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Reichen Sie mir die Hand, lieber Leser, und fahren Sie mit mir mit. Das Wetter ist herrlich; milde strahlt der blaue Maihimmel; die jungen, glatten Blätter der Silberweiden glitzern, als ob sie frisch gewaschen wären; der breite, ebene Weg ist gänzlich von jenem kurzen, rotgestielten Gras bedeckt, an dem so gerne die Schafe rupfen; rechts und links an den sanften Abhängen der Hügel wogt leise der grüne Roggen; als flüssige Flecken gleiten die Schatten kleiner Wolken über ihn hinweg. In der Ferne dunkeln Wälder, funkeln Teiche, leuchten gelb die Dörfer; die Lerchen steigen zu Hunderten, trillern, fallen plötzlich nieder und sitzen gestreckten Halses auf den Erdschollen; die Saatkrähen bleiben auf dem Weg stehen, sehen Sie an, ducken sich zu Boden, lassen Sie vorbeifahren und flattern nach zwei, drei Sprüngen schwerfällig zur Seite; auf der Anhöhe hinter der Schlucht pflügt ein Bauer; ein falbes Füllen mit kurzem Schwanz und Zottelmähne folgt auf unsicheren Füßen der Mutter und läßt sein dünnes Gewieher erschallen. Wir kommen in ein Birkengehölz; der kräftige, frische Duft benimmt uns angenehm den Atem. Da ist schon die Dorfgrenze. Der Kutscher steigt ab, die Pferde schnauben, die Seitenpferde sehen sich um, das Mittelpferd bewegt den Schweif und drückt den Kopf an das Krummholz; knarrend öffnet sich das Tor. Der Kutscher steigt wieder auf den Bock . . . Fahr zu! Vor uns liegt das Dorf. Nachdem wir an fünf Höfen vorbeigefahren sind, biegen wir nach rechts ein, fahren einen Abhang hinunter und kommen auf einen Damm. Hinter einem kleinen Teich, über den runden Wipfeln der Apfelbäume und Fliederbüsche sehen wir ein Schindeldach, das ehedem rot war und zwei Schornsteine hat; der Kutscher fährt links am Zaun entlang, vom winselnden, heiseren Bellen dreier alter Schäferhunde begleitet, fährt durch das weite offene Tor ein, macht eine kühne Runde um den weiten Hof, am Pferdestall und am Schuppen vorbei, grüßt forsch die alte Haushälterin, die seitwärts über die hohe Schwelle der Vorratskammer tritt, und hält endlich vor der Treppe eines dunklen, kleinen Häuschens mit hellen Fenstern . . . Wir sind bei Tatjana Borissowna. Da öffnet sie selbst das Fensterchen und nickt uns zu . . . Gott grüße Sie, Mütterchen!
Tatjana Borissowna ist eine Frau von etwa fünfzig Jahren, sie hat große, graue, etwas hervorstehende Augen, eine stumpfe Nase, rote Wangen und ein Doppelkinn. Ihr Gesicht atmet Freundlichkeit und Güte. Sie war einmal verheiratet gewesen, wurde aber nach kurzer Zeit Witwe. Tatjana Borissowna ist eine recht merkwürdige Frau. Sie lebt ständig auf ihrem kleinen Gut, verkehrt wenig mit den Nachbarn, empfängt und liebt nur junge Leute. Sie stammt aus einer armen Gutsbesitzersfamilie und hat gar keine Erziehung genossen, d. h., sie spricht nicht Französisch; sie ist sogar nie in Moskau gewesen – aber trotz dieser Mängel benimmt sie sich so einfach und gut, fühlt und denkt so frei, ist von den gewöhnlichen Erbfehlern der kleinstädtischen Damen so wenig angesteckt, daß man sich wahrhaftig der Bewunderung nicht erwehren kann . . . Und in der Tat: Die Frau lebt das ganze Jahr auf dem Lande, in der Einsamkeit, und klatscht nicht, kreischt nicht, knickst nicht, regt sich nicht auf, fiebert nicht vor Neugierde . . . ein wahres Wunder! Sie trägt gewöhnlich ein graues Taftkleid und eine weiße Haube mit herabhängenden lila Bändern; sie liebt es, gut zu essen, jedoch nicht im Übermaß; das Einmachen, das Dörren und das Einsalzen überläßt sie der Wirtschafterin. Womit ist sie denn den ganzen lieben Tag beschäftigt? werdet Ihr fragen . . . Liest sie? – Nein, sie liest nicht; die Wahrheit zu sagen, die Bücher werden nicht für sie gedruckt . . . Wenn sie gerade keinen Gast hat, sitzt meine Tatjana Borissowna am Fenster und strickt einen Strumpf – so im Winter; im Sommer geht sie in den Garten, setzt und begießt Blumen, spielt stundenlang mit jungen Katzen und füttert Tauben . . . Mit der Wirtschaft gibt sie sich wenig ab. Aber wenn ein Gast sich einstellt, irgendein junger Nachbar, dem sie gewogen ist – da lebt Tatjana Borissowna auf; sie nötigt ihn, sich zu setzen, bewirtet ihn mit Tee, hört seinen Erzählungen zu, lacht, tätschelt ihm zuweilen leicht die Wange, spricht aber selbst wenig; doch im Unglück versteht sie zu trösten und einen guten Rat zu geben. Wie viele haben ihr ihre häuslichen und intimsten Geheimnisse anvertraut und in ihren Armen geweint! Meistens sitzt sie dem Gast gegenüber, lehnt sich leicht auf einen Ellenbogen und blickt ihm mit solcher Teilnahme in die Augen und lächelt so freundschaftlich, daß dem Gast unwillkürlich der Gedanke kommt: Was bist du doch für eine herrliche Frau, Tatjana Borissowna! Ich will dir nun alles erzählen, was ich auf dem Herzen habe. – In ihren kleinen gemütlichen Zimmern ist es so schön und warm; in ihrem Hause ist, wenn man so sagen darf, immer schönes Wetter. Eine merkwürdige Frau ist Tatjana Borissowna, und doch wundert sich niemand über sie; ihr gesunder Menschenverstand, ihre Sicherheit, ihr freier Geist, ihre warme Teilnahme an den fremden Freuden und Leiden, mit einem Wort, alle ihre Vorzüge sind ihr gleichsam angeboren und scheinen ihr keinerlei Mühe gekostet zu haben . . . Man kann sie sich gar nicht anders vorstellen; folglich braucht man ihr auch nicht zu danken. Sie liebt es besonders, dem Spielen und Toben der Jugend zuzusehen; sie kreuzt dann die Arme über der Brust, wirft den Kopf zurück, kneift die Augen zusammen, sitzt und lächelt, und plötzlich seufzt sie auf und sagt: »Ach, ihr meine lieben Kinderchen . . .!« Dann spürt man den Wunsch, an sie heranzutreten, sie bei der Hand zu fassen und ihr zu sagen: »Hören Sie einmal, Tatjana Borissowna, Sie kennen Ihren eigenen Wert nicht, bei Ihrer Einfachheit und Unbildung sind Sie ein ungewöhnliches Geschöpf!« Schon ihr Name allein hat einen heimlichen, angenehmen Klang; er wird gern in den Mund genommen und ruft ein freundschaftliches Lächeln hervor. Wie oft geschah es, daß ich auf die Frage: »Sag mal, Bruder, wie komme ich am besten nach Gratschowka?«, von einem Bauern die Antwort erhielt: »Sie fahren, Väterchen, am besten nach Wjasowoje und von dort zu Tatjana Borissowna; zu Tatjana Borissowna wird Ihnen aber jedermann den Weg zeigen.« Und bei dem Namen Tatjana Borissowna schüttelt er ganz eigentümlich den Kopf. Sie hält wenig Dienstboten, ihrem Stande gemäß. Haus, Waschküche, Vorratskammer und Küche unterstehen der Wirtschafterin Agafja, ihrer einstigen Kinderfrau, einem gutmütigen, weinerlichen und zahnlosen Geschöpf; zwei kräftige Mägde mit festen blauroten Backen, die an Antonsäpfel gemahnen, stehen unter ihrer Leitung. Das Amt des Kammerdieners, Haushofmeisters und Büfettbeschließers versieht der siebzigjährige Diener Polikarp, ein ungewöhnlicher Kauz, ein belesener Mensch, ehemaliger Geiger und Verehrer Viottis, ein persönlicher Feind Napoleons oder Bonapartleins, wie er ihn nennt, und ein leidenschaftlicher Liebhaber von Nachtigallen. Er hält ihrer immer fünf, sechs Stück in seinem Zimmer; im Frühjahr sitzt er tagelang an den Vogelbauern und wartet auf ihr erstes Schlagen; wenn er es endlich hört, bedeckt er das Gesicht mit den Händen, stöhnt: »Ach, so traurig, so traurig!« und weint bitterlich. Polikarp hat zum Gehilfen seinen eigenen Enkel, Waßja, einen zwölfjährigen, lockigen Jungen mit lebhaften Augen; Polikarp liebt ihn unsinnig und brummt auf ihn vom Morgen bis zum Abend. Er befaßt sich auch mit seiner Erziehung. »Waßja«, sagt er ihm, »sag einmal: ›Bonapartlein ist ein Räuber‹.«
»Was gibst du mir dafür, Großvater?«
»Was ich dir gebe . . .? Nichts gebe ich dir . . . Was bist du denn? Bist du ein Russe?«
»Ich bin ein Amtschane,Das einfache Volk nennt die Stadt Mzensk Amtschensk und ihre Bewohner Amtschianer. Die Amtschaner sind rührige Leute; nicht umsonst wünscht man bei uns seinem Feinde einen Amtschaner ins Haus. (Anmerkung Turgenjews) Großvater, ich bin in Amtschensk geboren.«
»Ach, Dummkopf! Wo liegt denn Amtschensk?«
»Woher soll ich das wissen?«
»In Rußland liegt Amtschensk, du Dummer.«
»Was ist denn dabei, daß es in Rußland liegt?«
»Wie? Seine Durchlaucht der selige Fürst Michailo Illarionowitsch Golenischtschew-Kutusow-Smolenskij hat das Bonapartlein mit Gottes Hilfe aus den russischen Grenzen zu verjagen geruht. Aus diesem Anlaß wurde auch das Lied verfaßt: ›Bonapart denkt nicht ans Tanzen, hat verloren Schuh und Ranzen . . .‹ Verstehst du, er hat dein Vaterland befreit.«
»Was geht das mich an?«
»Ach, du dummer Junge, dummer Junge! Wenn der durchlauchtigste Fürst Michailo Illarionowitsch das Bonapartlein nicht vertrieben hätte, so würde dich jetzt irgendein Mosjö mit dem Stock auf den Kopf schlagen. Er ginge auf dich zu und sagte dir: ›Kommang wu porteh wu?‹ und klopfte dich mit dem Stock auf den Schädel.«
»Ich würde ihm die Faust in den Bauch stoßen.«
»Er würde dir aber sagen: ›Bongschur, bongschur, weneh issi‹ und dich am Schopfe packen.«
»Ich würde ihn aber auf seine Beine, seine Zwiebelbeine schlagen.«
»Das stimmt, sie haben alle Zwiebelbeine . . . Wenn er dir aber die Hände bindet?«
»Das ließe ich mir nicht gefallen, ich würde den Kutscher Michej zu Hilfe rufen.«
»Was glaubst du, Waßja, der Franzose kann doch mit dem Michej nicht fertig werden?«
»Wie sollte er es! Michej ist doch so stark!«
»Nun, was würdet ihr mit ihm tun?«
»Wir würden ihn auf den Rücken hauen, immer auf den Rücken.«
»Er würde aber ›Pardon‹ schreien. ›Pardon, Pardon, sewuplä!««
»Wir würden darauf sagen: »Nein, für dich gibt's kein sewuplä, du Franzos . . .!‹«
»Brav, Waßja . . .! Schrei also: ›Bonapartlein ist ein Räuber!«
»Und du gib mir Zucker!«
»Ach du . . .!«
Mit den Gutsbesitzerinnen verkehrt Tatjana Borissowna wenig; sie kommen ungern zu ihr, und sie versteht sie nicht zu unterhalten; sie schläft bei ihren Reden ein, zuckt zusammen, bemüht sich, die Augen zu öffnen, und schläft wieder ein. Tatjana Borissowna liebt die Frauen überhaupt nicht. Einer meiner Freunde, ein guter, stiller, junger Mensch, hatte eine Schwester, eine alte Jungfer von achtunddreißigundeinhalb Jahren, ein gutmütiges, aber verschrobenes, geziertes und exaltiertes Geschöpf. Der Bruder hatte ihr viel von seiner Nachbarin erzählt. Eines schönen Morgens ließ die alte Jungfer, ohne ein Wort zu sagen, ihr Pferd satteln und ritt zu Tatjana Borissowna. In ihrem langen Kleid, mit dem Hut auf dem Kopf, dem grünen Schleier und offenem Haar trat sie ins Vorzimmer, ging am erstaunten Waßja vorbei, der sie für eine Nixe hielt, und stürzte ins Gastzimmer. Tatjana Borissowna erschrak und wollte aufstehen, aber ihre Beine knickten ein. »Tatjana Borissowna«, begann die Dame mit flehender Stimme, »entschuldigen Sie meine Kühnheit; ich bin die Schwester Ihres Freundes Alexej Nikolajewitsch K., ich habe von ihm so viel über Sie gehört, daß ich mich entschloß, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Zuviel der Ehre«, murmelte die erstaunte Hausfrau. Der Gast legte den Hut ab, schüttelte die Locken, setzte sich neben Tatjana Borissowna und ergriff ihre Hand . . . »Das ist sie also«, begann sie mit versonnener und gerührter Stimme. »Das ist dieses gute, heitere, edle, heilige Geschöpf! Das ist sie! Diese einfache und zugleich so tiefe Frau! Wie freue ich mich, wie freue ich mich! Wie werden wir einander lieben! Ich werde endlich Ruhe finden . . . Ich habe sie mir gerade so vorgestellt«, fügte sie flüsternd hinzu. »Nicht wahr, Sie sind mir nicht böse, meine Gute, meine Liebe?«
»Bitte, bitte, ich freue mich sehr . . . Wollen Sie nicht Tee?«
Der Gast lächelte herablassend. »Wie wahr, wie unreflektiert«, flüsterte sie auf deutsch wie vor sich hin. »Erlauben Sie, daß ich Sie umarme, meine Liebe!«
Die alte Jungfer blieb bei Tatjana Borissowna volle drei Stunden und schwieg keinen Augenblick. Sie bemühte sich, ihrer neuen Bekannten ihre eigene Bedeutung zu erklären. Als der unerwartete Besuch gegangen war, begab sich die arme Gutsbesitzerin sofort in die Badestube, trank Lindenblütentee und legte sich ins Bett. Aber gleich am folgenden Tag kam die alte Jungfer wieder, blieb vier Stunden da und entfernte sich mit dem Versprechen, Tatjana Borissowna täglich zu besuchen. Es war ihr, sehen Sie, eingefallen, diese, wie sie sich ausdrückte, reiche Natur zu entwickeln und zu erziehen; sie hätte ihr wohl sicher den Garaus gemacht, wenn sie nicht, erstens, glücklicherweise schon nach zwei Wochen durch die Freundin ihres Bruders ›gänzlich‹ enttäuscht worden wäre; zweitens, wenn sie sich nicht in einen jungen durchreisenden Studenten verliebt hätte, mit dem sie sofort in einen lebhaften und energischen Briefwechsel trat; in ihren Episteln segnete sie ihn, wie es so üblich ist, zu einem heiligen und schönen Leben, brachte ›ihr ganzes Selbst‹ zum Opfer, verlangte nur den Namen einer Schwester, erging sich in Naturschilderungen, erwähnte Goethe, Schiller, Bettina und die deutsche Philosophie und brachte damit schließlich den armen Jüngling in düsterste Verzweiflung. Aber die Jugend behielt die Oberhand: Eines schönen Morgens erwachte er mit einem so wütenden Haß gegen seine ›Schwester und beste Freundin‹, daß er in seiner Erregung beinahe seinen Kammerdiener geprügelt hätte und noch lange Zeit nachher bei der bloßen Anspielung auf eine erhabene und uneigennützige Liebe die Leute beinahe biß . . . Tatjana Borissowna vermied aber seitdem noch mehr jede Annäherung an ihre Nachbarinnen.
Aber ach, nichts ist auf Erden von Dauer! Alles, was ich Ihnen vom Leben und Treiben der guten Gutsbesitzerin erzählt habe, gehört der Vergangenheit an; die Stille, die in ihrem Hause herrschte, ist für alle Ewigkeit gestört. Jetzt lebt bei ihr schon über ein Jahr ihr Neffe, ein Maler aus Petersburg. Das geschah folgendermaßen.
Vor etwa acht Jahren lebte bei Tatjana Borissowna ein zwölfjähriger Waisenknabe, Andrjuscha, der Sohn ihres verstorbenen Bruders. Andrjuscha hatte große, klare, feuchtglänzende Augen, einen kleinen Mund, eine regelmäßige Nase und eine herrliche gewölbte Stirne. Er sprach mit leiser, süßer Stimme, hielt sich reinlich und manierlich, war liebenswürdig und dienstfertig gegen die Gäste und küßte mit der Zärtlichkeit eines Waisenkindes seinem Tantchen die Hand. Man war noch nicht ganz ins Zimmer getreten, als er schon einen Sessel herbeitrug. Unarten kamen bei ihm nie vor: Er macht kein Geräusch, sitzt in seinem Winkel mit einem Buch so still und bescheiden und wagt kaum, sich an die Stuhllehne zurückzulehnen. Der Gast tritt ein – mein Andrjuscha erhebt sich sofort, lächelt artig und errötet; geht der Gast fort, so setzt er sich wieder hin, holt aus der Tasche ein Bürstchen mit einem Spiegel und bringt sein Haar in Ordnung. Von frühester Kindheit auf zeigte er Lust zum Zeichnen. Wenn ihm ein Blatt Papier in die Hände fiel, erbat er sich sogleich von der Haushälterin Agafja eine Schere, schnitt aus dem Papier ein regelmäßiges Viereck aus, zeichnete eine Einfassung rundherum und machte sich an die Arbeit: Er zeichnete ein Auge mit einer ungeheuren Pupille oder eine griechische Nase oder ein Haus mit einem Schornstein und schraubenförmig aufsteigendem Rauch, einen Hund en face, der einer Bank ähnlich sah, einen Baum mit zwei Täubchen und schrieb darunter: ›Gezeichnet von Andrej Bjelowsorow an dem, und dem Datum, in dem und dem Jahr im Dorfe Malyja-Bryki.‹ Mit besonderem Eifer mühte er sich zwei Wochen vor dem Namenstag Tatjana Borissownas ab; er erschien als erster Gratulant und überreichte ihr eine mit einem rosa Bändchen umbundene Rolle. Tatjana Borissowna küßte den Neffen auf die Stirn und löste das Bändchen; das Papier entrollte sich und bot dem neugierigen Blick des Beschauers einen runden, geschickt schattierten Tempel mit Säulen und einem Altar in der Mitte; auf dem Altar flammte ein Herz und lag ein Kranz; darüber stand auf einem verschlungenen Band mit deutlichen Buchstaben: ›Meiner Tante und Wohltäterin Tatjana Borissowna Bogdanowa von ihrem respektvollen und liebenden Neffen als Zeichen der tiefsten Anhänglichkeit.‹ Tatjana Borissowna küßte ihn wieder und schenkte ihm einen Silberrubel. Große Anhänglichkeit fühlte sie ihm gegenüber aber nicht: Die Unterwürfigkeit Andrjuschas gefiel ihr nicht sehr. Andrjuscha wuchs indessen heran; Tatjana Borissowna machte sich schon Sorgen wegen seiner Zukunft. Ein unerwarteter Zufall enthob sie dieser Schwierigkeit . . .
Es kam so: Einmal, vor acht Jahren, kam zu ihr ein gewisser Pjotr Michailytsch Benewolenskij, Kollegienrat und Ritter verschiedener Orden. Herr Benewolenskij war einmal in der nächsten Kreisstadt Beamter gewesen und hatte damals Tatjana Borissowna fleißig besucht; später zog er nach Petersburg, kam ins Ministerium, erlangte einen ziemlich hohen Posten und erinnerte sich bei einer seiner häufigen Dienstreisen seiner alten Bekannten; so besuchte er sie mit der Absicht, einige Tage ›im Schoß der ländlichen Stille‹ von seinen dienstlichen Sorgen auszuruhen. Tatjana Borissowna empfing ihn mit ihrer gewöhnlichen Herzlichkeit, und Herr Benewolenskij . . . Aber bevor wir in unserer Erzählung fortfahren, erlauben Sie mir, lieber Leser, Sie mit dieser neuen Person bekannt zu machen.
Herr Benewolenskij war ein ziemlich dicker Mann von mittlerem Wuchs, etwas schwammig, mit kurzen Beinchen und vollen Händchen; er trug einen weiten und außerordentlich sauberen Frack, eine hohe und breite Halsbinde, schneeweiße Wäsche, eine goldene Uhrkette auf der seidenen Weste, einen Ring mit einem Stein auf dem Zeigefinger und eine blonde Perücke; er sprach überzeugend und mild und trat leise auf, lächelte angenehm, blickte angenehm um sich und vergrub das Kinn angenehm in die Halsbinde; er war überhaupt ein angenehmer Mensch. Gott hatte ihn auch mit einem guten Herzen gesegnet: Er weinte und begeisterte sich leicht; er war von einer flammenden, uneigennützigen Leidenschaft für die Kunst beseelt, und diese Leidenschaft war wirklich uneigennützig, denn gerade von der Kunst verstand Herr Benewolenskij, um die Wahrheit zu sagen, gar nichts. Es ist sogar erstaunlich, woher und kraft welcher geheimnisvollen und unbegreiflichen Gesetze diese Leidenschaft in ihm entstanden war. Ich glaube, er war ein positiver und sogar tüchtiger Mann . . . Übrigens haben wir in Rußland genug Leute, von diesem Schlag.
Die Liebe zur Kunst und zu den Künstlern verleiht diesen Menschen eine unbeschreibliche Süßlichkeit; es ist eine Qual, mit ihnen zu verkehren und zu sprechen: sie sind mit Honig bestrichene Holzklötze. Sie nennen z. B. niemals Raffael Raffael und Correggio Correggio, sie sagen: »der göttliche Sanzio« (und betonen dabei unbedingt das o) und: »der unvergleichliche da Allegri«. Jedes hausbackene, eingebildete, übertriebene und mittelmäßige Talent nennen sie ein Genie oder Chenie; der blaue Himmel Italiens, die südliche Limone, die duftenden Nebel der Ufer der Brenta sind immer in ihrem Munde. »Ach, Wanja, Wanja!« oder: »Ach, Sascha, Sascha«, sagen sie zueinander mit Gefühl, »wir sollten doch nach dem Süden . . . wir sind doch Griechen in der Seele, alte Griechen!« Man kann sie in den Ausstellungen vor manchen Erzeugnissen gewisser russischer Maler beobachten. (Es ist zu erwähnen, daß alle diese Herren zum großen Teil fürchterliche Patrioten sind.) Bald treten sie zwei Schritte zurück und werfen den Kopf in den Nacken, bald nähern sie sich wieder dem Bilde; ihre Äuglein werden ölig . . . »Oh, Gott, Gott«, sagen sie schließlich mit vor Aufregung zitternder Stimme. »Wieviel Seele ist darin! Wieviel Gemüt! Wieviel Seele hat er hineingelegt, einen Abgrund von Seele . . .! Und wie das erfunden ist, meisterhaft erfunden!« – Und was für Bilder hängen in ihren eigenen Salons! Was für Maler trinken bei ihnen abends Tee und hören ihre Gespräche an! Was für perspektivische Ansichten ihrer eigenen Zimmer werden ihnen von diesen Malern verehrt: im Vordergrund eine Bürste mit einem Häufchen Kehricht auf dem gewichsten Fußboden, ein gelber Samowar auf dem Tisch neben dem Fenster, und der Hausherr selbst im Schlafrock und Käppchen, mit einem grellen Lichtreflex auf der Wange! Was für langhaarige Musensöhne mit verächtlichem und fieberhaftem Lächeln besuchen sie! Was für blaßgrüne junge Mädchen winseln bei ihnen am Klavier! Denn es ist bei uns in Rußland schon einmal so Sitte: Der Mensch kann sich nie mit einer einzigen Kunst begnügen, er muß alle Künste haben. Darum ist es durchaus nicht erstaunlich, daß diese Herren Liebhaber auch der russischen Literatur ihre Gunst erweisen, besonders der dramatischen . . . Stücke wie Jakob Sannazaros sind für sie geschrieben, der schon tausendmal dargestellte Kampf des verkannten Genies mit den Menschen, mit der ganzen Welt erschüttert sie bis auf den Grund ihrer Seele . . .
Gleich am Tag nach der Ankunft des Herrn Benewolenskij ließ Tatjana Borissowna beim Tee ihren Neffen die Zeichnungen bringen und dem Gast zeigen. »Er zeichnet?« fragte Herr Benewolenskij.
»Gewiß, er zeichnet«, antwortete Tatjana Borissowna, »er zeichnet mit großer Lust, ganz allein, ohne Lehrer.«
»Ach, zeigen Sie es mir!« fiel ihr Herr Benewolenskij ins Wort.
Andrjuscha reichte dem Gast errötend und lächelnd sein Heft.
Herr Benewolenskij fing an, mit Kennermiene darin zu blättern. »Gut, junger Mann«, sagte er endlich, »gut, sehr gut.« Und er streichelte Andrjuscha den Kopf.
Andrjuscha küßte ihm schnell die Hand.
»Sehen Sie nur, was für ein Talent . . .! Ich gratuliere Ihnen, Tatjana Borissowna, ich gratuliere.«
»Aber was soll man machen, Pjotr Michailytsch, hier kann ich für ihn keinen Lehrer finden. Einen aus der Stadt kommen zu lassen, kostet zuviel Geld; die Nachbarn Artamonows haben wohl einen Maler im Hause, man sagt sogar, einen vorzüglichen, aber seine Herrin verbietet ihm, fremden Leuten Stunden zu geben. Sie sagt, so werde er sich den Geschmack verderben.«
»Hm«, versetzte Herr Benewolenskij. Dann wurde er nachdenklich und sah Andrjuscha ernst an. »Nun, wir werden darüber noch reden«, fügte er plötzlich hinzu und rieb sich die Hände. Am gleichen Tag bat er Tatjana Borissowna um Erlaubnis, mit ihr unter vier Augen sprechen zu dürfen. Sie schlossen sich ein. Nach einer halben Stunde riefen sie Andrjuscha. Andrjuscha trat ein. Herr Benewolenskij stand am Fenster mit leicht gerötetem Gesicht und strahlenden Augen. Tatjana Borissowna saß in der Ecke und wischte sich die Augen. »Nun, Andrjuscha«, begann sie schließlich, »bedanke dich bei Pjotr Michailytsch, er will für dich sorgen und dich nach Petersburg mitnehmen.«
Andrjuscha war starr.
»Sagen Sie mir aufrichtig«, begann Herr Benewolenskij mit einer von Würde und Wohlwollen erfüllten Stimme, »wollen Sie Künstler werden, fühlen Sie in sich den heiligen Beruf zur Kunst?«
»Ich möchte Künstler werden, Pjotr Michailytsch«, bestätigte Andrjuscha zitternd.
»In diesem Falle freue ich mich sehr. Es wird Ihnen«, fuhr Herr Benewolenskij fort, »natürlich sehr schwer sein, sich von Ihrem verehrten Tantchen zu trennen; Sie müssen doch die wärmste Dankbarkeit gegen Sie empfinden.«
»Ich verehre mein Tantchen«, unterbrach ihn Andrjuscha und zwinkerte mit den Augen.
»Gewiß, gewiß, es ist sehr natürlich und gereicht Ihnen zur Ehre; aber denken Sie sich nur, welche Freude . . . Ihre Erfolge . . .«
»Umarme mich, Andrjuscha«, murmelte die gute Gutsbesitzerin.
Andrjuscha fiel ihr um den Hals.
»Nun, und jetzt danke deinem Wohltäter . . .«
Andrjuscha umarmte den Bauch des Herrn Benewolenskij, stellte sich auf die Fußspitzen und erreichte schließlich dessen Hand, die der Wohltäter zwar zurückzog, aber doch nicht allzu eilig. Man muß doch dem Kind die Freude und die Genugtuung lassen und darf auch sich die Freude, das Vergnügen gönnen. Zwei Tage drauf reiste Herr Benewolenskij ab und nahm seinen neuen Zögling mit.
Während der ersten drei Jahre der Trennung schrieb Andrjuscha ziemlich oft und legte den Briefen manchmal Zeichnungen bei. Herr Benewolenskij schrieb manchmal auch seinerseits einige meistens lobende Zeilen; dann wurden die Briefe immer seltener und hörten schließlich ganz auf. Der Neffe schwieg ein ganzes Jahr; Tatjana Borissowna fing schon an, unruhig zu werden, als sie plötzlich ein Brieflein folgenden Inhaltes erhielt.
Liebstes Tantchen!
Vor vier Tagen ist mein Beschützer, Pjotr Michailowitsch, verschieden. Ein grausamer Schlaganfall beraubte mich dieser letzten Stütze. Ich stehe allerdings schon im zwanzigsten Lebensjahr; in diesen sieben Jahren habe ich bedeutende Fortschritte gemacht; ich baue sehr auf mein Talent und kann davon leben; ich verliere den Mut nicht, aber dennoch schicken Sie mir, wenn Sie können, fürs erste zweihundertfünfzig Rubel in Assignaten. Ich küsse Ihre Hände und verbleibe, und so weiter.
Tatjana Borissowna schickte dem Neffen die zweihundertfünfzig Rubel. Nach zwei Monaten verlangte er mehr; sie scharrte das Letzte zusammen und schickte es ihm. Es waren noch keine sechs Wochen nach der zweiten Sendung vergangen, als er zum drittenmal Geld verlangte, angeblich um sich Farben für das Porträt zu kaufen, das ihm die Fürstin Tertereschenjewa bestellt habe. Tatjana Borissowna schlug es ihm ab. ›In diesem Falle‹, schrieb er ihr, ›habe ich die Absicht, zu Ihnen aufs Land zu kommen, um meine Gesundheit herzustellen.‹ Und im Mai des gleichen Jahres kam Andrjuscha wirklich nach Malyja-Bryki.
Tatjana Borissowna erkannte ihn im ersten Augenblick nicht. Auf. Grund seines Briefes erwartete sie einen kränklichen und mageren Menschen, sah aber vor sich einen breitschultrigen, dicken Burschen mit einem breiten und roten Gesicht und fettigen, krausen Haaren. Der schmächtige, blasse Andrjuscha hatte sich in den kräftigen Andrej Iwanowitsch Bjelowsorow verwandelt. Nicht bloß sein Äußeres hatte sich verändert. An Stelle der ängstlichen Schüchternheit, Vorsicht und Sauberkeit der früheren Jahre war burschikose Nonchalance und unerträgliche Unsauberkeit getreten; er wiegte sich im Gehen nach rechts und nach links, warf sich in die Sessel, stürzte sich über den Tisch, rekelte sich, gähnte aus vollem Hals und benahm sich frech gegen die Tante und die Dienstboten. »Ich bin ein Künstler, ein freier Kosake! Man soll vor unsereinem Respekt haben!« Manchmal nahm er tagelang keinen Pinsel in die Hand; wenn ihn die sogenannte Begeisterung überkam, so benahm er sich wie ein Komödiant, schwerfällig, lärmend, ungeschickt, als hätte er am Tag vorher viel getrunken; eine grobe Röte legte sich auf seine Wangen, seine Augen stierten; er redete von seinem Talent, von seinen Fortschritten, wie er sich entwickle und vorwärtskomme . . . In Wirklichkeit stellte es sich aber heraus, daß seine Fähigkeiten gerade noch für halbwegs erträgliche kleine Porträts langten. Er war ein furchtbarer Ignorant und las nichts; was braucht auch ein Künstler zu lesen? Natur, Freiheit, Poesie – das sind seine Elemente. Schüttele nur ordentlich die Locken, sing wie eine Nachtigall und qualme Schukowschen Tabak! Schön ist die russische Schrankenlosigkeit, aber nicht allen steht sie zu Gesicht; talentlose PoleschajewsAlexander Poleschajew (1807-38), ein genialischer russischer Dichter von ungestümem Temperament; (Anm. d. Ü.) zweiter Güte sind aber unerträglich. Andrej Iwanowitsch setzte sich bei seinem Tantchen dauerhaft fest, das Gratisbrot schmeckte ihm wohl gut. Den Gästen verursachte er tödliche Langeweile. Zuweilen setzte er sich ans Klavier (Tatjana Borissowna besaß sogar ein Klavier) und versuchte mit einem Finger die Melodie der Troika zu finden; er griff Akkorde und klopfte auf die Tasten; stundenlang heulte er zur Qual seiner Zuhörer die Lieder Warlamows: Die einsame Fichte oder: Nein, Doktor, komm nicht mehr zu mir . . .; dabei schwammen ihm aber die Augen im Fett, und die Wangen glänzten wie ein Trommelfell . . . Oder er brüllte plötzlich auf: »Schweig, meines Herzens Leidenschaft . . .« Tatjana Borissowna fuhr zusammen.
»Es ist doch merkwürdig«, sagte sie mir einmal, »was man heute für Lieder dichtet – so furchtbar wild sind sie! Zu meiner Zeit dichtete man anders, es waren auch traurige dabei und doch war es angenehm, sie zu hören . . . Zum Beispiel:
O komm zu mir, Geliebter mein,
vergebens ist mein Sehnen;
O komm zu mir, Geliebter mein,
es fließen meine Tränen . . .
Doch wenn du kommst, Geliebter mein,
dann wird es wohl zu späte sein!«
Tatjana Borissowna lächelte schelmisch.
»Ich la-aide, ich la-aide!« heulte im Nebenzimmer der Neffe.
»Hör doch schon auf, Andrjuscha!«
»Mein Herz verschmachtet vor Sehnsucht!« fuhr der unermüdliche Sänger fort.
Tatjana Borissowna schüttelte den Kopf.
»Ach, diese Künstler!«
Es ist seitdem ein Jahr vergangen. Bjelowsorow wohnt noch immer bei seinem Tantchen und redet immer von seiner Absicht, nach Petersburg zu gehen. Auf dem Lande ist er noch dicker geworden. Die Tante, wer sollte es glauben, vergöttert ihn, und die Mädchen in der Nachbarschaft verlieben sich in ihn . . .
Viele von den früheren Bekannten haben aufgehört, Tatjana Borissowna zu besuchen.