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Am nächsten Tag, gegen Abend, erblickten wir an jedem der beiden Ufer ein Städtchen, und wir legten an einer kleinen Weideninsel mitten im Strome an. König und Herzog überlegten schon wieder, wie sie wohl die beiden Orte ausbeuten könnten. Da sagte Jim zum Herzog: »Jim hoffen, ihr sein nix lang fort, sein so viel schlimm, zu liegen ganze Tag gebunden in Zelt.« Wir konnten nämlich nichts anderes tun als ihn binden, denn wenn ihn zufällig jemand frei und allein angetroffen hätte, so wäre er sicher für einen entlaufenen Neger gehalten worden. Der Herzog meinte, es sei allerdings beschwerlich für Jim, und versprach, sich zu besinnen, wie es Jim bequemer gemacht werden könnte.
Er war ganz gescheit, dieser Herzog, und kam bald auf einen Gedanken. Er verkleidete Jim als König Lear. Jim mußte ein langes Gardinen-Kalikogewand, eine weiße Roßhaarperücke und einen Bart tragen. Dann nahm er seine Schminke und färbte Jims Gesicht, Hals, Ohren und Hände in fahles Blau, so daß er aussah wie die Leiche eines Ertrunkenen nach neun Tagen, ganz schauderhaft. Dann machte der Herzog aus einer großen Dachschindel ein Schild und schrieb darauf:
Kranker Araber – aber harmlos wenn bei Sinnen
Nachher nagelte er das Schild an eine Stange und steckte sie vier bis fünf Fuß vor dem Zelte auf. Jim war befriedigt. Er meinte, so wäre es viel besser, als Tag für Tag gebunden dazuliegen und bei jedem Geräusch vor Angst zu zittern. Der Herzog sagte ihm, er dürfe sich's jetzt bequem machen, und wenn irgend jemand sich unnötig um ihn kümmere, solle er nur aus dem Zelt springen, sich etwas unsinnig gebärden und ein- oder zweimal aufheulen wie eine wilde Bestie, dann würden die Leute schnell ausreißen und ihn in Ruhe lassen.
Die beiden Teufelskerle hätten das Nonplusultra gern noch einmal versucht, weil sie beim erstenmal so viel Geld herausgeschlagen hatten, doch sie fürchteten, die Kunde davon könnte sich bereits bis hierher verbreitet haben. Sie konnten über kein Projekt ganz einig werden; da sagte endlich der Herzog, man solle ihn ein bis zwei Stunden ganz in Ruhe lassen, er wolle sein Gehirn anstrengen und zusehen, ob sich mit dem Arkansas-Städtchen nicht doch etwas anstellen ließe. Der König dagegen wollte ohne besonderen Plan das andere Städtchen besuchen, im Vertrauen darauf, daß ihn die Vorsehung auf einen profitablen Weg führe – damit meinte er den Teufel, glaub' ich. In dem Ort, wo wir zuletzt angehalten, hatten wir uns alle neue fertige Anzüge gekauft. Der König zog seinen an und hieß mich auch den meinigen anziehen, was ich auch tat.
Des Königs Anzug war ganz schwarz, und er sah darin steif und fein aus. Nie hatte ich geahnt, wie Kleider einen Menschen verändern können. Vorher hatte er wie ein ganz gewöhnlicher Kerl ausgesehen; aber wenn er jetzt seinen neuen weißen Filzhut lüftete und sich mit einem Lächeln verbeugte, sah er so erhaben und gut und fromm aus, daß man hätte glauben können, er sei eben aus der Arche gestiegen und könne der alte Levitikus selbst sein.
Jim reinigte das Kanu, und ich machte meine Ruder zurecht. Etwa drei Meilen oberhalb des Städtchens lag ein großes Dampfboot, das schon zwei Stunden dalag und Fracht einlud.
Da sagte der König: »Zu meinem neuen Anzug würde es wohl besser passen, wenn ich von St. Louis, Cincinnati oder einer andern großen Stadt angereist käme. Also zum Dampfboot hin, Huckleberry; wir wollen auf ihm das Städtchen besuchen.«
Eine Dampfschiffahrt zu machen, das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich gewann das Ufer eine halbe Meile oberhalb des Städtchens, und dann ging's leicht hinauf, dicht am Ufer im strömungslosen Wasser. Bald kamen wir zu einem netten, harmlos und sehr ländlich aussehenden jungen Burschen, der auf einem Sägeblock saß und sich den Schweiß von der Stirne wischte, denn es war arg warmes Wetter, und er hatte ein paar große Reisesäcke bei sich.
»Fahr ans Land«, befahl der König. Ich tat's.
»Wohin, mein junger Freund?« redete er den fremden Burschen an.
»Zum Dampfboot; nach Orleans.«
»Steig ein«, sagte der König. »Wart einen Augenblick, mein Diener wird dir bei den Säcken helfen. Spring 'raus und hilf dem Herrn, Adolfus«, ich merkte, daß er mich meinte.
Nun, ich tat's, und wir drei fuhren weiter. Der junge Bursche war sehr dankbar und meinte, es sei eine harte Arbeit, bei solcher Hitze sein Gepäck zu tragen. Er fragte den König, wohin er ginge; der sagte, er sei den Fluß herabgekommen und früh morgens im andern Städtchen gelandet, und nun müsse er einige Meilen hinauf, um einen Freund auf seiner Farm zu besuchen.
Der Junge sagte dann: »Als ich Sie zuerst sah, sagte ich zu mir selbst: ›Das ist sicherlich Mr. Wilks, und er kommt nicht mehr zur rechten Zeit.‹ Dann dachte ich aber: ›Nein, er kann's nicht sein, er würde nicht hier den Fluß heraufrudern.‹ Sie sind's doch nicht, was?«
»Nein, mein Name ist Blodgett, Alexander Blodgett, Hochwürden Alexander Blodgett – ein Diener des Herrn. Indessen tut es mir doch aufrichtig leid, daß Herr Wilks nicht zur rechten Zeit eingetroffen ist, wenn er dadurch etwas versäumt hat, was ich nicht hoffen will.«
»Nun, die Erbschaft geht ihm nicht verloren, die bekommt er sicher; aber seinen Bruder Peter wird er nun nicht mehr am Leben finden – für den Fall, daß ihm daran gelegen war, was ich nicht wissen kann. Soviel aber weiß ich gewiß, daß sein Bruder sehr viel darum gegeben hätte, ihn vor seinem Ende noch einmal zu sehen; er sprach von nichts anderem die letzten drei Wochen; seit der Knabenzeit hatten sie sich nicht wieder gesehen. Seinen jüngsten Bruder William – 's ist der Taubstumme, und jetzt erst dreißig bis fünfunddreißig alt – hat er überhaupt nie gesehen. Peter und George waren die einzigen hierzulande; George war verheiratet, aber er und seine Frau starben beide letztes Jahr. Nur Harry und William sind von den Brüdern noch übrig, und sie sind nun leider nicht zur rechten Zeit eingetroffen.«
»Hat man ihnen denn geschrieben?«
»O ja – vor ein bis zwei Monaten, als Peter erkrankte; denn er ahnte schon damals, daß es diesmal mit ihm zu Ende gehen würde. Wissen Sie, er war ziemlich alt und Georges Töchter waren zu jung, um ihm viel Gesellschaft zu leisten, außer Mary Jane, der Rothaarigen. So fühlte er sich recht einsam, nachdem George und seine Frau gestorben waren, und es lag ihm nichts mehr am Leben. Er sehnte sich schrecklich danach, Harry vor seinem Ende zu sehen und auch den William, denn er war einer von denen, die ungern ein Testament machen. So hinterließ er nur einen Brief für Harry, in dem er sagte, wo sein Geld versteckt sei und daß er den Rest seiner Habe so verteilt wünsche, daß Georges Mädchen ein Auskommen hätten; denn ihr Vater George hatte nichts hinterlassen. Zu einem richtigen Testament konnte man Peter Wilks nicht bringen; dieser Brief ist alles.«
»Was meinst du, mag der Grund sein, daß Harry nicht kommt? Wo wohnt er?«
»Oh, er wohnt in England, in Sheffield, predigt dort; er ist nie in diesem Land gewesen. Er mag wenig Zeit haben – und vielleicht hat er den Brief nicht einmal erhalten.«
»Es ist recht traurig, daß Mr. Wilks nicht mehr erleben durfte, seinen Bruder zu sehen, arme Seele! – Du sagst, du gehst nach Orleans?«
»Ja, aber das ist nur ein Teil der Reise, von dort gehe ich in einem Segelschiff nach Rio de Janeiro, wo mein Onkel wohnt.«
»Das ist eine lange Reise, muß aber recht schön sein; ich wollte, ich könnte sie mitmachen. Ist Mary Jane die älteste? Wie alt sind die andern?«
»Mary Jane ist neunzehn, Susan fünfzehn und Joanna etwa vierzehn; das ist die Wohltätige und hat eine Hasenlippe.«
»Die armen Dinger! Nun müssen sie so allein in der kalten Welt bleiben!«
»Nun, sie könnten schlimmer dran sein. Der alte Peter hatte gute Freunde, und die werden schon dafür sorgen, daß ihnen kein Leid geschieht. Da ist Hobsen, der Baptisten-Prediger, und Vorsteher Lot Hovey, und Ben Rucker, und Abner Shackleford, und Levi Bell, der Advokat, und Dr. Robinson und deren Frauen und die Witwe Bartley, und – nun ja, eine ganze Menge; aber mit den Genannten war Peter am intimsten, er schrieb auch zuweilen von ihnen an seinen Bruder, den Pfarrer, und wenn der noch kommt, wird er wissen, an wen er sich zu wenden hat.«
Der Alte fragte und fragte, bis er den Jungen förmlich ausgepumpt hatte. Verdammt, wenn er sich nicht über jeden und alles in dem ganzen Städtchen erkundigte, über alle Wilkse, über Peters Beruf, der ein Gerber gewesen, über Georges, der ein Schreiner gewesen, über Harrys, der, wie wir schon gehört, ein Geistlicher ist, und dergleichen mehr.
Dann sagte er: »Warum wolltest du denn den ganzen Weg bis zum Dampfboot hinaufgehen?«
»Weil das ein großes Orleans-Boot ist und dort vielleicht nicht gehalten hätte. Wenn schwergeladen, halte sie selbst auf ein Signal nicht immer an. Ein Cincinnati-Boot tut es, aber das ist ein St. Louis-Boot.« – »War Peter Wilks wohlhabend?«
»O ja, ziemlich wohlhabend. Er hatte Häuser und Land, und man glaubt, daß er drei- bis viertausend Dollar in Bargeld irgendwo versteckt hielt.«
»Wann sagtest du, daß er gestorben sei?«
»Ich sagte es nicht, aber es war letzte Nacht.«
»Begräbnis wohl morgen?« – »Ja, gegen Mittag.«
»Ach, das ist recht, recht traurig; aber einmal müssen wir alle sterben, der eine früher, der andere später. Drum sollten wir danach trachten, stets zur letzten Reise vorbereitet zu sein. Dann ist alles gut.«
»Ja, Herr, das ist am besten. – Mutter hat's auch immer gesagt.«
Als wir das Dampfboot erreichten, war es mit Frachteinladen fertig und stieß bald ab. Der König gebot mir aber, noch eine Meile weiter zu rudern an einen einsamen Ort. Dann stieg er ans Land und sagte: »Jetzt rasch zurück und bring mir den Herzog mit und die neuen Reisetaschen. Sollte er ans andere Ufer gegangen sein, so geh hin und hol ihn. Sag ihm, er soll sich so fein wie möglich machen.«
Ich merkte, was er im Schilde führte, sagte aber natürlich kein Wort. Als ich mit dem Herzog zurückkam versteckten wir das Kanu, und sie setzten sich auf einen Holzblock. Der König erzählte ihm alles, gerade wie's der Bursche erzählt hatte, nichts ließ er aus. Und die ganze Zeit bemühte er sich, wie ein echter Engländer zu sprechen, und tat's auch ganz gut für solch einen Kerl.
Dann fragte er: »Kannst du die Taubstummenrolle spielen, Sommerfett?«
»Und ob!« rief der Herzog, »hab's auf den histrionischen Brettern getan.« Sie warteten jetzt nur noch auf ein Dampfschiff.
Während des Nachmittags sahen wir zwei kleine Dampfer, aber sie kamen nicht von weit her; endlich kam ein großes Dampfboot, und wir riefen es an. Ein Kahn wurde uns zugeschickt, und wir gingen an Bord. Das Dampfboot kam von Cincinnati. Als der Kapitän hörte, daß wir nur vier bis fünf Meilen mitreisen wollten, wurde er sehr ärgerlich, fluchte und sagte, er würde uns dort nicht ans Land setzen. Der König blieb aber ruhig und sagte: »Wenn Herren imstande sind, einen Dollar per Meile à Person zu bezahlen, um in einem Kahn geholt und abgesetzt zu werden, so ist wohl auch ein Dampfboot imstande, sie mitzunehmen, nicht wahr!«
Das besänftigte den Kapitän; er war's zufrieden, und wir wurden bei der Ankunft am Städtchen wieder mit dem Kahn ans Land gesetzt. Etwa zwei Dutzend Männer kamen herbei, als sie den Kahn kommen sahen, und als der König sagte: »Kann irgendeiner der Herren mir sagen, wo Mr. Peter Wilks wohnt?«, da blickten sie einander an und nickten sich zu, als wollten sie sagen: ›Siehst du, was hab' ich dir gesagt?‹
Dann sprach einer mit weicher Stimme: »Es tut mir leid, Herr, aber wir können nicht mehr tun, als Sie an die Stelle zu führen, wo er gestern abend noch lebte.«
Plötzlich schien unsern Alten alle Kraft zu verlassen, er fiel gegen den Mann, sank mit seinem Kinn auf dessen Schulter, und weinte ihm seine Tränen den Rücken hinunter.
»Ach, ach«, stöhnte er, »unser armer Bruder – dahin, und wir durften ihn nicht wiedersehn; oh, das ist zu, zu hart!«
Dann wandte er sich um – immer noch schluchzend – und machte allerlei unsinnige Zeichen, und da ließ auch der Herzog die Reisetasche fallen und brach in Tränen aus. Sie waren das niedergeschlagenste Paar, diese zwei Betrüger, das ich je gesehen habe.
Die Männer umgaben und bemitleideten sie und sagten allerlei freundliche Worte, trugen ihre Reisetaschen den Hügel hinauf und blieben stehen, wenn König und Herzog vor Schluchzen nicht mehr weiterkonnten. Sie erzählten dem König alles über seines Bruders letzte Minuten, und der König wiederholte alles mit seinen Händen dem Herzog.
In zwei Minuten wußte es die ganze Stadt, und das Volk kam herbeigerannt von allen Ecken und Enden. Bald waren wir von einer großen Menge umringt, die uns folgte. Fenster und Türen standen voll Menschen, und alle Augenblicke hörte man jemand über den Zaun rufen: »Sind sie's?«
»Freilich, darauf könnt' ihr wetten!« lautete gewöhnlich die Antwort aus der mitlaufenden Menge.
Als wir zum Hause kamen, war die Straße gedrängt voll Menschen, und die drei Mädchen standen in der Tür. Mary Jane war rothaarig, das schadete ihr aber nichts, denn sie war sonst so hübsch, und ihr Gesicht und ihre Augen waren wie verklärt – sie freute sich so, daß ihre Onkel gekommen waren. Der König breitete die Arme aus, und Mary sprang hinein, und die Hasenlippe sprang zum Herzog, und so hatten sie sich. Fast alle, wenigstens die Frauen, weinten vor Freude über dies Wiedersehn und die Freude der Beteiligten.
Dann gab der König dem Herzog einen geheimen Wink – ich sah es –, schaute sich um und erblickte den Sarg in einer Ecke auf zwei Stühlen; dann legten die beiden je einen Arm einander auf die Schulter, bedeckten mit der andern Hand die Augen und schritten langsam und feierlich hinüber. Alle machten ihnen Platz, Gespräch und Geräusch hörten auf, und einige riefen »Sch!« Alle Männer nahmen die Hüte ab und senkten ihre Köpfe. Man hätte in dieser feierlichen Stille eine Stecknadel fallen hören können. Am Sarge angelangt, beugten sich die beiden darüber, warfen einen Blick hinein und fingen dann an so laut zu jammern, daß man sie fast in Orleans hätte hören können. Dann umarmten sie einander, und jeder hing sein Kinn über des andern Schulter, und drei, vielleicht auch vier Minuten lang ließen ihre Augen Wasser fließen wie ich's nie von zwei Männern gesehen habe. Und die andern machten es ihnen nach. Dann knieten sie auf den entgegengesetzten Seiten des Sarges nieder, legten ihre Köpfe darauf und taten, als ob sie im stillen beteten. Das alles machte einen mächtigen Eindruck auf die Versammlung, und alles sah sich von dem Schmerz der beiden hingerissen und schluchzte laut – die drei armen Mädchen auch, und fast jede Frau ging zu den Mädchen, ohne ein Wort zu sagen, küßte sie feierlich auf die Stirn, legte ihnen die Hand auf den Kopf, sah gen Himmel mit tränenvollen Augen, brach in lautes Schluchzen aus und trat dann beiseite, um der nächsten dieselbe Gelegenheit zu geben.
Darauf trat der König etwas vorwärts und fing an, eine Rede hervorzuschluchzen, voller Tränen und Beteuerungen, was für eine schwere Prüfung für ihn und seinen armen Bruder der Verlust des Dahingeschiedenen sei, besonders da sie ihn nach der langen Reise von viertausend Meilen nicht mehr lebend finden konnten. Aber es sei eine Prüfung, versüßt und geheiligt durch dies schöne Mitgefühl, diese heiligen Tränen, und so danke er allen Anwesenden aus seinem und seines Bruders Herzen, denn mit ihrem Munde könnten sie es nicht, da Worte zu schwach und kalt wären. Und so jammervoll gings weiter, bis es einen anekeln konnte. Dann grölte er ein Amen heraus, und das Heulen ging wieder los.
Kaum hatte er ausgeredet, so intonierte einer der Anwesenden das Ehre sei Gott in der Höhe, und alle fielen kräftig mit ein; das wärmte einem ordentlich das Herz. Musik ist doch ein herrliches Ding; zumal nach einer solchen Rührszene, wo alles so weich wie geschmolzene Butter wurde, wirkte der kernige und ehrliche Gesang ordentlich auffrischend.
Dann setzte der König wieder seine Kinnlade in Bewegung und sagte, wie sehr er und seine Nichten sich freuen würden, wenn einige der nächsten Freunde der Familie zum Abendessen bleiben und nachher mit bei dem Leichnam des Verstorbenen wachen wollten. »Ja«, sagte er, »wenn unser armer Bruder, der jetzt dort liegt, reden könnte, so weiß ich, wen er nennen würde; die Namen, die ihm so lieb waren und die er oft in seinen Briefen nannte, waren folgende: Pastor Hobsen und Vorsteher Lot Hovey und Herr Ben Rucker und Abner Shackleford und Levi Bell und Dr. Robinson und deren Frauen, und Witwe Bartley.«
Pfarrer Hobsen und Dr. Robinson waren am andern Ende der Stadt zusammen auf der Jagd; das heißt, ich meine, der Doktor expedierte einen Kranken ins Jenseits, und der Pfarrer wies ihm den rechten Weg. Advokat Bell war in Geschäften nach Louisville gereist. Aber die übrigen waren bei der Hand, und so kamen sie denn alle und schüttelten dem König die Hände und dankten ihm. Dann reichten sie auch dem Herzog die Hände und sagten nichts, aber sie lächelten ihn freundlich kopfnickend an, während er mit den Händen allerlei Zeichen machte und die ganze Zeit »Gu-gu-gu-gu-gu« schluchzte wie ein Säugling, der noch kein Wort sprechen kann.
Der König plapperte in einem fort und fragte fast nach jedermann im ganzen Städtchen, nannte viele bei Namen, berührte allerlei Kleinigkeiten, die sich im Städtchen und besonders in Georges Familie und an Peter selbst ereignet hatten, und dabei tat er, als ob ihm Peter alles geschrieben hätte. Dieser freche Lügner! Ich brauche nicht zu wiederholen, daß er all das Zeug aus dem jungen Burschen herausgepumpt, den wir im Kanu aufs Dampfboot expediert hatten.
Nun brachte Mary Jane den Brief, den ihr Onkel zurückgelassen hatte, und der König las ihn vor und weinte darüber. Der Verstorbene vermachte sein Wohnhaus und dreitausend Dollar Gold den Mädchen und schenkte die Gerberei, die ein gutes Geschäft war, nebst andern Gebäulichkeiten und Land, alles im Wert von etwa siebentausend Dollar, dazu noch dreitausend Dollar in Gold, Harry und William. Er bezeichnete auch, wo die sechstausend Dollar im Keller versteckt seien. Drauf sagte der Hauptbetrüger, sie wollten gleich gehen und es heraufbringen, damit es in bester Ordnung besorgt würde, und gebot mir, mit einem Lichte mitzukommen. Sie schlossen die Kellertür hinter sich ab, und als sie den Sack fanden, schütteten sie ihn auf die Diele aus – es war ein herrlicher Anblick, all die Goldstücke. Oh, wie leuchteten da des Königs Augen! Er klopfte dem Herzog auf die Schulter und rief: »Gelt, diesmal hat's aber eingeschlagen! Wer hätte so viel erwartet! Kerl, das geht über's Nonplusultra!«
Der Herzog stimmte bei. Sie prüften die Goldstücke und ließen sie durch die Finger gleiten und auf der Diele klingen.
Der König sprach: »Das steht fest: Brüder eines reichen Toten und Vertreter ausländischer Erben zu sein, die zurückgeblieben sind, ist jetzt der richtige Beruf für dich und mich, Sommerfett!«
Jeder andere wäre zufrieden gewesen mit einem solchen Haufen Gold; aber nein, sie mußten ihn zählen. Sie taten's, und es fehlten vierhundertfünfzehn Dollar.
Der König sagte: »Verdammt! Was hat er mit den vierhundertfünfzehn Dollar gemacht?«
Sie grübelten eine Zeitlang und suchten überall herum.
Dann meinte der Herzog: »Er war ja ein recht kranker Mann und hat wohl einen Irrtum begangen – das wird's wohl sein. Ich meine, es wird am besten sein, wir lassen die Sache auf sich beruhen und sagen nichts davon. Wir können das schon ablassen.«
»Ach, davon ist ja keine Rede – ich denke an etwas anderes. Wir müssen sehr vorsichtig und genau in dieser Sache sein. Wir müssen das Geld hinaufnehmen und in Gegenwart der Anwesenden zählen, damit ja kein Verdacht geschöpft werden kann. Wenn nun der tote Mann da sagt, es sind sechstausend Dollar, dürfen wir nicht ...«
»Halt!« rief der Herzog, »wir wollen das Fehlende dazutun«, und er langte eine Handvoll Goldfüchse aus seiner Tasche heraus.
»Das ist eine famose Idee, Herzog! Du hast einen aufgeweckten Kopf auf deinen Schultern«, rief der König. »Da hilft uns die Nonplusultra-Einnahme gut aus«, und auch er langte nun Goldstücke aus seiner Tasche und stellte sie in gezählten Häufchen auf.
Es erschöpfte fast ihre ganze Barschaft, aber es machte die Sechstausend-Summe voll.
»Hör mal«, rief nun der Herzog, »ich hab' noch eine andere Idee. Laß uns hinaufgehen, das Geld vorzählen und dann alles miteinander den Mädchen geben.«
»Herzog! Herzog! Laß dich umarmen! Das ist der brillanteste Gedanke, den ein Mensch haben kann. Du bist das erfinderischste Gehirn, das sich denken läßt. Oh, das ist grandios, wahrhaftig. Jetzt soll noch jemand mit Zweifel oder Argwohn kommen, wenn er will – das überzeugt alle.«
Als wir hinaufkamen, sammelten sich alle um den Tisch. Der König zählte und stellte die Goldstücke auf, dreihundert in jedem Häufchen – zwanzig elegante kleine Türmchen. Jedermann sah hungrig und mundwäßrig daraufhin. Dann wurde alles wieder in den Sack getan, und ich sah, wie der König schon wieder zu einer Rede Atem schöpfte.
Er sprach: »Liebe Freunde! Mein armer Bruder, der dort drüben liegt, hat hochherzig an uns gehandelt, die wir hier im Jammertal zurückgeblieben sind; hochherzig an diesen armen lieben Lämmern, die er geliebt und bewacht hat und die, vater- und mutterlos, ihn jetzt entbehren müssen. Ja, und wir, die ihn kannten, wissen, daß er noch mehr für sie getan, wenn er nicht gefürchtet hätte, dadurch seinen teuren William und mich zu schädigen. Oder glaubt ihr nicht? Ich zweifle nicht im mindesten daran. Nun, schlechte Brüder wären es, die zu solcher Zeit an sich selbst dächten, und schlechte Onkel, die zu solcher Zeit diese armen süßen Lämmer, die er so liebte, berauben könnten – ja, berauben, sag' ich. Wenn ich William recht kenne – und ich glaube, ich kenne ihn –, würde er ... Nun, ich will ihn gleich fragen.« Er wandte sich und begann mit dem Herzog allerlei Zeichen auszutauschen, und der Herzog sah ihn erst eine Zeitlang dumm und dämlich an, dann, als ob ihm plötzlich etwas einleuchtete, sprang er auf den König zu, vor Freude laut gu-gu-end, und umarmte ihn wohl fünfzehnmal hintereinander. Dann sprach der König: »Wußt' ich's doch. Dies wird wohl alle überzeugen, wie er darüber denkt: Hier Mary Jane, Susan, Joanna, nehmt das Geld, nehmt das Ganze. Es ist ein Geschenk von ihm, der dort liegt, kalt, aber selig.«
Dann sprang Mary Jane zu ihm, Susan und die Hasenlippe zum Herzog; solch Umarmen, Ansherzdrücken und Küssen habe ich niemals gesehen. Alle drängten sich herbei, mit Tränen in den Augen, und die meisten schüttelten den zwei Betrügern die Hände mit Redensarten wie: »Ihr lieben, guten Seelen! Wie lieb! Wie konntet ihr das?!«
Dann sprachen sie alle über den Verstorbenen, wie gut er gewesen, was für ein großer Verlust durch seinen Tod entstanden und dergleichen mehr. Bald drängte sich ein großer Kerl zur Tür herein, der Kinnbacken wie aus Eisen hatte. Er stand, hörte und sah zu und sagte nichts, und es redete auch niemand mit ihm, denn der König sprach, und alle hörten ihm zu.
Der König sagte, indem er in seiner Rede fortfuhr: »Das waren die intimsten Freunde des Verstorbenen, darum sind sie für diesen Abend eingeladen; aber morgen, hoffen wir, werden alle kommen, wir erwarten jeden, denn er ehrte jeden und hatte jeden gern, und darum gehört sich's, daß seine Begräbnis-Orgien recht öffentlich stattfinden.
Und so ging's fort, denn er hörte sich gern reden. Gelegentlich brachte er immer wieder die Begräbnis-Orgien mit hinein, bis es dem Herzog zuviel wurde und er auf ein Stück Papier schrieb: »Obsequien, du alter Esel«, es zusammenfaltete und es gu-gu-end dem König über die Köpfe der andern hinüberreichte.
Der König las, steckte es in die Tasche und sagte: »Armer William, obwohl tief gebeugt, ist sein Herz doch stets auf dem rechten Fleck. Er wünscht, daß ich jeden bitte, zum Begräbnis zu kommen; sagt, ich solle alle willkommen heißen. Aber er hätte sich darum nicht zu kümmern brauchen, denn ich war ja gerade dabei.«
Dann fuhr er in größter Seelenruhe fort zu salbadern und brachte wieder seine Begräbnis-Orgien hinein, und nachdem er es zum drittenmal getan hatte, rief er: »Ich sage Orgien, nicht weil es das übliche Wort ist, das ist's nicht, das ist Obsequien, sondern weil Orgien der richtige Ausdruck ist. Obsequien wird in England nicht mehr gebraucht, das ist veraltet. In England sagen wir jetzt Orgien. Orgien ist besser, denn es bezeichnet genauer, was man dabei meint. Das Wort ist zusammengesetzt aus dem griechischen orgo, draußen, außerhalb, im Freien; und dem hebräischen giene, pflanzen, mit Erde bedecken, also beerdigen. So könnt ihr also sehen, daß Begräbnis-Orgien eine offene oder öffentliche Beerdigung bedeutet.«
Es war der frechste Mensch, der mir je vorgekommen ist. Der Mann mit dem eisenähnlichen Kiefer lachte ihm geradezu ins Gesicht. Das wunderte alle, und sie riefen: »Aber Doktor!«, und Abner Shackleford sagte: »Aber Robinson, hast du die Neuigkeit nicht gehört? Das ist Harry Wilks.«
Der König lächelte lauernd, hielt seine Tatze heraus und sprach: »Ist es meines armen Bruders lieber guter Freund und Arzt? Ich ...«
»Laß deine Hände von mir!« rief der Doktor. »Du – und sprechen wie ein Engländer? Du? Es ist die erbärmlichste Nachäffung, die ich je gehört habe. Du Peter Wilks' Bruder? Du bist ein Betrüger! Nun weißt du, was du bist!«
Ach, wie alle entsetzt waren! Sie drängten sich um den Doktor und suchten ihn zu beruhigen, ihm auseinanderzusetzen, wie Harry auf allerlei Weise gezeigt habe, daß er Harry sei, wie er jeden Namen kannte und sogar die der Hunde, und baten und beschworen ihn, Harry nicht zu nahe zu treten und das Zartgefühl der Mädchen zu schonen und so weiter. Aber es war umsonst, er brauste auf und meinte, jemand, der sich für einen Engländer ausgebe und Englands Lingo Aussprache nicht besser nachmachen könne, als der da, sei ein Betrüger und Lügner. Die armen Mädchen hingen sich an den König und weinten.
Plötzlich wandte sich der Doktor zu ihnen und sagte: »Ich war eures Vaters Freund und ich bin euer Freund, und ich beschwöre euch als Freund, als ein ehrlicher Freund, der euch zu beschützen und Kummer und Unglück von euch abzuwenden sucht, diesem Gauner den Rücken zu kehren, nichts mit ihm zu tun zu haben, diesem unwissenden Landstreicher mit seinem idiotischen Griechisch und Hebräisch, wie er es nennt. Er ist ein fadenscheiniger Betrüger. Kommt her mit einer Masse leerer Namen, die er sich irgendwo zusammengesucht hat, und ihr nehmt sie für Beweise, und eure betrogenen Freunde hier helfen euch, euch selbst zu betrügen – die sollten doch gescheiter sein. Mary Jane Wilks, du kennst mich als deinen Freund, und als einen uneigennützigen Freund. Laß dir raten und diesen erbärmlichen Gauner hinauswerfen. Ich bitte dich, tu es. Wirst du's tun?«
Mary Jane erhob sich stolz in ihrer ganzen Größe – oh, wie war sie schön! – und sagte: »Hier ist meine Antwort.« Sie hob den Sack Geld auf und legte ihn in des Königs Hände mit den Worten: »Nimm diese sechstausend Dollar und lege das Geld für mich und meine Schwestern an, wie du es für gut hältst, wir brauchen keinen Empfangsschein darüber.«
Dann umschlang sie den König mit ihrem Arm von einer Seite, und Susan und die Hasenlippe taten dasselbe von der andern Seite. Alles klatschte mit den Händen und trommelte stürmisch mit den Füßen auf die Diele, während der König seinen Kopf hoch hielt und stolz lächelte.
Der Doktor rief: »Wohl denn, ich wasche meine Hände in Unschuld. Aber ich sage euch allen, daß die Zeit kommen wird, wo es euch übel zumute ist.«
»Um so besser, Doktor«, rief der König höhnisch, »dann werden sie Euch wohl rufen lassen müssen« – das machte alle lachen, und sie sagten, das sei ein guter Witz.