Iwan Turgenjew
Aufzeichnungen eines Jägers
Iwan Turgenjew

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Das Himbeerwasser

Anfang August herrscht bei uns oft eine unerträgliche Hitze. Um diese Zeit ist auch der entschlossenste und geduldigste Mensch in den Stunden zwischen zwölf und drei nicht imstande zu jagen, und selbst der ergebenste Hund beginnt ›dem Jäger die Sporen zu putzen‹, d. h., er folgt ihm im Schritt, die Augen schmerzvoll zusammengekniffen und die Zunge übertrieben hervorgestreckt; auf die Vorwürfe seines Herrn wedelt er nur unterwürfig mit dem Schwanz und zeigt eine verlegene Miene, ist aber nicht vorwärtszubringen. Gerade an einem solchen Tag befand ich mich einmal auf der Jagd. Lange widerstand ich der Versuchung, mich irgendwo, wenn auch nur für einen Augenblick, in den Schatten zu legen; lange trieb sich mein unermüdlicher Hund in den Büschen herum, obwohl er von seiner fieberhaften Tätigkeit auch selbst nichts Vernünftiges erwartete. Die drückende Hitze zwang mich schließlich, an die Erhaltung unserer letzten Kräfte und Fähigkeiten zu denken. So gut es ging, schleppte ich mich zum Flüßchen Ista, den meine geneigten Leser schon kennen, stieg den steilen Abhang hinunter und ging über den gelben, feuchten Sand in der Richtung auf eine Quelle, die in der ganzen Gegend unter dem Namen Himbeerwasser bekannt ist. Die Quelle sprudelt aus einer Uferspalte hervor, die sich allmählich in eine kleine, aber tiefe Schlucht verwandelt hat, und ergießt sich zwanzig Schritte weiter mit lustigem, geschwätzigem Geräusch in den Fluß. Die Abhänge der Schlucht sind mit Eichengebüsch bewachsen; in der Nähe der Quelle grünt ein kurzer, samtweicher Rasen; die Sonnenstrahlen berühren fast nie ihr silbernes, kaltes Naß. So erreichte ich die Quelle; im Gras lag eine Schöpfkelle aus Birkenrinde, die irgendein vorübergehender Bauer zum allgemeinen Nutzen zurückgelassen hatte. Ich stillte meinen Durst, legte mich in den Schatten und sah mich um. An der Bucht, die der Ausfluß der Quelle in den Fluß bildete und deren Wasseroberfläche daher ständig gekräuselt war, saßen mit dem Rücken zu mir zwei Greise. Der eine, kräftig und groß gewachsen, in einem dunkelgrünen, sauberen Kaftan und einer warmen Mütze, angelte; der andere, klein, mager, in einem geflickten, halbseidenen Röckchen und ohne Mütze, hielt einen Topf mit Würmern auf den Knien und fuhr sich ab und zu mit der Hand über seinen grauen Kopf, als wollte er ihn vor der Sonne schützen. Ich sah ihn genauer an und erkannte in ihm den Stjopuschka aus Schumichino. Ich bitte den Leser um Erlaubnis, ihm diesen Menschen vorstellen zu dürfen.

Einige Werst von meinem Gut liegt das große Dorf Schumichino mit der steinernen, den Heiligen Kosmas und Damian geweihten Kirche. Dieser Kirche gegenüber prangte einst das große Herrenhaus, umgeben von allerlei Anbauten, Dienstgebäuden, Werkstätten, Pferdeställen, Wagenschuppen, Badestuben, Hilfsküchen, Flügeln für die Gäste und Verwalter, Treibhäusern, Schaukeln für das Volk und anderen mehr oder weniger nützlichen Baulichkeiten. In diesem Herrenhaus hatten einst reiche Gutsbesitzer gewohnt, und alles ging in der besten Ordnung, bis eines Morgens dieser ganze Segen bis auf den Grund niederbrannte. Die Herrschaft siedelte auf eine andere Besitzung über, und dieses Gut verödete. Die ausgedehnte Brandstätte verwandelte sich in ein Gemüsefeld, auf dem hier und da Ziegelhaufen, die Überreste der alten Fundamente ragten. Aus den unverbrannten Balken wurde in aller Eile ein Hüttchen zusammengezimmert und mit Planken gedeckt, die man zehn Jahre früher zur Errichtung eines Pavillons im gotischen Stil angeschafft hatte, und in diesem Hüttchen wurde der Gärtner Mitrofan mit seiner Frau Aksinja und mit sieben Kindern angesiedelt. Mitrofan hatte den Auftrag, für den Tisch der Herrschaften, die sich in einer Entfernung von hundertfünfzig Werst aufhielten, Grünzeug und Gemüse beizustellen; Aksinja wurde mit der Aufsicht über eine Tiroler Kuh betraut, die man in Moskau für teures Geld gekauft hatte, die aber leider vollkommen zeugungsunfähig war und daher seit dem Tag ihrer Anschaffung keinen Tropfen Milch gegeben hatte; außerdem wurde ihr ein rauchgrauer Enterich mit dem Schopfe anvertraut, das einzige ›herrschaftliche‹ Geflügel; die Kinder bekamen infolge ihres jugendlichen Alters keinerlei Ämter, was sie übrigens nicht hinderte, furchtbar faul zu werden. Bei diesem Gärtner hatte ich an die zweimal übernachtet und pflegte bei ihm im Vorbeigehen Gurken zu kaufen, die, Gott weiß warum, selbst im Hochsommer sich durch ihre Größe, durch ihren schlechten wässerigen Geschmack und ihre dicke gelbe Rinde auszeichneten. Bei ihm hatte ich auch zum erstenmal Stjopuschka gesehen. Außer Mitrofan mit seiner Familie und dem alten, tauben Küster Gerassim, den eine einäugige Soldatenfrau in einem winzigen Kämmerchen beherbergte, war in Schumichino kein Mensch vom Hofgesinde zurückgeblieben, denn Stjopuschka, mit dem ich den Leser bekannt zu machen beabsichtige, konnte weder als Mensch im allgemeinen noch als einer vom Hausgesinde im besonderen gelten.

Jeder Mensch hat doch sonst irgendeine Stellung in der Gesellschaft oder irgendwelche Beziehungen zu anderen Menschen; jeder Mensch im Hofgesinde bekommt, wenn auch kein Gehalt, so doch wenigstens ein sogenanntes Deputat; Stjopuschka erhielt aber keinerlei Unterstützung, war mit niemandem verwandt, und niemand wußte etwas von seiner Existenz. Dieser Mensch hatte nicht mal eine Vergangenheit; man sprach von ihm nicht; selbst in den Revisionslisten wurde er kaum geführt. Es gingen dunkle Gerüchte, er sei einmal bei jemandem Kammerdiener gewesen; aber wer er war, woher er stammte, wessen Sohn er war, auf welche Weise er unter die Untertanen von Schumichino geraten war, wie er zu seinem halbseidenen Röckchen, das er seit undenklichen Zeiten trug, kam, wo und wovon er lebte – davon hatte absolut niemand eine Ahnung, und offen gestanden kümmerte sich auch niemand um diese Fragen. Großvater Trofimytsch, der den Stammbaum des ganzen Hofgesindes in aufsteigender Linie bis ins vierte Geschlecht hinauf kannte, hatte nur einmal gesagt, daß Stepan, soweit er sich erinnere, mit der Türkin verwandt sei, die der selige Herr, der Brigadier Alexej Romanytsch, aus dem Feldzug mit seiner Bagage heimgebracht hatte. Selbst an Feiertagen, an denen alle Leute beschenkt und nach altrussischer Sitte mit Brot und Salz, mit Buchweizenkuchen und Schnaps bewirtet wurden, selbst an diesen Tagen kam Stjopuschka nicht zu den aufgestellten Tischen und Fässern, bückte sich nicht vor dem Gutsherrn, küßte ihm nicht die Hand und trank nicht auf das Wohl und vor den Augen des Herrn das Glas, das der Gutsverwalter mit seiner fettigen Hand gefüllt hatte; höchstens gab ihm irgendeine gute Seele im Vorbeigehen den Rest eines Kuchens. Am Ostersonntag tauschte man mit ihm zwar den Osterkuß, aber er schlug seinen fettigen Ärmel nicht zurück und holte nicht aus seiner rückwärtigen Tasche ein rotes Ei hervor, um es, schwer atmend und mit den Augen zwinkernd, den jungen Herrschaften oder sogar der Gnädigen selbst anzubieten. Im Sommer wohnte er in einer kleinen Vorratskammer hinter dem Hühnerstall, im Winter aber in der Vorbadestube; bei strengem Frost nächtigte er auf dem Heuboden. Man hatte sich an seinen Anblick gewöhnt, manchmal gab man ihm auch einen Fußtritt, aber niemand sprach ihn an, und auch er selbst hatte wohl noch nie den Mund aufgemacht. Nach dem Brand hatte dieser vergessene Mensch beim Gärtner Mitrofan Unterschlupf gefunden. Der Gärtner rührte ihn nicht an, sagte ihm nicht: »Wohne bei mir«, jagte ihn aber auch nicht hinaus. Stjopuschka wohnte auch nicht beim Gärtner; er hielt sich nur im Gemüsefeld auf. Er ging und bewegte sich ohne jedes Geräusch; nieste und hustete in die vorgehaltene Hand und nicht ohne Scheu; immer machte er sich wie eine Ameise zu schaffen; und alles nur des Essens wegen. Und in der Tat, hätte sich Stjopuschka nicht von früh bis spät um seinen Lebensunterhalt gekümmert, so wäre er wohl Hungers gestorben. Es ist schlimm, des Morgens nicht zu wissen, wie man am Abend satt werden soll. Stjopuschka sitzt bald am Zaun und nagt an einem Rettich oder saugt an einer Mohrrübe oder zerbröckelt einen schmutzigen Kohlstrunk; ein anderes Mal schleppt er krächzend einen Eimer voll Wasser; bald macht er Feuer unter einem Töpfchen an, in das er irgendwelche schwarze Bröckchen, die er aus seinem Busen holt, hineinwirft; bald klappert er in seiner Kammer mit einem Holz, schlägt einen Nagel ein, um ein Wandbrett für sein Brot anzubringen. Das alles macht er schweigend, gleichsam aus einem Winkel heraus. Wenn man nur hinblickt, ist er schon verschwunden. Plötzlich verschwindet er auch für zwei Tage; seine Abwesenheit wird natürlich von niemandem bemerkt. . . . Ehe man sich's versieht, ist er schon wieder da und legt verstohlen Späne unter einen Dreifuß. Er hat ein kleines Gesicht, gelbe Äuglein, Haare, die bis zu den Augenbrauen herabreichen, ein spitzes Näschen, ungewöhnlich große, wie bei einer Fledermaus durchsichtige Ohren; der Bart sieht so aus, als ob er ihn vor zwei Wochen rasiert hätte und ist niemals länger oder kürzer. Diesen selben Stjopuschka traf ich in Gesellschaft des anderen Greises am Ufer der Ista.

Ich ging auf sie zu, begrüßte sie und setzte mich zu ihnen. Auch im Genossen Stjopuschkas erkannte ich einen Bekannten: Es war der Freigelassene der Grafen Pjotr Iljitsch, Michailo Saweljew, mit dem Zunamen Tuman (Nebel). Er wohnte bei einem schwindsüchtigen Kleinbürger aus Bolchow, dem Besitzer einer Herberge, in der ich recht oft abstieg. Junge Beamte und andere unbeschäftigte Menschen, die durch die Orjolsche Landstraße fahren (die in ihre gestreiften Federbetten vergrabenen Kaufleute haben andere Dinge im Sinn) – können auch jetzt noch in einer geringen Entfernung vom großen Kirchdorf Troïtzkoje ein riesengroßes, zweistöckiges, verfallenes, hölzernes Haus mit eingestürztem Dach und vernagelten Fenstern sehen, das in die Landstraße hineinragt. Zur Mittagsstunde, an einem hellen, sonnigen Tag kann man sich nichts Traurigeres als diese Ruine denken. Hier lebte einst der Graf Pjotr Iljitsch, der durch seine Gastfreundschaft berühmte, reiche Grandseigneur einer alten Zeit. Zuweilen versammelte sich bei ihm das ganze Gouvernement, um bei der betäubenden Musik der Hauskapelle, unter dem Knattern von Schwärmern und römischen Kerzen zu tanzen und sich zu amüsieren; manches alte Mütterchen seufzt wohl jetzt noch, wenn es an diesem verfallenen Herrensitz vorbeifährt, bei der Erinnerung an die vergangenen Zeiten und an die entschwundene Jugend. Lange gab der Graf seine Festmahle, lange ging er mit einem freundlichen Lächeln durch die Schar unterwürfiger Gäste; aber sein Vermögen reichte ihm leider nicht für das ganze Leben. Nachdem er das Letzte verloren hatte, ging er nach Petersburg, um sich eine Stelle zu suchen, und starb in einem Gasthaus, ohne irgendeine Entscheidung erwartet zu haben. Tuman, der sein Haushofmeister gewesen war, hatte noch bei Lebzeiten des Grafen den Freibrief bekommen. Er war ein Mann von etwa siebzig Jahren mit einem regelmäßigen und angenehmen Gesicht. Er lächelte fast fortwährend, wie nur die Menschen aus dem Zeitalter Katharinas zu lächeln verstehen: gutmütig und majestätisch; beim Sprechen spitzte er langsam die Lippen und zog sie wieder ein, blinzelte freundlich mit den Augen und sprach ein wenig durch die Nase. Auch wenn er sich schneuzte oder eine Prise nahm, so tat er es langsam, wie ein wichtiges Werk.

»Nun, Michailo Saweljitsch«, fing ich an, »hast du viel Fische gefangen?«

»Belieben Sie nur ins Körbchen zu schauen: Zwei Barsche habe ich erwischt und an die fünf Stück Äschen . . . Zeig es, Stjopa.«

Stjopuschka hielt mir das Körbchen hin.

»Wie geht es dir, Stepan?« fragte ich ihn.

»Es . . . es . . . es . . . es geht, Väterchen, man schlägt sich durch«, antwortete Stepan stotternd, als müßte er mit seiner Zunge zentnerschwere Lasten umdrehen.

»Geht es auch Mitrofan gut?«

»Es geht ihm gut, gew . . . gewiß, Väterchen.«

Der Ärmste wandte sich weg.

»Die Fische wollen nicht recht anbeißen«, begann Tuman, »es ist viel zu heiß; alle Fische haben sich unters Gebüsch verkrochen und schlafen . . . Stjopa, tu mir mal einen Wurm an den Haken.«

Stjopuschka holte einen Wurm aus dem Topf, legte ihn sich auf die flache Hand, schlug einigemal darauf, zog ihn über den Haken, spuckte darauf und reichte ihn Tuman.

»Ich danke dir, Stjopa . . . Und Sie, Väterchen«, fuhr er fort, sich an mich wendend, »Sie belieben zu jagen?«

»Wie du siehst.«

»So, so . . . Was haben Sie für einen Hund? Ist's ein englischer oder ein kurländischer?«

Der Alte liebte es, sich zuweilen von seiner vorteilhaften Seite zu zeigen: »Auch ich habe etwas von der Welt gesehen!«

»Ich weiß nicht, was es für eine Rasse ist, aber er ist gut.«

»So, so . . . Belieben Sie auch mit Hetzhunden zu jagen?«

»Ja, ich habe an die zwei Meuten.«

Tuman lächelte und schüttelte den Kopf.

»Das stimmt. Der eine liebt die Hunde, der andere will sie nicht geschenkt. Ich denke es mir mit meinem einfachen Verstand so: Hunde soll man sich sozusagen mehr des Ansehens wegen halten . . . Dann soll aber alles so, wie es sich gehört, sein: Die Pferde, die Piqueure, alles muß in bester Ordnung sein. Der verstorbene Graf – Gott hab' ihn selig! – war, die Wahrheit zu sagen, niemals Jäger gewesen; aber er hielt sich doch Hunde und fuhr zweimal im Jahr auf die Jagd. Im Hof versammeln sich die Piqueure in roten Röcken mit Tressen und blasen ins Horn; Seine Durchlaucht geruhen zu erscheinen, man führt Seiner Durchlaucht das Pferd vor; Seine Durchlaucht steigen in den Sattel, und der Oberjägermeister steckt die Füße Seiner Durchlaucht in die Bügel, nimmt sich die Mütze vom Kopf und reicht ihm die Zügel in der Mütze. Seine Durchlaucht knallen mit der Hetzpeitsche, die Piqueure schreien, und alle reiten aus dem Hof. Der Leibjäger reitet hinter dem Herrn; er hat an einer seidenen Leine die beiden Lieblingshunde des Herrn und paßt, wissen Sie, auf . . . Der Leibjäger sitzt hoch im Kosakensattel, hat so rote Backen und rollt die Augen . . . Natürlich sind auch Gäste dabei. Es ist ein Zeitvertreib, und auch die Würde ist gewahrt . . . Ach, da hat er sich losgerissen, der Asiate!« rief er plötzlich, die Angel herausziehend.

»Nun, man sagt, der Graf hätte ein lustiges Leben geführt?« fragte ich.

Der Alte spuckte auf den Wurm und warf die Angel aus.

»Er war ein großmächtiger Herr, das weiß man ja. Ihn besuchten, man darf wohl sagen, die vornehmsten Leute aus Petersburg. Gar oft saßen sie mit blauen Ordensschärpen bei Tisch und speisten. Er war aber auch ein Meister im Bewirten. Manchmal läßt er mich kommen und sagt: ›Tuman, ich brauche für morgen lebenden Sterlett; laß welchen anschaffen, hörst du?‹ – ›Zu Befehl, Durchlaucht!‹ – Gestickte Röcke, Perücken, Rohrstöcke, Parfüms, Eau de Cologne erster Sorte, Tabatieren, riesengroße Bilder, die hatte er sich direkt aus Paris verschrieben. Wenn er so ein Bankett gibt – Herr meines Lebens! – Feuerwerk, Spazierfahrten! Man schoß sogar aus Kanonen. An Musikern allein waren vierzig Mann vorhanden. Einen deutschen Kapellmeister hielt er sich; aber der Deutsche bildete sich zu viel ein: wollte mit dem Herrn am gleichen Tisch essen; also befahlen Seine Durchlaucht, ihn mit Gott hinauszujagen: ›Meine Musiker‹, sagte er, ›kennen auch so ihre Sache.‹ Man weiß ja: die Gewalt eines solchen Herrn. Wenn sie zu tanzen anfingen, so tanzten sie bis zum Morgengrauen, und meistens Ecossaise-Matradure . . . »He, he! Da hab' ich dich, Bruder!« Der Alte zog aus dem Wasser einen kleinen Barsch. »Nimm ihn, Stjopa. – Er war ein Herr, ein wirklicher Herr«, fuhr er fort, die Angel von neuem auswerfend, »und hatte auch ein gutes Herz. Manchmal verprügelte er einen, aber eh man sich's versah, hatte man's schon vergessen. Nur eins ist zu tadeln: Er hielt sich Mätressen. Ach, diese Mätressen, Gott verzeih' mir! Die haben ihn auch zugrunde gerichtet. Meistens wählte er sie sich aus dem niederen Stande. Man müßte meinen, die sollten zufrieden sein. Aber nein, sie verlangten just das Teuerste, was es in Europien gibt! Andererseits: Warum soll er sein Leben nicht genießen? Ist doch ein Herr . . . aber er hätte sich doch nicht ruinieren sollen. Besonders eine, Akulina hieß sie; jetzt ist sie tot, Gott hab' sie selig! War ein einfaches Mädel, die Tochter eines Zehntmannes von Sitowo – war die böse! Den Grafen ohrfeigte sie sogar. Sie hatte ihn ganz behext. Einen Neffen von mir steckte sie unter die Soldaten, weil er Schokolade auf ihr neues Kleid ausschüttete . . . und nicht nur ihn allein steckte sie unter die Soldaten. Ja . . . Und doch war es eine gute Zeit!« fügte der Alte mit einem tiefen Seufzer hinzu. Dann senkte er die Augen und verstummte.

»Euer Herr war aber streng, wie ich sehe?« fragte ich nach kurzem Schweigen.

»Das war damals Sitte, Väterchen«, entgegnete der Alte und schüttelte den Kopf.

»Heute gibt's das nicht mehr«, bemerkte ich, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

Er sah mich von der Seite an.

»Natürlich ist es jetzt besser«, murmelte er, indem er die Angel weit auswarf.

Wir saßen im Schatten, aber auch im Schatten war es schwül. Die schwere, glühende Luft war unbeweglich; das heiße Gesicht sehnte sich nach einem Windhauch, aber es kam keiner. Die Sonne stach förmlich vom blauen, dunkel gewordenen Himmel; gerade vor uns, auf dem arideren Ufer leuchtete gelb ein hier und da mit Wermut durchwachsenes Haferfeld, und kein Halm rührte sich. Etwas weiter unten stand ein Bauernpferd bis an die Knie im Wasser und schlug träge mit seinem nassen Schweif; ein großer Fisch schwamm unter einem überhängenden Strauch hervor, ließ Luftblasen aufsteigen und sank langsam in die Tiefe, auf der Wasseroberfläche ein leises Gekräusel zurücklassend. Die Grillen zirpten im bräunlichen Gras, die Wachteln schrien wie widerwillig; Habichte zogen ihre Kreise über den Feldern und blieben ab und zu an einer Stelle schweben, schnell die Flügel schlagend und den Schwanz zu einem Fächer gesträubt. Wir saßen unbeweglich da, wie erdrückt von der Glut. Plötzlich ertönte in der Schlucht hinter uns ein Geräusch: Jemand stieg zur Quelle hinunter. Ich sah mich um und erblickte einen Bauern von etwa fünfzig Jahren. Er war mit Staub bedeckt, mit einem Hemd und Bastschuhen bekleidet und hatte ein geflochtenes Körbchen und einen Bauernkittel am Rücken. Er ging auf die Quelle zu, stillte gierig seinen Durst und erhob sich.

»He, Wlas!« rief Tuman, als er ihn erkannt hatte. »Grüß Gott, Bruder, woher des Weges?«

»Grüß Gott, Michailo Saweljitsch«, erwiderte der Bauer, zu uns herantretend. »Von weit her.«

»Wo hast du denn gesteckt?« fragte ihn Tuman.

»Ich war nach Moskau gegangen, zum Herrn.«

»Wozu?«

»Wollte ihn um was bitten.«

»Um was wolltest du ihn bitten?«

»Daß er mir den Erbzins ermäßigt oder mich auf Frondienst setzt oder mich anderswo ansiedelt. Mein Sohn ist mir gestorben, so werde ich allein nicht fertig.«

»Dein Sohn ist dir gestorben?«

»Er ist gestorben. – Der Selige«, fuhr der Bauer nach kurzem Schweigen fort, »hat in Moskau als Droschkenkutscher gelebt und hat für mich, die Wahrheit zu sagen, den Erbzins bezahlt.«

»Seid ihr denn jetzt auf Erbzins gesetzt?«

»Ja, auf Erbzins.«

»Was hat der Herr gesagt?«

»Was er gesagt hat? Weggejagt hat er mich! ›Wie wagst du es‹, sagt er, ›so einfach zu mir zu kommen? Dazu gibt es den Verwalter! Du bist‹, sagt er, ›verpflichtet, es dem Verwalter zu melden. Und wo soll ich dich ansiedeln? Bezahl‹, sagt er, ›erst den rückständigen Zins.‹ Ganz böse ist er geworden.«

»Nun, so gingst du zurück?«

»So ging ich zurück. Ich wollte mich erkundigen, ob der Selige nicht etwas hinterlassen hatte, konnte aber nichts erfahren. Ich sage zu seinem Herrn: ›Ich bin Philipps Vater«, und er sagt drauf: ›Woher soll ich das wissen? Dein Sohn hat auch nichts hinterlassen, er schuldet mir sogar noch Geld.« So ging ich zurück.«

Der Bauer erzählte uns das alles mit einem Lächeln, als wäre die Rede von etwas ganz anderm; aber in seine kleinen, zusammengekniffenen Augen traten Tränen, und seine Lippen zuckten.

»Nun, und jetzt gehst du nach Hause?«

»Wohin denn sonst? Versteht sich, nach Hause. Mein Weib pfeift jetzt wohl vor Hunger in die Faust.«

»Du hättest doch . . . ich meine . . .«, begann plötzlich Stjopuschka. Aber er wurde verlegen, verstummte und begann in seinem Topf zu wühlen.

»Wirst du nun zum Verwalter gehen?« fragte Tuman, Stjopoischka nicht ohne Erstaunen ansehend.

»Was soll ich zu ihm gehen? Ich bin ja mit dem Zins im Rückstand. Mein Sohn war vor dem Tode ein ganzes Jahr krank und hat darum für mich den Zins nicht bezahlt. Aber das macht mir nicht viel Sorge: Von mir ist doch nichts zu holen. Magst es noch so schlau anfangen, Bruder, aber holen kannst du von mir nichts!« Der Bauer lachte. »Was du auch anstellst, Kintiljan Semjonytsch, von mir ist nichts zu . . .«

Wlas fing wieder zu lachen an.

»Nun, das ist aber gar nicht gut, Bruder Wlas«, sagte Tuman gedehnt.

»Warum soll es nicht gut sein? Nein . . .« Wlas versagte die Stimme. »So heiß ist's«, fuhr er fort, sich das Gesicht mit dem Ärmel abwischend.

»Wer ist euer Herr?« fragte ich.

»Graf Valerian Petrowitsch.«

»Der Sohn des Pjotr Iljitsch?«

»Der Sohn des Pjotr Iljitsch«, antwortete Tuman. »Der selige Pjotr Iljitsch hat ihm das Dorf, in dem Wlas wohnt, schon bei Lebzeiten geschenkt.«

»Ist er gesund?«

»Ja, Gott sei Dank«, antwortete Wlas. »Ist ganz rot geworden, hat viel Fett im Gesicht.«

»Ja, Väterchen«, fuhr Tuman, sich zu mir wendend, fort, »wenn er ihn noch in der Nähe von Moskau halten wollte; aber er läßt ihn hier sitzen und verlangt von ihm den Zins.«

»Wieviel zahlt ihr denn pro Hof?«

»Fünfundneunzig Rubel«, murmelte Wlas.

»Da sehen Sie es: Die Leute haben fast kein Land, alles, was da ist, ist der herrschaftliche Wald.«

»Und auch der ist, sagt man, verkauft«, bemerkte der Bauer.

»Da sehen Sie es . . . Stjopa, gib mir mal einen Wurm her. Du, Stjopa! Bist du eingeschlafen?«

Stjopuschka fuhr zusammen. Der Bauer setzte sich zu uns. Wir verstummten wieder. Am ändern Ufer stimmte plötzlich jemand ein Lied an, aber ein so trauriges . . . Mein armer Wlas machte ein bekümmertes Gesicht . . .

Nach einer halben Stunde gingen wir auseinander.


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