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Geographie hatten wir beim roten Gierke. Der Mann war ein Lehrbeamter mit vielen kleinen Äderchen im Gesicht, die ihm ein kupferrotes Aussehen gaben; wegen seines Spitznamens hatte er sich anstandshalber einen roten Bart umgebunden. Er mochte uns nicht, und wir mochten ihn nicht. Er galt für falsch und rachsüchtig, Klassenurteile sind immer richtig – es wird schon gestimmt haben.
»Hast du Geographie gemacht?« –
»Ich habe keine Ahnung!« –
Wovon sollte ich auch eine Ahnung haben? Das kümmerliche Geographiebuch verzeichnete ein paar Namen und stotterte in holprigem Deutsch etwas von »Bodenbeschaffenheit« und »Sardinenhandel«, der Rote hatte dazu mit einem Rohrstock an der Karte entlanggestrichen, und die Klasse hatte korrekt geschlafen.
»Wir kommen nunmehr zu den Pyrenäen«, sagte der Rote. Ich weiß nicht, ob er heute noch dazu kommt – aber bis auf das schöne Wort »Maladetta«, was kein Fluch, sondern ein Berg ist, habe ich nichts behalten. Es ist alles wie ausgelöscht. Das gute Schulgeld –! Die schöne verlorne Zeit –!
»Pyrenäen« – das war so eine rostbraune Sache auf der sonst grünen und schwarzen Karte, darin standen ein paar Bergkleckse, rechts und links gefiel sich die Karte in Blau, das war das Meer ... Ja, und sie trennten Spanien und Frankreich. Auch mußte man jedesmal ein kleines bißchen nachdenken, bevor man den Namen schrieb.
Dies waren die wissenschaftlichen Kenntnisse, die mir die deutsche Schule in bezug auf die Pyrenäen mitgegeben hatte.
Aber der Rote lehrte nicht nur Geographie, sondern auch Geschichte, und da ging es wesentlich muntrer her. Es war eine Mordsgeschichte, in der es nichts wie Schlachten, Fürsten und Staaten gab. Was ein Staat war, hatte er uns nie erklärt, aber das Leben holte das rasch ein. Wenn man zum Beispiel in die Pyrenäen fahren will, braucht man einen Paß.
Die europäischen Staaten fordern zur Zeit noch Eintrittsgeld, und das kann ihnen niemand verdenken. Autorität übt man am besten dem Schwachen gegenüber aus – dem, der keinen Fußtritt zurückgibt, wenn der armselige verschuldete Popanz die Fahne hebt ... Bauern, die für ihren ganzen Besitz soviel Steuern bezahlen wie ein Schreibmaschinenfräulein, Aktiengesellschaften, die, wenn es ans Zahlen geht, nur mit ihrer französischen Bezeichnung »Sociétés Anonymes« auftreten ... das arme Luder muß sich doch einmal, ein einziges Mal fühlen! Der Ausländer ist eine schöne Gelegenheit.
Über die Kuppen und Grate der Pyrenäen hinweg läuft jene kleine gekreuzelte Linie: die Grenze. Der Fall lag wunderschön kompliziert; ich wohne in Paris, und es waren drei Mächte zu bemühen: Deutschland, Frankreich und Spanien. Ich bemühte sie.
Es kostete: vier Arbeitstage sowie zweihundertachtunddreißig Francs. Die Sache spielte sich in Liebe und Freundschaft ab: niemand benahm sich irrsinniger, als seine Vorschrift ihm das vorschrieb, es wurden nicht Kniebeugen noch Freiübungen verlangt, auch vom Einzelvorbeimarsch wurde allgemein abgesehen. Regiert wurde ich bei den Deutschen von einem sehr wohlschmeckenden großen Mädchen, bei den Franzosen von einem höflichen, staubigen Mann, bei den Spaniern von einem Botschaftssekretär und zwei dunkelgetönten Konsularbeamten. Jeder stempelte, trug in Bücher ein, schrieb und fertigte aus, ließ von unbekannten Mächten, die hinter geschlossenen Türen thronten, unterschreiben – –
Das Ministerium des Innern ordnet an, das Ministerium des Äußern mischt sich ein, die Grenzüberwachung weiß von allen beiden nichts und macht ihre Dummheiten selbständig.
So, genau so, war einst die Herrschaft der Kirche.
Ein Mann ohne Beichtzettel war ein verlorner Mann, ein ausgestoßner Mann, eine unmögliche Erscheinung, ein Auswurf. Der Geist war von Jugend an in das Eisenkorsett des Glaubens eingezwängt worden, so daß er gar nicht anders denken konnte. »Hat er den richtigen Glauben?« Allenfalls verstand man noch, daß er den falschen hatte aber gar keinen? Davor bekreuzigte der Gläubige erst sich und verbrannte dann den andern.
Und die Hexenrichter waren keine schwarzen schleichenden Schufte, wie der aufgeklärte Liberalismus sie so oft abgebildet hat – es waren anständige reputierliche Leute, mit einem ordentlichen Studium hinter sich, einem festen Pflichtenkreis um sich, einer geachteten Laufbahn vor sich ... Trommelten die Trommeln, brodelte das Volk auf den großen Plätzen, surrten die Gebete der Mönche um die Verurteilten? sie sahen das mit ruhigen Augen an. Die Feuer brannten, die Schreie stiegen zum Himmel auf, wie hätte das anders sein können? Das mußte so sein.
Es mußte so sein, weil das mittelalterliche Europa an einer Sache hing, die es von Natur aus nicht gab, sondern die sich der Mensch erst gemacht hatte: an der Kirche. Wer hing am Kreuz? Der Gläubige selbst: röchelnd, mit herausgequollnen Augen, in seiner Bewegung gehemmt, an die Hölzer gebunden, glücklich, gestützt, nicht allein – so hing er da.
Und steht heute auf, sieht das Kreuz mit langem Blick an, schüttelt sich und geht –?
Er ist von einem Kreuz zu einem andern gelaufen.
Er stiert auf die Fahnen wie ein Huhn, das man mit der Nase vor den Kreidestrich gehalten hat, unbeweglichen Auges, er sieht nur das. Hat er die richtige Staatsangehörigkeit? Allenfalls versteht man noch, daß er die falsche hat, aber gar keine –? Davor schrickt der Polizeimann zurück und jagt den andern davon.
Und sie sind so stolz auf ihre Beichtzettel!
Von den Reichen beachtet und benutzt, von den Angestellten als Krippe geliebt, tausendmal verkauft an die wahren Gewalten der Erde, deren Grenzen ganz, ganz anders laufen als es die Geographiebücher angeben, machtlos, wo wahre Macht ihm gegenübersteht: so bläst sich der Staat auf und hat das scheußlichste getan, das es gibt, dem praktischen Zweck eine sittliche Idee anzukleistern.
Offen zugebend, daß die Bergpredigt für ihn nicht gelte, daß die vom Individuum geforderte Moral für ihn nicht gelte, daß die einfachsten, altruistischen Gebote für ihn nicht gelten, will er Gott verdrängen und sich an seine Stelle setzen. Und glückt das nicht, so stellt er sich hinter das noch aufrechte Kruzifix, und der Betende weiß nicht, vor wem er kniet. Drücke die Schwachen – aber schwenke die Fahnen! Bestrafe die Kranken – aber liebe den Präsidentensitz! Schände die Heimat – aber achte den Staat! Und keiner, keiner ist ohne Beichtzettel.
Gibt es keinen? Gibt es denn nicht wenigstens ein paar Tausend in Europa, die unberührt davon bleiben, wenn sich die Unteroffiziere ihrer Länder in die fettigen Haare geraten? Muß uns das berühren, daß die Stahlindustrie des einen Landes die Kohlen des andern braucht? Daß man dafür Kriegslieder geheult, Menschen geblendet, Tiere zerrissen, Häuser zerknallt, Gebete gebetet, bekannte Soldaten geprügelt und unbekannte Soldaten beerdigt, Generale sauber rasiert und Arbeiter mit Artillerie beschossen hat – muß uns der Fibelvorwand berühren? Geht uns der fingierte Grund etwas an? »Über die Köpfe hinweg, Bruder, reich mir die Hand –!« Ich will keinen Beichtzettel haben, ich will nicht zur Beichte gehen, ich will nicht.
François, Gaston, René – ich liebe euch, nicht obgleich ihr Franzosen seid; ich liebe euch, nicht weil ihr Franzosen seid – ich liebe euch, weil ihr François, Gaston, René seid. Mich interessiert es nicht, zu wissen, an wen ihr eure Steuern zahlt, wer bei euch an den Denkmälern die Reden im Gehrock hält, wer an euren Straßenecken den Verkehr behindert ...
Die Feuerwehr ist ein nützliches Instrument im Leben der Gesellschaft. Ich bete nicht zur Feuerwehr. Und da habe ich nun meinen Beichtzettel.
Ich sehe die blauen und roten Stempel an, blättre voller Bewunderung in unlesbaren Unterschriften und vielsprachigen Tintenklecksen, falte fromm die Hände ...
Dann stecke ich den Paß in die hintere Gesäßtasche und begebe mich auf die Reise in die Pyrenäen.