Kurt Tucholsky
Panter, Tiger und andere
Kurt Tucholsky

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Französischer Witz

I

Der Sommer hat auf die französischen Bahnhofskioske einen Hagel von Anekdotenbüchern herunterprasseln lassen: Neuauflagen, Neuerscheinungen... Als da sind: »T. S. V. P.« von Bienstock und Curnonsky (Crès, 21 rue Hautefeuille, Paris). Von denselben Autoren im selben Verlag »Le Wagon des Fumeurs«. – »Joyeuses Anecdotes« von Max Frantel (Editions Montaigne, Impasse de Conti 2, Paris VI). »Histoires Marseillaises« gesammelt von Edouard Ramond (Les Editions de France, 20 Avenue Rapp, Paris). Im selben Verlag »Histoires Gasconnes« gesammelt von Edouard Dulac. – »Histoires de Vacances« gesammelt von Leon Treich (Librairie Gallimard, 3 rue de Grenelle, Paris VI) – uff!

Der Titel des ersten Buches »T. S. V. P.« ist gleichlautend mit der Inschrift an manchen Türknöpfen, an denen keine Klinken befestigt sind, und sie heißt ausgeschrieben: »Tournez, s'il vous plaît!« Nun, da laßt uns einmal an diesem Knopf drehn.

Der französische Witz und die französischen Witze sind nicht immer gleichbedeutend. Er ist stärker als sie, denn der Witz im Bühnendialog, in der Salonunterhaltung, in dem »mot«, das selbst der kleine Mann häufig blitzschnell und mit der äußersten Schlagfertigkeit in den Straßenlärm wirft, dieser Witz wird nicht immer in Witzen aufgefangen.

Daher denn auch die französischen Witzblätter nicht grade zwerchfellerschütternd sind: das Niveau der eingegangenen »Assiette au Beurre« ist bisher nie wieder erreicht worden, und man muß sich schon aus einem ganzen Wust von Scherzen die guten herauspicken. Das bezieht sich auf »Le Rire«, auf »Canard Enchaîne«, auf »Le Merle Blanc«, unterschiedlich an Wert, ungleich.

Die vorhin zitierten Sammlungen sind bedeutend besser, besonders »T. S. V. P.« und »Le Wagon des Fumeurs«. Wie sehn nun die französischen Witze von heute aus?

Zunächst muß man oft genug den Hut abnehmen, weil da so viel alte Bekannte vorüberziehn. Für den noch stattlichen Rest ergibt sich für den fremden Leser das Hemmnis, daß er die sachlichen Voraussetzungen des Witzes nicht in Fleisch und Blut hat.

Ein Witz, den man erst erklären muß, ist keiner mehr, und es genügt auch nicht, jene Voraussetzungen zu wissen – man muß sie fühlen.

Das Spezifische des französischen Witzes sind seine Leichtigkeit, seine Delikatesse, seine Eleganz. Da schreibt etwa der zurückgetretene Minister an den Staatssekretär des Post- und Telegraphenwesens eine Stunde nach seinem Sturz: »Sehr verehrter Herr Kollege! Ich weiß nicht, ob Sie sich meiner noch erinnern ...« Die Handbewegung, mit der eine Formulierung herausgebracht wird, ist ganz locker. Es wird von den Schrecknissen des Krieges gesprochen. Darauf sagt ein Diplomat vom Quai d'Orsay: »Der Krieg? Ich kann das nicht so schrecklich finden! Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe. Hunderttausend Tote: das ist eine Statistik!« Die Sprache der Diplomaten ist eben die französische, und die Definition des Berufes heißt so: »Ein Diplomat, mein liebes Kind, ist ein Mann, der das Geburtsdatum einer Frau kennt und ihr Alter vergessen hat!« Und so klingt in dieser Sprache vieles leiser und zarter als anderswo. Eine alte Dame empfängt den Besuch eines ihrer Freunde, der die vier Treppen zu ihrer Wohnung mit Mühe und Not heraufklettert. Noch pustend sagt er bei der Begrüßung: »Vier Treppen sind keine Kleinigkeit, gnädige Frau!« – »Lieber Freund«, sagt die Dame, »das ist das einzige Mittel, das ich noch habe, um bei den Männern Herzklopfen hervorzurufen!«

Diese Sprache hat die feinsten Zahnräder, mit denen sie alles ergreift, was ihr zu nahe kommt. Albumeintragung von Jean Cocteau:

»Italiener und Deutsche lieben es, wenn Musik gemacht wird. Die Franzosen haben nichts dagegen.«

Und selbst der leichte Tadel bekommt eine liebenswürdige Melodie, wenn er so ausgesprochen wird, wie es jener Curé tat, der am Weihbecken seiner Kirche eine bis zur Grenze der Unmöglichkeit dekolletierte Dame antraf. »Wenn Sie nur zwei Finger hineintauchen wollen, gnädige Frau«, sagte er, »hätten Sie sich nicht auszuziehen brauchen!«

Selbst, wenn der Witz etwas delikat wird, bleibt er doch in dieser Form erträglich. Der Schaffner zum Reisenden, der aufgeregt auf der kleinen Station herumläuft: »Suchen Sie das Restaurant?« – »Nein, im Gegenteil«, sagt der Reisende.

Wie konzis diese Sprache manchmal eine verworrene Situation erhellt, zeige dieses Beispiel: Gespräch durch die Tür. Die Männerstimme: »Ist Herr Paul da?« Die Frauenstimme von drinnen: »Nein, er ist nicht da. Sie können nicht hereinkommen, ich liege im Bett.« Die Männerstimme: »Das schadet doch nichts; machen Sie doch ein bißchen auf.« Die Frauenstimme: »Aber das geht nicht – es ist schon jemand bei mir!«

Es gibt unter diesen französischen Witzen natürlich viele, die überhaupt nicht zu übersetzen sind. So zum Beispiel der Ausspruch jener betagten Frau, der man Vorwürfe wegen der allzugroßen Einfachheit ihrer Toilette gemacht hat. »A mon âge on ne s'habille plus, on se couvre.« Oder jener bezaubernd schöne Ausspruch eines Marseiller Malers: »Quand on a mangé de l'ail (Knoblauch), il ne faut parier qu'à la troisième personne.«

Ich sprach vorhin von den vielen alten Bekannten, die man in diesen Anekdotensammlungen antrifft: »Der rechte Barbier« von Chamisso, der ja auch bei Hebel dem cholerischen Kunden um ein Barthaar den Hals abgeschnitten hätte, ist da, und es gibt nicht nur Volkswitze, die durch alle Literaturen wandern, sondern sogar eine scheinbar sprachlich so begrenzte Geschichte, wie die von der telephonierenden Dame, die das Wort Fackel buchstabiert: »F wie Fioline, A wie Ankpir, C wie zum Beispiel...« selbst zu dieser Geschichte finden wir die französische Analogie. Es handelt sich um das Hôtel de l'Ourcq. »Was für ein Hôtel?« – »L' Ourcq! L' Ourcq!

O comme Auguste
U comme Ugène (Eugen)
R comme Ernest
C comme Serge
et Q comme toi.«

Nun ist ja der französische Witz für die ganze Welt stofflich abgestempelt, und hier muß ich zu meinem großen Bedauern etwas bremsen, denn in dem Augenblick, wo man diese gewagten Scherze übersetzt, vergröbern sie sich meist unerträglich.

Eine kleine Geschichte aber habe ich gefunden, die ist auch auf Deutsch möglich. Frida, geh mal so lange raus!

Große Hochzeit in der Madeleine zu Paris. Vor der Kirchentür die übliche Schar der Gaffer: Midinettes, kleine Angestellte, Straßenjungen, Neugierige aller Art. Der Hochzeitszug!

Er: sehr feierlich, sehr ernst, in bestem, allerbestem, aber schon aller-allerbestem Alter, offenbar sehr reich.

Sie... allgemeines Ah! Eine entzückende kleine Brünette, sehr pikant, mit vollen Lippen, temperamentvoll, ein reizendes Kind. Der Zug hält einen Augenblick. Die Herrschaften werden photographiert. Als sich das Brautpaar wieder in Bewegung setzt, löst sich das Brautbukett und fällt auf den Teppich. Eine kleine Midinette, die das bemerkt hat, stürzt gefällig hinzu, hebt die Blumen auf und übergibt sie der jungen Braut. Dabei kann sie sich nicht verkneifen, ganz schnell und ganz leise zu flüstern: »So viel Klimbim habe ich bei meiner Premiere nicht gemacht ...« Die beiden sehen sich einen Augenblick an und sind einen Augenblick Kameradinnen. Dann flüstert die Braut zurück: »Ich auch nicht!«

Frida, du kannst wieder reinkommen. Nächstes Mal erzählt der Onkel weiter.

II

Die französischen Witze haben viel mehr feststehende Figuren als die unseren. Da ist in erster Linie der »cocu«.

Das Wort ist nicht zu übersetzen. »Hahnrei« ist ein Wort, für das selbst der alles wissende Doktor Wasserzieher in seinem »Ableitenden Wörterbuch der deutschen Sprache« keine Erklärung gibt und das ein gesunder Mensch wohl nur ausspricht, wenn man ihn fragt, was »cocu« auf deutsch heißt. Und »betrogener Ehemann« ist eine kriechende Schildkröte für einen Schwalbenflug. (Daß das Wort, der Begriff und die Witzfigur die außerordentlich bürgerlich veranlagte Französin gänzlich verzerrt wiedergeben, sei nur nebenbei erwähnt.)

Da ist ferner der Geistliche, ein unerschöpfliches Thema französischer Witze, und wie jeder weiß, der einmal in katholischen Ländern gelebt hat, ist der Witz, der auf Kosten des Geistlichen gemacht wird, nur ganz selten eine Verhöhnung der Kirche: der Witz bemächtigt sich eben einfach aller zum täglichen Leben gehörenden Personen. Zunächst ist es sehr häufig der Mann der Kirche, der in dem Witz obsiegt, so zum Beispiel in dem gesalzenen Wort des Monseigneur Duchesne über den Tango: »Dieser Tanz ist wirklich sehr reizend anzusehen, mais je me demande, pourquoi elle se danse debout« Manchmal geht es auch umgekehrt. Der Bischof hat Besuch vom Abt und bittet ihn zum Frühstück. »Nein, danke sehr.« – »Aber ich bitte Sie...« – »Monseigneur«, sagt der Abt, »erstens habe ich schon zweimal gefrühstückt, und zweitens ist heute Fasttag.« Dann gibt es auch im Französischen jene Scherze, in denen die verschiedenen Konfessionen sich necken. So in der Morgenunterhaltung eines Rabbiners und eines Curés im Schlafwagen. »Ich habe heute nacht«, sagt der Curé, »geträumt, ich sei im jüdischen Paradies. Ein Gestank! Und ein Schmutz! Und Lumpen in allen Ecken! Und ein Haufen Leute – entsetzlich!« – »Wie sich das trifft«, sagt der Rabbiner. »Ich habe heute nacht geträumt, ich sei im christlichen Paradies. Wunderschöne Düfte umflossen mich, überall Blumen, herrliche Bäume – und kein Mensch.«

Auch hat der französische Witz selbstverständlich seine Berufswitze. Unvermeidlich die Ärzte. Der Doktor Z. begegnet auf dem Pont des Arts einem seiner Patienten. Kurzes Gespräch. »Nun, wie gehts...?« – »Aber, lieber Freund«, sagt der Doktor, »Sie werden einen mächtigen Schnupfen bekommen; knöpfen Sie sich doch Ihren Mantel zu!« – »Da haben Sie eigentlich recht«, sagte der andre. »Na und sonst... Kennen Sie schon die Geschichte von dem ...« Sie plaudern noch eine Weile, der Doktor und sein Patient, dann gehn sie auseinander. Nach drei Tagen schickt der Doktor folgende Liquidation:

Eine Konsultation 20 Francs
Der Brückenpatient schickt auch eine:  
Herrn Doktor Z. einen Witz erzählt 20 Francs
Gewartet, bis er ihn verstanden hat 20 Francs
 
Summe 40 Francs
 
Davon gehen ab für die Konsultation 20 Francs
Meine Restforderung an Herrn Doktor Z. 20 Francs

Einen ganz großen Raum in Frankreich nimmt der regionale Witz ein, und da ist es vor allem der Süden, Marseille und die Gascogne, die den Haupttribut bezahlen. Wer Gelegenheit gehabt hat, den für deutsche Ohren schauerlichen »accent du midi«, den »assent«, einmal zu hören, der wird verstehn, daß aus dem französischen Sächseln eine Fülle von Komik herauszuholen ist. Kommt dazu, daß die Leute aus dem Süden für kolossale Aufschneider gelten und wohl auch tatsächlich im Überschwang ihres Temperaments ganz heitere Dinge von sich geben – die Kette dieser Geschichten reißt jedenfalls nie ab. Der Lokalton geht natürlich für uns verloren. »Vorigen Winter«, erzählt der Mann aus Marseille, der immer Marius oder Olive heißt, »hat es bei uns geschneit, und da ist mehr als ein Meter Schnee gefallen.« – »Ein Meter breit?« fragt jemand.

»Est-ce que tu vois la mouche au sommet de la Tour d'Eiffel?« fragt ein Gascogner einen Marseiller. »Non! Mais je l'entends!« erwidert der. Es ist viel Bauernschlauheit in diesen Geschichten.

Eine Pflanze, die gar nicht im Französischen gedeihen will, ist der jüdische Witz. Es gibt sie alle, es gibt eine »Collection d'Histoires Juives« im Verlag der Nouvelle Revue Française, sie fehlen in kaum einer Sammlung. Aber sie sind nicht nach Vorschrift zubereitet; so etwas wie das Jiddish im Englischen gibt es im Französischen nicht, und der elsässische Akzent, der übrigens in der jungen Generation vielfach schwindet, ist ein kümmerlicher Ersatz.

Aber die Franzosen brauchen keine Anleihen bei Fremden zu machen, sie haben eigne gute Witze genug. Ganz besonders drollig sind die Kindermünder. »Großpapa, kommen die Löwen in den Himmel?« – »Nein, mein Kind.« – »Großpapa, kommen die Curés in den Himmel?« – »Ja, natürlich, mein Kind.« – »Großpapa, wenn nun aber der Löwe einen Curé frißt...?«

Die folgende Geschichte hinwiederum muß man ins Berlinische übertragen, um ihre ganze Würze abzuschmecken. Da ist ein junger Rechtsanwalt, der seit vierzehn Tagen in seinem neuen Büro sitzt und auf seinen ersten Klienten wartet. Endlich, endlich klingelt es, das Mädchen öffnet. Der Rechtsanwalt hört eine Männerstimme und sagt zu dem Mädchen, ohne sie anzuhören: »Lassen Sie den Herrn warten!« Denn das ist er sich aus Prestigegründen schuldig. Nach zehn Minuten klingelt er, ergreift das Telephon, läßt den Besucher eintreten und sich in einer dringenden und hochwichtigen Unterhaltung überraschen. Er gestikuliert in den Hörer: »Selbstverständlich, Herr Oberregierungsrat! Das kann ich nicht versprechen, Herr Oberregierungsrat! Ich bin derartig beschäftigt... Unter neunhunderttausend Mark kann ich für meinen Klienten nicht abschließen! Gewiß. Also dann auf Wiedersehen, Herr Oberregierungsrat!« – »Was wünschen Sie?« sagt er dann zu dem Mann. Darauf der Besucher: »Ick komme wejen det Telephong. Det is kaputt«

Ganz französisch ist auch diese kleine Geschichte, in der die kleine sechsjährige Tochter einer Femme entretenue das Wort »demi-mondaine« aufschnappt und nun ihre Mama fragt: »Mama, wenn ich groß werde, darf ich dann auch demi-mondaine werden?« – »Ja«, sagt die Mama, »wenn du artig bist!«

Zahllos sind die Witze über den »Nepp« der Restaurants, allwelches Wort auf französisch »coup de fusil« heißt. In einem sehr eleganten Lokal in Vichy moniert ein Gast die Rechnung. »Sie haben mir da für Keks fünf Francs aufgeschrieben, ich habe aber gar keine gehabt!« – »Verzeihung!« sagt der Ober, »darf ich um die Rechnung bitten? Ich werde das gleich in Ordnung bringen.« Auf der verbesserten Rechnung steht: Keks vier Francs.

Etwas fehlt dem französischen Witz fast völlig. Das ist die exzentrische Überkugelung, wie wir sie in amerikanischen und irischen Witzen antreffen. Findet man in den Anekdotensammlungen dergleichen, so kann man darauf schwören, daß die Geschichte aus dem Englischen übersetzt ist.

So diese von dem weltberühmten Zwerg Tom Puce, der eines Tages in London zufällig im selben Hotel abgestiegen war wie der berühmte französische Sänger Lablache, ein Hüne von etwa zwei Meter Höhe. Da war nun eine neugierige londoner Dame, die wollte die kleine Weltattraktion einmal besichtigen, ließ sich im Hotel die Zimmernummer geben, irrte sich in der Tür und stand nun fassungslos vor diesem Gaurisankar. »Ich... ich wollte den Zwerg Tom Puce sehen!« – »Der bin ich, gnädige Frau!« – »Sie? Sie sind der Zwerg Tom Puce?« – »Nur im Theater, gnädige Frau; zu Hause mach ich es mir bequem!«

Ein Kind beider Welten, der französischen und der englischen, scheint dieses Zwiegespräch zu sein: Der Kontrolleur: »Sie haben ein Billet dritter Klasse, werte Dame, und hier ist erster Klasse!« – »Entschuldigen Sie«, sagt die Dame, »ich dachte, ich wäre in der zweiten.«

So. Nun sind da noch viele schöne Geschichten, die ich nicht erzählt habe, wegen Unpassendlichkeit derselben. Aber es dürfte nun genug sein. Und wenn ich durch diese Zeilen nur das Repertoire einiger Conferenciers bereichert habe, so fühle ich mich für meine gesamte Arbeit reichlich belohnt.

1925


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