Mark Twain
Im Gold- und Silberland
Mark Twain

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Einundzwanzigstes Kapitel.

Was nun thun?

Das war eine wichtige Frage. Ich war mit dreizehn Jahren in die Welt hinausgegangen, um für mich selbst zu sorgen; denn mein Vater hatte für Freunde gutgesagt und hatte uns zwar ein reichliches Erbe an Stolz auf seine Abstammung von einer feinen virginischen Familie und auf deren Verdienste um die Nation hinterlassen, doch fand ich bald, daß ich davon nicht leben könne, sondern dazu gelegentlich ein Stück Brot als Beilage haben müsse. In verschiedenen Berufsarten hatte ich meinen Lebensunterhalt verdient, bis jetzt aber durch meine Leistungen noch bei niemand Staunen erregt. Mir stand eine große Auswahl zur Verfügung, falls ich Arbeit suchte – allein, nachdem ich so reich gewesen war, hatte ich keine Lust dazu. Ich war einmal einen Tag lang Ladenjüngling bei einem Krämer gewesen, hatte aber dabei eine solche Masse Zucker verzehrt, daß der Besitzer mich aller weiteren Dienstleistungen entband und sagte, es wäre ihm lieber, wenn ich bloß als Kunde in seinen Laden käme. Eine Woche lang hatte ich Rechtsgelehrsamkeit studiert, sie aber dann aufgegeben, weil sie zu prosaisch und ledern war. Dann warf ich mich eine kurze Zeit auf das Studium der Grobschmiedekunst, vertrödelte aber mit dem Versuche, die Blasebälge so einzurichten, daß sie von selbst bliesen, so viel Zeit, daß der Meister mich in Ungnaden fortjagte und behauptete, aus mir würde im Leben nichts. Ich trat eine Weile als Gehilfe bei einem Buchhändler ein, aber die Kunden quälten mich dergestalt, daß ich nicht mit Behaglichkeit lesen konnte, und so gab mir der Prinzipal Urlaub, vergaß aber dabei zu sagen, wann derselbe abgelaufen sein sollte. Dann war ich im Sommer eine Zeitlang Gehilfe bei einem Apotheker, aber ich hatte Unglück mit meinen Rezepten, so daß wir mehr Magenpumpen als sonst was absetzten und ich auch dort fort mußte. In dem Gefühl, daß in mir ein zweiter Franklin stecke, hatte ich die Schriftsetzerei leidlich erlernt. Aber bei der ›Union‹ in Esmeralda war keine Stelle offen, und überdies hatte ich immer so langsam gesetzt, das ich die Lehrlinge nach zwei Jahren um ihre Leistungen beneidete; wenn ich ein Stück Satz übernahm, so pflegte der oberste Setzer anzudeuten, man werde es im Lauf des Jahres wohl einmal brauchen. Als Lotse zwischen St. Louis und New-Orleans machte ich meine Sache ganz ordentlich und brauchte mich meiner Leistungen in diesem Berufszweig keineswegs zu schämen; der Lohn betrug zweihundertfünfzig Dollars monatlich bei freier Kost und Wohnung, und ich sehnte mich wirklich danach, wieder hinter dem Steuerrad zu stehen, statt ewig herumzuschweifen. Aber ich hatte mich in der letzten Zeit durch prahlerische Briefe, die ich über meinen blinden Gang und meine Europareise nach Hause gerichtet, so lächerlich gemacht, daß es mir ging, wie schon gar manchem armen enttäuschten Bergmann, der sich selber sagt: »Mit mir ist es jetzt aus und vorbei, und es fällt mir nicht ein, je wieder heimzukehren, um bemitleidet und über die Achsel angesehen zu werden.« Ich war Privatsekretär, Silbergräber und Arbeiter in einem Pochwerke gewesen, hatte es in allen diesen Fächern zu weniger als nichts gebracht und jetzt –

Was sollte nun zunächst geschehen?

Auf Higbies Bitten willigte ich ein, es nochmals mit dem Bergbau zu versuchen. Wir kletterten hoch am Bergeshang hinauf und machten uns an die Arbeit auf einer uns gehörigen kleinen, nichtsnutzigen Parzelle, auf der sich ein Schacht von acht Fuß Tiefe befand. Higbie stieg hinab und arbeitete tapfer mit seiner Spitzhacke, bis er eine Menge Gestein und Erde losgehauen hatte, und dann ging ich hinunter, um es mit einer langstieligen Schaufel, der widerwärtigsten aller menschlichen Erfindungen, herauszuwerfen. Man muß die Schaufel vorwärts schieben und mit dem Knie nachhelfen, bis sie voll ist, und sie dann mit kühnem Schwung über seine linke Schulter entleeren. Ich machte den Schwung und setzte das Geröll genau am Rande des Schachtes ab, von wo es mir samt und sonders wieder auf Kopf und Nacken herabkam. Ohne ein Wort zu sagen, stieg ich heraus, ging nach Hause und beschloß in meinem Innern, lieber zu verhungern, als dieses Scheibenschießen mit Schutt auf meine werte Person vermittelst einer langstieligen Schaufel noch länger zu betreiben. Ich setzte mich in die Hütte und überließ mich dort sozusagen einem gediegenen moralischen Katzenjammer. Nun hatte ich in angenehmeren Tagen zu meinem Vergnügen dann und wann der Hauptzeitung des Territoriums, der ›Daily Territorial Enterprise‹ in Virginia Berichte eingeschickt und war stets überrascht gewesen, wenn sie im Druck erschienen. Die Redakteure waren dabei in meiner Meinung nicht eben gestiegen, denn es wollte mich bedünken, als hätten sie etwas Besseres finden können, um ihre Spalten zu füllen, als meine literarischen Leistungen. Auf dem Heimweg fand ich im Postbureau einen Brief, den ich zu Hause öffnete. »Heureka!« rief ich aus – ich wußte allerdings nicht, was das heißt, fand aber den Klang des Wortes meiner Stimmung ganz angemessen – es war ein ernstliches Anerbieten von fünfundzwanzig Dollars wöchentlich, falls ich nach Virginia kommen und Lokalredakteur des ›Enterprise‹ werden wollte.

In den Tagen des ›Blinden Ganges‹ würde ich den Herausgeber gefordert haben, jetzt hätte ich vor ihm niederfallen und ihn anbeten mögen. Fünfundzwanzig Dollars die Woche – das war ein Kapital – ein Vermögen! Zwar kühlte sich meine Verzückung etwas ab, wenn ich an meine Unerfahrenheit und meinen Mangel an jeder Befähigung für diese Stellung dachte, und mir die Reihe der verfehlten Versuche, etwas aus mir zu machen, vor Augen stellte. Allein wenn ich das Anerbieten ausschlug, so würde ich binnen Kurzem nicht mehr mein täglich Brot haben und meinem Nächsten zur Last fallen; einem Menschen aber, der seit seinem dreizehnten Jahre nie eine solche Erniedrigung erlebt hatte, mußte dies notwendig zuwider sein. So wurde ich wohl oder übel Lokalredakteur. Not bricht Eisen. Ich bin fest überzeugt, hätte man mir damals das Anerbieten gemacht, gegen Gehalt den Talmud aus dem hebräischen Original zu übertragen, ich würde es ruhig angenommen und versucht haben, mich für mein Geld möglichst anständig aus der Affaire zu ziehen.

Ich ging hinauf nach Virginia, um meine neue Stellung anzutreten. Für einen Lokalredakteur sah ich recht ruppig aus, das gestehe ich offen; ohne Rock, mit Schlapphut und blauem Wollhemd, die Hosen in den Stiefeln, mit einem Bart, der mir über die halbe Brust herunterhing, und dem üblichen Matrosen-Revolver am Gürtel. Doch verschaffte ich mir einen christlicheren Anzug und gab meinem Revolver den Abschied. Ich hatte niemals Gelegenheit gehabt, jemand tot zu schießen, verspürte auch kein solches mörderisches Gelüste; nur aus Rücksicht auf die allgemeine Anschauung hatte ich das Ding getragen, um nicht unangenehm aufzufallen und zu Bemerkungen Anlaß zu geben. Zu meiner Überraschung bemerkte ich jedoch, daß die andern Redakteure, sowie sämtliche Setzer und Drucker Revolver trugen. Ich bat den Chefredakteur und Eigentümer des Blattes, Herrn Goodman, um einige Anweisungen betreffs meiner Pflichten, worauf er mir sagte, ich solle nur durch die ganze Stadt gehen und allerhand Leute über alles mögliche ausfragen, mir die erhaltene Auskunft notieren und sie dann ausführlicher zur Veröffentlichung niederschreiben. Er fügte noch bei:

»Sagen Sie niemals: ›wir erfahren‹, oder: ›es heißt‹, oder: ›es geht das Gerücht‹, oder: ›wie verlautet‹, sondern rücken Sie vor die rechte Schmiede, verschaffen Sie sich die absoluten Thatsachen und dann reden Sie von der Leber weg und sagen Sie: so und so ist es. Sonst trauen die Leute Ihren Nachrichten nicht. Unumstößliche Gewißheit ist es, was einer Zeitung den festesten und wertvollsten Ruf verschafft.«

Damit hatte ich das Wesen der Sache in nuce, und bis auf den heutigen Tag beschleicht mich, so oft ich sehe, daß ein Berichterstatter seinen Artikel mit ›wie verlautet‹ anfängt, der Verdacht, er habe auf seine Erkundigung nicht Mühe genug verwandt. Freilich, solange ich Lokalredakteur war, habe ich nicht immer nach jener Vorschrift gehandelt, sondern manchmal, wenn Mißwachs an Nachrichten herrschte, der Phantasie die Oberherrschaft über die Thatsachen gelassen. Nie werde ich die Erfahrungen vergessen, die ich an meinem ersten Tage als Berichterstatter machte. Ich wanderte durch die ganze Stadt, fragte alle Welt, bohrte jedermann an, und kein Mensch wußte etwas. Nach fünf Stunden war mein Notizbuch noch immer leer. Ich sprach mit Herrn Goodman darüber. Dieser meinte:

»Ihr Vorgänger Dan pflegte in der sauern Gurkenzeit, wenn's sonst nichts gab, aus den Heuwagen Kapital zu schlagen. Sind keine Heuwagen vom Felde hereingekommen? Sind welche da, so könnten Sie von wiederaufgenommener Thätigkeit im Heugeschäft sprechen. Das ist zwar nicht besonders aufregend, aber es hilft doch das Blatt füllen und sieht geschäftsmäßig aus.«

Ich durchstreifte die Stadt nochmals und stöberte einen einzigen elenden alten Heuwagen auf, der sich langsam vom Felde hereinbewegte. Aber ich wußte ihn zu fruktifizieren; ich multiplizierte ihn mit sechzehn, ließ ihn aus sechzehn verschiedenen Richtungen her in die Stadt fahren, machte sechzehn besondere Artikelchen über ihn und schlug einen Lärm über das Heu, wie er in Virginia City noch nie erlebt worden war.

Das war ermutigend. Ich hatte zwei Spalten Nonpareille zu füllen, und kam damit ganz nett vorwärts. Gerade als der Stoff wieder zur Neige ging, brachte ein Raufbold in einer Schnapsbude einen Mann um, und abermals kehrte Freude bei mir ein. Niemals in meinem Leben war ich wegen einer Bagatelle wie diese so vergnügt gewesen. Ich sagte zu dem Mörder:

»Mein Herr, Sie sind mir ein Fremder, aber Sie haben mir heute einen Gefallen gethan, den ich Ihnen nie vergessen werde. Wenn ganze Jahre von Dankbarkeit Ihnen einen Ersatz bieten können – sie soll Ihnen zu teil werden. Ich war in Not, und Sie haben mir zu rechter Zeit edelmütig herausgeholfen, als alles dunkel und öde aussah. Zählen Sie mich fortan zu Ihren Freunden; denn ich bin nicht der Mann, der eine Gefälligkeit vergißt.«

Wenn ich das alles nicht wirklich zu ihm sagte, so empfand ich doch wenigstens das Verlangen danach. Ich berichtete über die Mordthat mit einem wahren Heißhunger auf interessante Einzelheiten, und als ich zu Ende war, bedauerte ich nur, daß man nicht meinen Wohlthäter auf der Stelle gehenkt hatte; ich würde ihn gern auch noch verarbeitet haben.

Sodann entdeckte ich ein paar Wagen mit Auswanderern, die sich eben anschickten, auf der Plaza ein Lager zu bilden, und von denen ich erfuhr, daß sie vor kurzem durch feindliches Indianergebiet gekommen und dabei ziemlich übel gefahren waren. Ich machte aus dieser Nachricht alles, was die Umstände erlaubten; wäre ich nicht durch die Anwesenheit der Berichterstatter anderer Blätter in strengen Grenzen gehalten gewesen, so würde ich zweifelsohne den Artikel durch einige Zuthaten noch viel interessanter gemacht haben. Einen Wagen fand ich jedoch, der nach Kalifornien weiter ging und zog bei dessen Besitzer geschickte Erkundigungen ein. Als ich aus seinen kurzen, mürrischen Antworten auf meine Kreuz- und Querfragen ersehen hatte, daß er ganz bestimmt abfahren und am nächsten Tage nicht mehr in der Stadt sein würde, folglich keinen Lärm schlagen konnte, lief ich den anderen Zeitungen den Rang ab, indem ich mir sein Personenverzeichnis abschrieb und seine ganze Gesellschaft unter den Toten und Verwundeten aufführte. Da ich mich in diesem Falle nicht zu beschränken brauchte, ließ ich den Wagen einen Kampf mit den Indianern bestehen, der bis auf den heutigen Tag in der Geschichte nicht seinesgleichen hat.

Meine beiden Spalten waren damit gefüllt. Als ich sie am Morgen durchlas, fühlte ich, daß ich endlich meinen wahren Beruf gefunden hatte. Neuigkeiten, und zwar aufregende Neuigkeiten waren es, was die Zeitung brauchte, und ich fühlte in mir in ganz besonderem Grade die Fähigkeit, solche zu liefern. Herr Goodman meinte, ich stehe als Berichterstatter nicht hinter Dan zurück. Ein höheres Lob wünschte ich mir nicht. Auf diese Ermutigung hin fühlte ich mich stark genug, im Notfall den Interessen des Blattes zuliebe sämtliche Auswanderer auf der Ebene eines grausamen Todes durch meine Feder sterben zu lassen.


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