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Petersburg

 

I

Jegor Antonowitsch Engelhardt, der »gute Direktor«, schrieb in einem Brief an Jessakow folgendes über Küchel:

»Küchel lebt wie Gott in Frankreich. Er lehrt russische Literatur in dem eben gegründeten ›Adligen Pensionat‹ beim Pädagogischen Institut; außerdem ist er noch Hofmeister und erzieht Mischa Glinka (einen faulen, aber musikalisch begabten Jungen!); außerdem liest er regelmäßig die französische Zeitung ›Conservateur Impartial‹ außerdem besucht er fleißig die ›Gesellschaft der Literaturfreunde‹ und verfertigt neben all dem fast für jede Nummer des ›Sohnes des Vaterlandes‹ einen ganzen Haufen Hexameter. Wer hätte ihm das alles zugetraut, damals, als er sich in unserem Teich ertränken wollte?!«

Auch Tante Breitkopf war zufrieden. Wenn der baumlange Willi abends nach einer literarischen Sitzung zu ihr ins Katharineninstitut kam, betrachtete sie ihn voller Freude und schüttete ihm so viel Sahne in den Kaffee, daß der zerstreute Willi sie kaum hinunterwürgen konnte.

Tatsächlich! Wer hätte je gedacht, daß Willi solche Fähigkeiten zeigen, daß man den Jungen trotz all seiner »Dummheiten« in den führenden Zeitschriften an erster Stelle finden würde, daß Schukowski und manche anderen literarischen Persönlichkeiten, die immerhin gelegentlich auch Einfluß haben konnten, mit ihm Freundschaft pflegen würden!

Ustinja Jakowlewna konnte jetzt ganz beruhigt sein: selbst Tante Breitkopf hatte nunmehr Vertrauen zu Willi. Der junge Mann wird es weit bringen; die Kinder sind jetzt, Gott sei Dank, überhaupt gut aufgehoben. Der Jüngste, Mischa, dient bei der Flotte, in der Gardeequipage, und kommt gut vorwärts. Ustinjka hat Glinka geheiratet. Grigorij Andrejewitsch Glinka ist zwar in mancher Hinsicht recht eigenartig, aber er liebt Ustinjka maßlos. Tante Breitkopf will die beiden unbedingt auf ihrem Gute Sakup im Gouvernement Smolensk besuchen. Es ist ein kleines, aber prächtiges Gut.

Wilhelm schluckte eifrig die Sahne.

Mit dem gleichen Eifer schrieb er seine Verse. Mit dem gleichen Eifer beaufsichtigte er Mischa Glinka, diesen eingefleischten Faulenzer, und fehlte in keinem Salon. Zu dem Spitznamen »Bandwurm«, den er einst von Olossinjka Illitschewski bekommen hatte, kam in den Salons noch ein zweiter hinzu: »Zwieback«. Dieser Name war noch kränkender: ein Bandwurm, der kam doch bei allen Nationen vor, während Zwieback ausschließlich von den Deutschen gebacken wurde. Man hütete sich aber, Küchel direkt anzurempeln. Der Zwieback fing leicht Feuer, und dann füllten sich seine Augen mit Blut, und der leichtfertige Beleidiger konnte auf ernste Unannehmlichkeiten gefaßt sein. Der Zwieback war außerdem noch ein großer Duellant. Selbst seinen Freunden gegenüber war er aufbrausend bis zur Besinnungslosigkeit. Einmal hatte er einen Schriftsteller gefordert, den er vergötterte. Der Schriftsteller war ein lebhafter, ungemein beweglicher Mann. In der Hitze eines Gesprächs hatte er, während er allen übrigen Wein einschenkte, ganz zufällig Küchel übergangen, der mit am Tisch saß und gierig dem Gespräch lauschte. Küchel sprang sofort auf und forderte Satisfaktion. Der Schriftsteller riß bloß die Augen auf; er konnte zunächst überhaupt nicht begreifen, weshalb mit einem Mal der kriegerische Geist über Küchel gekommen war. Mit großer Mühe wurde die Sache wieder eingerenkt. So kam Wilhelm allmählich in den Ruf eines »tollen Draufgängers«, und die mondänen Salonlöwen spotteten nur mit größter Vorsicht über ihn.

Zusammen mit seinem Senjka, der jetzt bereits Semjon hieß, wohnte Wilhelm in zwei Zimmern. Senjka klimperte im Vorzimmer auf der Balalaika, und Wilhelm genierte sich, ihm zu sagen, daß dies ihn beim Dichten störe. Semjon hatte keinen schweren Dienst. Wilhelm Karlowitsch verschwand meist schon am frühen Morgen und kehrte erst spät in der Nacht zurück. Dann zog er den Schlafrock an und setzte sich an den Tisch, um die Sterne zu betrachten und zu dichten. Einmal, als Wilhelm Karlowitsch nicht zu Hause war, las Semjon die Verse, und sie gefielen ihm sehr; sie waren lang, traurig und nachdenklich und handelten von der Liebe und den Sternen. Semjon hatte einen weit ausgedehnten Bekanntenkreis. Einmal, bei einer Liebesangelegenheit, las er sogar Wilhelm Karlowitschs Verse als seine eigenen vor. Die Verse wurden freundlich aufgenommen, obwohl er nicht dazu kam, sie zu Ende zu lesen. Von Ustinja Jakowlewna hatte Semjon den Befehl, über Wilhelm Karlowitsch zu wachen und ihr auch über den geringsten Vorfall zu berichten. Letzteres unterließ Semjon, aber um so eifriger wachte er über Wilhelm. Er hatte ihn schon als Kind gekannt und wußte genau, daß Wilhelm ohne ihn nicht existieren könne und gleich am ersten Tag zugrunde gehen müsse.

Man schlug Wilhelm bald vor, in das Haus des »Adligen Pensionats« an der Kalinkinbrücke überzusiedeln. Er sollte im Mezzanin wohnen, um sich an Ort und Stelle der Erziehung von Mischa Glinka und Ljowa Puschkin, Alexanders jüngerem Bruder, zu widmen. Semjon zog mit ihm zusammen hin.

 

II

Wilhelm bekam Alexander Puschkin nur selten zu Gesicht. Puschkin lebte in einem tollen Wirbel. Am Tage konnte man ihn zusammen mit zweideutigen, schönen Damen in einer Droschke dahinsausen sehen. Abends war er regelmäßig im Theater, wo er in der ersten Sesselreihe stand und mit Witzen und Bosheiten nur so um sich warf. Oft spielte er bis in den hellichten Morgen mit den Husaren Karten. Seine Epigramme machten die Runde durch die ganze Stadt. Schließlich aber wurde er krank von dem lustigen Leben. Im Bett schrieb er »Rußlan und Ludmilla« zu Ende, das Werk, das nach Wilhelms Ansicht eine wahre Umwälzung der russischen Literatur bedeutete. Küchel dachte nicht daran, Puschkin zu verurteilen. Er stand zu ihm wie ein Verliebter zu einem jungen Mädchen, das, ausgelassen und schüchtern zugleich, sich plötzlich in tollem Walzer zu schwingen beginnt und nicht mehr zu halten ist. Während Puschkins Krankheit besuchte Wilhelm ihn täglich. Kahl rasiert, blaß und häßlich nagte Puschkin an seiner Feder und las Verse vor. Die Hand am Ohr, hörte Wilhelm zu (sein Gehör wurde immer schlechter, was Tante Breitkopf in große Unruhe versetzte, ihn selber aber kaum berührte). Nach einiger Zeit hielt er es nicht länger aus, riß sich von seinem Platz los und überschüttete Puschkin, der zufrieden lächelte, mit Küssen. Sobald Puschkin aber wiederhergestellt war, entzweiten sie sich. Schuld daran war eigentlich Schukowski.

Küchel hatte große Achtung vor Schukowski. Er konnte die »Swetlana« auswendig und wiederholte nicht selten die melancholischen Verse aus »Alina und Alsim«:

Zwei Herzen habt ihr roh getrennt,
Die für einander schlagen.
O wüßtet ihr, wie Liebe brennt,
Ihr würdet es nicht wagen!

Küchel pflegte damals seine Verse Schukowski zu widmen und wartete gierig auf sein Lob. Er kam oft zu ihm, brachte eine Unmasse Verse mit und las endlos lange vor.

Schukowski lebte in einer gemütlichen Junggesellenwohnung, ging mit Vorliebe im Schlafrock herum und rauchte eine lange Pfeife. Als einziger Bedienter wohnte bei ihm Jakow, ein ruhiger, ordentlicher Mann von unbestimmtem Alter, mit grauen Mausäugchen, der in seinen weichen Pantoffeln unhörbar durch die Zimmer ging. Schukowski war noch nicht alt, aber schon von jener Blässe und gedunsenen Körperfülle, die man von sitzender Lebensweise bekommt. Seine kleinen, kaffeebraunen Augen lagen tief zwischen Fettpolstern. Er war faul, hatte weiche Bewegungen und kam den Menschen mit schlauer Höflichkeit entgegen. Wenn er im Zimmer auf und ab ging, erinnerte er an einen satten Kater.

Ein Lob sprach er niemals sofort aus, sondern erst nach einigem Überlegen. Küchel hatte für ihn etwas merkwürdig Beunruhigendes, und Schukowski liebte es nicht, beunruhigt zu werden. Die Besuche Wilhelms waren ihm deshalb wenig angenehm.

Eines Tages fragte Puschkin ihn:

»Wassilij Andrejewitsch, warum waren Sie gestern nicht auf dem Abend? Es war sehr lustig. Alles hat auf Sie gewartet.«

Schukowski erwiderte träge:

»Ich hab mir vorgestern den Magen verdorben.« Nach kurzem Überlegen fügte er hinzu: »Außerdem war Küchelbecker gerade bei mir. Deshalb blieb ich zu Hause. Dazu hatte Jakow noch beim Weggehn aus Versehen die Tür abgesperrt.«

Das Wort »Küchelbecker« kam bei Schukowski mit ganz besonderer Betonung heraus.

Puschkin brach in Lachen aus. Er wiederholte:

»Den Magen verdorben … Küchelbecker …«

Abends traf er Küchel auf einem Ball und sagte zu ihm:

»Willi, willst du neue Verse hören?«

Gierig legte Küchel die Hand ans Ohr.

Ohne Hast, jeden Vers skandierend, flüsterte Puschkin ihm ins Ohr:

»Beim Abendbrot hab ich zu viel genossen,
Und aus Versehen schloß mich Jakow ein, der Knecht.
So blieb ich denn zu Hause höchst verdrossen.
Es war mir küchelbeckerisch und schlecht.«

Küchel prallte zurück und erblaßte. Merkwürdige Sache! Keiner verstand es so gut, ihn zu verletzen, wie seine Freunde, und keiner konnte ihn in solche Wut bringen wie gerade seine Freunde!

»Wegen der niederträchtigen Verdrehung meines Namens,« zischte er heiser, und die Augen sprangen ihm fast aus den Höhlen, »fordere ich dich. Auf Pistolen. Morgen schlagen wir uns!«

»Niederträchtig?« Auch Puschkin wurde blaß. »Gut. Mein Sekundant ist Puschtschin.«

»Und meiner Delwig.«

Sie suchten sofort Puschtschin und Delwig auf.

Puschtschin wollte nichts davon wissen.

»Küchel ist wieder mal verrückt geworden. Erinnert euch doch bloß an seine früheren Späße. Es fehlt nur noch, daß er jetzt wieder in einen Teich will … Auch du bist mir einer,« wandte er sich an Puschkin. Er zitierte aber gleich den Vers:

»Es war mir küchelbeckerisch und schlecht,«

und brach in Lachen aus.

Inzwischen hörte Wilhelm mit Entsetzen, wie ein junger Mann, der gerade an ihm vorbeiging und ihn gar nicht bemerkte, zu einem anderen sagte:

»Mir ist heut irgendwie so küchelbeckerisch zumut …«

Duell! Auf Pistolen!

Am nächsten Tag ging die Sache vor sich. Im Schlitten verließ man die Stadt und stieg in Kolomna aus. In einer kleinen Waldlichtung nahm man Aufstellung.

Puschtschin sagte zum letzten Mal:

»Puschkin! Wilhelm! Schluß mit den Narrheiten! – Puschkin, du bist der Schuldige. Bitte ihn um Verzeihung! Das ist doch toll!«

»Gut. Ich bin bereit,« sagte Puschkin gähnend. »Bei Gott, ich weiß nicht, warum Willichen mit einem Mal so eine Wut auf mich hat!«

»Wir schlagen uns! Wir schlagen uns!« rief Küchel.

Puschkin lächelte und schüttelte den Kopf. Dann warf er den Mantel ab. Desgleichen Wilhelm.

Delwig gab jedem eine Pistole, und man loste, wer zuerst schießen sollte.

Das Los fiel auf Wilhelm.

Er hob die Pistole und zielte. Die Augenbrauen hochgezogen, stand Puschkin ihm gegenüber und sah ihn mit ruhigen Augen an.

Küchelbecker dachte wieder an das Wort »küchelbeckerisch«, und das Blut schoß ihm in den Kopf. Er zielte auf die Stirn ihm gegenüber. Da sah er aber die leuchtenden Augen Puschkins, und langsam senkte sich seine Hand. Mit entschlossener Bewegung zielte er plötzlich irgendwohin nach links und drückte ab.

Puschkin brach in Lachen aus, warf die Pistole in die Luft, stürmte auf Wilhelm zu, schüttelte ihn und wollte ihn umarmen.

Wilhelm geriet wieder ins Rasen.

»Schieß!« rief er. »So schieß doch!«

»Genug, Willi! Ich schieße nicht auf dich!«

»Warum denn nicht?« brüllte Wilhelm.

»Allein schon darum, weil die Pistole nicht mehr zu gebrauchen ist. Der Lauf ist voll Schnee.«

Mit kleinen, schnellen Schritten lief er hin, hob die Pistole und drückte ab. Kein Schuß.

»Dann verschieben wir's,« sagte Wilhelm finster. »Bei der nächsten Gelegenheit holst du deinen Schuß nach!«

»Schön.« Puschkin lief auf ihn zu und entblößte die Zähne. »Vorläufig fahren wir zurück und trinken eine Flasche Ai.«

Er faßte Wilhelm trotz seines Widerstrebens unter, von der anderen Seite tat Puschtschin dasselbe, während Delwig ihn von hinten vorwärtsstieß. Endlich mußte Wilhelm lachen.

»Ihr schleppt mich ja wie einen Hammel!«

Puschkin schmiegte sich an ihn wie ein Mädchen und kitzelte ihn.

Um zwei Uhr nachts nahm er den angeheiterten Wilhelm mit nach Hause und redete ihm lange zu, die Schulmeisterei an den Nagel zu hängen und ausschließlich für eine Zeitschrift zu arbeiten. Wilhelm sagte zu allem ja und meinte, Alexander sei der einzige, der ihn verstehen könne.

 

III

Wilhelm begann tatsächlich seine Lehrtätigkeit satt zu bekommen. Die Kinder machten ihm keinen Spaß mehr. Immer häufiger schloß er sich in seinem Arbeitszimmer ein, zog den Schlafrock an, saß am Tisch, ohne irgend etwas zu tun und starrte durchs Fenster.

Sogar Semjon fing an, sich Sorgen zu machen, und er trug sich sogar mit der Absicht, Ustinja Jakowlewna brieflich davon zu benachrichtigen, daß »mit Wilhelm Karlowitsch irgend etwas nicht in Ordnung sei«.

An einem solchen Abend fiel Wilhelm ein, daß es gerade Donnerstag war, und er fuhr zu Gretsch, wie er dies stets zu machen pflegte. Gretsch, ein kleiner, schwarzer, untersetzter Mann mit einer Hornbrille, war ein freundlicher Gastgeber. An seinen Donnerstagen bewirtete er die ganze Literatur, und es machte sich ganz von selbst, daß er bald von einem Besucher Verse (möglichst billig), bald von einem anderen Prosa (auch nicht zu teuer) bekam. Im Salon Nikolaj Iwanowitsch Gretschs gab es zwei Zentralpunkte. Der eine war Gretsch selber, der die Dienerschaft nicht aus den Augen ließ. Sobald ein Diener einen einzigen Blick seines Herrn erwischte, rannte er mit Orangeade oder Champagner genau zu dem Schriftsteller, den Nikolaj Iwanowitsch gerade brauchte. Der andere Zentralpunkt war Bulgarin, ein großer, fleischiger Mann, dessen eng anliegende Kleidung so aussah, als ob sie jeden Augenblick in den Nähten platzen könne. Er hatte ein rötliches, feistes Gesicht. Seine Hände, die er ununterbrochen rieb, schwitzten. Lächelnd lief er von einem Gast zum anderen. Als Wilhelm ankam, war bei Gretsch bereits eine Menge Menschen versammelt.

Zwei Gäste, die Wilhelm nicht kannte, unterhielten sich mit Bulgarin. Der eine, tadellos gekleidet und schlank, hatte glatt gebürstetes, schwarzes Haar, ein schmales, gelblich blasses Gesicht und kleine, kohlschwarze Augen unter einer Brille. Er sprach leise und langsam. Der andere, häßlich, ungeschickt, mit braunen, üppigen Locken an den Schläfen und einer herausfordernden Tolle auf der Stirn, die Krawatte nachlässig geknüpft, hatte hastige, schroffe Bewegungen und sprach laut. Gretsch führte Küchel zu ihnen.

»Kondratij Fjodorowitsch,« sagte er zu dem mit der Tolle, »hier stelle ich Ihnen den Wilhelm vor, nach dem Sie sich neulich bei mir erkundigt haben.« (Küchel zeichnete seine Verse mit »Wilhelm«.)

Kondratij Fjodorowitsch Rylejew?! Derselbe, der das Gedicht an den »Günstling« geschrieben und veröffentlicht hat? Das Gedicht, in dem er vor aller Welt zu Araktschejew gesagt hatte: »Deine Achtung schätz ich nicht, du Schuft!«

Küchel machte plötzlich eine krampfhafte Verbeugung und drückte stürmisch Rylejews Hand.

Der andere, der Bebrillte, warf sich erschrocken in den Sessel zurück.

»Alexander Sergejewitsch Gribojedow,« stellte der Wirt vor.

Gribojedow drückte Wilhelms Hand mit einiger Angst und flüsterte ganz leise Gretsch ins Ohr:

»Sagen Sie, der ist doch verrückt?«

Gretsch lachte laut:

»Wenn Sie wollen, ja. Aber verrückt in edlem Sinne.«

Gribojedow betrachtete Küchelbecker über die Brille hinweg.

»Und wie lange soll das noch dauern?« sprach Rylejew, und seine Nüstern blähten sich dabei auf. »Wie lange sollen diese Klagegesänge noch dauern? Diese Koketterie? Dieses unaufhörliche Weinen um die verflossene Jugend? – Sehen Sie, Wilhelm Karlowitsch,« er faßte Küchels Hand (dieser wußte nicht einmal, wovon die Rede war), »sehen Sie nur, was in unserer Literatur vor sich geht! Elegien, Elegien ohne Ende, Madrigale, Rondeaus, hol sie der Teufel, lauter Spielzeug, schöne Nippsachen, während der Despotismus immer stärker wird, während die Bauern Sklaven sind und Araktschejew und Metternich Europas Rücken mit Spießruten bearbeiten.«

»Ja …« Bulgarin rieb sich die schweißigen Hände. »Das ist alles wahr, teuerster Freund! Jedes Wort ist wahr. Nichts ist übertrieben. Aber sagen Sie nur, teurer Freund,« Bulgarin drückte beide Hände an die Brust und neigte den Kopf zur Seite, »sagen Sie, wo gibt es ein Heilmittel? Ja, ja, ja, wo gibt es ein Heilmittel gegen das alles?«

Er sah Rylejew mit seinen klaren, vorstehenden Augen an; es waren heitere Augen mit einem tief verborgenen Schimmer von Frechheit.

»Es gibt ein Heilmittel,« sagte Gribojedow langsam. »Man muß in der Literatur einen Umsturz herbeiführen. Man muß Schukowski mit seiner Hofromantik, mit seinen Parkettseufzern stürzen. Volkstümlichkeit, das ist unsere Sache. Die Sprache muß grob werden und anspruchslos wie das Leben selber, dann kommt die Literatur zu Kräften. Dann kommt sie endlich aus dem Krankenbett heraus.«

Wilhelm spitzte die Ohren. Das war ihm gänzlich neu. Er sprang auf, wollte etwas sagen, brachte aber nichts hervor, sondern sah Rylejew und Gribojedow mit geöffnetem Mund an.

»Erlauben Sie mir, Sie zu besuchen,« stieß er endlich aufgeregt hervor, »Sie, Kondratij Fjodorowitsch, und Sie, Alexander Sergejewitsch! Ich habe viel mit Ihnen zu besprechen.«

Ohne die Antwort abzuwarten, verneigte er sich läppisch und entfernte sich. Rylejew lächelte und zuckte die Achseln. Gribojedow neigte den Kopf nach vorne und schaute nachdenklich durch die Brille zu Wilhelm hinüber, der sich in eine einsame Ecke verkrochen hatte.

Seit diesem Abend ging Wilhelm oft zu Rylejew und zu Gribojedow. Besonders zu letzterem, da er bald nach Persien reisen sollte. Nach zwei Monaten waren sie Freunde.

Sie waren Altersgenossen, aber Wilhelm kam sich viel jünger vor. Gribojedows trockene Stimme und unlustiges Lächeln hatten etwas Greisenhaftes. Manchmal aber, besonders wenn er eine allzu gallig–bittere Äußerung getan hatte, lächelte er Wilhelm fast kindlich an. Wilhelm sah ihm mit verliebten Augen zu, wie er langsam durch das Zimmer wanderte, als ob er eine feste Stelle suche, auf die man gefahrlos treten könne. Er hatte leichte, graziöse Bewegungen.

»Alexander!« Wilhelm begann von einer Sache zu sprechen, die er längst schon auf dem Herzen hatte. »Wie kannst du so mit Bulgarin befreundet sein? Er ist natürlich ein erfahrener Journalist. Aber er ist doch ein dummer August, ein Falstaff, ein gemeines Geschöpf!«

»Gerade deshalb liebe ich ihn,« sagte Gribojedow lächelnd. »Mein lieber Freund, ich habe keine allzu große Achtung vor den Menschen. Bulgarin ist ein klarer Fall. Ein Caliban, weiter nichts. Warum sollte ich nicht mit ihm befreundet sein?«

Wilhelm schüttelte den Kopf.

Rylejew war ganz anders geartet. Er explodierte jeden Augenblick. Er streute mit Worten um sich wie mit Gewehrkugeln, sah fragend mit glänzenden Augen den Gesprächspartner an, um zu erforschen, ob er ihm beistimme, und suchte ihn zum Streit herauszufordern. Er hatte es nicht gern, wenn man ihm sofort und widerspruchslos recht gab. Streit war für ihn die größte Genugtuung. Aber es war unmöglich, lange mit ihm zu streiten. Schon der Klang seiner Stimme wirkte überzeugend auf den Gegner. Wenn bestimmte Namen genannt wurden, begann sein ganzes Gesicht zu zucken; schon das bloße Wort »Araktschejew« z.B. konnte er nicht hören. Genau so zuckte sein Gesicht, wenn er mit Wilhelm von den Bauern sprach, die man durch Frondienst zugrunde richtete, oder von den Soldaten, die man zu Tode peitschte. Gribojedows leise Wut wirkte auf Wilhelm fast beruhigend, während Rylejews Ausbrüche ihn aufregten. Ihn verließ er stets im Zustand völliger Fassungslosigkeit.

Einmal traf Küchel Puschtschin bei ihm. Halblaut, mit bedächtigem Nachdruck unterhielt sich Puschtschin mit Rylejew. Dieser schaute ihm unverwandt in die Augen. Bei Küchels Anblick brach Puschtschin sofort das Gespräch ab. Rylejew machte eine Bewegung mit dem Kopf und begann davon zu sprechen, daß der »Sohn des Vaterlandes« wie auch der »Newaer Beobachter« nichts tauge und daß man eine eigene Zeitschrift gründen müsse.

Wilhelm hatte das Gefühl, daß man etwas vor ihm verheimliche.

 

IV

Seit einiger Zeit war Tante Breitkopf, wenn Wilhelm sie besuchte, nicht mehr so froh wie früher. Obwohl sie ihm noch immer reichlich Sahne in den Kaffee schüttete, kam sie, sobald sie Wilhelm sah, seit einiger Zeit auf allerlei Gedanken. Wilhelm war ganz anders geworden, das stand für Tante Breitkopf fest. Irgend etwas beunruhigte ihn innerlich. Die Hände auf dem Tisch, den majestätischen Blick auf Wilhelm gerichtet, erging sie sich in heimlichen Vermutungen darüber, was wohl in ihm vorgehe. Er trank zerstreut den Kaffee, vertilgte zerstreut das ganze Gebäck und gab der Tante ungereimte Antworten. Endlich war es ihr klar: Wilhelm war verliebt, und man durfte allerlei Dummheiten von ihm erwarten.

Die Tante hatte recht: Wilhelm war tatsächlich verliebt, und man durfte tatsächlich allerlei Dummheiten von ihm erwarten.

Auf Anhieb hatte er sich verliebt, an einem einzigen Abend. Er glaubte: für immer. Eines Tages nahm ihn Delwig mit in den Salon von Sofja Dmitrijewna Ponomarewa. Wilhelm hatte bereits von dem interessanten Salon und seiner schönen Hausfrau gehört. In einem kleinen, gemütlichen Raum, an einem runden Tisch, der vollbelegt war mit Büchern, Heften und Blättern, saß bei mattem Lampenschein eine Gesellschaft beisammen. Küchel bemerkte sofort Krylows großes Gesicht mit den buschigen Augenbrauen, das so unbeweglich war, als hätte er in seinem ganzen Leben kein einziges Wort gesprochen; auch Gretsch war da, mit seiner Hornbrille teils wie ein Kanzleibeamter, teils wie ein Professor aussehend, und ein kleines Männchen mit rosigem Gesicht und schmalzigen Äuglein, namens Wladimir Panajew, dessen Idyllen Küchel nicht ausstehen konnte, ferner der einäugige Gneditsch und der weißhaarige Fabeldichter Ismajlow mit seinem breiten, sommersprossigen Gesicht. Küchels und Delwigs Erscheinen wurde von der Gesellschaft kaum beachtet. Überhaupt herrschte ein ungezwungener Ton in dem Salon; man kam, man ging, man unterhielt sich, mit wem man Lust hatte. Die ganze Einrichtung war einfach, und es standen nur wenig Möbel da, damit man sich um so freier bewegen konnte. Kaum eingetreten, fühlte Küchel sich sofort heiter und ruhig. Delwig führte ihn zu der Dame des Hauses. Sie saß auf einem großen Sofa, umgeben von einem halben Dutzend Schriftsteller, die ihr heftig den Hof machten. Sie war höchstens zwanzig Jahre alt und sehr hübsch: Grübchen in den Wangen, kleine, dunkle, schräg geschnittene, chinesische Augen und ein kleines Muttermal über der Oberlippe. Sie sprach schnell und lustig und lachte viel. Auf Küchel machte sie sofort ungewöhnlichen Eindruck. Ohne es zu merken, trat er dem großen Hund, der Sophie zu Füßen lag, auf die Pfote. Der Hund knurrte, fletschte die Zähne und sprang Wilhelm an. Auf das Knurren hin stürzte aus der anderen Ecke ein zweiter Hund herbei. Es entstand Verwirrung.

»Hektor! Malwine!« rief man von allen Seiten.

Lange konnte Sophie vor Lachen kein Wort hervorbringen. Endlich gelang es ihr, sich zu entschuldigen. Delwig nahm neben der Hausfrau Platz. Man sah, er war hier wie zu Hause. Er setzte sich sehr nahe an Sophie heran, und Wilhelm fiel es auf, daß er sich dann ziemlich unverschämt an sie drückte. Wilhelm kam das merkwürdig vor, während Sophie es für ganz natürlich zu halten schien. Zu seinem großen Unbehagen bemerkte Küchel Ollossinjka Illitschewski, der gerade den Salon betrat und von Sophie lebhaft begrüßt wurde. Alexej Damianowitsch war in den drei Jahren äußerlich ein gesetzter Mann geworden; er hatte ein ziemliches Bäuchlein und jene grünlichblasse Gesichtsfarbe, wie sie fast alle Petersburger Beamte haben. Sophie überschüttete Küchel mit melodischen, schnellen Fragen, die er gezwungen und schüchtern beantwortete.

Gegen Ende des Abends saß Küchel trübsinnig da, sprach wenig und beobachtete finster Delwig und Illitschewski, die ziemlich dreist der Dame des Hauses den Hof machten. Die anderen beachtete er gar nicht und vergaß sogar, sich für Krylow zu interessieren. Zusammen mit Ismajlow ging er dann weg. Delwig und Illitschewski blieben noch sitzen. Als der dicke, vierschrötige Ismajlow im blauen, langschößigen Rock neben dem langen, mageren, schwarz befrackten Küchel den Salon verließ, lachte Sophie hinter dem komischen Paar her. Küchel hörte das Lachen und verzog schmerzlich das Gesicht. Ismajlow sah ihn durch die silberne Brille an und zwinkerte ihm lustig zu.

Im Vorraum erregte ein sonderbares Bild ihre Aufmerksamkeit: zwei Diener suchten einen schwer betrunkenen Mann vom Eintritt in den Salon zurückzuhalten.

»Aha! Die Skribenten!« sagte der Betrunkene. »Na, habt ihr nun genug dagehockt?« Dann schien er sich zu besinnen und sagte plötzlich höflich: »Sehr angenehm! Sehr angenehm!«

Wilhelm riß Mund und Augen auf, aber Ismajlow zog ihn schnell auf die Straße.

»Das ist Sophia Dmitrijewnas Mann!« Ismajlow lächelte. »Der Ärmste ist bei ihr in Ungnade und säuft deshalb.«

Wilhelm zuckte die Schultern. Alles in dem Hause erschien ihm sonderbar.

In dieser Nacht konnte er nicht schlafen, und am nächsten Tag schickte er Sophie Blumen. Am übernächsten Tag fuhr er zu ihr. Sophie war allein. Sie ließ ihn sofort eintreten, ging ihm entgegen, faßte ihn an der Hand und lud ihn neben sich aufs Sofa ein. Dann sah sie ihn von der Seite an:

»Wilhelm Karlowitsch, es freut mich sehr, daß Sie mich besuchen!«

Wilhelm saß da, ohne sich zu rühren.

»Warum sind Sie so menschenscheu? Man sagt, Sie wären ein Menschenhasser, ein Misanthrop. Sind Sie ein Alceste?«

»Oh, nein,« murmelte Küchel.

»Man erzählt von Ihnen tausend schreckliche Dinge. Sie seien ein Duellant, ein gefährlicher Mensch. Sie scheinen ja tatsächlich ein unheimlicher Mensch zu sein!«

Küchel sah in ihre dunklen Augen und schwieg, dann nahm er ihre Hand und küßte sie.

Sophie sah ihn an; sie lächelte, stand auf und zog ihn an den Tisch. Dort schlug sie ein Album auf und sagte:

»Lesen Sie und schreiben Sie dann etwas ein, Wilhelm Karlowitsch. Ich schaue Ihnen inzwischen zu.«

Ohne zu wissen, was er tat, umarmte er sie plötzlich.

»Oh,« rief Sophie erstaunt. »Sie scheinen gar kein solcher Misanthrop zu sein, wie man erzählt!«

Sie lachte, und Wilhelms Hand sank herunter.

»Ich leide Ihretwegen,« murmelte er.

»Hören Sie,« Sophie wechselte schnell das Gespräch, »Delwig hat mir neulich den ganzen Abend von Ihnen erzählt.«

»Was hat er denn gesagt?«

»Er meint, Sie seien ein ungewöhnlicher Mensch. Sie würden einmal berühmt … und unglücklich sein,« fügte sie etwas leiser hinzu.

»Ich weiß nicht, ob ich je berühmt sein werde,« sagte Wilhelm finster, »unglücklich bin ich heute schon.«

»Schreiben Sie doch etwas ins Album, Wilhelm Karlowitsch. Jetzt sind Sie unglücklich. In Zukunft werden Sie berühmt. Diese zwei Eigenschaften genügen, um Ihre Eintragung denkwürdig zu machen.«

Wilhelm blätterte mißvergnügt in dem Album.

Auf der ersten Seite hatte Gretsch mit seiner pedantischen Handschrift geschrieben:

 

Zeitgenössische russische
Bibliographie.

Neuerscheinungen.

Sophie Dmitrijewna Ponomarewa, ein komischer, aber empfindsamer Roman mit kleinem Anhang. Sankt-Petersburg, kleines Oktav, Druckerei von Mme. Blümer, 19 S.

 

(Bei der Lektüre dieses Buches verlor ich anfangs die Geduld: Die Gedanken des Autors zerfließen nach allen Richtungen. Ein Gefühl jagt das andere. Die Worte wirbeln wie Schneeflocken im November. Doch das Ganze ist so nett und liebenswürdig, daß man schließlich doch hingerissen wird. Hat man das Buch gelesen, dann sagt man sich: Was für eine nette Ausgabe! Nur schade, daß manche Druckfehler stehen geblieben sind!) –

»Wie?« fragte Wilhelm entrüstet. »Hat er das Buch denn überhaupt gelesen?«

»Mein teuerster Misanthrop,« erwiderte Sophie. »Mir scheint, Sie werden ein bißchen frech. Geduld, wenn ich bitten darf!«

»Nikolaj Iwanowitschs Witz riecht nach Kanzlei,« brummte Wilhelm.

Auf der anderen Seite stand mit eckiger, altertümlicher Schrift:

Der Rose Duft ist ein vergänglich Ding.
Nicht lange nippt daran der bunte Schmetterling.
Drum, Rose, eile dich, verliere keine Zeit,
Küß schnell mit deinem rosenroten Mund.
Du blühst nur eine kurze Stund'
Und welkest eine ganze Ewigkeit!

Unter diesen Versen von der spielerischen Läppischkeit eines Tanzbären stand der Name eines berühmten Gelehrten.

Plötzlich wurde es Küchel dunkel vor den Augen. Der süßliche Poesiekonditor Wladimir Panajew hatte ein anzügliches Gedicht in das Album eingetragen:

Selig, wer heimlich dich betrachten kann,
Noch seliger, wer deiner Rede lauscht, der süßen.
Ein halber Gott der Mann,
Der sich erdreistet, dich zu küssen.
Den Weg zu den Unsterblichen er findet,
Wenn seine kühne Hand den Gürtel dir entwindet!

»Wieso haben Sie diesem idyllischen Beamten Aufnahme in Ihr Album gewährt?« fragte Wilhelm grob und wurde blaß.

»Das Album steht jedem offen,« meinte Sophie, ohne ihn anzusehn.

Zuletzt stand in Olossinjka Illitschewskis feierlicher Schrift da:

Sobald Sie kommen, hört man lauter Klagen:
Die Ehemänner möchten fast verzagen,
Weil sie beschwert mit Weib und Kind,
Die Junggesellen aber sind von Gram geschlagen,
Weil Sie, madame, schon nicht mehr Fräulein sind!

Wilhelm schlug das Album zu.

Sophie öffnete es wieder mit ihren weißen Fingern und sagte energisch:

»Schreiben Sie!«

Küchel sah sie an und raffte sich dann zu einem Entschluß auf.

Er setzte sich hin und schrieb:

»I was well, would be better, took physik and died.«

Dann stand er auf, trat auf Sophie zu und umarmte sie.

 

V

Wilhelm verlor immer mehr den Boden unter den Füßen. Oft fuhr er nachts aus dem Schlaf, richtete sich im Bett auf und starrte mit den leeren, vorstehenden Augen auf das wie in einem Sarg schlafende Petersburg. Eine kalte Hand preßte ihm das Herz zusammen und ließ es dann wieder frei, ganz langsam, einen Finger nach dem andern lockernd. War das Sophie? Oder war das einfach sein Spleen, der ihn die Stunden, Tante Breitkopf, die Zeitschriften fliehen ließ?

Er wußte es nicht. Überhaupt, alles um ihn her begann zu wanken. Unterirdische Stöße erschütterten das Leben, und jeden einzelnen spürte Wilhelm unter Schmerzen. Tag für Tag erschütterten diese Stöße Europa, die ganze Welt.

1819 blitzte der Dolch in der Faust des Studenten Sand, und dieser Dolch traf nicht bloß den Spion Kotzebue; ganz Europa wußte, daß der Stich auch Alexander und Metternich galt. Kotzebue war russischer Spion, der in Alexanders Auftrag mit Zustimmung der Heiligen Allianz die deutschen Universitäten »überwachte«, diese einzige Zuflucht der Deutschen vor Metternich, der mit seinen langen Fingern den russischen Zaren wie einen Hampelmann nach seinem Willen tanzen ließ.

Bald darauf blitzte das Messer in Louvels Faust: Im Februar wurde der Herzog von Berry ermordet. Dies war an sich weniger aufregend als die näheren Begleitumstände der Tat. In den Salons erzählte man sich die Einzelheiten. Der ganze Hof war in der Oper. Nach Schluß der Vorstellung bahnte sich ein Mann den Weg durch die Menge zum Ausgang, packte in aller Ruhe den Herzog am Kragen und stieß ihm ein krummes Messer in die Brust. Beim Verhör erklärte er stolz, sein Ziel sei, die ganze Bourbonensippe auszurotten.

Die Köpfe der Könige begannen wieder unsicher auf den Hälsen zu sitzen. Mitten in einer zahlreichen Menschenmenge, fast unmittelbar vor den Augen Ludwigs des Ersehnten war der Thronfolger ermordet worden. In Spanien sah es vielleicht noch ernster aus: der König, ängstlich und feige wie ein Hase, wich Schritt für Schritt vor den Cortes zurück. Auf Verlangen des Volkes wurde ein früherer Zuchthäusler zum Justizminister ernannt, ein Mann, den der König seinerzeit selbst zur Galeere verurteilt hatte. Die Volksmassen unter der Führung Quirigas und Riegos fingen an, in dumpfer Empörung sich zu regen. Sie forderten die Köpfe der Günstlinge, und der König gab sie einen nach dem anderen preis.

Im Mai 1820 wurden Einzelheiten der Hinrichtung Sands bekannt. Er hatte angesichts des Todes nicht mit der Wimper gezuckt. Das Volk tauchte die Taschentücher in sein Blut. Man nahm vom Schafott Holzsplitter als heilige Reliquien nach Hause mit. Die Hinrichtung war ein einziger Triumph des Delinquenten. Die Regierung hatte geradezu Angst davor. Man vollzog die Exekution zu einer früheren Stunde als üblich. Sie sollte heimlich vor sich gehen. Trotzdem drängte sich um das Schafott eine tausendköpfige Menge, und als Sand vollkommen ruhig das Gerüst bestieg, entblößten die Studenten das Haupt und stimmten zum Abschied ihr Freiheitslied an.

Am 15. September 1820 brachte ein Schiff aus Lissabon die Nachricht vom Ausbruch der Revolution in Portugal. Das Volk hatte die spanische Konstitution proklamiert.

In Griechenland begann der Freiheitskrieg gegen die Türken. Der Geist des alten Hellas erwachte wieder in den neuen Hetärien.

Das war der Kalender der europäischen Erdbeben. –

Nicht bloß unter Wilhelms Füßen wankte der Boden. Oft platzte Puschkin wie eine Bombe in sein Zimmer, rüttelte ihn, erklärte immer wieder, daß sie alle nach Griechenland fliehen müßten, las ihm seine boshaften Noëls gegen den Zaren vor und verschwand wieder. Nirgends hielt er es aus. Er trieb sich in den Theatern und bei den Husaren herum, und Wilhelm wunderte sich, wo er bloß die Zeit hernahm, um überall dabei zu sein, wie er es anstellte, um nicht geradezu vor lauter Aufregung zu explodieren. Puschkins verbotene Verse machten die Runde durch ganz Rußland. Alles las sie. Man war begeistert. Die Damen schrieben sie in ihre Poesiealbums. Schneller als die Zeitungen drangen sie in alle Winkel des Landes.

Endlich leistete er sich einen Hauptstreich! In der Oper reichte er nonchalant seinem Nachbar ein Bild Louvels mit dem Untertitel »Lektion für Zaren«. Puschkins Handschrift war deutlich zu erkennen. Das Porträt wanderte von Hand zu Hand durch das ganze Theater, bis es ein großer, schwarzer Mann in schäbigem Frack in die Hand bekam. Der steckte es in die Tasche und fragte leise seinen Nachbar:

»Wer hat das geschrieben?«

Der Nachbar zuckte die Achseln und lächelte:

»Wahrscheinlich Puschkin, der Dichter.«

Der Mann wartete den Schluß des Aktes ab und verschwand dann unauffällig. Es war Vogel, Hauptspitzel und rechte Hand des Generalgouverneurs von Petersburg, des Grafen Miloradowitsch. Am nächsten Tage hatte Graf Miloradowitsch ein langes, vertrauliches Gespräch mit dem Zaren.

Dieser weilte gerade zur Erholung in Zarskoje Selo. Bald nach Miloradowitschs Vortrag traf er Engelhardt im Garten. Auf seinem Gesicht lag Verachtung und Unwille; er rief Engelhardt heran und sagte:

»Puschkin muß nach Sibirien verbannt werden. Ganz Rußland hat er mit seinen empörenden Gedichten überschwemmt. Die ganze Jugend kennt sie auswendig. Er ist sehr frech.«

Engelhardt war entsetzt. Er schrieb sofort an Delwig und Küchel und beschwor beide, jeden Verkehr mit Puschkin abzubrechen. »Vernunft, Vernunft, mein lieber Wilhelm!« schrieb er. Seine Angst war maßlos, und er wußte selber nicht, ob er um das Lyzeum oder um sich selber besorgt war.

Puschkin wurde im Mai zwar nicht nach Sibirien, aber nach dem Süden verbannt.

An dem guten Wilhelm jedoch hatte Engelhardt seine Freude. Als er im Juni die vierte Nummer der geschätzten Zeitschrift »Freund der Bildung und des Gemeinwohls« las, konnte er sich zu seiner Genugtuung davon überzeugen, daß Küchel auch im Sommer fleißig war; an bevorzugter Stelle stand dort ein Gedicht »Poeten« von Küchel. Jegor Antonowitsch setzte die Brille auf und begann zu lesen. Je weiter er aber las, desto größer wurde sein Entsetzen. Er riß Mund und Augen auf, und seine Stirn bedeckte sich mit Schweiß:

Sag, Delwig, mir, wo ist der Lohn
Für hohe Taten und Gesänge?
Talente ernten stets nur Hohn
Bei der verdummten, rohen Menge.
Die Peitsche droht dem Bösewicht
In Juvenals gestrenger Hand.
Er bebt. Aus seinem Angesicht
Entweicht das Blut. Er ist erkannt.
Zittert, Tyrannen! Was nützt Rache?
Des Dichters feierlicher Sang,
Des Helden kühner Überschwang,
Unsterblich ist der beiden Sache!
Auch unser Bund wird niemals sterben.
Bestrahlt von ewiger Musen Gunst,
Wird er für stolze Ziele werben
Durch kühne Taten, hohe Kunst.

In dem bescheidenen »Freund der Bildung und des Gemeinwohls« standen in ganz gewöhnlichen Buchstaben zum Schluß folgende Verse:

Auch du, o junger Koryphäe, Puschkin. Anmerkung der Übersetzerin.
Du Sänger sonder Angst und Bangen,
Dich schreckt nicht das Gezisch der Schlangen,
Der Schrei der Eule und der Krähe!

»Eule und Krähe!« piepste Engelhardt fassungslos mit dünner Stimme.

Daß die Zensur so etwas durchlassen konnte! Daß das Papier nicht rot geworden war vor Scham! Küchel war verloren. Aber es handelte sich nicht um Küchel, sondern um das Lyzeum. Um das Lyzeum! Das warf einen Schatten auf das ganze Lyzeum! Das Lyzeum war verloren. Daran war nicht zu zweifeln. Und wer war schuld daran? Zwei unorganisierte Geschöpfe, zwei Wahnsinnige: Puschkin und Küchelbecker!

Engelhardt nahm die Brille ab, legte sie ordentlich auf den Tisch, holte ein riesiges Schnupftuch aus der Tasche, verbarg sein Gesicht darin und begann zu schluchzen.

 

VI

Eines Tages kam Puschtschin zu Wilhelm, saß eine Zeitlang bei ihm, sah mit hellen Augen um sich, verzog das Gesicht und meinte:

»Was für eine Unordnung, Wilhelm!«

Wilhelm sah sich zerstreut um und merkte, daß im Zimmer tatsächlich entsetzliche Unordnung herrschte. Die Bücher lagen auf dem Fußboden und auf dem Sofa herum. Überall Haufen von Manuskripten. Tabakasche bedeckte den Tisch.

Puschtschin betrachtete aufmerksam den Freund. Er besaß die Gabe, die innere Sachlage sofort zu erraten und auf alle Fragen eine Antwort zu geben. Er brachte Ordnung in alles, womit er in Berührung kam.

»Mein Lieber, dir fehlt eine Arbeit.«

»Ich arbeite ja,« sagte Wilhelm. Puschtschin wirkte stets beruhigend auf ihn.

»Darum handelt es sich nicht. Dir fehlt nicht irgendeine Beschäftigung, sondern eine richtige Arbeit … Du mußt dich zusammennehmen, Willi. Bist du heute Abend frei?«

»Ja.«

»Komm doch zu Nikolaj Iwanowitsch Turgenjew. Wir werden dort über verschiedenes sprechen.«

Weiter sagte er nichts. Er lächelte Wilhelm zu, umarmte ihn etwas unerwartet und ging.

Am nächsten Tage bei Turgenjew traf Wilhelm Bekannte; Kunizyn, Puschtschin und einige von den Lyzeisten waren darunter.

Turgenjew kam Wilhelm hinkend entgegen. Er hatte üppiges, blondes Haar. Die Züge des großen, rosigen Gesichtes waren regelmäßig, fast griechisch, der Blick seiner grauen Augen auffallend hart. Er streckte Wilhelm die Hand entgegen und sagte kurz:

»Willkommen, Wilhelm Karlowitsch, wir haben auf Sie gewartet.«

Wilhelm entschuldigte sich und machte ein düsteres Gesicht. Es schien ihm, als sei Turgenjew mit seiner Verspätung unzufrieden. Puschtschin nickte ihm vertraulich zu, und Wilhelm beruhigte sich allmählich.

Am Tisch saßen etwa fünfzehn Menschen. Das kleine, magere Gesicht des Dichters Fjodor Glinka mit den gutmütigen Äuglein lächelte Wilhelm freundlich zu. In der Ecke, die Beine übereinandergeschlagen, die Arme gekreuzt, stand Tschaadajew; seine glänzende Uniform stach aus den schwarzen und bunten Röcken und Fräcken der anderen hervor. Seine fahlen Augen streiften gleichgültig Wilhelm. Alle warteten auf Turgenjews Ansprache. Er begann mit der Geste des geübten Redners. Er sprach kalt, so daß seine Worte besonders energisch klangen:

»Ich täusche mich wohl kaum, meine Herren, wenn ich sage, daß uns alle, die wir hier versammelt sind, ein gemeinsamer Wunsch verbindet, der Wunsch nach sofortigen Änderungen. Das Leben ist schwer. Die Unbildung versperrt überall der Aufklärung den Weg. Das Spitzelwesen macht sich mit jedem Tage breiter. Die Gesellschaft geht in privaten, kleinlichen Sorgen auf. Boston ist ihr bestes Opium; es wirkt sicherer als alle anderen Mittel. Alles erstickt. Der Grundunterschied zwischen uns und den Menschen, die ihre Zuflucht im Boston suchen, ist folgender: Wir haben die Hoffnung, die Gesellschaft zu verändern. Natürlich, ein gesund denkender Mensch,« diese Worte betonte Turgenjew ironisch, »ist vielleicht der Ansicht: Alles in der Welt geht vorüber. Das Gute und das Böse hinterläßt fast keine Spuren. Wozu alles? denkt man (seine Augen streiften über die Anwesenden hin). Was haben jetzt die Griechen und die Römer davon, daß sie Republikaner waren? – Soll das vielleicht den Menschen veranlassen, apathisch zu bleiben?« Er sah fragend zu Tschaadajew hinüber.

Der stand da mit gekreuzten Armen, und seine große, glänzende Stirn ließ keinen seiner Gedanken erraten.

»Der Mensch ist für die Gesellschaft geschaffen,« fuhr Turgenjew fort, jedes Wort betonend. »Er ist verpflichtet, das Wohl seiner Nächsten zu erstreben, mehr als sein eigenes. Er muß stets streben,« wiederholte er, »sogar wenn er nicht sicher ist, sein Ziel zu erreichen.« Turgenjew machte eine abwehrende Geste. »Sogar, wenn er sicher ist, das Ziel nicht zu erreichen. Wir leben, also müssen wir für das allgemeine Wohl tätig sein.«

Wieder wandte er sich Tschaadajew zu, als ob er dessen Einverständnis bezweifle.

»Man kann sich leicht von der Nichtigkeit des menschlichen Lebens überzeugen,« sagte er, »aber diese Nichtigkeit zwingt uns um so mehr, alle Gefahren und Gewalten zu verachten, allen Gefahren und Gewalten zu trotzen, denen wir« – diese Worte betonte er besonders – »unvermeidlich ausgesetzt sind, wenn wir dem Drang unseres Herzens und unserer Vernunft folgen.«

Schroff schloß er seinen Gedankengang ab:

»Kurz, wie nichtig und leer auch das Ziel unseres Lebens sein mag, wir dürfen dieses Ziel nicht verachten, wenn wir uns nicht selber verächtlich machen wollen.«

Er sah die Anwesenden an. Seine Stimme bekam einen weichen Klang. Er lächelte plötzlich.

»Vielleicht war das, was ich eben sagte, ganz überflüssig … Doch die Sache, deren Durchführung ich jetzt vorschlage, ist schwierig, so daß es besser ist, zu viel als zu wenig zu sagen. Ich fahre fort. Fünfundzwanzig Jahre Krieg gegen den Despotismus, dieser überall glücklich beendete Krieg hat zu einem noch schlimmeren Despotismus geführt. Europa wird durch seine Regierungen in die Tiefen der Barbarei hinabgedrückt, in denen es schon früher lange genug geschmachtet hat. Die neue Rettung wird viel schwieriger sein. Überall gleichen die Tyrannen den Schafhirten.«

»Bei uns in Rußland auch ihrer Bildung nach,« brummte Tschaadajew aus der Ecke.

Turgenjew schien ihn nicht zu hören.

»Der Hirte jagt seine Schafe hin und her, wie er will,« fuhr er fort. »Doch die Schafe wollen nicht gehorchen. Da hetzt der Hirte die Hunde auf sie. Was sollen nun die Schafe tun?« Er lächelte, verächtlich.

»Sie sollen aufhören, Schafe zu sein. Despoten, die ihre Schafe mit Hilfe von Polizisten beherrschen, fürchten sich vor den Wölfen. Der Räuberei, Gemeinheit und Willkür müssen wir unsere Entschlossenheit als Schranke entgegenstellen. Werden wir stark und entschlossen! Haben wir wenigstens keine Furcht, auch dann, wenn wir keine Hoffnung haben! Ich komme jetzt zu unserem eigentlichen Ziel. Von Jahr zu Jahr rückt die Entscheidung näher. Die verhaßte zaristische Regierung wankt. Wenn wir sie nicht richten, wird die Geschichte sie richten. Wann kommt die Entscheidung? Werden wir sie noch erleben? Das wissen wir nicht. Doch alle fühlen, daß dies le commencement de la fin ist. Wir wollen also nicht in starrer Faulheit auf unsere Stunde warten … Ich will jetzt zu unseren nächsten Zielen übergehn.«

Turgenjews graue Augen wurden dunkel, sein Gesicht blaß, die Stimme dumpf und rauh.

»Unser nächstes Ziel ist die Abschaffung unserer Schmach, unseres Kainszeichens, der niederträchtigen Sklaverei, die bei uns herrscht. Der russische Bauer wird wie ein Stück Vieh, wie eine Ware gekauft und verkauft.«

Turgenjew stand vom Sessel auf:

»Eine Schmach, eine Schmach, an der wir alle, die wir hier sind, mitbeteiligt sind,« rief er und fuchtelte mit der Krücke.

Alle schwiegen. Turgenjew holte Atem und lehnte sich in den Sessel zurück. Sein Blick traf alle Anwesenden.

»Die russischen Bauern müssen unverzüglich im ganzen Reich von ihren Ketten befreit werden.«

Er schwieg. Plötzlich sagte er, zerstreut um sich blickend und mit einem merkwürdigen Ausdruck, als verlange ein innerer Zweifel Antwort von ihm:

»Diese Frage ist, verglichen mit allen anderen, so wichtig, daß von ihr die Regierungsform abhängt, die wir anzustreben haben. Sie ist die Hauptsache. Die Vorteile der republikanischen Regierung sind unbestreitbar. Der besondere Charakter der Menschen und Parteien tritt in der Republik viel ausgesprochener hervor (er sagte das französisch: plus prononcé), und der Mensch entschließt sich ohne Schwanken, ohne duplicité für die ihm zusagende Denk- und Handlungsweise, für seine Partei. Im monarchistischen System ist der Mensch stets gezwungen, auch ohne daß er es will, Gott und dem Teufel zugleich zu dienen. Ein fester Entschluß ist oft für ihn schädlich und stets zwecklos. Ein Zar ist stets von gemeinen Lumpen umgeben. So wird es immer sein. Gemeinheit ist ein vom Zaren untrennbarer Begriff. Die Vorteile der Republik sind unbestreitbar. Andererseits aber,« fuhr er nachdenklich fort, »ist es gefährlich, die Selbstherrschaft aufzugeben, bevor die Leibeigenschaft aufgehoben ist.«

Wieder betrachtete er zerstreut alle Anwesenden und schloß langsam:

»Denn der Adel, die Pairs, auf die die unumschränkte Gewalt dann überginge, würden die Leibeigenschaft nur noch verschlimmern, statt sie zu mildern.«

Es trat ein kurzes Schweigen ein.

»Und doch kann ich mich nicht mit Nikolaj Iwanowitsch einverstanden erklären,« begann Kunizyn, als setze er einen alten Streit fort. »Die Standesinteressen dürfen nicht über die Staatsinteressen gehn; die Staatsordnung spiegelt sich im gesamten Gesellschaftsleben wider. In einer Republik werden die Bauern freie Bürger sein.«

»Wenn der Adel, dem die ganze Macht der Republik gehört, geruhen wird, sie zu befreien,« erwiderte Turgenjew ironisch. »Auf jeden Fall sind wir alle, glaube ich, einig, daß das Leibeigenenrecht oder vielmehr die Rechtlosigkeit der Leibeigenen mit der Wurzel ausgerottet werden muß. Ich sehe nur ein Mittel dafür: die freie Presse. Ich schlage deshalb vor, eine Zeitschrift ohne Genehmigung des Zensurkomitees herauszugeben. Das Ziel der Zeitschrift muß der Kampf gegen die Leibeigenschaft und für die bürgerliche Freiheit sein. Ich bitte Sie, meine Herren, sich zu dieser Frage zu äußern.«

Als erster sprach Fjodor Glinka, ein kleines Männchen mit sanften, traurigen Augen:

»Vor allem, glaube ich, meine Herren, muß die Zeitschrift so billig sein, daß auch die Kleinbürger und sogar die Bauern sie kaufen können.«

Turgenjew nickte zustimmend.

»Und ich als Ökonomist, werter Fjodor Nikolajewitsch, füge noch hinzu, daß wir die Zeitschrift in zwei– bis dreimal größerer Menge als gewöhnlich absetzen müssen.«

Ganz nebenbei, gar nicht offiziell, bemerkte Puschtschin:

»Man muß die Druckerei an entlegener Stelle, vielleicht auf dem Lande einrichten, damit die Schafhirten, die Sbirren, keinen Wind davon bekommen.«

Alle lachten.

Wilhelm sagte stockend und aufgeregt:

»Eine Zeitschrift, das ist schwer. Das Erscheinen kann oft verzögert, der Verkauf erschwert werden. Es wäre besser, unter dem Volk, auf den Jahrmärkten Flugblätter zu verbreiten. Auch in der Armee und in den Gouvernements.«

Turgenjew betrachtete Wilhelm aufmerksam: »Ein glänzender Gedanke. Man kann auch Karikaturen auf den Zaren und Araktschejew verbreiten; Gelächter trifft empfindlicher als gelehrte Untersuchungen. Meine Herren, ich schlage vor, die Redakteure zu wählen.«

»Turgenjew!« riefen alle.

Turgenjew nickte leicht.

»Küchelbecker,« sagte Puschtschin.

Wilhelm wurde rot, erhob sich linkisch und verneigte sich.

»Und Sie, Pjotr Jakowlewitsch, warum melden Sie sich nicht?« fragte Turgenjew lächelnd Tschaadajew.

»Ich freue mich,« sagte Tschaadajew leise, »ich freue mich, an der illegitimen Zeitschrift teilzunehmen, die in dem illegitimen Lande sehr am Platz sein wird.«

Turgenjew lächelte.

Als man auseinanderging, sagte er zu Wilhelm freundlich und herablassend:

»Je porte respect aux rêves de ma jeunesse. Die Erfahrung hindert oft das Streben nach dem Guten. Welches Glück, daß wir noch unerfahren sind!«

 

VII

Aber die Sache verlief im Sande. Zweimal kam Puschtschin noch zu Wilhelm, sprach von einer Druckerei, daß es immer noch nicht mit ihr klappe, daß man immer noch keine passende Unterkunft für sie habe. Turgenjew reiste bald ins Ausland. So hatte die illegitime Zeitschrift doch nicht das Licht der Welt erblickt.

Wilhelm verstand sich selber nicht mehr. Er war schwermütig. Er wußte nicht einmal genau, ob er Sophie liebte. Er wußte nicht, wie er das nennen sollte: Nachts überkam ihn die Sehnsucht, der Wunsch, sofort, in derselben Minute noch, die dunklen, chinesischen Augen, das Muttermal an der Oberlippe zu sehen. Wenn sie sich aber trafen, war er kalt, schweigsam. Sehnte er sich deshalb, weil er verliebt war, oder war er verliebt, weil er sich sehnte? Er war jeden Augenblick bereit, zugrunde zu gehn, sein Leben zu opfern, wofür und wie, das konnte er vorläufig selbst nicht sagen. Sands Schicksal erregte seine Phantasie.

Sophie aber war in sein Leben getreten, wie man in ein Zimmer tritt, und hatte sich darin niedergelassen mit dem ganzen Gepäck ihrer Interessen und Gewohnheiten. Das war für sie eine etwas komische, etwas unbequeme, aber immerhin merkwürdige und reizvolle Unterkunft. Wilhelm indes beobachtete fassungslos, wie ihre Augen von dem rosigen Panajew zu dem blassen Illitschewski hinüberflogen und dann zu dem nachdenklich trägen Delwig und sogar zu dem einäugigen Gneditsch.

Turgenjews Zeitschrift kam nicht vom Fleck. Der Dienst im Kollegium für auswärtige Angelegenheiten, die Stunden im Adelspensionat begannen Wilhelm zu ermüden. Sogar die Aussicht auf die Kalinkinbrücke, die sich aus seinem Mezzanin bot (er wohnte in einem winzigen Mezzanin des Adelspensionats), ärgerte ihn. Mischa Glinka spielte ganze Tage Klavier, und das zerstreute Wilhelm. Bei diesem Jungen mit den schläfrigen Augen bekamen alle Musikstücke, die Wilhelm jemals gehört hatte, neue Gestalt. Ljowa Puschkin, der Junge mit den weißen Zähnen und dem krausen Haar, ein ausgelassener Raufbold und Nichtsnutz, fand bei Wilhelm unwandelbare Zärtlichkeit. Aber er stellte solche Streiche an, bereitete Wilhelm solche Unannehmlichkeiten, daß dieser manchmal entsetzt war. Er bedauerte schon, in das Pensionat übergesiedelt zu sein.

Einmal traf Wilhelm bei Tante Breitkopf Dunja Puschkin. Sie hatte eben das Katharineninstitut beendet und war erst fünfzehn Jahre alt. Sie war entfernt verwandt mit Puschkin, und Wilhelm liebte jetzt alles, was ihn an seinen verbannten Freund erinnerte. Außerdem war Dunja so lustig, hatte so leichte und freie Bewegungen, daß Wilhelms Schwermut von selbst verging, wenn er das Mädchen sah. Er begann nun öfters die Tante zu besuchen, und auch Dunja kam oft hin. Einmal, als Wilhelm besonders finster war, berührte sie seine Hand und sagte schüchtern:

»Weshalb so traurig?«

Als Wilhelm nach Hause kam und auf Zehenspitzen sein Zimmer erreichte – im Nachbarzimmer schliefen schon längst die Jungen –, blieb er lange am Fenster stehn und betrachtete die schlafende Newa. Er dachte:

»Weshalb so traurig?«

 

VIII

Wilhelm blieb lange bei Rylejew sitzen. Vor den Fenstern war Herbst, eine klare Nacht, und er hatte keine Lust, wegzugehn. Rylejew war ruhiger und ernster als sonst. Irgendwelche häuslichen Unannehmlichkeiten bedrückten ihn. So liebte ihn Wilhelm: in sich gekehrt und müde.

Plötzlich hörten sie draußen laute Stimmen; Rylejew schaute hinaus und zog Wilhelm ans Fenster; aufgeregte Trupps von Menschen liefen die Straße entlang. Dann hörte man den Schritt anmarschierender Soldaten, das Rattern vorbeifahrender Kanonen und Munitionswagen, Pferdegetrappel. Ein Offizier mit verzerrtem Gesicht sprengte vorüber.

»Komm. Wollen sehn, was los ist!«

Sie eilten aus dem Haus und holten die laufende Menge ein.

Im Laufen fragten sie:

»Was ist denn los?«

Niemand wußte etwas Genaues. Ein Offizier antwortete zögernd:

»Im Semjonowregiment sind Unruhen ausgebrochen.«

Rylejew blieb stehen und holte Atem. Er wurde blaß. Seine Augen begannen zu glänzen.

»Gehn wir hin,« sagte er mit erstickter Stimme.

Sie liefen bis zum Semjonowplatz.

Vor dem Hospital stand eine schwarze Masse Soldaten in voller Ausrüstung. Die fassungslosen, entsetzten Kompagnieführer liefen hin und her, baten um irgend etwas, gestikulierten lebhaft, rannten vom linken Flügel zum rechten und wieder zurück. Niemand hörte auf sie. Es war dunkel. Wilhelm schien es, als ob das Dunkel von Stille erfüllt wäre und die Stille wiederum von Schreien und Gemurmel. An einer Stelle stieg der Schrei auf, einsam und schwach, dann lief er anschwellend zwei, drei Reihen entlang, dann wurde er zum Geheul:

»Die Kompagnie!«

»Die Kompagnie zurück.«

»Her mit Schwarz!«

Im Semjonowregiment hatte es schon lange gegärt. Der Regimentskommandeur Schwarz war ein Vieh, ein echter Schüler Araktschejews. Er war der Liebling des Großfürsten Michail Pawlowitsch, der strenge Kommandeure liebte. Schwarz führte für die Soldaten ein noch nie da gewesenes Zuchthausregime ein. In den Schneider- und Schusterwerkstätten arbeitete man von morgens früh bis in den späten Abend. Endloser Drill, fast jede Woche Probeparaden. Dann erlaubte er den Soldaten überhaupt nicht mehr, zur Arbeit zu gehn, und behauptete, die militärische Disziplin leide, wenn sie arbeiteten. Die Soldaten hatten kein Geld, und der Araktschejewschüler forderte peinlichste Sauberkeit. In zwei Monaten hatte die erste Kompagnie das ganze Artelgeld, das für Fleisch bestimmt war, für Bürsten, Kreide und Gamaschen verbraucht. Die Soldaten sahen ausgehungert aus. Als Krönung des Ganzen führte Schwarz nun das Zehnersystem ein. Er befahl den Kompagnien, der Reihe nach jeden Tag zehn Mann zu ihm zu schicken. Um sich von seiner Tagesarbeit zu zerstreuen, drillte er sie in einem Saal. Sie mußten sich nackt ausziehn und stundenlang stramm stehn; man band ihnen die Beine zusammen, riß ihnen die Schnurrbarthaare aus und spuckte ihnen in die Augen. Der Oberst gab dazu die Kommandos, während er auf dem Boden lag und mit Händen und Füßen trommelte. Vollends unerträglich wurde die Situation dadurch, daß Schwarz kein gewöhnliches Vieh war: er verhöhnte die Soldaten und Offiziere und äffte sie nach mit Bewegungen und Grimassen; wahre Krämpfe schüttelten ihn, und mit dünner Stimme schrie er den Leuten unflätige, sinnlose Schimpfworte ins Gesicht. Er war kein einfaches, sondern ein schauspielerisch begabtes Vieh; vielleicht grimassierte er bloß, um Suworow nachzuahmen.

In der Zeit vom 1. Mai bis zum 3. Oktober bestrafte er 44 Mann. Jeder bekam 100 bis 500 Peitschenhiebe. Das machte im ganzen vierzehntausendzweihundertfünfzig Hiebe. Auf den Mann kamen durchschnittlich dreihundertvierundzwanzig.

Die erste Kompagnie verlor endlich die Geduld. Sie reichte eine Petition ein. Sie begann zu murren.

Da ließ der Korpskommandeur Wassiltschikow die Kompagnie zu einer Besichtigung antreten.

Wie ein Irrer brüllte er, das Pferd dicht vor der Kompagnie zurückreißend, er werde jeden, der es wage, den Mund auf zutun, Spießruten laufen lassen. Er forderte vom Kommandeur die Liste derer, die die Beschwerde eingereicht hatten.

Hinter dem Exerzierhaus postierte er versteckt ein Bataillon Paul–Grenadiere mit geladenem Gewehr. Dann sandte er ans Regiment den Befehl, die Kompagnie in Halbuniform und ohne Offiziere ins Exerzierhaus zu bringen zur Besichtigung.

Beim Eingang zur Manege empfing Wassiltschikow die Kompagnie.

»Na, wie steht's? Seid ihr immer noch mit Schwarz unzufrieden?« schrie er und ritt auf seinem wilden, weißen Hengst dicht an die Soldaten heran.

Die Kompagnie antwortete – und es klappte wie bei der Parade:

»Jawohl, Euer Exzellenz!«

»Lumpen!« rief Wassiltschikow. »Linksum kehrt in die Festung!«

Und die Kompagnie marschierte in die Festung. Das war um zehn Uhr morgens. Das Regiment wußte nicht, daß die Kompagnie dorthin abgeführt worden war. Nichts wußte man von ihrem Schicksal.

Es wurde Mittag. Von der Kompagnie keine Spur. Die Offiziere zeigten sich nicht. Sie zogen es vor, zu Hause zu bleiben. Ein Murren ging von Kaserne zu Kaserne. Überall sammelten sich die Soldaten in Haufen. Die Haufen wuchsen, schmolzen und bildeten sich von neuem.

Es wurde Nacht. Das Regiment geriet in Aufregung. Die Soldaten schliefen die ganze Nacht nicht; sie warfen die Sachen durcheinander, zerbrachen die Schlafpritschen, schlugen die Fensterscheiben ein und demolierten die Kasernen von oben bis unten. Vollzählig traten sie auf den Platz hinaus. Ein noch nie erlebtes Gefühl erfaßte sie, das Gefühl der Freiheit: sie schüttelten sich die Hände, küßten sich. Es war ein Fest, das Fest der Meuterei. Sie forderten die Kompagnie zurück und die Auslieferung von Schwarz.

»Die Kompagnie!«

»Schwarz!«

»Tod dem Schwarz!«

Sie sandten 130 Mann aus, um Schwarz hinzurichten. Die Soldaten marschierten zu seinem Haus. Er war nicht da. Nichts wurde angerührt. An einer Wand aber hing die Uniform des Semjonowregiments, die Schwarz gehörte; ein Soldat riß die Epauletten ab; Schwarz war der Uniform unwürdig. Im Hof begegnete ihnen sein Sohn, ein halbwüchsiger Junge. Sie verhafteten ihn. Unterwegs stießen sie ihn ins Wasser. Fluchend warf ein Unteroffizier die Uniform ab und holte ihn vor den Augen der Soldaten wieder heraus.

»Wenn er einmal groß ist und es so treibt wie der Alte, können wir noch immer mit ihm abrechnen.«

Dann beruhigten sich die Soldaten.

Rylejew und Wilhelm drängten sich durch die Menge, gerade als die Abgesandten zurückkamen.

»Wie vom Erdboden verschwunden,« sagte ein Gardist achselzuckend. »Wir haben im Korridor gesucht, in der Speisekammer, im Schrank. Er ist nirgends zu finden.«

»Ho, hättet ihr ihn doch im Kuhstall gesucht,« meinte ein alter Gardist mit narbigem Gesicht. »Der hat sich sicher im Kuhstall verkrochen, in einem Misthaufen.«

Man lachte. (Der Soldat hatte recht; Schwarz hatte sich tatsächlich dort in einem Misthaufen versteckt.)

Wilhelm und Rylejew fragten die Soldaten eifrig aus, wie das Ganze gekommen sei. Die Soldaten sahen sie nicht eben vertrauensvoll an, gaben jedoch Antwort.

Ein junger General zu Pferd, mit hoher, weißer Feder am Hut, erschien. Hinter ihm ritt die Ordonnanz. Er hob die weißbehandschuhte Rechte und rief mit hallender Stimme:

»Euer Verhalten ist eine Schande! Ich schäme mich!«

Der alte Soldat, derselbe, der Schwarz im Kuhstall vermutete, trat an den General heran und sagte zu ihm in aller Ruhe:

»Wir brauchen uns nicht zu schämen!«

Der General wollte etwas erwidern, doch aus den hinteren Reihen rief man ihm zu:

»Scher dich zum Teufel!«

Er riß das Pferd herum und sprengte davon. Hinter ihm lautes Gelächter. Dann ritten Miloradowitsch und der Großfürst Michail Pawlowitsch heran. Miloradowitsch sah düster drein.

»Was fällt euch ein, ihr Kerle? Ihr wollt meutern?« fragte er in heiserem, barschem Ton, sichtlich bemüht, soldatisch zu wirken.

»Wir wollen Schwarz umbringen, Euer Exzellenz!« rief eine lustige junge Stimme aus den Reihen.

»Wir sind genug geschunden worden!« schrie einer durchdringend. Michail begann zu sprechen, die Worte laut und abgerissen hervorstoßend. Er war ein untersetzter junger Mann mit dickem Nacken und breitem, rundem Gesicht, das ein wenig an das des Zaren erinnerte.

Die Soldaten schwiegen.

In Wilhelm regte sich Wut gegen den Dicken. »Araktschejew le petit!«

Michail bemerkte ihn plötzlich. Er sah ihn an und sagte zu Miloradowitsch etwas. Der zuckte die Achseln. Michail ließ sein Pferd ein paar Schritte hin und her machen und begann auf die Soldaten einzureden. Er legte sogar seine Hand aufs Herz. Die Soldaten schwiegen. Dann rief von hinten eine Stimme voller Qual:

»Henker! Wären wir euch nur los!«

Miloradowitsch flüsterte Michail etwas zu. Der erblaßte. Sie wandten ihre Pferde und ritten davon.

Es erschien ein Adjutant, der hoch über dem Kopf ein Papier schwang. Er rief:

»Der Oberst Schwarz wird des Kommandos enthoben. An seine Stelle tritt General Bistro.«

Eine Minute Schweigen, dann allgemeines Brüllen:

»Her mit dem Schwarz!«

»Die Kompagnie her!«

Der alte Bistro ritt heran, salutierte vor dem Regiment und rief flehentlich:

»Kommt mit zur Wache, Kinder!«

Der alte Gardist trat vor:

»Das können wir nicht. Eine Kompagnie fehlt. Solange ihr uns nicht sagt, wo die Kompagnie ist, rühren wir uns nicht vom Fleck.«

Bistro senkte den Kopf. Dann sah er die Soldaten an:

»Sie ist in der Festung.«

»So,« sagte der Alte ruhig. »Ohne sie gehn wir nicht zur Wache. Wir wollen auch in die Festung. Wo der Kopf ist, muß auch der Schwanz sein.«

Die Kompagnieführer begannen die Kompagnien zu sammeln. Die Bataillonskommandeure stellten sich an die Spitze der Bataillone. Die Chargierten und die Bataillone setzten sich in Bewegung.

»Warum gehen sie?« fragte Wilhelm aufgeregt.

»Sie hören doch. Aus Brüderlichkeit.«

Sie gingen hinter dem Regiment her. Nicht weit von der Festung blieb Rylejew stehen. Wilhelm sah ihn nachdenklich an und sagte:

»Il n'y a que le premier pas qui coûte.«

Rylejew schwieg.

Wilhelm kam erst gegen Morgen nach Hause. Der verschlafene Semjon sagte:

»Ein Herr war hier.«

»Wer denn?«

»Er hat seinen Namen nicht gesagt. Hat mich sehr über Sie ausgefragt. Wen Sie kennen, wo Sie verkehren …«

»Wozu das?« fragte Wilhelm erstaunt.

»Das ist so 'ne Sache, Wilhelm Karlowitsch,« sagte Semjon entschlossen. »Wir werden wohl verreisen müssen. Der Herr hat mir sogar viel Geld angeboten. Ich soll ihm jeden Tag über Sie berichten. Sicher ein Spitzel. So'n Schwarzer.«

»Unsinn,« sagte Wilhelm nach einigem Nachdenken. »Sicher irgendein Narr. Geh schlafen.«

Er selbst legte sich nicht hin. Er schlug sein Heft auf und trug mit großen, spitzen Buchstaben etwas ein; er strich aus, schrieb wieder, seufzte.

 

IX

Eines Tages überreichte Semjon ihm wortlos einen Brief. Wilhelm sah zerstreut den Umschlag an und erblaßte; es war ein Trauerkuvert mit schwarzem Rand.

»Wer hat es gebracht?« fragte er.

»Irgendein Diener; er hat nicht gesagt, von wem,« antwortete Semjon achselzuckend.

Auf englischem Trauerpapier stand in feiner, verschnörkelter Schrift (sie kam ihm bekannt vor):

»Joakim Iwanowitsch Ponomarew beehrt sich in tiefem Schmerz, Sie, hochverehrter Herr, von dem plötzlichen Ableben seiner Gattin Sofja Dmitrijewna in Kenntnis zu setzen, das nach Gottes Ratschluß am 24. November dieses Jahres erfolgt ist. Die Totenmesse wird am 24. zelebriert. Die Beisetzung findet am 27. November statt.«

Wilhelm schlug die Hände zusammen. Also das hat ihm das Schicksal zugedacht! Tränen quollen ihm aus den Augen. Das Gesicht verzerrte sich, wurde mit einem Male lächerlich und abstoßend häßlich. Er warf den Hausrock ab und holte einen neuen, schwarzen Anzug hervor. Seine Hände fanden die Ärmel nicht, so erregt war er.

Er erinnerte sich an Sophiens chinesische Augen, an ihre rosigen Hände und schrie auf vor Schmerz. An den betrunkenen Mann, an Illitschewski und Ismajlow dachte er nicht mehr. Er wollte zu Semjon, der ängstlich und ehrerbietig dastand, sagen, er solle nicht auf ihn warten, doch statt dessen schlugen seine Kiefer aufeinander, was Semjon vollends außer Fassung brachte. Wilhelm bekam kein Wort über die Lippen.

Er trat bei Ponomarews ein, stockend, halb im Traum. Das Mädchen, das bei seinem Eintritt leicht aufkreischte und in eine Tür schlüpfte, fiel ihm nicht weiter auf. Er trat ins Zimmer. Es war voller Menschen. Doch die Tränen verschleierten ihm alles. Er erkannte nur den rosigen Panajew, der aus irgendeinem Grunde ein Taschentuch bereit hielt. Als die Anwesenden Wilhelm bemerkten, führten sie wie auf Kommando ihre Taschentücher an die Augen und begannen laut zu schluchzen. Wilhelm zuckte auf; er glaubte plötzlich, mitten in dem allgemeinen Weinen jemand lachen zu hören.

Er sah den Sarg.

Schwarz stand der reich geschmückte Sarg auf einer Erhöhung. Die Spitzenstreifen des Kissens hoben sich blendend weiß ab. Durch die Tränen hindurch, die alles vor ihm verdeckten, starrte Wilhelm auf das Kissen.

Sophiens Gesicht war wie das einer Lebenden. Als ob sie eingeschlafen wäre. Leichte Röte bedeckte die Wangen. Die schwarzen Wimpern begannen zu zucken.

Laut aufweinend, ohne die anderen zu beachten, stürzte Wilhelm zum Sarg. Er betrachtete Sophiens Gesicht und drückte seine Lippen auf Stirn und Hand. Plötzlich stockte sein Herzschlag. Als er die Hand küßte, schien es ihm, als ob die Tote ihm einen leichten Schlag auf den Mund gebe. Er wollte sich von den Knien erheben, aber die Tote packte mit beiden Händen seinen Hals. Er wurde halb ohnmächtig. Da sprang Sophie aus dem Sarg und rüttelte ihn. Bestürzt sah er sie an.

»So prüfe ich meine Freunde,« sagte Sophie und lachte laut, »ob sie mich aufrichtig lieben.«

Alles im Saal lachte. Ganz besonderen Eifer entwickelte der rosige Panajew. Er bog sich dermaßen vor Lachen, daß er sich hinhockte und durch die Nase prustete. – Wilhelm stand mitten im Zimmer und fühlte, wie ihm der Boden unter den Füßen wankte.

Dann trat er auf Panajew zu, faßte ihn am Kragen und zischte ihm heiser ins Gesicht:

»Sie sind mir zu ekelhaft. Sonst hätte ich Sie niedergeschossen wie einen räudigen Hund.«

Erschrocken zupfte Sophie ihn am Ärmel.

»Wilhelm Karlowitsch, Teuerster! Ich bin ja schuld! Ich glaubte, es wäre so lustig. Seien Sie nicht böse.«

Wilhelm beugte sich zu ihr hinab, sah ihr mit ausdruckslosem Blick ins Gesicht und ging aus dem Zimmer.

»Monsieur qui prend la mouche,« witzelte Panajew, der wieder zu sich gekommen war.

 

X

Semjon hatte recht. Es war tatsächlich Zeit abzureisen. Das Leben raste dahin, stieß Wilhelm überall aus. Allmählich hörte er auf, seinen Dienst im Kollegium zu tun. Nach einigem Nachdenken verzichtete er auch auf seine Mitarbeit an den Zeitschriften. Es ergab sich ganz von selber, daß er die Stunden im Pensionat vernachlässigte und Mischa und Ljowa keine Beachtung mehr schenkte; bald verließ er zusammen mit seinem Semjon das Flügelgebäude. Und nun begann ein sonderbares, unstetes Leben. Bald war er tagelang zu Hause nicht zu sehen, bald marschierte er von morgens bis abends in seinem Zimmer auf und ab, ohne aus dem Schlafrock herauszukommen. Die Mutter schrieb ihm zärtliche Briefe. Wilhelm kostete es Mühe, sie zu beantworten. Seine Gesundheit war zerrüttet: die Brust schmerzte ihn, und auf dem rechten Ohr hörte er immer schlechter. Einmal fuhr er zu Tante Breitkopf. Sie setzte feierlich Kaffee vor ihn hin und betrachtete ihn lange. Dann sagte sie:

»Willi, du mußt weg von hier. Ich und Justine haben uns alles schon überlegt. Du mußt Professor werden. Fahre nach Dorpat. Dorpat ist eine gute Stadt. Dort wohnt Tante Luise. Dort wirst du dich erholen. Herr Schukowski kennt dich sicher von der besten Seite und wird dich unterbringen.«

Aufmerksam hörte Wilhelm zu.

Wie wäre es wirklich mit Dorpat?

Ja – eine Professur in Dorpat, ein grünes Gärtchen, Jalousien vor dem Fenster, Vorlesungen über Literatur. Mögen die Jahre nur hingehn. Es ist nicht schade um sie. Sich festsetzen! Sich für immer festsetzen! … Er sprang vom Stuhl auf und sagte der Tante herzlichen Dank.

Gehorsam ging er zu Schukowski und erfuhr von ihm alles Notwendige. Es traf sich sehr gut: der Dorpater Professor Perewostschikow, der an der Universität russische Sprache las, hatte die Absicht, sich pensionieren zu lassen. Schukowski sprach mit dem Grafen Lieven, und Küchelbecker schrieb einen deutschen Brief an Seine Magnifizenz den Rektor. Er traf Anstalten zur Abreise.

Bei Sophie, auf ihrem Abend, schrieb er eine sehr traurige, aber kühle Abschiedsnotiz in das Album:

»Dieser Mensch war stets unzufrieden mit seiner gegenwärtigen Lage. Er opferte alles für die Zukunft, sah aber auch in der Zukunft nur Schlechtes. Viele hielten ihn für einen ungewöhnlichen Menschen und waren im Irrtum; andere … Glauben Sie nur, er war besser und schlechter als Meinung und Urteile der Menschen über ihn, die nur sein Äußeres kannten. W. K.«

Dennoch fuhr er am Tage bei ihr vor, um sich nochmals zu verabschieden. Es war ihm unmöglich, so einfach abzureisen. Unangemeldet trat er bei ihr ein. Den Diener im Vorzimmer hatte er beiseite geschoben. Sophie saß auf dem Sofa. Panajew, rosig, pomadisiert, hielt sie umarmt. Wilhelm sagte kein Wort zu der entsetzten Dame des Hauses, drehte sich um und ging.

Sophie existierte für ihn nicht mehr. Doch nach Dorpat gehn, das brachte er nicht über sich. Er mußte Schluß machen mit Rußland, Petersburg, der Tante Breitkopf, andere, neue Luft atmen. Er brauchte das Meer.

Er ging zu Delwig und beriet sich mit ihm. Der sagte sehr ruhig, träge sogar:

»Nichts einfacher als das. Man bietet mir eine Sekretärstelle bei dem dicken Naryschkin an. Er reist für mehrere Jahre ins Ausland. Ist verärgert, weil seine Frau das Katharinenband nicht gekriegt hat, und will auf Rußland pfeifen. Ich bin zu faul. Ich fahre nicht. Morgen sprech ich mit ihm, dann kann's losgehn. Wir werden in alle Winde zerstreut. Puschkin ist in der Verbannung. Du reist weg. Drollig!«

Zum ersten Mal in diesen sechs Monaten atmete Wilhelm frei auf.

Am nächsten Tage verständigte er sich mit Naryschkin. Alexander Lwowitsch war ungewöhnlich höflich. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er Küchel. Die Sonderlingsgestalt seines zukünftigen Sekretärs gefiel ihm sehr gut. Er hatte etwas Originelles. Mit ihm würde man sich auf der Reise wohl nicht langweilen. Sie verabredeten den Tag der Abreise: 8. September. Bis dahin mußte Wilhelm den Dienst quittieren, alle Angelegenheiten ordnen und sich einen Paß beschaffen. Reiseroute sollte sein: Deutschland–Südfrankreich (»Die herrlichsten Gegenden, glauben Sie mir,« sagte Naryschkin, »schöner als Italien!«)–Paris. In Paris wollte sich Naryschkin für längere Zeit niederlassen.

Als Wilhelm unterwegs nach Hause war, rief ihm eine Mädchenstimme zu. Er sah sich um: Dunja. Sie fuhr in einem Phaethon vorüber und lächelte ihm vergnügt zu. Wilhelm lüftete den Zylinder und sah ihr einige Augenblicke nach.

Am Abend ging er lange in seinem Zimmer auf und ab. Er dachte an Puschkin, Sophie, Rylejew, dachte an Dunjas Gesicht, aber zwischen all dem schimmerten fremde Gegenden, Meere, Europa. Wen ließ er zurück? Die Freunde werden ihn bald vergessen. Puschkin schreibt nicht … Er ist weg. Die Mutter? Er hatte ihr wenig Freude gemacht. »Keine Freundin, keinen Freund wirst du je im Leben haben …« hatte Puschkin gesagt. Er sah sein Bild an.

Vor der Abreise schrieb er noch ein Gedicht: »Enttäuschung«. Als er es niederschrieb, dachte er an Puschkin und Dunja:

Hoffnung, such nicht vorzugaukeln
Wieder frohe Zukunft mir.
Traum, dir glaub ich nicht, ich scheue
Dein verwirrend buntes Weben.
Kalt und nüchtern grinst die Reue,
Kalt und nüchtern ist das Leben.
Zufallslaune! Unerwartet
Fand ein Herz ich, das mich liebt.
Schicksal, willst du mich beglücken?
Ach, du triffst verspätet ein!
Nein, ich fürchte das Entzücken!
Nein, ich traue nicht dem Schein!
Keine Freundin, keinen Freund
Wirst du je im Leben haben …
Aus prophetisch strengem Munde
Hörte einst ich dieses Wort.
Menschenscheu seit jener Stunde
Irre ich von Ort zu Ort.
Einmal nur noch sah ich Liebe.
Sah ich lächeln mir das Glück.
Doch ins menschliche Getriebe
Gibt es nie mehr ein Zurück.
Kugel, zögre nicht und komme,
Unterbrich der Tage Lauf!
Wenn erlöst von allen Schmerzen,
Tot ich liege, starr und kühl,
Wird ein wärmeres Gefühl,
Freund, erglühn in deinem Herzen?


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