Mark Twain
Leben auf dem Mississippi / Nach dem fernen Westen
Mark Twain

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Achtes Kapitel.

Gleich nachher richtete sich all unser Sinnen und Trachten darauf, mit langgestrecktem Halse nach dem ›Ponyreiter‹Diese, wie so manch andere Figur, welche Mark Twain in diesem Buche schildert, hat Buffalo Bill mit seiner Truppe den Europäern anschaulich vorgeführt. Der Herausg. auszuschauen, dem Eilboten, der mit der Briefpost in acht Tagen neunzehnhundert Meilen weit über den Kontinent von St. Joseph bis nach Sakramento dahinjagte! Man stelle sich diese Leistung vor für Pferd und Reiter von Fleisch und Blut! Der Ponyreiter war meist ein leibarmes Männchen, dabei aber voll höchster Kühnheit und Ausdauer. Einerlei, zu welcher Tages- oder Nachtzeit sein Dienst an ihn herantrat, und einerlei, ob es Winter war oder Sommer, ob es regnete, schneite oder hagelte, ob sein ›Strich‹ ihn auf ebener gerader Straße führte, oder über halsbrechende Felsklippen und Abgründe im Gebirge, ob durch friedliche Gegenden oder durch solche, die von feindlichen Indianern wimmelten – stets mußte er bereit sein, in den Sattel zu springen und davon zu jagen wie der Wind! Muße gab es für den Ponyreiter im Dienste niemals. Fünfzig Meilen weit ritt er ohne anzuhalten, bei Tageshelle wie bei Mondenlicht, bei Sternenschein oder im Dunkel der finstern Nacht, wie es gerade kam. Das prächtige Tier, das er ritt, war ein geborener Renner und wurde in Verpflegung und Nahrung gehalten wie ein Gentleman; zehn Meilen weit hielt er es zur höchsten Schnelligkeit an, und wenn er dann bei der Station angesaust kam, wo bereits zwei Mann ein frisches feuriges Tier am Zügel hielten, so war der Reiter samt dem Postsack in einem Augenblick umgestiegen, um sofort weiter zu jagen, so daß Roß und Reiter dem Zuschauer aus dem Gesichte waren, ehe er sie recht gesehen. Wie ein Flugfeuer huschten sie davon. Der Reiter war leicht und knapp gekleidet; er trug eine Jacke ohne Schöße und eine kleine Mütze, die Beinkleider hatte er in die Stiefel gesteckt wie die Reiter bei den Rennen. Er führte keine Waffen bei sich – überhaupt nichts, was nicht durchaus notwendig war, denn selbst von den Briefen, die er bei sich hatte, war »Stück für Stück fünf Dollars wert.« Er hatte nur wenig gleichgültige Briefschaften zu befördern, seine Tasche barg meistenteils Geschäftsbriefe. Sein Tier war ebenfalls jedes überflüssigen Gewichts entledigt. Es trug einen Rennsattel, klein wie eine Oblate, unter dem keine Decke sichtbar war, und ganz leichte oder auch gar keine Hufeisen. Die kleinen, flachen, unter den Schenkeln des Reiters festgeschnallten Brieftaschen faßten an Briefschaften etwa soviel, als eine Kinderfibel Raum einnimmt. Sie enthielten viele viele wichtige geschäftliche Mitteilungen und Zeitungskorrespondenzen, aber sämtlich auf Papier so luftig und dünn wie Goldschaum, um damit an Raum und Gewicht zu sparen. Während die Postkutsche innerhalb vierundzwanzig Stunden hundert bis hundertfünfundzwanzig Meilen zurücklegte, machte der Ponyreiter etwa zweihundertfünfzig in derselben Zeit.

Ungefähr achtzig Ponyreiter saßen beständig im Sattel, Nacht und Tag, und bildeten eine lange, durch weite Strecken unterbrochene Linie vom Missouri bis nach Kalifornien; vierzig derselben flogen gen Osten und ebenso viele gen Westen, und vierhundert feurige Pferde verdienten sich unter diesen Reitern mit Anspannung aller Kräfte ihr Futter und bekamen dabei jeden Tag im Jahr ihr schönes Stück Gegend zu sehen.

Wir hatten von Anfang an den ungeduldigen Wunsch gehegt, einen Ponyreiter zu sehen, aber aus irgend welchem Grunde traf es sich stets, daß dieselben, mochten sie von hinten an uns vorbei oder uns entgegen kommen, während der Nacht vorüberschossen, so daß wir immer nur einen Husch und ein Hallo vernahmen und das flüchtige Wüstenphantom bereits entschwunden war, ehe wir den Kopf aus dem Fenster stecken konnten. Aber nun war jeden Augenblick einer zu erwarten, den wir bei hellem Tag zu sehen bekommen sollten. Eben ruft auch schon der Postillon: »Da kommt er!« Alle Hälse recken sich länger und alle Augen öffnen sich weiter. Weit weg jenseits der endlosen, toten Fläche der Prairie erscheint ein schwarzer Punkt am Himmelsrande, der sich sichtlich fortbewegt. Nun, und wie! Binnen einer oder zwei Sekunden wird Roß und Reiter daraus, auf und ab geht es, auf und ab – immer näher stürmt es auf uns zu – immer deutlicher wird es, immer schärfer umrissen – noch immer näher kommt es, und das Klappern der Hufe schlägt schwach an unser Ohr – noch ein Augenblick, und vom Dach unseres Wagens herab erschallt ein Hussa und Hurra, das der Reiter nur durch ein Winken mit der Hand erwidert, dabei sausen Roß und Reiter an unsern aufgeregten Blicken vorüber und fliegen wirbelnd dahin, wie ein verspätetes Herbstblatt im Sturm. So schnell geht alles, so ganz wie eine Geistererscheinung, daß wir ohne die Flocke weißen Schaums, die zitternd und zerfließend noch an einem der Postbeutel hing, nachdem die Erscheinung vorübergehuscht war, vielleicht allen Ernstes im Zweifel gewesen wären, ob wir überhaupt wirklich ein Pferd mit einem Reiter darauf gesehen.

 

Nun rasselten wir allmählich durch den Paß von Skotts Bluffs. Hier in der Gegend trafen wir irgendwo zum erstenmal auf echtes unverkennbares Alkaliwasser auf der Straße, das wir als eine Kuriosität ersten Ranges, die sich in den Briefen an die armen Ofenhocker zu Hause mit Eklat anbringen ließ, jubelnd begrüßten. Dieses Wasser ließ die Straße wie seifig erscheinen, und an vielen Stellen sah der Boden aus, als wäre er weiß getüncht. Ich glaube, das merkwürdige Alkaliwasser regte uns mindestens ebenso sehr auf, als irgend eines der Wunder, auf die wir zuvor gestoßen waren, und nachdem wir es in das Inventarium der Dinge aufgenommen, die wir gesehen hatten und andere Leute nicht, waren wir darüber voll selbstgefälliger Einbildung und sahen unser ganzes Lebensschicksal mit zufriedeneren Augen an als zuvor. Wir waren im Kleinen ganz dieselben einfältigen Narren, wie die Leute, die unnötigerweise die gefährlichen Kuppen des Montblanc und Matterhorn erklettern ohne einen andern Genuß davon zu haben als das Bewußtsein, daß es keine gewöhnliche Leistung ist. Aber manchmal gleitet auch einer von diesen Bergfexen aus und saust auf dem Sitzfleisch die ganze Länge der Bergabhänge herunter, daß der gefrorene Schnee hinter ihm raucht, fliegt von Absatz zu Absatz, von Terrasse zu Terrasse, so daß er jedesmal den Boden aufwühlt an den Stellen, wo er aufschlägt; dann glitscht er abermals aus und fliegt weiter, wobei er sich alle Augenblicke einen Eiszapfen in den Leib rennt und seine Kleider in Fetzen reißt; indem er nach irgend einem Gegenstand hascht, um sich zu retten, hält er sich an Bäumen fest, die er dann samt den Wurzeln und allem sonstigen Zubehör mit sich fortreißt, bringt zuerst da und dort ein kleines Felsstück, dann immer stärkere Brocken, endlich ganze Eis- und Schneefelder und ganze Streifen Wald ins Rollen und sammelt auf seiner Fahrt immer mehr um sich an, bis er schließlich inmitten einer riesenhaften Masse an einem dreitausend Fuß tiefen Abgrunde anlangt, um unter stolzem Hutschwenken auf dem Rücken einer mächtig niederdonnernden Lawine der Ewigkeit zuzureiten!

Das ist alles recht schön, aber wir wollen uns nicht von der Aufregung hinreißen lassen, sondern uns in aller Ruhe die Frage vorlegen, wie es wohl so jemand am Tage nachher bei kühlerem Blute zu Mut ist, wenn er sechs oder siebentausend Fuß tief unter Schnee und Geröll begraben liegt?

Wir fuhren jetzt über die Sandhügel hin, in deren Nähe im Jahre 1856 der Überfall der Post und das Blutbad durch die Indianer stattfand, wobei der Postillon und der Kondukteur sowie sämtliche Fahrgäste bis auf einen einzigen umgekommen sein sollen; letzteres muß übrigens auf Irrtum beruhen, denn ich habe in der Folge zu verschiedenen Zeiten an der Küste des stillen Ozeans mit vielleicht hundertdrei- oder vierunddreißig verschiedenen Leuten Bekanntschaft gemacht, die alle bei dem Blutbad verwundet worden und kaum mit dem Leben davon gekommen waren. Ein Zweifel an der Wahrheit war in keinem dieser Fälle möglich, – ich hatte es jedesmal aus des Betreffenden eigenen Munde. Einer der Herren erzählte mir, er sei nahezu sieben Jahre lang nach dem Blutbad immer noch auf Pfeilspitzen in seinem Körper gestoßen, und ein anderer berichtete, er sei dermaßen mit Pfeilen gespickt gewesen, daß er nach dem Abzug der Indianer, als er wieder auf die Beine gekommen und sich habe betrachten können, die Thränen nicht zurückzuhalten vermocht habe, – sein Anzug sei nämlich gänzlich zu Grunde gerichtet gewesen.

Die glaubwürdigste Überlieferung versichert, es habe nur ein Mann Namens Babbitt das Blutbad überlebt, und zwar mit einer lebensgefährlichen Verwundung. Auf den Händen und dem einen Knie (sein eines Bein war gebrochen) schleppte er sich mehrere Meilen weit bis an eine Station. Er vollbrachte dies stückweise in zwei aufeinanderfolgenden Nächten, wobei er sich einen Tag ganz und den andern zum Teil versteckt hielt und über vierzig Stunden lang durch Hunger, Durst und Schmerzen unbeschreibliche Qualen litt. Die Indianer plünderten die Post vollständig aus, wobei ihnen ein nicht unbedeutender Betrag an Wertsachen und Geld in die Hände fiel.


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