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Im Jahre 1892 verbrachte ich den März in Mentone an der Riviera. An diesem ruhigen Ort erfreut man sich im stillen alle der Schönheit, die man in Monte Carlo oder Nizza öffentlich genießt. Das heißt, man hat die balsamische Luft, die glänzend blaue See, den alles überflutenden Sonnenschein, ohne die störenden Einflüsse des gesellschaftlichen Wirrwarrs, ohne Prunksucht und Mißbehagen.
Mentone ist still, einfach, ruhig, anspruchslos; die Reichen und die Vergnügungssüchtigen kommen nicht dahin – in der Regel meine ich. Zuweilen trifft man auch wohl einen Reichen, und mit einem solchen bin ich zufällig bekannt geworden. Ich nenne ihn Schmidt, um ihn unkenntlich zu machen. Eines Tages, beim zweiten Frühstück im Hotel des Anglais, faßt er mich plötzlich beim Arm und ruft aus:
»Geschwind! Sehen Sie den Herrn an, der eben zur Tür hinausgeht. Aber bitte, so genau wie möglich!«
»Warum denn?«
»Wissen Sie vielleicht, wer es ist?«
»Ja. Er war schon mehrere Tage hier, bevor Sie kamen. Es ist ein alter, sehr reicher Seidenwarenfabrikant aus Lyon, der sich von den Geschäften zurückgezogen hat und vermutlich allein auf der Welt steht; er schaut immer träumerisch und traurig darein und spricht mit keinem Menschen. Theophil Magnon heißt er.«
Ich erwartete nun, Schmidt würde mir sogleich das große Interesse, welches er an Herrn Magnon nahm, näher erklären; statt dessen versank er aber in tiefes Sinnen und war einige Minuten lang für mich und die übrige Welt verloren. Hin und wieder fuhr er mit den Fingern durch sein greises welliges Haar, als wollte er den Gedanken nachhelfen, und ließ unterdessen sein Frühstück kalt werden. Zuletzt sagte er:
»Nein, die Geschichte ist mir entfallen; ich kann mich nicht darauf besinnen.«
»Auf was denn nicht?«
»Ach, auf eine von Andersens hübschen kleinen Erzählungen. Ich weiß von dem Inhalt nur noch so viel: Ein Kind hat einen gefangenen Vogel, den es zwar liebt, jedoch aus Leichtsinn vernachlässigt. Das Lied des Vogels verhallt ungehört und unbeobachtet; bald wird das Tierchen auch von Hunger und Durst gequält, sein Gesang klingt traurig und schwach und hört endlich ganz auf – der Vogel stirbt. Das Kind kommt und möchte vor Reue und Schmerz vergehen. Dann ruft es unter bitteren Tränen und Klagen seine Spielgefährten, und sie begraben den Vogel mit großem Pomp und aufrichtigem Kummer, ohne zu ahnen, daß es nicht bloß die Kinder sind, die ihre Poeten zu Tode hungern lassen und dann so viel Aufwand für Leichenbegängnisse und Denkmäler machen, daß man jene damit hätte am Leben erhalten und vor jeder Entbehrung schützen können. Jetzt – –«
Aber hier wurden wir unterbrochen. Gegen zehn Uhr abends begegnete ich Schmidt von ungefähr, und er lud mich ein, mit ihm auf seinem Zimmer eine Zigarre zu rauchen und ein Glas heißen Whisky zu trinken. Der gemütliche Raum war hell erleuchtet, duftendes Olivenholz brannte in dem offenen Kamin, und, um unser Behagen vollkommen zu machen, klang von fern das Brausen der Brandung gedämpft an unser Ohr. Nachdem wir einige Zeit in harmlosem Gespräch verbracht hatten, schenkte mir Schmidt wieder ein.
»Stärken wir unsere Lebensgeister noch ein wenig,« sagte er, »und dann will ich Ihnen eine kleine, seltsame Geschichte erzählen, die jahrelang ein Geheimnis zwischen mir und drei anderen gewesen ist. Aber, ich darf jetzt das Siegel brechen. Wollen Sie mir zuhören?«
»Mit Vergnügen. Fangen Sie nur an!«
Er erzählte darauf wie folgt:
»Vor langer Zeit, als ich noch ein sehr junger Künstler war und in den verschiedenen Departements von Frankreich, bald hier bald dort skizzierend umherwanderte, verband mich der Zufall mit ein paar lieben jungen Franzosen, die denselben Beruf erwählt hatten wie ich. Wir waren alle drei blutarm, aber sehr glücklich bei unserer Armut. Claude Frère und Charles Boulanger, so hießen meine wackeren Kameraden, waren voller Lust und Heiterkeit; weder Sturm, noch Wetter, noch Entbehrungen aller Art vermochten ihnen die gute Laune zu verderben. Schließlich gerieten wir aber doch in einem Dorf der Bretagne hart auf den Grund und hätten buchstäblich verhungern müssen, wenn uns nicht ein Künstler, der ebenso arm war wie wir selber – François Millet – vom Tode errettet hätte – –«
»Was! Der große François Millet?«
»Groß war er damals noch keineswegs – nicht größer als wir. Von Ruhm war bei ihm noch keine Rede, selbst nicht in seinem eigenen Dorfe. Dabei war er so arm, daß er uns keine andere Speise zu bieten hatte als weiße Rüben, und sogar an diesen mangelte es zuweilen. Wir vier wurden schnell unzertrennliche Freunde. Wir malten zusammen drauf los, soviel wir konnten, und häuften ganze Stöße von Bildern auf, fanden aber höchst selten einen Liebhaber. Es waren schöne Zeiten! Aber, Gott im Himmel, wie mußten wir manchmal hungern! – Das ging so ungefähr zwei Jahre lang. Da sagte Claude eines Tages:
»›Jungens, mit uns geht es zu Ende. Versteht mich wohl: jetzt ist alles aus. Man hat ein förmliches Bündnis gegen uns geschlossen. Das ganze Nest bin ich abgelaufen, aber niemand will uns mehr Kredit geben, keinen einzigen Sou, bis alle Reste und Schulden bezahlt sind.‹
»Uns überlief es kalt; wir wurden alle bleich vor Schrecken. Unsere Lage war wirklich trostlos geworden. Nach langem Schweigen hob Millet endlich mit einem Seufzer an:
»›Mir fällt nichts ein, nichts, rein gar nichts. Erfindet ihr etwas, Kameraden!‹
»Aber keiner von uns wußte einen Ausweg, und unser bekümmertes Schweigen war die einzige Antwort, die er erhielt.
»Charles stand auf und ging eine Weile unruhig im Zimmer umher, dann sagte er:
»›Es ist eine Schande. Seht euch nur einmal diesen Haufen von Bildern an, die so gut sind, daß man sie in ganz Europa nicht besser gemalt bekommt. Das haben uns ja auch viele von den Fremden bestätigt, die hier immer herumlungern.‹
»›Ja, aber gekauft haben sie nichts,‹ wandte Millet ein.
»›Freilich wohl – aber sie sagten es doch. Und es ist wahr. Sieh nur, z. B. dein ›Angelus‹; kann irgend jemand behaupten –‹
»›Ja, mein ›Angelus‹! Fünf Franken hat man mir dafür geboten.‹
»›Wann?‹
»›Wer bot das?‹
»›Wo ist der Mann?‹
»›Warum nahmst du sie nicht?‹
»›Sprecht doch nicht alle auf einmal. Ich dachte, er würde mehr geben – ich hätte darauf geschworen – er sah das Bild in einer Weise an – kurz, ich forderte acht.‹
»›Sapperment! Aber François, warum in aller Welt . . .‹
»›O, ich weiß wohl, ich weiß! Ich hatte mich geirrt und war ein Narr. Glaubt mir, Jungens, ich meinte es wirklich gut, und wenn ich –‹
»›Sei nur ruhig – wir kennen ja dein gutes Herz; aber tue uns die Liebe an und sei ein andermal kein solcher Dummkopf.‹
»›Verlaßt euch drauf, das geschieht nicht wieder. Ich wünschte nur, es käme einer und böte mir einen Kohlkopf dafür – ihr solltet sehen –‹
»›Einen Kohlkopf? O, sprich nicht davon – das Wasser läuft mir bei dem bloßen Gedanken im Munde zusammen.‹
»›Jungens,‹ sagte Charles, ›seid einmal vernünftig und antwortet mir: haben diese Bilder etwa keinen Wert?‹
»›Doch, versteht sich!‹
»›Sogar großen und hohen Wert, nicht wahr?‹
»›Ohne alle Frage!‹
»›Sind sie nicht so vorzüglich, daß man sie zu unsinnigen Preisen verkaufen würde, wenn ein berühmter Name darauf geklext wäre?‹
»›Natürlich! Darüber besteht kein Zweifel!‹
»›Nun gut! So hört mir zu. Aber, nicht wahr, ihr wißt, ich meine es nicht im Scherz?‹
»›Versteht sich! Uns ist es auch bitterer Ernst. Also, heraus mit der Sprache. Was hast du ausgeheckt? Laß hören!‹
»›Nämlich . . . was meint ihr, Kameraden – wißt ihr was? – wir klexen eben einen berühmten Namen auf die Bilder.‹
»Das Gespräch stockte. Alle Blicke richteten sich fragend auf Charles. Wollte er uns ein Rätsel aufgeben? Wo sollten wir einen berühmten Namen hernehmen? Wer würde ihn uns leihen?
»Charles nahm jetzt Platz und sagte:
»›Mein Vorschlag ist vollkommen ernst gemeint. Ich weiß kein anderes Mittel, uns aus dieser Klemme zu befreien, doch halte ich es für untrüglich. Eine Menge Tatsachen, welche uns die Geschichte lehrt, bestärken mich in dieser Ansicht. Ich hoffe, mein Plan wird uns alle reich machen.‹
»›Reich? Du hast wohl den Verstand verloren.‹
»›Durchaus nicht.‹
»›Doch; ich glaube, du bist übergeschnappt. Was nennst du reich?‹
»›Hunderttausend Franken für jeden.‹
»›O weh, er ist wirklich verrückt geworden!‹
»›Armer Charles! Mangel und Not waren zu hart für dich!‹
»›Nimm ein niederschlagendes Pulver und gehe sofort zu Bette.‹
»›Macht ihm erst einen kalten Umschlag.‹
»›Nein, holt lieber eine Zwangsjacke. Jeden Augenblick kann die Tobsucht bei ihm ausbrechen.‹
»›Still,‹ rief Millet ungeduldig, ›laßt ihn doch erst ausreden.‹
»›Auch gut – so sprich, Charles! Was ist's mit deinem Plan?‹
»›Ihr sollt ihn hören. Doch muß ich euch zuvor etwas fragen. Habe ich recht oder nicht, daß das Verdienst vieler großer Künstler nicht früher erkannt worden ist, als bis sie im Elend verkommen waren? Ihr wißt, dies hat sich in der Geschichte der Menschheit so oft zugetragen, daß ich glaube getrost ein Gesetz darauf gründen zu können, welches dahin lautet, daß das Verdienst eines jeden großen Künstlers, der namenlos und verkannt war, ans Licht kommt und seine Bilder hohe Preise erzielen – sobald der Mann tot ist. Mein Plan ist folgender: Wir wollen losen – einer von uns muß sterben.‹
»Das kam uns so unerwartet, und er sagte es so ruhig, daß wir im ersten Augenblick ganz still und verblüfft sitzen blieben. Dann aber brach ein wilder Chor der Entrüstung los, und es folgten allerlei medizinische Ratschläge, um dem kranken Gehirn unseres Freundes Heilung zu bringen. Er aber wartete geduldig, bis sich der Sturm zu legen begann, und fuhr dann unbeirrt fort:
»›Wie gesagt – einer von uns muß sterben, um die anderen zu retten und – sich selbst. Wir wollen losen. Der Gewählte soll berühmt werden, um uns alle reich zu machen. So seid doch still und unterbrecht mich nicht immer – ich weiß ganz genau, was ich sage. Der, welcher sterben muß, arbeitet während der drei nächsten Monate aus allen Kräften, um seinen Vorrat an Malereien zu vermehren; er macht keine Bilder, behüte! nur Skizzen, Studien, Bruchstücke, Teile von Studien, ein Dutzend Pinselstriche auf jedes Stück, so zusammenhanglos wie möglich, und auf jedes natürlich seinen Namenszug. Fünfzig solche Farbenklexereien liefert er den Tag, aber jede muß etwas Besonderes vorstellen, etwas von der Manier an sich haben, die sich leicht als die ›seine‹ kennzeichnet. Solche Sachen, das wißt ihr, werden zu fabelhaften Preisen gekauft und von allen großen Museen der Welt gesammelt, sobald der Mann erst aus dem Leben geschieden ist. Eine Unzahl Skizzen müssen fertig werden, mindestens ein Zentner. Während der Sterbende sie malt, unterstützen die übrigen ihn nach Kräften, treffen alle Vorkehrungen für das kommende Ereignis und bearbeiten Paris und die Händler. Ist das Feuer gehörig geschürt und das Eisen heiß, dann ist es Zeit, daß der Tod eintritt, und wir veranstalten ein pompöses Begräbnis. – Nun, was sagt ihr zu meinem Plan?‹
»›Ja, aber . . . das heißt . . . wie soll denn . . .?‹
»›Versteht mich recht. Der Mann soll in Wirklichkeit gar nicht sterben; er nimmt bloß einen anderen Namen an und verschwindet; wir begraben einen Strohmann und erheben ein Wehgeschrei über ihn, daß die ganze Welt davon widerhallen soll. Und dann – –‹
»Aber weiter kam er nicht. Wir brachen in ein gewaltiges Hurra! aus, schnellten von unseren Sitzen in die Höhe, sprangen wie toll in der Stube umher und fielen einander gerührt um den Hals. Stundenlang besprachen wir den Plan, ohne hungrig zu werden, und als zuletzt alles zur Zufriedenheit geordnet war, warfen wir die Lose in einen Hut, und der Gewählte war – Millet, der Todgeweihte, wie wir ihn nannten.
»Jeder suchte nun zusammen, was er an kleinen Schmucksachen und Andenken etwa noch besaß. Beim Pfandverleiher bekamen wir so viel Geld dafür, daß es zu einem bescheidenen Abendessen und Frühstück reichte. Auch behielten wir noch ein Paar Franken zur Reise übrig, nachdem wir mehrere Pfund Rüben und das Nötigste für Millet angeschafft hatten, womit er in den nächsten Tagen sein Leben fristen konnte.
Am anderen Morgen machten wir drei uns gleich nach dem Frühstück auf die Strümpfe, natürlich zu Fuß. Jeder von uns trug ein Dutzend kleiner Bilder von Millet in seinem Ranzen, mit dem festen Vorsatz, sie auf den Markt zu bringen. Charles ging geradeswegs nach Paris, wo er an Millets Ruhm bauen wollte, bis der große Tag gekommen war. Auch Claude und ich trennten uns, um denselben Zweck im übrigen Frankreich zu verfolgen.
»Es wird Sie vermutlich überraschen zu hören, wie leicht und bequem sich die Sache ausführen ließ. Nach zweitägiger Wanderung kam ich in die Nähe einer großen Stadt und begann eine Villa der Umgegend zu skizzieren – weil ich den Eigentümer auf der oberen Veranda des Hauses stehen sah. Er kam gleich herunter, mir zuzusehen; ich ahnte schon, daß er anbeißen würde. Um sein Interesse rege zu halten, arbeitete ich sehr schnell. Gelegentlich entschlüpfte ihm ein Ausruf des Wohlgefallens, nach und nach wurde er wärmer, geriet in Begeisterung und erklärte mir schließlich rund heraus, ich sei ein Meister in meinem Beruf.
»Da legte ich meinen Pinsel hin, langte in den Ranzen, holte einen Millet heraus und deutete stolz auf das Zeichen in der Ecke.
»›Sie kennen ihn ohne Zweifel. Er war mein Lehrer. Kein Wunder also, daß ich mich auf mein Handwerk verstehe.‹
»Der Mann geriet in eine leicht begreifliche Verlegenheit und blieb stumm.
»›Sie wollen mich doch nicht glauben machen, daß Sie François Millets Namenszug nicht kennen?‹ fragte ich erstaunt.
»Natürlich kannte er ihn nicht; aber er atmete erleichtert auf, wie jemand, der sich aus einer höchst unbequemen Lage befreit sieht. Mit der dankbarsten Miene von der Welt rief er ganz beglückt:
»›Wahrhaftig, ja, von Millet. Ich wußte zuerst nicht gleich, was ich vor mir hätte. Aber natürlich erkenne ich es jetzt.‹
»Er wollte nun das Bildchen kaufen, allein, ich weigerte mich lange es herzugeben; endlich ließ ich es ihm jedoch für achthundert Franken.«
»Achthundert!«
»Ja! Millet hätte es für ein Schweinerippchen hergegeben. Ich wollte, ich könnte es jetzt für achttausend zurückbekommen; aber jene Zeit ist vorüber. Ich machte von der Villa ein sehr hübsches Bild und hätte es dem Besitzer für zehn Franken gelassen, aber da er sah, daß ich der Schüler eines solchen Meisters war, ließ er sich's hundert kosten. Die achthundert Franken schickte ich mit der Post sofort an Millet und machte mich am nächsten Tage rasch aus dem Staube.
»Aber ich ging nicht, nein, ich ritt. Seitdem bin ich immer geritten. Ich verkaufte jeden Tag ein Gemälde, daran ließ ich mir genügen. Zu den Käufern aber sagte ich stets:
»›Eigentlich ist es die größte Torheit, ein Bild von François Millet zu verkaufen. Der Mann lebt keine drei Monate mehr, und wenn er stirbt, wird man seine Arbeiten mit Gold aufwiegen.‹
»Ich gab mir alle erdenkliche Mühe, diese Tatsache soviel wie möglich zur allgemeinen Kenntnis zu bringen, um die Welt auf das kommende Ereignis vorzubereiten.
»Den Plan, die Bilder auf solche Weise an den Mann zu bringen, rechne ich mir hoch an, denn, unter uns gesagt, er stammte von mir und gelang uns allen vortrefflich. Claude war gleichfalls zwei Tage gewandert, ehe er den Verkauf begann, denn er fürchtete wie ich, Millets Ruhm möchte zu schnell bis in sein Heimatdorf dringen. Der hübsche, leichtsinnige Charles aber fing das Geschäft schon nach einem halben Tage an und reiste so vornehm wie ein Herzog.
»Dann und wann traten wir auch in ein Zeitungsbureau und bewarben uns um die Gunst der Presse. Nirgends war zu lesen, daß ein neuer Maler entdeckt worden sei; man nahm einfach an, daß alle Welt François Millet kenne; auch priesen die Blätter sein Verdienst auf keine Weise, sie brachten nur Andeutungen über das gegenwärtige Befinden des ›Meisters‹ – manchmal hoffnungsvoll, manchmal verzweifelnd, aber immer das Schlimmste befürchtend, und das reichte vollkommen hin. Wir strichen diese Zeitungsnotizen mit Rotstift an und sandten die Nummern gewissenhaft allen Leuten zu, die uns Bilder abgekauft hatten.
»Sobald Charles in Paris war, nahm er die Sache geschickt in die Hand. Er knüpfte Beziehungen zu auswärtigen Korrespondenten an und ließ Millets Bedeutung in England, über den Kontinent, in Amerika und allerorten ausposaunen.»
Sechs Wochen nach unserem Aufbruch trafen wir drei uns wieder in Paris, riefen einander ›Halt‹ zu, und ließen uns auch keine Bilder mehr von Millet schicken. Der Baum seines Ruhmes war so hoch und die Früchte so reif geworden, daß uns der rechte Zeitpunkt gekommen schien, um die Arbeit einzustellen. So schrieben wir denn an Millet, er möchte sich unverweilt zu Bette legen, denn wir wünschten ihn in zehn Tagen sterben zu lassen, wenn er bis dahin fertig werden könne.
»Nun machten wir Kasse und fanden, daß wir inzwischen fünfundachtzig kleine Bilder und Studien verkauft und neunundsechzigtausend Franken dafür eingenommen hatten. Charles machte noch zuletzt das glänzendste Geschäft von allen, er verkaufte nämlich den ›Angelus‹ für zweitausendzweihundert Franken. Wie feierten wir ihn für diese Tat, ohne vorauszusehen, daß Frankreich eines Tages um den Besitz dieses Gemäldes mit einem Fremden kämpfen würde, der es uns schließlich für bare Fünfmalhundertfünfzigtausend geraubt hat.
»Am selben Abend hielten wir noch einen Abschiedsschmaus mit Champagner, und tags darauf packten Claude und ich unsere Habseligkeiten und reisten ab, um Millet während seiner letzten Tage zu pflegen, alle Neugierigen vom Hause fern zu halten und täglich Berichte an Charles nach Paris zu senden, die in den Blättern aller Erdteile veröffentlicht wurden, um die voll Spannung harrende Welt von den Vorgängen in Kenntnis zu setzen. Das traurige Ende ließ nun nicht lange auf sich warten, und auch Charles war zugegen, um bei den letzten Feierlichkeiten zu helfen.
»Sie erinnern sich ohne Zweifel, welches ungeheure Aufsehen jenes große Leichenbegängnis machte; die bedeutendsten Persönlichkeiten aus aller Herren Länder kamen damals herbeigeströmt, um ihre Teilnahme zu bezeugen. Wir vier – noch immer unzertrennlich – trugen den Sarg, und wollten uns von keinem dabei helfen lassen. Mit gutem Grund, denn es befand sich nichts darin als eine Wachspuppe. Anderen Sargträgern würde das geringe Gewicht ohne Zweifel aufgefallen sein. Wir vier, die wir alle Entbehrungen der schweren, jetzt auf ewig vergangenen Zeit mit treuer Freundschaft geteilt hatten, haben nun auch den Sarg . . .«
»Vier? Welche vier?«
»Nun, wir vier – denn Millet half seinen eigenen Sarg tragen. Verkleidet natürlich. Er galt für einen entfernten Verwandten.«
»Merkwürdig!«
»Aber wahr, buchstäblich wahr! Sie werden sich auch erinnern, wie die Bilder Millets im Preise stiegen. Wir wußten kaum, was wir mit all dem Gelde anfangen sollten. In Paris lebt ein Mann, der siebzig Stück Millets besitzt. Er hat uns zwei Millionen dafür bezahlt. Und was die Unmenge von Skizzen und Studien betrifft, die Millet in den sechs Wochen, während wir unterwegs waren, zusammengemalt hat, so würden Sie staunen, für welche Preise wir sie heute noch verkaufen, das heißt, wenn wir uns überhaupt dazu verstehen sie herzugeben.«
»Das ist wirklich eine wunderbare Geschichte.«
»Ja, sie hat einen ganz hübschen Schluß.«
»Was ist denn aber aus Millet geworden?«
»Können Sie ein Geheimnis bewahren?«
»Versteht sich!«
»Erinnern Sie sich des Mannes, auf den ich Sie heute im Speisesaal aufmerksam machte? Das war François Millet.«
»Nicht möglich!«
»Ja – er selbst. Das war einmal ein genialer Mann, der sich nicht zu Tode gehungert hat, um dann den Lohn, der ihm gebührte, in die Taschen anderer fließen zu lassen. Diesem Singvogel war es nicht bestimmt, sich das Herz umsonst aus dem Leibe zu pfeifen, um den kalten Pomp einer großen Leichenfeier als einzige Bezahlung zu erhalten. Dafür haben wir Sorge getragen!«