantiere ich für nichts.«

Er taucht den Schwamm in eine aromatische Essenz und legt ihn vorsichtig an die Schläfe, die einen kleinen, schwarzen Fleck hat. Dann bleibt sein besorgter Blick an den Handschuhen haften:

»Wieder gelb geworden!«

Von den toten Händen zieht er die gelblichen, merkwürdig angestaubten Handschuhe ab und zwängt langsam, bedächtig die steinernen Finger in frisches, weißes Glacéleder. Mit hölzernem Gepolter fällt die Hand in den Sarg zurück.

Der Tote ist ruhig. Er kann noch vierzehn Tage, auch noch drei Wochen warten. Er hat Zeit. –

Um dieselbe Stunde ist Michail mit General Toll, der Suite und den Boten von Nikolaus, die ihm begegnet sind, in rasender Fahrt unterwegs zwischen Nennaal und Petersburg.

Auf der Station Nennaal, in dem ärmlichen, gottverlassenen Blockhaus hatte er eine ganze Woche gehockt. Er fing die Kuriere ab, machte die Briefschaften auf und sandte sie unter Bewachung nach Petersburg. Doch das entscheidende Schreiben Konstantins traf nicht ein. Hatte er vielleicht doch einen Kurier verpaßt?

Statt des erwarteten Kuriers trafen auf der Station Petersburger und Moskauer Unterhändler ein, die Konstantin sämtlich wieder nach Hause geschickt hatte. Am 9. traf der Adjutant des Kriegsministers ein. Konstantin hatte sich geweigert, die Schriftstücke mit der Adresse: »An Seine Kaiserliche Majestät« in Empfang zu nehmen. Dem Adjutanten hatte er gesagt, er sei an eine falsche Adresse geraten; er, Konstantin, sei nicht der Kaiser.

In der Nacht vom 11. auf den 12. kam der Unterhändler des Prinzen von Württemberg mit demselben Ergebnis zurück. Sobald ihm ein Besuch gemeldet wurde, kam Konstantin heraus, betrachtete ihn mit trüben, verschleierten Augen und fertigte ihn ab mit irgendeinem Scherz. Zu Demidow, einem verrufenen Spieler, den Fürst Golizyn gesandt hatte, sagte er und kniff die Augen zusammen: »Wie kommen Sie hierher? Ich spiele schon lange nicht mehr Boston!«

Sie alle fing Michail in Nennaal ab. Er, General Toll und die Adjutanten aßen viel und tranken von dem mitgeführten Weinvorrat. Warum sollte er sich schließlich nicht eine Zeitlang in dem kleinen estnischen Nest verkriechen, unbehelligt von den beiden Brüdern, von den ewigen Fragen der Hofleute, von den unerträglich leeren Petersburger Plätzen?

Am 13. Dezember vormittags kam ein Kurier aus Petersburg angesprengt mit dem verspäteten Befehl, unverzüglich zurückzukehren und um acht Uhr abends an der Sitzung des Staatsrats teilzunehmen, in der Nikolaus zum Kaiser ausgerufen werden sollte. Nikolaus schrieb: »Endlich ist alles entschieden. Ich muß die Last der Kaiserwürde auf mich nehmen. Unser Bruder Konstantin hat mir einen überaus freundschaftlichen Brief geschickt. Beeile dich und bringe General Toll mit. Alles ist ruhig.« Von Petersburg bis Nennaal waren es 270 Werst. Der Weg war schlecht, und der Befehl kam zu spät. Man setzte sich zum Mittagessen. Michail fing ein Gespräch mit Toll an. Der General war ernst und kühl. Mit fast mitleidigem Blick auf Michail sagte er:

»Ich gratuliere Ihnen zu dem für die Dynastie so schwerwiegenden Tag.«

»Schwerwiegend oder schwer, Karl Iwanowitsch?« fragte Michail. (»Quelle sorte de gravité?« Sie sprachen französisch.)

Toll zuckte die Schultern:

»Es gab nur einen gesetzlichen Ausweg. Der Senat hätte Konstantin Pawlowitsch zum Zaren ausrufen müssen. Dann hätte der Zar nach Petersburg kommen und durch einen rein formellen Akt erklären müssen, daß der Senat einen unhaltbaren Beschluß gefaßt habe. Dann hätte er das Testament des verstorbenen Zaren öffentlich vorlesen und Nikolaus Pawlowitsch zum Zaren ausrufen müssen. So aber … Kein Mensch kennt sich mehr aus. Konstantin Pawlowitsch hat nicht verzichtet, und der Senat schweigt.«

Bis über den Kopf in Bärenpelze gehüllt, stiegen sie in den Schlitten.

Die drei Pferde zogen an. Die Schellen klirrten. Michail schauerte leicht und suchte das Gesicht vor der frostigen Luft zu schützen. Nun war es ihm doch nicht gelungen, in Nennaal unbehelligt zu bleiben. Wieviel klüger hatte Konstantin gehandelt! Er blieb in seinem Belvedere und kümmerte sich um gar nichts. Ihn, Michail, hatte der Teufel geritten, damals, als er Konstantins Brief nach Petersburg brachte. War er denn nichts weiter als ein Kurier seiner Brüder?!

Er überlegte:

»Aus dem Versteckspiel ist nichts geworden. Jetzt heißt es, auf der Hut sein!«

Er versuchte zu schlafen. Aber der Weg war zu schlecht. Der Wagen rüttelte. Unmöglich. –

Mitternacht. Das Anitschkow-Palais in Petersburg wimmelt von Menschen. Kein Mensch denkt an Schlaf. Wer bis in die inneren Gemächer durchdringt, hat den Eindruck eines Familienbiwaks. In Nikolais Zimmer auf einem Sofa liegt die alte Kaiserin, ein Kissen unter dem Kopf, in einen Schal gehüllt, und schläft. Neben ihr in einem Sessel sitzt unbeweglich, stramm wie ein Soldat, Alexandra Fjodorowna, Nikolais Frau, in einem prächtigen, weißen Seidenkleid. Noch eine halbe Stunde, dann ist sie Kaiserin. Die Hofleute im Nebenzimmer schlafen, irren umher oder sitzen einfach da. Manche stehn in kleinen Gruppen zusammen und unterhalten sich leise: Albedil, Samarin, Nowossilzew, Friderici, Dr. Rühl, Willamow sind darunter. Sie benehmen sich alle wie Verwandte und Bekannte vor dem Sterbezimmer eines Kranken, den man längst aufgegeben hat, der aber noch nicht sterben will. Nikolaus ist im Staatsrat, der ihn jetzt wohl schon zum Kaiser ausgerufen hat. Um dreiviertel eins kommt er zurück. Er hat die Paradeuniform an, die ihn größer erscheinen läßt, und ein Band läuft ihm über die Schulter. Sein Gesicht ist leblos, grau. Gestern ist ein Kurier Diebitschs eingetroffen und hat eine noch an Alexander gerichtete Anzeige mitgebracht: Es gab in Rußland einen geheimen, aus zahlreichen Mitgliedern bestehenden Bund, der am Tage seiner Thronbesteigung unbedingt zur Tat schreiten wollte. Die Garde war verseucht. – Heute war ein Offizier, namens Rostowzew, bei ihm erschienen und hatte ihm ein Schreiben überreicht, das ihn davon benachrichtigte, daß morgen ein Aufstand losbrechen werde. Zwei Gefühle beherrschten ihn in dieser Nacht: Das eine war wie das Gefühl eines Generals am Tage vor der Entscheidungsschlacht. Entweder würde er nun Kaiser sein oder – sterben. Das andere war ein merkwürdiges, aus Verlegenheit und Angst gemischtes Gefühl wie vor einer Parade. Deshalb waren seine Bewegungen steif und unfrei. Deshalb achtete er am meisten darauf, daß sein Gesicht mit keinem einzigen Muskel seine Empfindungen verriet, daß seine Uniform keine einzige Falte schlug, daß alles in Ordnung war. Nach einigen Minuten ging er mit seiner Frau zu den Hofleuten hinaus. Ihnen voran schritt die Mutter, die alte Kaiserin. Unnatürlich gerade blieben sie stehen vor den tief geneigten, kahlen oder grauen, glatt pomadisierten oder gelockten Köpfen.

Die Gratulationen und Begrüßungen begannen.

Die Mutter antwortete. Nikolaus stand da, als ob er nicht mehr wüßte, wer er sei. Endlich sah er mühsam die Anwesenden an.

»Es liegt kein Grund vor, mir zu gratulieren,« sagte er hölzern. »Ich bin zu bedauern.« –

Mitternacht. Auch im Hause der Amerikanischen Kompagnie an der Mojka schläft kein Mensch.

Dicker Rauch im Zimmer. Die Gesichter kaum zu erkennen im Schein der Lampe. Die Stimmen heiser. Die Röcke aufgeknöpft. Wildes Stimmengewirr. Die einen kommen, die anderen gehen.

Rylejew ist furchtbar. Dem Blick seiner schwarzen Augen hält nicht einmal Jakubowitsch stand. Er zieht jedes Mal die Augenbrauen zusammen, wenn Rylejew sich an ihn wendet. Mit beschwingten Schritten geht Rylejew bald zu der einen, bald zu der anderen Gruppe. Er gibt Aufträge, fragt die Leute aus oder drückt ihnen einfach die Hand und sagt ein paar Worte. Bald hier, bald dort taucht sein Gesicht auf wie der Mond zwischen den schwarzen Wellen. Kein Mensch begrüßt Wilhelm und Sascha, die eben eingetreten sind. Man kommt und geht, ohne sich zu beachten.

Wilhelm hört Jewgenij Obolenski zu, der mit offenen blauen Augen Alexander Bestuschew ansieht und sagt:

»Im Fall eines Mißerfolges ist doch nicht alles verloren. Wir führen die Truppen in die Militärsiedelungen. Die Militärsiedelungen schließen sich uns an. Dann geht's wieder gegen Petersburg.«

Rylejew geht an Wilhelm vorbei, der nichts mehr sieht und Sascha Odojewskis Hand festhält, und streicht ihm flüchtig über das Haar. Bei der zärtlichen Berührung zuckt Wilhelm zusammen. Rylejew drückt Mischa Bestuschew die Hand. Mischa steht in der Ecke bei dem blutjungen Leutnant Sutthof. Beide schweigen.

Rylejew: »Friede mit euch, ihr Männer der Tat und nicht der Worte!«

Der stille, ernste Stabshauptmann Bestuschew sagt zu ihm:

»Jakubowitsch gefällt mir nicht. – Er soll mit der Artillerie und dem Ismajlow-Regiment zu mir stoßen. Wir marschieren dann zusammen auf den Platz. Ob er die Leute in der Hand hat?«

Rylejew antwortet mit einer Frage:

»Mit wieviel Kompagnien rechnest du?«

Mischa zuckt mit wichtiger Miene die Schultern. Er fühlt sich wie vor der ersten Schlacht:

»Die Soldaten wollen kämpfen. Sie sind kaum zu halten. Die Kompagnieoffiziere haben sich mir ehrenwörtlich verpflichtet, die Soldaten nicht zurückzuhalten.«

»Und bei Ihnen?« wendet sich Rylejew hastig an Sutthof und beugt sich vor.

»Für meine Kompagnie stehe ich ein,« antwortet Sutthof ehrerbietig. »Es ist möglich, daß auch die übrigen mitkommen.«

Trubezkoj ist unnatürlich aufgeregt. Er reibt sich die Hände, knackt mit den Fingern und hört dem langen Jakubowitsch zu, der über ihn und alle anderen hinwegsieht. Trubezkoj sucht seine Gedanken zu sammeln. Er fragt:

»Sie übernehmen also zusammen mit Arbusow die Besetzung des Palais?«

Jakubowitsch unterbricht ihn mit einer Geste. Statt jeder Antwort ruft er heiser:

»Losen! Losen, wer den Tyrannen töten soll!«

»Aufs Schafott mit dem Gesindel!« schreit Schtschepin, und sein Gesicht läuft dunkelrot an.

Daraufhin eilt Rylejew auf Kachowski zu und umarmt ihn stürmisch:

»Lieber Freund!« ruft er mit unfaßbarer Trauer und betrachtet Kachowskis ruhiges, gelbes Gesicht. »Du bist einsam in dieser Welt. Du mußt dich opfern für die geheime Gesellschaft!«

Allen ist der Sinn der Worte klar. Sie stürzen zu Kachowski. Wilhelm drückt die Hand des Tyrannenmörders, die morgen Nikolaus niederstrecken soll. Er sieht sich im Kreise um. Durch den Tabakrauch, durch das schimmernde Licht schauen ihn viele Augen, nur Augen an. Er hebt die Hand:

»Ich! Ich auch! Hier meine Hand!«

Jemand faßt ihn an der Schulter. Er dreht sich um. Streng schaut ihn Puschtschin an.

Er ist erst am 8. aus Moskau zurückgekommen. Während seiner Abwesenheit hatte Rylejew Wilhelm in die Gesellschaft aufgenommen.

»Ja, Jeannot,« sagt Wilhelm leise, »auch ich bin dabei.«

Sascha betrachtet die beiden. In seinen Augen stehen Tränen. Er lächelt, und auf seinen Wangen zeigen sich die Grübchen:

»Wir werden sterben, meine Lieben! Welch schönen Tod werden wir sterben!«

Puschtschin macht eine ärgerliche Bewegung. Er lauscht dem Gespräch am Tisch.

»Auf wen können wir also rechnen?« fragt Trubezkoj mühsam zum zweiten Mal, ohne von einer bestimmten Person die Antwort zu erwarten.

Kornilowitsch ist eben aus dem Süden eingetroffen. Er winkt Trubezkoj zu:

»Hunderttausend Mann der ersten Armee stehn parat.«

Puschtschin wendet sich zu Trubezkoj:

»Moskau schließt sich sofort an.«

In einer anderen Ecke lacht Alexander Bestuschew laut auf. Ins Zimmer tritt Arbusow mit drei Offizieren.

»Den Plan des Winterpalais?« lacht Alexander Bestuschew. »Die Zarenfamilie ist keine Stecknadel. Wenn wir an die Verhaftung gehn, finden wir sie schon!«

Rylejew sieht Steinhell dasitzen, stumm, den Kopf zwischen den Händen. Er legt ihm die Hand auf die Schulter. Steinhell hebt das nicht mehr junge, von Leiden gezeichnete Gesicht und sagt dumpf:

»Mein Gott, wir sind doch gar nicht stark genug. Denkt ihr im Ernst daran, jetzt loszuschlagen?«

Alles horcht auf. Es wird still.

»Losschlagen! Unbedingt handeln!« ruft Rylejew, und seine Nüstern blähen sich.

Irrende, grünliche Augen, Trubezkojs Augen bohren sich ihm ins Gesicht. Trubezkojs Lippen zittern:

»Vielleicht doch warten? Sie haben Artillerie. Sie werden schießen.«

Rylejew wird weiß, aber er hält den Blick der wilden Augen aus:

»Wir sind dem Tod geweiht. Wir müssen losschlagen.«

Er nimmt vom Tisch ein Papier, die Kopie der Denunziation Rostowzews:

»Haben Sie vergessen, daß wir verraten sind? Der Hof weiß schon vieles, aber nicht alles, und wir sind stark genug.«

Er sieht den ruhigen Mischa Bestuschew und sagt plötzlich gelassen, fest, fast leise:

»Die Scheide ist zerschlagen. Der Säbel ist nicht mehr zu verbergen. Wir müssen sterben. Morgen marschieren wir vor den Senat. Morgen früh sieben Uhr tritt er zusammen, um den Treueid zu leisten. Wir werden ihn auf die Knie zwingen.«

Alles war gesagt.

Es war Zeit zum Auseinandergehn. Bis zum nächsten Tag.

Wilhelm und Sascha gingen langsam nach Hause. Bevor sie in die Potschtamtskaja-Straße einbogen, gingen sie über den Peterplatz am Senat vorbei zum Kai. Ein unruhiges Gefühl zog sie zu dem Platz.

Lautlos stand das Senatsgebäude da mit den weißen Säulen, mit den trüben Fenstern. Menschenleer der Platz. Ein schwarzer, flacher Scherenschnitt, schwamm das Peterdenkmal in der dunklen Luft. Dahinter, kaum sichtbar, ragte die Spitze der Peter-Paulsfestung in den nächtlichen Himmel.

Milde Nacht. Der Schnee ein wenig geschmolzen.

Das Eisen schläft. Die Steine schlafen. Ruhig liegen in der Peter-Paulsfestung die für Baureparaturen bestimmten Balken. Mit Leichtigkeit könnte ein Dutzend Zimmerleute in einer Nacht ein Schafott aus ihnen machen.


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