Mark Twain
Leben auf dem Mississippi / Nach dem fernen Westen
Mark Twain

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Eine Katastrophe.

Wir lagen drei Tage in New-Orleans, es gelang dem Kapitän jedoch nicht, einen andern Lotsen zu finden; er schlug daher vor, daß ich die Tageswachen übernehmen und die Nachtwachen Georg Ealer überlassen sollte. Ich fürchtete mich aber, denn ich hatte noch nie ganz allein die Wache gehabt und glaubte, daß ich das Boot sicher am obern Ende einer Durchfahrt zu Schaden oder an einer schmalen Stelle auf den Grund bringen würde. Brown behielt nun seine Stelle, wollte aber nicht mit mir fahren. So wurde denn abgemacht, daß ich auf dem ›A. T. Lacey‹ nach St. Louis nachkommen sollte; dort wollte der Kapitän einen neuen Lotsen anstellen, so daß ich meinen Platz als Steuerer wieder einnehmen könnte. Der ›Lacey‹ sollte ein paar Tage nach der ›Pennsylvania‹ abfahren.

In der Nacht vor der Abfahrt der ›Pennsylvania‹ saßen Henry und ich bis Mitternacht plaudernd auf einem Frachthaufen am Hafendamm. Unsere Unterhaltung betraf einen Gegenstand, der, wie ich glaube, noch nicht besprochen ist – die Unglücksfälle der Dampfboote. Ein solcher war eben im Anzuge, ohne daß wir es ahnten; das Wasser zu dem Dampf, der das Unglück verursachen sollte, strömte schon an einer Landspitze etwa fünfzehnhundert Meilen stromaufwärts vorüber, während wir plauderten – traf aber rechtzeitig am rechten Orte ein. Wir bezweifelten, ob Personen ohne rechte Autorität bei Unglücksfällen und der sie begleitenden Panik viel nützen könnten, meinten aber, daß sie immerhin etwas zu nützen vermöchten; so beschlossen wir denn, falls wir je ein solches Unglück erleben sollten, wenigstens bis zum letzten Augenblick auf dem Posten zu bleiben und kleinere Dienste zu leisten, wie es der Zufall bieten würde. Henry erinnerte sich später daran, als das Unglück geschah, und handelte demgemäß.

Der ›Lacey‹ fuhr also zwei Tage später ab als die ›Pennsylvania‹, mit der mein Bruder fuhr. Als wir nach ein paar Tagen zu Greenville in Mississippi anlegten, rief uns jemand zu:

»Die ›Pennsylvania‹ ist bei der Schiffsinsel in die Luft geflogen und hundertfünfzig Menschenleben sind zu Grunde gegangen.«

Zu Napoleon in Arkansas erhielten wir noch am selben Tage das Extrablatt einer Zeitung in Memphis, das einige Einzelheiten enthielt. Es erwähnte meinen Bruder – als unverletzt.

Weiter den Fluß hinauf bekamen wir ein später erschienenes Extrablatt. Mein Bruder war wieder erwähnt – diesmal als tödlich verletzt. Erst als wir Memphis erreichten, erhielten wir ausführliche Mitteilungen über die Katastrophe. Hier folgt die leidvolle Geschichte:

Es war um sechs Uhr früh an einem heißen Sommermorgen. Die ›Pennsylvania‹ fuhr nördlich von der Schiffsinsel, etwa sechzig Meilen unterhalb Memphis, langsam mit halbem Dampf weiter, da sie im Schlepptau ein mit Holz beladenes Flachboot hatte, das rasch geleert wurde. George Ealer war im Steuerhaus – allein; glaube ich; der zweite Maschinist und ein Heizer hatten die Wache im Maschinenraum, der zweite Steuermann die Wache auf Deck; Herr Wood, Georg Black und mein Bruder, alle drei Buchhalter, schliefen, ebenso Brown und der Obermaschinist, der Zimmermann, der Obersteuermann und ein Heizer; Kapitän Kleinfelter saß im Barbierstuhl, und der Barbier wollte gerade mit dem Rasieren beginnen. Wie man damals erzählte, waren sehr viele Kajüts- und 3–400 Deckspassagiere an Bord, von denen die meisten noch schliefen. Als das Holzboot nahezu entleert war, läutete Ealer »Volle Kraft vorwärts!« und im nächsten Augenblick explodierten vier von den acht Dampfkesseln mit donnerndem Krachen, und das ganze vordere Drittel des Dampfers flog den Wolken zu! Der Hauptteil der Masse mit den Schornsteinen fiel wieder auf das Boot: ein Berg zertrümmerter, chaotischer Wrackstücke, – dann brach nach einer kleinen Weile Feuer aus.

Viele Leute wurden in beträchtliche Entfernungen geschleudert und fielen in den Fluß, darunter auch Herr Wood, mein Bruder und der Zimmermann. Der Zimmermann lag noch auf seiner Matratze ausgestreckt, als er fünfundsiebzig Fuß vom Dampfer entfernt ins Wasser fiel. Von Brown, dem Lotsen und Georg Black, dem ersten Buchhalter, wurde nach der Explosion nichts mehr gesehen und gehört. Der Barbierstuhl mit dem unverletzten Kapitän Kleinfelter darin stand mit dem Rücken gegen einen tiefen Abgrund – das ganze Vorderteil des Schiffes war verschwunden, und der verblüffte Barbier, der gleichfalls unverletzt geblieben war, stand da, unbewußt das Messer am Streichriemen abziehend, dicht vor dem klaffenden Spalt, mit einem Zehen über der Leere, ohne ein Wort zu sagen.

Als George Ealer die Schornsteine vor seinen Augen in die Höhe fliegen sah, wußte er, was los war; er hüllte sein Gesicht mit den Rockschößen ein und preßte die Hände davor, um durch diesen Schutz zu verhindern, daß der heiße Dampf in seine Nase oder seinen Mund gelangen konnte. Er hatte Zeit genug, sich mit diesen Einzelheiten zu beschäftigen, während er auf- und abwärts flog. Bald darauf landete er auf einem der nicht explodierten Dampfkessel, in Begleitung seines Rades und eines Hagels anderer Sachen und in eine Wolke siedend heißen Dampfes gehüllt, vierzig Fuß unterhalb des früheren Steuerhauses. Alle, welche den Dampf einatmeten, sind gestorben; keiner kam davon. Ealer atmete aber keinen Dampf ein; er eilte so rasch wie möglich in die freie Luft; und als der Dampf sich verzog, kehrte er zurück und kletterte wieder auf den Dampfkessel, wo er mit großer Geduld alle seine Schachfiguren und die verschiedenen Teile seiner Flöte zusammensuchte.

Mittlerweile begann das Feuer bedrohend zu werden. Schreien und Stöhnen erfüllten die Luft. Sehr viele Personen waren verbrüht, viele andere verstümmelt; einem Manne – einem Geistlichen, glaube ich – hatte die Explosion eine eiserne Brechstange durch den Leib getrieben; er starb nicht sogleich, und seine Leiden waren ganz gräßlich. Ein junger französischer Seekadett von fünfzehn Jahren, der Sohn eines französischen Admirals, wurde fürchterlich verbrüht, ertrug aber die Qualen mannhaft. Beide Steuerleute waren arg verbrüht, blieben aber trotzdem standhaft auf ihren Posten. Sie brachten das Flachboot nach dem Heck und trieben mit dem Kapitän die rasende Schar der erschreckten Passagiere zurück, bis die Verwundeten dorthin und in Sicherheit gebracht worden waren.

Als Herr Wood und Henry ins Wasser fielen, schwammen sie aufs Ufer zu, das nur einige hundert Schritte entfernt war; aber Henry sagte bald darauf, er glaube nicht verletzt zu sein (welch unbegreiflicher Irrtum!) und wolle deshalb zum Boot zurückschwimmen und die Verwundeten retten helfen. Damit schieden sie, und Henry kehrte um.

Mittlerweile verbreitete sich das Feuer mit rasender Schnelle, und mehrere Personen, die unter den Trümmern eingesperrt waren, schrieen kläglich um Hilfe. Alle Bemühungen, das Feuer zu bewältigen, erwiesen sich als fruchtlos; so wurden denn bald die Eimer beiseite geworfen und die Offiziere ergriffen die Äxte und versuchten, die Gefangenen herauszuhauen. Unter den Gefangenen befand sich auch ein Heizer; er sagte, er wäre nicht verletzt, könnte sich aber nicht befreien; als er sah, daß das Feuer die Hilfeleistenden vertreiben würde, bat er, man möge ihn erschießen und so vor dem gräßlicheren Feuertod retten. Das Feuer vertrieb wirklich die Offiziere, so daß sie unthätig das Flehen dieses armen Burschen anhören mußten, bis die Flammen seine Qualen endeten.

Das Feuer drängte alles, was nur irgend Platz finden konnte, auf das Holzboot; dann wurde dieses losgeschnitten und trieb nun mit dem brennenden Dampfer den Fluß hinab auf die Schiffsinsel zu. Man verankerte das Boot am oberen Ende der Insel und dort mußten die halbnackten Insassen, ohne Schutz vor der sengenden Sonne, ohne Speise und Stärkungsmittel und ohne Hilfe für ihre Verletzungen den ganzen Tag bleiben. Endlich kam ein Dampfer, der die Unglücklichen nach Memphis brachte, wo ihnen sogleich die ausgiebigste Hilfe zuteil wurde. Henry war mittlerweile bewußtlos geworden. Die Ärzte untersuchten seine Verletzungen, und da sie sahen, daß dieselben tödlich waren, wandten sie natürlich ihre Aufmerksamkeit anderen Patienten zu, die gerettet werden konnten.

Vierzig der Verwundeten wurde in einer großen öffentlichen Halle untergebracht, und unter diesen war auch Henry. Die Damen von Memphis kamen jeden Tag mit Blumen, Obst, Süßigkeiten und Leckerbissen aller Art und pflegten die Verwundeten. Alle Ärzte und Studierenden der Medizin leisteten Tag und Nacht Dienste; und die übrige Stadt lieferte Geld oder was sonst erforderlich war. Memphis hatte gelernt, wie alles aufs beste auszuführen sei und war vor allen Städten am Strom in dem gnadenreichen Amt des barmherzigen Samariters wohl erfahren, da schon manches Unglück, wie das der ›Pennsylvania‹, vor seinen Thoren sich ereignet hatte.

Der Anblick, der sich mir beim Eintritt in jenen weiten Saal bot, war mir neu und fremdartig. Zwei lange Reihen ausgestreckter Gestalten – mehr als vierzig im ganzen – und jedes Gesicht, jeder Kopf eine formlose Masse loser, roher Baumwolle. Es war ein grauenvoller Anblick. Ich wachte sechs Tage und Nächte dort und machte dabei recht traurige Erfahrungen. Ein tägliches Ereignis war besonders niederdrückend – das war die Entfernung der Sterbenden in ein eigenes Gemach. Man that dies, um die moralische Kraft der andern Patienten nicht zu sehr auf die Probe zu stellen. Der dem Tode Geweihte wurde mit möglichst geringem Aufsehen fortgeschafft, und die Bahre war stets hinter einer lebenden Mauer von Assistenten verborgen; aber das half nichts – jedermann wußte, was jene Schar gebeugter Gestalten mit dem leisen Schritt und der langsamen Bewegung bedeutete.

Ich sah viele arme Burschen nach dem ›Totenzimmer‹ bringen, die ich nie wieder zu sehen bekam; unsern Obersteuermann aber sah ich öfter als einmal hinbringen. Seine Verletzungen waren entsetzlich, besonders die Verbrühungen; er war bis an die Lenden mit Leinöl und roher Baumwolle verbunden und hatte keine Ähnlichkeit mehr mit etwas Menschlichem. Er war oft nicht bei Besinnung, und dann wütete, schrie und kreischte er vor Schmerz. Nach einer Periode dumpfer Erschöpfung verwandelte plötzlich seine gestörte Phantasie das große Gemach in die Back eines Dampfers, die Schar der ab- und zueilenden Wärterinnen in die Schiffsmannschaft; er setzte sich aufrecht auf sein Lager und rief: »Tummelt euch, tummelt euch, ihr Petrefakten, ihr Schneckenbäuche, ihr Bahrtuchträger! soll's denn den ganzen Tag währen, bis der Hut voll Fracht ausgeladen ist?« und ergänzte diesen Ausbruch mit einem himmelerschütternden Gewitter von Flüchen, denen nichts Einhalt thun konnte, bis sein Krater leer war. Hin und wieder, wenn diese Raserei ihn ergriff und festhielt, riß er die Baumwolle handvollweise ab, so daß das verbrühte Fleisch sichtbar war. Das war entsetzlich! Dieser Lärm und dieser Anblick waren natürlich für die andern schrecklich und deshalb versuchten die Ärzte ihm Morphium zu seiner Beruhigung zu geben. Aber er nahm es nicht, mochte er bei Verstand sein oder nicht: er erklärte, sein Weib wäre mit diesem verräterischen Arzneimittel getötet worden, und er wolle lieber sterben als es einnehmen. Er argwöhnte, daß die Ärzte es heimlich mit seiner Medizin und seinem Trinkwasser vermengten, und rührte deshalb beides nicht mehr an. Als er einmal zwei glühendheiße Tage ohne Wasser gewesen war, ergriff er den Trinkbecher; der Anblick der klaren Flüssigkeit und die Durstesqual versuchten ihn fast über seine Kraft; aber er beherrschte sich und warf das Gefäß von sich, und später ließ er keines mehr in seine Nähe kommen. Dreimal sah ich ihn, bewußtlos und anscheinend sterbend, ins ›Totenzimmer‹ tragen; aber jedesmal lebte er wieder auf, verwünschte seine Wärter und verlangte zurückgebracht zu werden. Er kam mit dem Leben davon und war später wieder Steuermann auf einem Dampfboot.

Er war jedoch der einzige, der in das ›Totenzimmer‹ kam und lebendig zurückkehrte. Dr. Peyton, ein ausgezeichneter Arzt und reich an allen den Eigenschaften, die einen reinen, makellosen Charakter bilden, that alles, was geschultes Urteil und langjährige Erfahrung für Henry thun konnten; aber wie die Zeitungen von Anfang an gesagt hatten, seine Verletzungen waren unheilbar. Am Abend des sechsten Tages beschäftigte sich sein entschwebender Geist mit fernliegenden Dingen, und seine kraftlosen Finger zupften krampfhaft an seiner Bettdecke. Seine Stunde hatte geschlagen; wir trugen ihn ins ›Totenzimmer‹.

Armer Junge!

* * *

Nach Verlauf der gehörigen Zeit erhielt ich meine Licenz: jetzt war ich Lotse und vollständig flügge. Ich bekam ab und zu Beschäftigung; und da ich kein Unglück hatte, machte die gelegentliche Beschäftigung einer länger dauernden Anstellung Platz. Die Zeit verging ruhig und glücklich, und ich glaubte – und hoffte daß ich den Rest meiner Tage auf dem Strome verleben und am Rade sterben würde, wenn meine Laufbahn beendigt wäre. Aber da kam der Krieg, Handel und Verkehr stockten, und meine Beschäftigung war dahin.

Meinen Anteil im Krieg findet der Leser am Schluß dieser Skizzen. Vorher aber will ich demselben schildern, was aus dem Leben auf dem Mississippi seitdem geworden ist.


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