Iwan Turgenjew
Aufzeichnungen eines Jägers
Iwan Turgenjew

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Pjotr Petrowitsch Karatajew

Vor etwa fünf Jahren mußte ich einmal im Herbst auf der Reise von Moskau nach Tula fast einen ganzen Tag wegen Mangel an Pferden in einem Posthaus sitzen. Ich kehrte von einer Jagd zurück und hatte die Unvorsichtigkeit begangen, meine Troika vorauszuschicken. Der Stationsaufseher, ein schon bejahrter, mürrischer Mann mit Haaren, die ihm bis an die Nase herabhingen, und kleinen, verschlafenen Augen, antwortete mir auf alle meine Klagen und Bitten mit einem abgerissenen Brummen. Er schlug wütend die Tür zu, als verfluchte er selbst sein Amt, und schimpfte, vor die Tür hinausgehend, auf die Postkutscher, die langsam, mit zentnerschweren Krummhölzern in den Händen, durch den Schmutz wateten oder gähnend und sich kratzend auf der Bank saßen und den zornigen Ausrufen ihres Vorgesetzten keine besondere Beachtung schenkten. Ich hatte schon dreimal Tee getrunken, einige Male vergebens einzuschlafen versucht und alle Aufschriften an den Fenstern und den Wänden gelesen; mich plagte eine entsetzliche Langweile. Mit einer kalten und hoffnungslosen Verzweiflung blickte ich auf die emporgehobenen Deichseln meines Reisewagens, als plötzlich ein Glöckchen ertönte und ein nicht sehr großer, einfacher Wagen, mit drei abgematteten Pferden bespannt, vor dem Posthaus hielt. Der Reisende sprang aus dem Wagen und trat mit dem Ruf: »Pferde! Schnell!« ins Zimmer. Während er mit der üblichen großen Überraschung die Antwort des Aufsehers anhörte, daß keine Pferde da seien, hatte ich Zeit, mit der ganzen Neugier eines sich langweilenden Menschen meinen neuen Schicksalsgenossen vom Kopf bis zu den Füßen zu betrachten. Dem Aussehen nach mochte er an die dreißig Jahre alt sein. Die Blattern hatten auf seinem trockenen gelblichen Gesicht mit einem unangenehmen Schimmer von Messing unverwischbare Spuren hinterlassen; die blauschwarzen, langen Haare lagen hinten auf seinem Kragen in Locken und bildeten vorn an den Schläfen kühne Ringel, die kleinen, geschwollenen Augen blickten ausdruckslos; über der Oberlippe standen einige Härchen. Er war gekleidet wie ein lustiger Gutsbesitzer, der sich auf den Pferdejahrmärkten herumtreibt: Er trug einen bunten, ziemlich schmierigen Jagdrock, eine lilaseidene Halsbinde, eine Weste mit Messingknöpfen und graue, unten in breiten Trichtern auslaufende Hose, aus der die Spitzen der ungeputzten Stiefel kaum herausblickten. Er roch stark nach Tabak und Branntwein; auf seinen roten, dicken Fingern, die von den Ärmeln des Jagdrockes fast bedeckt waren, sah man silberne und Tulaer Ringe. Solche Gestalten trifft man in Rußland nicht zu Dutzenden, sondern zu Hunderten; die Bekanntschaft mit ihnen ist, offen gestanden, gar kein Vergnügen. Aber trotz des Vorurteils, mit dem ich den Reisenden betrachtete, konnte mir sein sorglos gutmütiger und leidenschaftlicher Gesichtsausdruck nicht entgehen.

»Auch dieser Herr da wartet schon länger als eine Stunde«, sagte der Aufseher, auf mich zeigend.

»Länger als eine Stunde!« Der Verbrecher machte sich über mich noch lustig!

»Der Herr hat vielleicht nicht solche Eile«, antwortete der Reisende.

»Das können wir nicht wissen«, sagte der Aufseher mürrisch.

»Geht es denn wirklich nicht? Gibt es gar keine Pferde?»

»Es geht nicht. Es ist kein einziges Pferd da.«

»Lassen Sie mir dann den Samowar bereiten. Wir wollen warten, nichts zu machen.«

Der Reisende setzte sich auf die Bank, warf die Mütze auf den Tisch und fuhr sich mit der Hand durch das Haar.

»Haben Sie schon Tee getrunken?« fragte er mich.

»Ja.«

»Trinken Sie vielleicht zur Gesellschaft noch einmal?»

Ich willigte ein. Der rote Samowar erschien zum viertenmal auf dem Tisch. Ich holte eine Flasche Rum hervor. Ich hatte mich nicht geirrt, als ich den Fremden für einen kleinbegüterten Edelmann hielt. Er hieß Pjotr Petrowitsch Karatajew.

Wir kamen ins Gespräch. Es war noch keine halbe Stunde seit seiner Ankunft vergangen, als er mir schon mit der gutmütigsten Aufrichtigkeit sein ganzes Leben erzählt hatte.

»Jetzt fahre ich nach Moskau«, sagte er mir, indem er das vierte Glas leerte. »Auf dem Land habe ich jetzt nichts mehr zu tun.«

»Warum denn nichts?«

»Absolut nichts. Die Wirtschaft ist in Unordnung, die Bauern habe ich, offen gestanden, ruiniert; dann kamen schlechte Jahre dazwischen: Mißernten, wissen Sie. Unglücksfälle . . . Übrigens«, fügte er hinzu mit einem traurigen Blick auf die Seite, »was bin ich auch für ein Landwirt!»

»Warum denn?«

»Aber nein«, unterbrach er mich, »sieht denn ein Landwirt so aus! Sehen Sie«, fuhr er fort, indem er den Kopf auf die Seite neigte und eifrig an seiner Pfeife sog, »wenn Sie mich so ansehen, können Sie vielleicht denken, daß ich . . . aber ich muß Ihnen sagen, daß ich nur eine mittelmäßige Erziehung genossen habe; die Mittel fehlten. Entschuldigen Sie, ich bin ein aufrichtiger Mensch und schließlich . . .«

Er beendete seine Rede nicht und winkte abwehrend mit der Hand. Ich begann, ihm zu versichern, daß er sich irre, daß ich mich über unsere Begegnung sehr freue und so weiter. Dann bemerkte ich, daß die Verwaltung eines Gutes, wie ich glaube, keine besondere Bildung erfordere.

»Einverstanden«, antwortete er, »ich bin mit Ihnen einverstanden. Aber es ist doch eine besondere Anlage dazu nötig! Mancher stellt Gott weiß was an, und es schadet ihm nicht! Aber ich . . . Gestatten Sie die Frage, sind Sie aus Petersburg oder aus Moskau?«

»Aus Petersburg.«

Er paffte eine lange Rauchsäule durch die Nase.

»Ich fahre aber nach Moskau, um mir eine Stelle zu suchen.«

»Wo beabsichtigen Sie denn einzutreten?«

»Ich weiß es nicht, wie es sich trifft. Offen gestanden, habe ich Angst vor dem Dienst: So leicht kann man zur Verantwortung gezogen werden. Ich habe immer auf dem Land gelebt; ich bin es so gewöhnt, wissen Sie . . . aber es ist nichts zu machen . . . die Not! Ach, diese Not . . .«

»Dafür werden Sie in der Hauptstadt leben.«

»In der Hauptstadt . . . nun, ich weiß nicht, was an der Hauptstadt gut ist. Wir wollen sehen, vielleicht ist es wirklich gut . . . Aber ich glaube doch, daß es nichts Besseres gibt als das Landleben.«

»Können Sie denn nicht mehr auf dem Land leben?«

Er seufzte auf. »Ich kann nicht, das Gut gehört mir fast nicht mehr.«

»Wieso?»

»Es gibt dort so einen guten Menschen, einen Nachbarn . . . der hat einen Wechsel . . .« Der arme Pjotr Petrowitsch fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, dachte nach und schüttelte den Kopf.

»Was soll man noch reden . . .! Offen gestanden«, fügte er nach einem kurzen Schweigen hinzu, »darf ich mich über niemanden beklagen, ich bin selbst schuld. Ich habe gern großgetan . . .! Ich liebe es, hol's der Teufel, großzutun!«

»Haben Sie auf dem Land flott gelebt?« fragte ich ihn.

»Mein Herr«, antwortete er langsam, mir gerade in die Augen blickend, »ich besaß zwölf Koppel Jagdhunde, solche Jagdhunde, sage ich Ihnen, wie es wenig gibt.« Das letzte Wort sprach er in einem singenden Ton. »Einen Hasen erwischten sie im Nu und gegen Pelzwild waren sie wie Schlangen, wie Ottern. Auch auf meine Windhunde konnte ich stolz sein. Jetzt ist es vorbei, also brauche ich nicht zu lügen. Ich jagte auch mit dem Gewehr. Ich hatte eine Hündin, Komtesse; die stand wie eine Mauer, hatte eine vortreffliche Nase. Manchmal ging ich mit ihr ans Moor und sagte ihr: ›Such!‹ Wenn die dann nicht zu suchen anfing, so hätte man mit einem Dutzend Hunde hingehen können: nichts zu holen! Wenn sie aber zu suchen anfing, so konnte sie vor Eifer krepieren . . .! Im Zimmer war sie so höflich: Gab man ihr ein Stück Brot mit der linken Hand, und sagte dabei: ›Ein Jude hat davon gegessen‹, so nahm sie es nicht; gab man es ihr aber mit der rechten und sagte: ›Ein Fräulein hat davon gegessen‹, so nahm sie es gleich und fraß es auf. Ich hatte ein Junges von ihr, ein ausgezeichnetes Junges, ich wollte es nach Moskau mitnehmen, aber ein Freund hat es sich von mir mit dem Gewehr zusammen ausgebeten; er sagte: ›In Moskau wirst du dafür keine Zeit haben; dort werden ganz andere Sachen kommen, Bruder.‹ So gab ich ihm das Junge und auch das Gewehr; es ist, wissen Sie, schon alles dort geblieben.«

»In Moskau könnten Sie ja auch gar nicht auf die Jagd gehen.«

»Nein, wozu auch? Habe ich mich nicht zu beherrschen verstanden, so muß ich jetzt leiden. Gestatten Sie lieber die Frage: Ist das Leben in Moskau teuer?«

»Nein, nicht sehr.«

»Nicht sehr . . .? Sagen Sie, in Moskau gibt es doch Zigeuner?«

»Was für Zigeuner?«

»Die auf den Jahrmärkten herumreisen?«

»Ja, die leben in Moskau . . .«

»Nun, das ist gut. Ich liebe die Zigeuner, hol' mich der Teufel, ich liebe sie . . .«

Die Augen Pjotr Petrowitschs leuchteten vor verwegener Lust. Aber plötzlich rückte er auf seiner Bank unruhig hin und her, wurde dann nachdenklich, senkte den Kopf und hielt mir sein leeres Glas hin.

»Geben Sie mir mal von Ihrem Rum«, sagte er.

»Aber es ist kein Tee mehr da!«

»Macht nichts, ich trinke ihn ohne Tee . . . Ach!«

Karatajew legte den Kopf auf die Hände und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch. Ich sah ihn schweigend an und erwartete schon jene Gefühlsausbrüche, vielleicht sogar jene Tränen, mit denen ein angetrunkener Mensch zu freigebig ist; als er aber den Kopf hob mußte ich über den tief traurigen Ausdruck seines Gesichts staunen.

»Was ist Ihnen?«

»Es ist nichts . . . ich dachte an die alten Zeiten. Es ist so eine Anekdote . . . Ich würde sie Ihnen erzählen, aber ich schäme mich, Sie zu belästigen . . .«

»Aber erlauben Sie!«

»Ja«, fuhr er mit einem Seufzer fort, »es gibt solche Fälle . . . zum Beispiel auch mit mir. Wenn Sie wollen, erzähle ich es Ihnen. Übrigens weiß ich nicht . . .«

»Erzählen Sie doch, liebster Pjotr Petrowitsch.«

»Meinetwegen, obwohl es auch . . . Sehen Sie«, begann er, »aber ich weiß wirklich nicht . . .«

»Aber machen Sie doch keine Umstände, liebster Pjotr Petrowitsch!«

»Nun, meinetwegen. Mit mir ist also sozusagen folgendes passiert. Ich lebte auf dem Land . . . Plötzlich fiel mir ein Mädchen auf, ach, war das ein Mädchen . . . schön, klug und so gut! Sie hieß Matrjona. Sie war aber ein einfaches Mädel, das heißt, Sie verstehen, eine leibeigene Magd. Das Mädel gehörte auch nicht mir, sondern wem anders, das war das Unglück. Nun, ich verliebte mich in sie – wirklich solch eine Anekdote –, auch sie sich in mich. So fing mich Matrjona zu bitten an: Ich solle sie von ihrer Herrin loskaufen; ich hatte auch schon selbst daran gedacht . . . Ihre Herrin war aber eine reiche, schreckliche alte Schachtel; sie wohnte an die fünfzehn Werst von mir entfernt. Eines schönen Tages, wie man so sagt, ließ ich mir also meine Troika anspannen – zum Mittelpferd hatte ich einen Paßgänger, einen wilden Asiaten, dafür hieß er auch Lampurdos –, kleidete mich etwas besser an und fuhr zu Matrjonas Herrin . . . Ich komme an – ein großes Haus mit Nebenflügeln und einem Garten . . . Matrjona hatte mich an der Straßenbiegung erwartet, wollte mit mir sprechen, küßte mir aber nur die Hand und trat auf die Seite. Ich komme ins Vorzimmer und frage: ›Zu Hause . . .?‹ Ein langer Lakai antwortet mir: ›Wen darf ich anmelden?‹ Ich sage ihm: ›Melde, mein Bester, der Gutsbesitzer Karatajew sei gekommen, um ein Geschäft zu besprechen.‹ Der Lakai ging. Ich warte und denke mir: Was wird wohl werden? Die Bestie wird wohl ein Heidengeld verlangen und wenn sie auch noch so reich ist. Sie fordert vielleicht an die fünfhundert Rubel. Endlich kommt der Lakai zurück und sagt: ›Bitte.‹ Ich folge ihm ins Gastzimmer. In einem Lehnstuhl sitzt eine kleine gelbliche Alte und zwinkert mit den Augen. ›Was wünschen Sie?‹ – Ich hielt es, wissen Sie, für nötig, ihr zuerst zu erklären, daß ich mich freue, ihre Bekanntschaft zu machen. – »Sie irren sich, ich bin nicht die Gutsbesitzerin, sondern nur eine Verwandte . . . Was wünschen Sie?‹ – Ich bemerkte ihr sogleich, daß ich die Dame selbst sprechen müsse. – ›Marja Iljinitschna empfängt heute nicht, sie ist nicht wohl. . . . Was wünschen Sie?‹ – Nichts zu machen, sagte ich mir, ich will ihr mein Anliegen sagen. Die Alte hörte mich an. – ›Matrjona? Was für eine Matrjona?‹ – »Matrjona Fjodorowna, die Tochter Kuliks.‹ – ›Fjodor Kuliks Tochter . . . Sie kennen sie also?‹ – »Ganz zufällige – ›Ist ihr Ihre Absicht bekannt?‹ – ›Ja.‹ – Die Alte schwieg. – ›Ich will die Niederträchtige . . .!‹ – Ich war, offen gestanden, erstaunt. – ›Warum denn, ich bitte Sie . . .! Ich bin bereit, für sie den Betrag zu erlegen, den Sie bestimmen.‹ – Die alte Hexe zischte nur so. – ›Damit glauben Sie, uns zu blenden? Was brauchen wir Ihr Geld . . .! Aber ihr werde ich es schon zeigen . . . ich will ihr den Unsinn aus dem Kopf schlagen.‹ – Die Alte bekam vor Wut einen Hustenanfall. – ›Hat sie es etwa schlecht bei uns . . .? Ach, diese Teufelsdirne, Gott verzeih' meine Sünde!‹ – Ich fuhr, offen gestanden, auf. – ›Warum drohen Sie so dem armen Mädel? Was hat sie verbrochen?‹ – Die Alte bekreuzigte sich. – ›Ach du lieber Gott, habe ich denn . . .‹ – ›Sie gehört ja gar nicht Ihnen!‹ – ›Das weiß Marja Iljinitschna am besten, es ist nicht Ihre Sache, Väterchen; der Matrjona werde ich aber schon zeigen, wessen Magd sie ist.‹ – Offen gestanden hätte ich mich beinahe auf die verfluchte Alte gestürzt, aber ich dachte an Matrjona und ließ die Hände sinken. Mir wurde so bange, daß ich es gar nicht beschreiben kann. Ich fing an, die Alte zu bitten: ›Verlangen Sie, was Sie wollen.‹ – ›Aber was brauchen Sie sie?‹ – ›Sie gefällt mir, Mütterchen, versetzen Sie sich nur in meine Lage . . . Gestatten Sie, daß ich Ihnen die Hand küsse.‹ – Und ich küßte der Hexe wirklich die Hand! – ›Nun‹, sagte die Hexe, ›ich will es der Marja Iljmitschna sagen; soll sie es entscheiden; kommen Sie so in zwei Tagen wieder.‹ – Ich fuhr in großer Unruhe nach Hause. Ich begann zu ahnen, daß ich die Sache falsch angepackt hatte, daß ich ihr meine Neigung für das Mädchen nicht hätte zeigen sollen, aber das war mir zu spät eingefallen. Nach zwei Tagen begab ich mich zu der Dame. Man führte mich ins Kabinett. Eine Menge Blumen, eine prächtige Einrichtung, sie selbst sitzt in so einem merkwürdigen Lehnstuhl und hat den Kopf auf das Kissen zurückgeworfen; auch die Verwandte von neulich sitzt dabei und noch so ein flachsblondes Fräulein in grünem Kleid mit einem schiefen Mund, wahrscheinlich die Gesellschafterin. Die Alte näselte: ›Nehmen Sie bitte Platz.‹ – Ich setze mich. Sie fängt an, mich auszufragen, wie alt ich sei, wo ich gedient hätte und was ich vorhabe – und alles so hochmütig und von oben herab. Ich antwortete ihr auf alles ausführlich. Die Alte nimmt ein Tuch vom Tisch, fächelt sich damit und sagt: ›Katerina Karpowna hat mir von Ihrer Absicht erzählt, ja, sie hat es mir erzählt. Aber‹, sagt sie, ›ich habe es mir zur Regel gemacht, niemanden von meinen Leuten in fremde Dienste zu geben. Es schickt sich nicht in einem anständigen Hause, und es ist auch keine Art. Ich habe‹, sagt sie, ›schon meine Anordnungen getroffen, und Sie brauchen sich keine Sorgen mehr zu machen.‹ – ›Was für Sorgen, ich bitte sie . . .! Vielleicht brauchen Sie die Matrjona Fjodorowna?‹ – ›Nein‹, sagt sie, ›ich brauche sie nicht.‹ – ›Warum wollen Sie sie mir dann nicht abtreten?‹ – ›Weil es mir nicht paßt, weil es mir nicht paßt und fertig. Ich habe‹, sagt sie, ›schon meine Anordnungen getroffen: Sie wird auf ein Steppengut geschickt.‹ – Ich war wie vom Blitz getroffen. Die Alte sagte ein paar Worte auf französisch zu dem grünen Fräulein, und jenes ging hinaus. – ›Ich bin‹, sagte sie, ›eine Frau von strengen Grundsätzen, und meine Gesundheit ist schwach, ich kann keine Aufregung ertragen. Sie sind noch ein junger Mann, ich aber bin eine alte Frau und habe das Recht, Ihnen Ratschläge zu geben. Wäre es nicht besser für Sie, eine gute Partie zu suchen und zu heiraten? Reiche Partien sind selten, aber ein armes, junges Mädchen von guten Sitten kann man wohl finden.‹ – Wissen Sie, ich sehe die Alte an und verstehe nicht, was sie da schwatzt; ich höre, sie redet von einer Heirat, mir klingt aber das Steppendorf immer in den Ohren. Heiraten . . .! Den Teufel auch . . .« Der Erzähler hielt plötzlich inne und sah mich an.

»Sie sind doch nicht verheiratet?«

»Nein.«

»Nun, man kennt es ja. Ich konnte mich nicht beherrschen: ›Ich bitte Sie, Mütterchen, was reden Sie für einen Unsinn: Wer denkt ans Heiraten? Ich möchte von Ihnen einfach wissen, ob Sie mir Ihr leibeigenes Mädel Matrjona abtreten wollen oder nicht!‹ – Die Alte fing an zu stöhnen: – ›Ach, er hat mich so aufgeregt! Ach, sagt ihm, er solle gehen! Ach . . .!‹ Die Verwandte sprang auf sie zu und fing an, auf mich zu schreien. Die Alte stöhnt aber immer: ›Womit habe ich das verdient . . .? Ich bin wohl nicht mehr Herrin in meinem Hause? Ach, ach!‹ – Ich griff nach meinem Hut und rannte wie verrückt hinaus.«

»Vielleicht«, fuhr der Erzähler fort, »werden Sie mich dafür tadeln, daß ich mich so sehr an ein Mädel aus niederem Stande gehängt hatte; ich habe nicht die Absicht, mich zu rechtfertigen . . . es war eben so gekommen! Glauben Sie mir, ich fand weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe . . . Ich quälte mich! Warum, dachte ich mir, habe ich das unglückliche Mädel zugrunde gerichtet! Wenn ich mir nur vorstellte, sie müsse in grober Kleidung die Gänse hüten, werde auf herrschaftlichen Befehl schlecht behandelt oder vom Schulzen, einem Bauern in geteerten Stiefeln, auf das gemeinste beschimpft, so kam mir der kalte Schweiß. Nun, ich hielt es nicht aus, ich erfuhr, in welches Dorf man sie verschickt hatte, stieg in den Sattel und ritt hin. Erst am nächsten Tag gegen Abend kam ich hin. Offenbar hatte man von mir einen solchen Streich nicht erwartet und keinerlei Anordnungen für einen solchen Fall getroffen. Ich komme direkt zum Schulzen, als wäre ich ein Nachbar; ich trete in den Hof und sehe: Matrjona sitzt auf der Treppe, den Kopf in die Hand gestützt. Sie schrie leise auf, aber ich drohte ihr mit dem Finger und zeigte auf das freie Feld hinter dem Hof. Dann trat ich in die Stube, plauderte mit dem Schulzen, log ihm das Blaue vom Himmel herunter, wartete einen günstigen Augenblick ab und ging zu Matrjona hinaus. Die Ärmste fiel mir um den Hals. Blaß und mager war mein Täubchen geworden. Wissen Sie, ich sage ihr: ›Hör auf, Matrjona, hör auf, weine nicht . . .‹, mir laufen aber dabei die Tränen die Wangen herab . . . Endlich schämte ich mich doch und sagte zu ihr: ›Matrjona, Tränen helfen nichts, man muß aber sozusagen entschlossen handeln, du mußt mit mir fliehen; ja, ja, so muß man handeln!‹ Matrjona war ganz starr. ›Das geht doch nicht! Ich stürze mich ins Unglück, sie werden mich dann ganz auffressen!‹ – ›Du Dumme, wer wird dich finden?‹ – ›Man wird mich finden, man wird mich ganz gewiß finden! Ich danke Ihnen, Pjotr Petrowitsch, nie werde ich Ihnen Ihre Güte vergessen, aber jetzt verlassen Sie mich, so ist wohl einmal mein Schicksal.‹ – ›Ach, Matrjona, Matrjona, ich habe dich doch für ein Mädel von Charakter gehalten.‹ – Sie hatte in der Tat viel Charakter . . . ein goldenes Herz hatte sie! – ›Was sollst du hier bleiben? Es ist doch alles eins; schlimmer kann es gar nicht werden. Sag doch: Hast du nicht die Fäuste des Schulzen gekostet, was?‹ Matrjona flammte auf und ihre Lippen zitterten. – ›Wenn ich es tue, wird man meiner Familie das Leben sauer machen.‹ – ›Geh mir mit deiner Familie . . . Wird man sie vielleicht verschicken?‹ – ›Man wird sie verschicken; meinen Bruder wird man ganz sicher verschicken.‹ – ›Und den Vater?‹ – ›Den Vater wird man nicht verschicken; er ist bei uns der einzige gute Schneider.‹ – ›Nun siehst du es; dein Bruder wird deshalb nicht zugrunde gehen.‹ – Glauben Sie es mir, ich hatte viel Mühe, sie zu überreden; es fiel ihr sogar ein, man würde auch mich zur Verantwortung ziehen . . . ›Das ist nicht deine Sache‹, sagte ich ihr . . . Endlich entführte ich sie doch . . . nicht dieses Mal, aber ein anderes: Ich kam nachts mit einem Wagen gefahren und entführte sie.«

»Sie entführten sie?«

»Ja, ich entführte sie . . . So blieb sie bei mir wohnen. Mein Häuschen ist klein, viel Dienstboten habe ich nicht. Meine Leute, ich kann es offen sagen, achteten mich hoch; sie hätten mich um nichts in der Welt verraten. Mein Leben wurde schön. Matrjona erholte sich und kam zu Kräften; ich hing an ihr sehr . . . Ach, war das ein Mädel! Wo hatte sie das nur her? Sie verstand zu singen und zu tanzen und auch Gitarre zu spielen . . . Den Nachbarn zeigte ich sie nicht: Wie leicht hätten sie es ausplaudern können! Ich hatte aber einen Herzensfreund, Pantelej Gornostajew – kennen Sie ihn nicht? Der war ganz vernarrt in sie; er küßte ihr wie einer Gnädigen die Hände, wirklich! Ich muß Ihnen auch sagen: Dieser Gornostajew ist ein ganz anderer Mensch als ich. Ein gebildeter Mensch, den ganzen Puschkin hatte er gelesen; wenn er zuweilen mit mir und mit Matrjona sprach, so rissen wir nur den Mund auf. Er lehrte sie sogar schreiben, der Kauz! Wie ich sie aber kleidete – viel besser als die Gouverneurin; ich ließ ihr einen Mantel machen aus himbeerrotem Samt mit Pelzbesatz . . . Wie gut ihr dieser Mantel stand! Den Mantel hatte eine Moskauer Madame nach der neuesten Mode auf Taille genäht. So sonderbar ist diese Matrjona! Manchmal sitzt sie stundenlang nachdenklich da, blickt auf den Boden und zuckt mit keiner Braue; ich sitze auch dabei, sehe sie an und kann mich gar nicht satt sehen, als sähe ich sie zum erstenmal . . . Sie lächelt, und das Herz bebt mir im Leibe, als kitzelte mich jemand. Oder sie fängt plötzlich an zu lachen, zu scherzen, zu tanzen; sie umarmt mich so fest, so heiß, daß mir der Kopf schwindelt. Von früh bis spät denke ich mir manchmal: Womit kann ich ihr eine Freude machen? Glauben Sie mir; ich beschenkte sie, nur um zu sehen, wie sie vor Freude rot wird, wie sie mein Geschenk anprobiert und mit dem neuen Putz auf mich zugeht und mich küßt. – Es ist unbekannt, auf welche Weise ihr Vater Kulik Wind von der Sache bekam; der Alte kam, um uns beide zu sehen; und fing bitter zu weinen an . . . So lebten wir an die fünf Monate; wie gerne hätte ich mit ihr mein ganzes Leben verbracht, aber ich habe einmal so ein verfluchtes Schicksal!«

Pjotr Petrowitsch hielt inne.

»Was geschah dann?« fragte ich ihn mit Teilnahme.

Er winkte erregt mit der Hand.

»Alles ging zum Teufel. Ich richtete sie selbst zugrunde. Meine Matrjona liebte über alles das Schlittenfahren und pflegte selbst die Pferde zu lenken; sie zog ihren Pelz und gestickte Torschoksche Handschuhe an und schrie nur so vor Freude. Wir fuhren immer nur am Abend aus, wissen Sie, um niemand zu begegnen. Einmal war so ein schöner, frostiger, heiterer, windloser Tag . . . wir fuhren aus. Matrjona nahm die Zügel. Ich sehe: Wo fährt sie denn hin? Doch nicht nach Kukujewka, ins Dorf ihrer Herrin? Sie fährt aber wirklich nach Kukujewka. Ich sage ihr: ›Verrückte, wohin fährst du?‹ Sie sieht mich über die Schulter an und lächelt. ›Wir wollen einmal kühn sein!‹ Nun, denke ich mir, es sei . . .! Es ist doch schön, am Herrenhaus vorbeizufahren? Es ist doch schön, nicht wahr? So fahren wir hin. Mein Paßgänger schwimmt nur so, die Seitenpferde wirbeln daher, da ist schon die Kirche von Kukujewka zu sehen; auf der Straße kommt aber eine alte grüne Kutsche gekrochen und hinten steht ein Lakai . . . Die Gnädige, die Gnädige kommt gefahren! Mir wurde bange. Matrjona aber schlug das Pferd mit einem Zügel und sauste gerade auf die Kutsche los! Der Kutscher sieht, verstehen Sie, es fliegt ihm so etwas wie ein Alchimeres entgegen, er will ausweichen, macht aber eine zu scharfe Wendung und schmeißt die Kutsche in einen Schneehaufen um. Das Glas zerbricht, die Gnädige schreit: ›Ei, ei, ei! Ei, ei, ei!‹ Die Gesellschafterin winselt: ›Halt, halt!‹ Wir aber sausen vorüber. So jagen wir dahin, und ich denke mir: Es wird schlimm enden, ich hätte ihr nicht erlauben sollen, nach Kukujewka zu fahren. Und was glauben Sie? Die Gnädige hatte die Matrjona erkannt, auch mich hatte die Alte erkannt und eine Klage eingereicht: ›Mein flüchtiges leibeigenes Mädel wohnt beim Edelmann Karatajew‹; der Klage fügte sie das übliche Geldgeschenk bei. Ich sehe, es kommt zu mir der Isprawnik gefahren; der Isprawnik ist aber mein Bekannter, Stepan Sergejitsch Kusowkin, ein guter Mensch; das heißt, eigentlich gar kein guter Mensch. So kommt er zu mir und sagt: ›So und so, Pjotr Petrowitsch, was denken Sie sich eigentlich . . .? Die Verantwortung ist schwer und auch die Gesetze darüber sind sehr klar.‹ Ich sage ihm: ›Darüber werden wir natürlich noch reden, wollen Sie aber nicht erst etwas zu sich nehmen nach der Fahrt?‹ Er weigerte sich nicht, sagte aber: ›Die Gerechtigkeit verlangt es, Pjotr Petrowitsch, urteilen Sie doch selbst!‹ – ›Natürlich, die Gerechtigkeit‹, sage ich ihm, ›gewiß . . . ich habe aber gehört, daß Sie einen Rappen haben, wollen Sie diesen Rappen nicht gegen meinen Lampurdos umtauschen . . .? Das Mädel Matrjona Fjodorowna ist aber nicht bei mir.‹ – ›Nun‹, sagt er, ›Pjotr Petrowitsch, das Mädel ist doch bei Ihnen, wir leben ja nicht in der Schweiz . .. mein Pferdchen kann ich aber wohl gegen Ihren Lampurdos eintauschen, das läßt sich machen; ich kann ihn auch so nehmen.‹ Dieses Mal fertigte ich ihn ab. Aber die Alte fuhr aus der Haut: ›Zehntausend Rubel‹, sagte sie, ›will ich es mich kosten lassen.‹ Sehen Sie, es war ihr, als sie mich gesehen hatte, eingefallen, mich mit ihrer grünen Gesellschafterin zu verheiraten – das erfuhr ich später; darum war sie so wütend geworden. Was solchen Damen nicht alles einfällt . . .! Es kommt wohl vor Langeweile. Nun hatte ich es schwer: Ich geizte nicht mit Geld und hielt Matrjona versteckt, es half aber alles nichts! Sie hetzten mich und machten mich ganz toll. Ich geriet in Schulden, wurde krank . . . So liege ich eines Nachts im Bett und denke mir: Du lieber Gott, wofür werde ich so gestraft? Was soll ich machen, wenn ich nicht von ihr lassen kann . . .? Ich kann es nicht, und fertig! – Da kommt zu mir ins Zimmer Matrjona. Um jene Zeit hielt ich sie auf einem Vorwerk zwei Werst von meinem Haus versteckt. Ich erschrak. – ›Was gibt's? Hat man dich dort entdeckt?‹ – ›Nein, Pjotr Petrowitsch‹, sagt sie, ›niemand hat mich in Bubnowo beunruhigt; wird es aber noch lange so gehen? Mein Herz‹, sagt sie, ›bricht mir entzwei, Pjotr Petrowitsch; Sie tun mir leid, Liebster; niemals werde ich Ihre Güte vergessen, Pjotr Petrowitsch, jetzt komme ich aber, um mich von Ihnen zu verabschieden.‹ – ›Was hast du, was hast du, du Verrückte . . .? Verabschieden? Wieso, verabschieden . . .?‹ – ›So . . . ich gehe jetzt hin und liefere mich aus.‹ – ›Ich werde dich auf dem Dachboden einsperren, du Verrückte . . . Oder willst du mich zugrunde richten? Mich töten?‹ – Das Mädel schweigt und blickt zu Boden. – ›Nun, sprich doch, sprich!‹ – ›Ich will Ihnen keine Sorgen mehr machen, Pjotr Petrowitsch.‹ – Nun, geh einer hin und rede mit ihr . . . – ›Weißt du, dumme Gans, du bist einfach ver . . . verrückt . . .‹«

Pjotr Petrowitsch fing an, bitter zu schluchzen.

»Was glauben Sie?« fuhr er fort, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug und versuchte, die Brauen zusammenzuziehen, während ihm die Tränen über seine glühenden Wangen liefen: »Das Mädchen hat sich wirklich ausgeliefert, sie ging hin und lieferte sich aus . . .«

»Die Pferde sind bereit!« rief feierlich der Stationsaufseher, ins Zimmer tretend.

Wir standen beide auf.

»Was wurde denn aus Matrjona?« fragte ich.

Karatajew winkte abwehrend mit der Hand.

 

Ein Jahr nach meiner Begegnung mit Karatajew kam ich zufällig nach Moskau. Einmal ging ich vor dem Essen in ein Kaffeehaus, das sich hinter der Jägerzeile befand, ein originelles Moskauer Kaffeehaus. Im Billardzimmer sah man durch die Rauchwolken gerötete Gesichter, Schnurrbärte, Köpfe, altmodische Schnürjoppen und allermodernste Trachten. Magere Greise in bescheidenen Röcken lasen russische Zeitungen. Die Kellner rannten mit den Tabletts schnell über die grünen Läufer hin und her. Kaufleute tranken mit schmerzvoller Anstrengung Tee. Plötzlich trat aus dem Billardzimmer ein ziemlich zerzauster und nicht ganz nüchterner Mann. Er steckte die Hände in die Taschen, senkte den Kopf und sah sich gedankenlos um.

»Bah, bah, bah! Pjotr Petrowitsch . . .! Wie geht es Ihnen?«

Pjotr Petrowitsch fiel mir beinahe um den Hals und schleppte mich, leicht schwankend, in ein kleineres Nebenzimmer.

»So, hier«, sagte er, mich sorgsam in einen Lehnstuhl setzend, »hier werden Sie es bequem haben. Kellner, Bier! Das heißt nein, Champagner! Ich muß gestehen, ich habe es nicht erwartet . . . Seit wie lange? Auf wie lange? So hat es Gott sozusagen gefügt . . .«

»Erinnern Sie sich noch . . .«

»Wie sollte ich mich nicht erinnern«, unterbrach er mich hastig, »es sind alte Geschichten . . . alte Geschichten . . .«

»Nun, was treiben Sie hier, liebster Pjotr Petrowitsch?«

»Ich lebe, wie Sie sehen. Das Leben ist hier gut, die Leute sind freundlich. Hier habe ich Ruhe gefunden.«

Er seufzte auf und hob die Augen zum Himmel.

»Dienen Sie?«

»Nein, ich diene nicht, will aber bald eine Stelle nehmen. Aber was ist so ein Dienst . . .? Das Wichtigste sind doch die Menschen. Was für Menschen habe ich hier kennengelernt . . .!«

Der Kellnerjunge brachte eine Flasche Champagner auf einem schwarzen Tablett.

»Auch dieser da ist ein guter Mensch . . . nicht wahr, Waßja, du bist ein guter Mensch? Auf dein Wohl!«

Der Junge blieb stehen, nickte höflich mit dem Kopf, lächelte und ging hinaus.

»Ja, hier sind gute Menschen«, fuhr Pjotr Petrowitsch fort, »Menschen mit Gemüt und Herz . . . Wollen Sie? Ich will Sie mit ihnen bekannt machen. So prächtige Burschen . . . Sie werden sich alle freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich will Ihnen sagen . . . Bobrow ist gestorben, dieser Jammer!«

»Was für ein Bobrow?«

»Sergej Bobrow. War ein prachtvoller Mensch; er hatte sich meiner, des ungebildeten Steppenmenschen, angenommen. Auch Pantelej Gornostajew ist tot. Alle sind tot, alle!«

»Haben Sie die ganze Zeit in Moskau gelebt? Waren Sie nie auf dem Land?«

»Auf dem Land . . .? Mein Landgut hat man verkauft.«

»Verkauft?«

»Öffentlich versteigert . . . Schade, daß Sie es nicht gekauft haben!«

»Wovon werden Sie jetzt leben, Pjotr Petrowitsch?«

»Ich werde nicht verhungern, so Gott will! Wenn ich kein Geld, habe, so habe ich Freunde. Was ist Geld? – Staub! Gold ist Staub!«

Er schloß die Augen, wühlte in seiner Tasche und hielt mir zwei Fünfzehnkopekenstücke und ein Zehnkopekenstück auf der flachen Hand hin.

»Was ist das? Es ist doch Staub?« (Und das Geld flog auf die Erde.) »Sagen Sie mir lieber, haben Sie etwas von Poleschajew gelesen?«

»Ja.«

»Haben Sie Motschalow im Hamlet gesehen?«

»Nein, ich habe ihn nicht gesehen.«

»Sie haben ihn nicht gesehen, nicht gesehen . . .« Karatajews Gesicht erbleichte, seine Augen schweiften unruhig umher; er wandte sich ab; ein leichtes Zucken lief über seine Lippen. »Ach, Motschalow, Motschalow! ›Sterben – schlafen‹«, sagte er mit dumpfer Stimme.

»Nichts weiter! Und zu wissen, daß ein Schlaf
das Herzweh und die tausend Schläge endet,
die unseres Fleisches Erbteil; 's ist ein Ziel
aufs innigste zu wünschen . . . sterben . . . schlafen . . .«

»Schlafen, schlafen«, murmelte er einige Male hintereinander.

»Sagen Sie, bitte . . .«, begann ich – aber er fuhr mit Feuer fort:

»Denn wer ertrüg' der Zeiten Spott und Geißel
des Mächt'gen Druck, des Stolzen Mißhandlungen,
verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub,
den Übermut der Ämter und die Schmach,
die Unwert schweigenden Verdienst erweist . . .
. . . . . . O Nymphe,
in dein Gebet schließ meine Sünden ein!«

Und er ließ den Kopf auf den Tisch sinken. Er fing an zu stottern und zu phantasieren.

»Ein kurzer Mond!« rief er mit neuer Kraft.

»Ein kurzer Mond, bevor die Schuh' verbraucht,
womit sie meines Vaters Leiche folgte . . .
O Himmel! Würd' ein Tier, das nicht Vernunft hat,
doch länger trauern . . .«

Er hob das Champagnerglas an die Lippen, trank aber nicht und fuhr fort:

». . . Um Hekuba!
Was ist ihm Hekuba, was ist er ihr,
daß er um sie soll weinen . . .? . . . und ich,
ein blöder, schwachgemuter Schurke, schleiche
wie Hans der Träumer, meiner Sache fremd . . .
. . . bin ich 'ne Memme?
Wer nennt mich Schelm? Bricht mir den Kopf entzwei?
Zwickt an der Nase mich? Und straft mich Lügen
tief in den Hals hinein? Wer tut mir dies?
Ha! Nähm' ich's eben doch. – Es ist nichts anders:
Ich hege Taubenmut, mir fehlt's an Galle,
die bitter macht den Druck . . .«

Karatajew ließ das Glas fallen und griff sich an den Kopf. Ich glaubte ihn zu verstehen.

»Ja, so ist es«, sagte er endlich: »Hin ist hin . . . Nicht wahr?« Er lachte. »Auf Ihr Wohl!«

»Bleiben Sie in Moskau?« fragte ich ihn.

»Ich werde in Moskau sterben!«

»Karatajew!« ertönte es aus dem Nebenzimmer. »Karatajew, wo steckst du? Komm her, lieber Mensch!«

»Man ruft mich«, sagte er, indem er sich schwerfällig erhob. »Leben Sie wohl; besuchen Sie mich, wenn Sie können, ich wohne in ***.«

Aber am nächsten Tag mußte ich infolge unvorhergesehener Umstände Moskau verlassen und sah Pjotr Petrowitsch Karatajew nie wieder.


 << zurück weiter >>