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Ein Mann der Pyrenäen aus Luz, sagt zu einem Freund: »Sehen Sie – hier hat sich alles verändert! Die Sache ist hier ruiniert, es ist aus! Seit man vor zweiundvierzig Jahren die großen Landstraßen ins Gebirge gelegt hat...« Der Satz, im Jahre 1788 gesprochen, ist alt wie die Welt. Der Mann beklagte, was Henri Béraldi in seinem Werk »Hundert Jahre in den Pyrenäen«: »La Vulgarisation« nennt – und dies Lamento reißt nicht ab. Seit den Eisenbahnen ... Seit der Erfindung des Autos... jede Generation glaubt, nun sei es mit der Gemütlichkeit und mit der Naturbewunderung für allemal vorbei.
Das macht, sie fühlt den endlosen Wechsel, in dem die jungen Leute die Natur anders sehen als ihre Väter, und die tun nun so, als verständen die Jungen von der Welt überhaupt nichts mehr. »Da bin ich seinerzeit gewesen, als es noch keine Zahnradbahn gab...« Na und –? Dann hast du eben einen andern Eindruck gehabt als wir – keinen bessern.
Man kann wohl nicht aus seiner Zeit heraushüpfen, und so sind denn die Menschen meisthin felsenfest davon überzeugt, daß man die Natur immer so angesehen habe, wie sie es tun, daß man sie auch gar nicht anders ansehen könne, und daß der ein verstockter Tropf oder Modegeck sei, der es auf eine andre Art versuche. Die Erde hält gutwillig still, wenn die Reisenden über sie dahinklettern, und es ist ihr gleichgültig, wie man sie anschaut. Schilderungen sind nur für den Schilderer charakteristisch.
Wie lange ist es her, daß den Menschen die Augen für die Schönheit des Meeres aufgegangen sind –? Wie lange werden sie das Meer noch so ansingen –?
Die Liebe zu den Bergen ist jedenfalls noch gar nicht alt.
Die Griechen waren Leute, die die Ebene brauchten und das Gebirge mieden – eine ästhetische Wertschätzung der Berge findet sich bei ihnen nicht. Die Lateiner liebten das Gebirge kaum – aber sie besiegten es, weil sie es besiegen mußten. Das junge Christentum hat seine Einsiedler in die Berge geschickt, und die Berge, das war: Einsamkeit, Stille, etwas Negatives. Schüchtern näherte sich der Pilger der wundertätigen Quelle im Gebirge – die Berge ringsherum waren ihm nicht freundlich gesinnt, sie drohten. Er betete gegen sie.
In der Renaissance wurde das Gebirge entdeckt: die Schweizer, berggewohnt, im Gebirge geboren, erzogen, gealtert, begannen die seltsame Mär in die Welt zu setzen, daß Berge schön seien. Conrad Gesner (nicht Salomon, der Idylliker) stand erst ganz allein auf den Bergkuppen und rief die andern herbei, die wohl oft ein Gebirge durchquert, es aber niemals angesehen hatten, wie man eine Statue ansieht. Das sechzehnte Jahrhundert rühmte die hohen Berge, und liebte sie zum mindesten platonisch. Das siebzehnte durchaus nicht. Der sauber gezirkelte Naturgeschmack, der die Natur rational zu überwinden trachtete, der die Bäume in Formen preßte und den Erdboden in ein künstliches System, jener Geschmack, der dem Wilden abhold war, verachtete das Gebirge. »Das ist etwas für Bergbewohner!«: äußerste Kritik. Die Berge störten das geregelte Landschaftsbild der Ebene, die man so schön aufteilen konnte – über die Höhen und Felsen fiel die Literatur fast einstimmig her. Die reichen Leute ließen sich ihre Schlösser da anlegen, wo die Mode die schönsten Plätze fixierte: also in der Ebene, im langweiligsten Plattland, nur nicht im Hochland. Aus dem Garten konnte man etwas »machen«, die Berge ließen sich das nicht gefallen. Und es war doch der Mensch, der die Natur zu beherrschen hatte! »Von der gesunden Luft zu Rostock«, heißt eine Dissertation, die noch aus diesen Anschauungen heraus im Jahre 1705 gedruckt worden ist, und es war durchaus kein Konkurrenzneid, wenn es dort von der Gebirgsluft in der Schweiz und in Tirol hieß, sie mache die Menschen schwachsinnig. Die Berge... das war eine grobe Sache, pfui. Sie fügten sich in kein ästhetisches System ein, unübersichtlich und frech lagen sie da, roh, unbehauen – da war keine Klarheit und keine Vernunft. Das achtzehnte machte alles wieder gut.
Seitdem sind viele Theorien des Schönen über das Gebirge gegangen; hier sind schon so viel Melodien gesungen worden, aber Bewunderung war doch immer der Unterton. Das Romantische, das Malerische, das Sentimentale, das Heroische, das Idyllische – so viel Bilder, so viel Hymnen, so viel Beschreibungen, so viel Verzückte.
Und nun stellt sich vor diese Dekoration, deren Soffitten man so oft ausgewechselt hat, ein Kerl mit einem kräftigen Stock, mit benagelten Stiefeln, mit wolligem Sweater und treibt Sport! und das ist etwas ganz Neues. Mühen um ihrer selbst willen zu unternehmen; heraufzuklettern, nicht, um oben ein Liedchen zu singen, sondern nur und lediglich, um zu klettern; Kampf, Niederlage, Wiederanstrengung und Sieg –: das ist das neunzehnte Jahrhundert. Die Zeit der Ideen für die Wandrer scheint bis auf weiteres vorüber – es ist die Zeit der Tat.
Weil aber trotzdem der Wandervogel im Rucksack gern den gesamten Kosmos mit sich trägt, ist es vielleicht nicht unbescheiden, daran zu erinnern, daß auch der Wandrer nicht verpflichtet ist, so und nicht anders zu fühlen, wenn er eine sanfte, von der Sonne beschienene Böschung sieht. Da ist vor allem jener fatale Gegensatz von Automann und Fußwandrer. Einer lacht den andern aus, und sie sagen sich gegenseitig nach, daß man »so« natürlich nichts von einem Lande habe. Ich glaube: beide haben Unrecht. Es ist da etwas wie eine Breite der Bewegung in die Reisen gekommen, und das geht auf Kosten der alten Intensität – schafft aber ein völlig neues Lebensgefühl. Ich habe das einmal vor Bourg-Madame, an der spanischen Grenze, zu spüren bekommen: das eine Mal polterte ein Überlandauto mit mir die große Straße herunter, und das zweite Mal bin ich gegangen. Es waren zwei Alleen.
Die grünen Blätter, die einem entgegengeweht kommen, streifende Zweige, das unermüdliche Brummen des Wagens, der Takt des Motors, der Blick, der schon aus Langerweile weit in die Landschaft hineinsieht, den Horizont absucht, und die Felder, die sich fächerartig vorbeidrehen, – keine Einzelheiten! viel, wenn möglich alles –: das ist das eine. Und die Erde unter den Füßen fühlen, ein Steinchen mit der Fußspitze beiseite schleudern, ein Blatt im Gehen abreißen, stehenbleiben und sehen, was denn da im Bach herumkreiselt, aus dem Bach trinken, an die Häuser herangehen und sie mit den Händen befassen: kennst du diesen Stein? – nicht so sehr die Weite kontrollieren als genau die kleine Umwelt –: das ist das andere. Müßt ihr immer Vereine bilden –?
Natürlich sieht der Fußwandrer quantitativ weniger. »Die Landschaft im Auto – das ist das, was man sieht, wenn man den Wagen aus dringlichen Gründen halten läßt.« Nun, dies Wort wäre auch sehr hübsch, wenns wahr wäre. (Da haben sie einmal einen Berliner Generaldirektor vom Film fotografiert, durch zwei Büsche hindurch, grade, als er das Auto aus diesen Gründen hatte halten lassen. Ich habe das Bildchen gesehen, und es ist eines der schönsten menschlichen Dokumente, das sich denken läßt. Endlich, endlich einmal die Fotografie eines, der mit sich allein ist! Die Ansicht ist durchaus dezent – das war Zufall – der Generaldirektor saß im Grünen wie ein Osterhase und machte so ein Gesicht... »Ich freue mich, daß ich hier sitze, und übrigens ist es ein gedeihliches Werk.«) Aber ich denke: man sieht doch vom Auto mehr als nur dies.
Die Poesie des Wanderns...! Vielleicht kommt es eines Tages dazu, daß die nachtdunkeln Felder, Wälder, Berge und Täler von Zentralflammen beleuchtet sind, daß man in ihnen sich bewegt wie auf dem Broadway, und daß kein Mensch mehr auf den Gedanken verfällt, darin zu wandern – so wie man ja auch in einer großen Stadt und auf den Chausseen nicht gern marschiert. Wozu auch? Die Fahrt ist nicht nur bequemer, sondern gibt erst den wahren Reiz der künstlichen Landschaft.
Was nun die schwellenden Schilderungen der Sonnenuntergänge betrifft, der Wassersturzbäche und des Felsengerölls, so habe ich immer das Empfinden, als langweilte man sich dabei rechtens zu Tode. Ich wenigstens überschlage solche Absätze in einem Buch stets, und es muß wohl schon ein sehr großer Stilist sein – wie etwa Stifter – der eine Landschaft nicht abmalt, sondern neu schafft. Heute, aus unsrer Autozeit heraus... Drei Viertel aller Naturbeschreibungen sind auf Vergleichen aufgebaut, und ich habe es wirklich satt, zu hören, daß die Mondscheibe wie eine... und der feine Sprühregen wie ein... anzusehen war. Vergleiche sind meistens Ausflüchte, und für den, der nicht dabei war, sagt das Ganze sowieso nicht viel. Dazu kommt noch ein andres.
Welcher Reisende hat denn den Mut zu sagen, was ja so oft die Wahrheit ist:
daß die Landschaft leer war, leer wie eine aufgemalte einfarbige Fläche –!
Man sagte ihm Empfindungslosigkeit nach, befürchtet er, Stumpfheit, Mangel an Poesie, an Gefühl, an Frömmigkeit, was weiß ich. Aber es war doch so.
Sieht man von Spezialanschauungen ab: von dem geübten Blick eines Ski-Fahrers, der keine Natur, sondern Gelände sieht, vom harten Auge des Bauern, der keine Natur, sondern Nutzland sieht, vom MG-Schützen, der keine Natur, sondern Schußfeld sieht – es ist ja in den allermeisten Fällen nicht wahr, daß der Reisende, frisch aus der Eisenbahn, mehr zustande bringt als eine Dreiminutenverzückung, die etwa auf demselben Niveau liegt wie die bunten Glasscheiben, die man auf altmodischen Aussichtstürmen antrifft und die dem Abgestumpften die Natur wenigstens einigermaßen erträglich machen sollen. »Die Natur ist niemals leer.« Sie haben noch eine Linse im Bart, Herr. Wer dreißig Jahre Asphalt tritt, wer in Steinmauern aufwächst und fast das ganze Jahr nichts andres sieht, für wen es keine Dämmerung gibt, sondern nur dunkel wird, wer nicht angeben kann, was am vorigen Montag für Wetter war – für den ist die Natur nicht leicht zu erobern. Wenn er sich nichts vormacht, bedeutet sie: gute Luft, Ruhe, Ausspannung – keine Großstadt. Lade das große Publikum, und besonders seine Beauftragten, die Literatur- Lieferanten, um zwei Uhr aus dem Auto –: und um drei Viertel drei hast du einen Hymnus am Busen der Natur, daß dir angst und bange wird. Wir wollen ehrlich sein –: wir haben uns schon oft im Freien gelangweilt.
Und daher kann ich auch nicht solche Beschreibungen von den Pyrenäen geben, in denen es nur so braust von ungewöhnlichen Adjektiven – denn ich habe das nicht empfunden. Die Höhepunkte lagen auf dieser Reise, wie bei allen Menschen, die unter denselben Lebensbedingungen aufgewachsen sind wie ich, sehr oft in kleinen Nebenumständen, im Wohlbefinden an einem sonnenbeglänzten Nachmittag, in dem Geschrei von Gänsen, das sich anhört, wie wenn sie sich selbst ironisch nachahmten, in dem Drum und Dran von ländlicher Arbeit, die ich nicht mitzutun gezwungen war, deren Anblick mir also für die erste Zeit Vergnügen bereitete, in der Freude, in den Bergen zu sein, wo keine Elektrischen fahren, keine Zeitungsausrufer brüllen, keine Schutzleute stehn. Und manchmal – drei-, vier-, fünfmal –: mehr.
Sind die Amerikaner nicht ehrlicher –? Ihre Stumpfheit, die mich genau so reizt wie jeden andern Europäer – – Aber sie heucheln wenigstens keine innre Anteilnahme. Sie stören ein bißchen, genau wie die Engländer, die wie ein albernes Reklameschild die Landschaft verschandeln. Vor hundert Jahren hat sich George Sand über sie gegiftet und gefragt: »Wozu reisen diese Leute eigentlich –?« Das ist ihre Sache.
Es gibt keine richtige Art, die Natur zu sehen. Es gibt hundert. Es gibt für einen Menschen keine richtige Art zu reisen – es gibt manche, die ihm adäquater sind als andere. Das ist alles.
Wind, der ins Gesicht schlägt, Rausch der Schnelligkeit, die Hupe, die die Straße zerteilt, durch einen Wagenpark hindurchschießen – auch dies ist Reisen.
Auf einem Esel sitzen, Stufe für Stufe einen Berg heraufwackeln, das nasse Fell des Tiers mitleidsvoll von oben ansehn (aber nicht absteigen), Blumen am Wege betrachten und zwei Ohren, die sich ab und zu hochstellen und nach hinten legen, wenn etwas Außergewöhnliches herankommt, langsam die Gegend passieren, ohne sich anzustrengen –: auch dies ist Reisen.
Wandern, sich abmühen, klettern, rutschen, klimmen, herausholen, was in einem Körper drinsteckt –: auch dies ist Reisen.
»Jeder versteht nur seine eigene Poesie.« Jede Zeit versteht nur ihre eigene Naturauffassung. Der ist reich, der viele hat.