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Als nun alle fortgegangen waren, fragte der König Mary Jane, ob sie auch Platz im Hause hätte. Sie antwortete, sie habe ein Fremdenzimmer, das wohl Onkel William benutzen könnte; ihr eigenes Zimmer, das etwas größer sei, würde sie gern ihm überlassen, sie selbst könne ja im Zimmer der Schwester auf einem Feldbett schlafen; oben auf dem Boden sei auch ein kleiner Verschlag mit einer Pritsche darin. Der König meinte, der Verschlag sei gerade recht für seinen Diener – womit er mich meinte.
Mary Jane führte uns hinauf und zeigte allen die Zimmer, die einfach und nett waren. Sie wollte ihre Kleider und andere Sachen aus dem Zimmer räumen, falls sie Onkel Harry im Wege wären, aber er sagte, das sei nicht der Fall. Die Kleider hingen längs der Wand, von einem Kalikovorhang bedeckt, der auf den Boden reichte. Ein alter haariger Koffer stand in einer Ecke, ein Gitarrenkasten in der anderen, und allerlei Kleinigkeiten und Zierat, womit junge Mädchen ihre Zimmer schmücken, lagen und hingen umher. Der König sagte, es sei so viel hübscher und heimischer und sie solle nur nichts verändern.
Am Abend hatten sie ein großes Essen, und viele Männer und Frauen waren dabei. Ich stand hinter den Stühlen des Königs und des Herzogs und wartete den beiden auf; die andern wurden von den Negern bedient. Mary Jane saß oben am Tisch, mit Susan neben sich, und sagte, wie schlecht die Semmeln geraten, und wie die eingemachten Früchte auch nicht ganz nach Wunsch seien, und wie zäh die gebratenen Hühner seien – wie Frauen es gewöhnlich tun, um Komplimente zu fischen. Die Anwesenden wußten wohl, wie ausgezeichnet gut alles war, und wunderten sich und sagten: »Wie fangen Sie es nur an, daß Sie die Semmeln so schön gebräunt bekommen?« und »Wo haben Sie diese herrlichen Früchte her?« und ähnliches Gerede, wie es bei dergleichen Gelegenheiten vorkommt.
Als alles vorbei war, soupierten ich und die Hasenlippe in der Küche von dem, was übrig war, während die andern den Negern aufräumen halfen.
Sobald ich allein war, fing ich an, über die Sache nachzudenken. Ich sagte zu mir: Soll ich heimlich zum Doktor gehen und diese Betrüger entlarven? Nein – das geht nicht. Er könnte verraten, wer's ihm gesagt, und dann würden mir König und Herzog die Hölle heiß machen. Soll ich insgeheim zu Mary Jane gehen und es ihr sagen? Nein, das wag' ich nicht. Ihr Gesicht, ein Blick könnte es ihnen verraten; sie haben das Geld und könnten damit entwischen. Und wenn sie Hilfe herbeiholte, würde ich leicht hineinverwickelt werden. Nein, der einzige Ausweg ist: Ich muß das Geld irgendwie stehlen, und zwar so, daß sie keinen Verdacht auf mich haben. Ich will es stehlen und verstecken, und nach einiger Zeit, wenn ich weit stromab bin, Mary Jane in einem Briefe verraten, wo es versteckt ist. Aber ich muß das heute nacht tun, wenn möglich, denn der Doktor hält sich vielleicht nicht so still, wie's jetzt scheint, und das könnte die beiden zur schnellen Flucht veranlassen.
Ich hielt es für das beste, die Zimmer gleich zu durchsuchen. Oben war's dunkel, doch ich fand des Herzogs Zimmer und fing an, mit den Händen herumzufühlen. Da fiel mir jedoch ein, daß es dem König nicht ähnlich sieht, das Geld einem andern anzuvertrauen; also ging ich in sein Zimmer und begann herumzutasten. Doch bald, fand ich, daß ohne Licht nichts auszurichten sei; allein ich wagte nicht, eins anzuzünden. Auf einmal hörte ich Schritte und wollte schnell unters Bett kriechen. Dabei berührte ich den Vorhang, der Mary Janes Kleider bedeckte; dahinter sprang ich und versteckte mich zwischen den Gewändern.
Sie kamen herein und schlossen die Tür. Das erste, was der Herzog tat, war, daß er unters Bett guckte! Dann setzten sie sich, und der König sprach:
»Nun, was ist's? Mach's kurz, denn es ist besser, wenn wir da unten mit heulen und trauern, statt hier oben zu bleiben und Gelegenheit zu geben, daß man über uns redet.«
»Dauphin, so höre denn! Mir ist nicht ganz wohl; ich habe keine Ruhe. Der Doktor liegt mir im Kopf. Was hast du für einen Plan? Ich habe eine Idee, und ich glaube, eine gute.«
»Heraus damit, Herzog!«
»Daß wir uns vor drei Uhr morgens hier aus dem Staub machen und stromab gleiten mit dem, was wir haben. Ich bin dafür, uns zu begnügen und zu verschwinden.«
»Was! Nicht den Rest der Erbschaft hier verkaufen? Abzumarschieren wie ein paar Narren und Eigentum im Wert von acht- bis neuntausend Dollar zurücklassen, das mit Schmerzen darauf wartet, eingesackt zu werden? – Und noch dazu gut verkäufliches Zeug!«
Der Herzog murrte und meinte, der Sack Geld sei genug, er wolle nicht noch weiter gehen – und wolle nicht die drei Waisen um alles, was sie hätten, berauben.
»Was du für Zeug redest!« rief der König. »Denen rauben wir doch nichts als das Geld. Die Leute, die das Eigentum kaufen, sind die Verlierenden; denn sobald sich's zeigt, daß es uns nicht gehörte – was nicht lange dauern wird –, ist der Verkauf ungültig, und das Eigentum fällt an die Erben zurück. Diese Waisen hier erhalten das Haus zurück, und das ist genug für sie; sie sind jung und tüchtig und können sich leicht ihr Brot verdienen. Denen wird's nicht schlecht gehen. Denk doch nur, es gibt Tausende und Tausende, die es lange nicht so gut haben. Die hier können sich doch wahrhaftig über nichts beklagen.«
Der König schwatzte drauflos, bis der Herzog endlich nachgab; doch er blieb dabei, daß es eine große Torheit sei, um so mehr, als der Doktor mit Entlarvung drohe.
Der König entgegnete: »Doktor oder Teufel! Was scheren wir uns um die? Haben wir nicht alle Toren der Stadt auf unserer Seite? Und ist das nicht genug Majorität?«
Sie wollten eben hinuntergehen, als der Herzog sagte: »Ich glaube nicht, daß wir das Geld an einen guten Ort getan haben.«
Jetzt horchte ich auf, denn ich hatte schon gefürchtet, daß ich keinen Wink bekommen würde.
Da fragte der König: »Warum?«
»Weil Mary Jane von nun an in Trauer gehen wird; der erste Befehl, den die Negerin, die das Zimmer aufräumt, erhält, wird sein, all diese Kleider fortzuschaffen; und meinst du, solch schwarzes Gesindel könne Geld finden, ohne etwas davon beiseite zu schaffen?«
»Hast wieder einmal recht, Herzog«, rief der König; und er kam und krabbelte unter dem Vorhang herum, nur zwei bis drei Fuß von der Stelle, wo ich stand. Ich drückte mich fest an die Wand und hielt still, obgleich ich zitterte. Ich dachte, was wohl die Kerls tun würden, wenn sie mich hier fänden, und versuchte zu überlegen, was ich tun könnte, wenn sie mich entdeckten. Aber der König hatte bereits den Sack und argwöhnte nichts. Nun steckten sie ihn in den Strohsack, der unterm Federbett lag, und schoben ihn tüchtig ins Stroh hinein und sagten, da sei er gut aufgehoben, denn die Schwarzen pufften ja nur das Federbett auf und wendeten den Strohsack nicht öfter als höchstens zweimal im Jahr. Bevor die beiden die Treppe halb hinab waren, hatte ich den Geldsack hervorgezogen. Ich kletterte in meinen Verschlag und versteckte ihn einstweilen dort. Ich nahm mir aber vor, ihn draußen irgendwo zu verbergen, denn, wenn sie ihn vermißten, würden sie ja das ganze Haus durchstöbern. Das wußte ich wohl. Dann legte ich mich in meinen Kleidern auf mein Lager; doch ich konnte nicht schlafen, selbst wenn ich's gewollt hätte, denn es ließ mir keine Ruhe, meine Arbeit zu beenden. Bald hörte ich König und Herzog kommen, da stand ich flink auf und lauschte, den Kopf an der Leiter, ob was passieren würde. Aber es ereignete sich nichts.
Ich wartete nun lange, bis alles im Hause ganz ruhig war, und schlüpfte dann die Leiter hinab.
Zuerst kroch ich an ihre Türen und horchte; alles schnarchte.
So schlich ich denn auf den Zehen fort und kam glücklich unten an. Nirgends war ein Laut zu hören.
Ich guckte durch eine Spalte der Speisezimmertür und sah, daß die Männer, die die Leichenwacht hielten, alle auf ihren Stühlen eingeschlafen waren. Die Tür, die zum Salon führte, wo der Tote lag, stand offen, und eine Kerze brannte in jedem Zimmer. Ich ging auf dem Vorplatz weiter und fand die andere Salontür ebenfalls offen. Ein Blick überzeugte mich, daß außer Peters Leiche niemand drin war. Ich ging vorüber, fand aber die Haustür verschlossen, und der Schlüssel steckte nicht. In diesem Augenblick hörte ich jemand hinter mir die Treppe herabkommen. Ich sprang in den Salon, sah mich rasch um, und der einzige Platz, wo ich das Säckchen verbergen konnte, war der Sarg. Der Deckel war etwas verschoben, so daß das Gesicht des Toten sichtbar war. Ich steckte das Säckchen flink unter den Deckel, gerade unterhalb der gekreuzten Hände des Toten, bei deren Berührung ich schauderte. Dann huschte ich flink hinter die Tür.
Es war Mary Jane. Sie ging leise zum Sarg, sah hinein und kniete nieder; dann führte sie ihr Schnupftuch an die Augen, und ich sah, daß sie weinte, obwohl ich's nicht hören konnte und ihr Rücken mir zugewendet war. Ich entwischte. Am Speisezimmer guckte ich wieder durch die Spalten, ob die Wächter mich nicht gesehen hatten. Alles war in Ordnung, sie hatten mich nicht bemerkt.
Ich schlüpfte hinauf ins Bett und fühlte mich sehr niedergeschlagen, weil die Sache, obwohl ich mir soviel Mühe gegeben und soviel Gefahr gelaufen war, so mißlich stand. Ich sagte mir, wenn der Sack nur bliebe, wo er ist, so war' schon alles gut; denn sobald wir ein- bis zweihundert Meilen stromab wären, könnte ich Mary schreiben und sie könnte den Sarg wieder ausgraben lassen. So wird's aber schwerlich kommen, denn vor dem Zuschrauben des Deckels werden sie das Geld finden. Dann kriegt es der König wieder, und man wird es ihm nicht wieder fortschmuggeln. Gern wär' ich hinuntergegangen, um den Sack herauszunehmen – doch ich wagte es nicht.
Als ich des Morgens hinunterkam, war das Gastzimmer verschlossen, und die Wächter waren fortgegangen. Niemand war im Hause außer der Familie, Witwe Bartley und unsere Bande. Ich beobachtete ihre Gesichter, um zu sehen, ob sie etwas gemerkt hätten, konnte aber nichts wahrnehmen.
Gegen Mittag kam der Leichenbestatter mit seinen Leuten. Sie setzten den Sarg in die Mitte des Zimmers auf zwei Stühle, stellten die andern Stühle in zwei Reihen auf, wozu sie von den Nachbarn einige borgten, so daß Vorplatz, Salon und Speisezimmer damit voll waren. Ich sah, daß der Sargdeckel wie zuvor lag, doch wagte ich nicht, solange Menschen da waren, ihn aufzuheben.
Allmählich versammelte sich das Volk. Die falschen Onkel und die Mädchen nahmen die Sitze zu Häupten des Sarges ein, und vor Ablauf einer halben Stunde waren die Geladenen gekommen und hatten Platz genommen. Alles war still und feierlich, nur die Mädchen und die zwei Betrüger schluchzten dann und wann, gebeugten Hauptes, ihre Taschentücher vor den Augen.
Sie hatten eine Zimmerorgel geborgt, die ziemlich schadhaft war. Als alles bereit war, setzte sich ein junges Frauenzimmer davor und fing an, daran zu arbeiten. Es klang ziemlich kreischend und verstimmt. Dann fiel die Gemeinde mit Gesang ein. Hierauf erhob sich Pastor Hobsen langsam und feierlich und begann zu reden. Plötzlich brach der furchtbarste Lärm im Keller los, den man sich denken konnte! Es war nur ein Hund, aber er machte einen Heidenlärm und wollte gar nicht enden. Der Pfarrer mußte aufhören zu predigen. Es war sehr störend, und niemand wußte sich zu helfen. Bald jedoch machte der langbeinige Leichenbestatter dem Pfarrer ein Zeichen, als wollte er sagen: Ich werde schon Ruhe schaffen. Dann ging er hinaus, während das Gebell und der Lärm immer ärger wurden. Bald darauf hörten wir einen tüchtigen Krach, der Hund stieß ein schauerliches Geheul aus, dann wurde alles totenstill, und der Pfarrer fuhr in seiner Predigt fort, wo er aufgehört hatte. Nach einer Weile erschien der Leichenbestatter wieder, schlich leise an der Wand entlang, bis er beim Pfarrer war, und rief mit heiserem Ton zu ihm hinüber, indem er den Hals vorstreckte und die Hand über den Mund hielt: »Er hatte eine Ratte!« Diese Auskunft verbreitete unter den Anwesenden sichtlich Befriedigung.
Die Predigt war zweifellos sehr gut, aber heillos lang und ermüdend, und zum Überfluß mußte der König noch etwas von seinem Senf dazutun. Endlich war auch das überstanden, und der Leichenbestatter näherte sich mit einem Schraubenzieher dem Sarg. Mir wurde ganz heiß dabei. Aber er hob den Deckel nicht, schob ihn nur zurecht und schraubte ihn fest. Wissen konnte ich freilich nicht, ob das Geld noch drin war oder nicht. Wie, wenn jemand den Sack insgeheim herausgenommen hatte? Wie sollte ich jetzt wissen, ob ich Mary Jane schreiben mußte oder nicht? Angenommen, sie gräbt den Sarg aus und findet nichts – was würde sie von mir denken? Sie könnten mich vielleicht verfolgen und einsperren; lieber schreibe ich nicht.
Sie begruben ihn, wir kamen heim, und ich beobachtete wieder die Gesichter – ich konnte nicht anders, ich hatte keine Ruhe. Es kam aber nichts dabei heraus.
Der König machte am Abend Besuche, war gegen jedermann sehr liebenswürdig und wurde dadurch noch beliebter. Er deutete an, daß ihn seine Gemeinde in England nicht lange entbehren könne und er sich darum mit der Ordnung der Hinterlassenschaft beeilen müsse, um bald heimreisen zu können. Er bedauerte, daß er solche Eile habe, und den andern tat es auch leid; sie wünschten, er hätte länger bleiben können, doch sahen sie wohl ein, daß das nicht anging. Auch sagte er, daß er und William die Mädchen natürlich mit sich heimnehmen würden; das freute alle, denn die Mädchen würden bei ihren eigenen Verwandten gut aufgehoben sein. Den Mädchen gefiel es auch und freute sie so sehr, daß sie ihren Kummer ganz vergaßen. Sie baten den König, so schnell wie möglich alles zu verkaufen. Die armen Dinger waren so froh und glücklich; mir tat das Herz weh, sie so betört und belogen zu sehen, aber ich konnte nicht helfen.
In der Tat ließ der König sofort das Haus, die Neger und alles Eigentum zur Versteigerung anzeigen; doch konnte auch vorher jedermann aus freier Hand kaufen, was er wünschte.