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Kritiken und Feuilletons

(1868-1876)


Mozarts »Don Juan« (1871)

Jedes Erzeugnis der Kunst, so sehr es auch das allgemein künstlerische Niveau jener Zeit überragt, in welcher sein Schöpfer lebt, muß unvermeidlich den Stempel seiner Zeit tragen. Wie bedeutend und eigenartig die Begabung eines Künstlers auch sein mag, so kann er sich doch nicht von jenen charakteristischen, rein äußerlichen Eigentümlichkeiten der Form losmachen, die sich in der Folgezeit durch Mißbrauch von seiten geringerer Talente in bloße Routine verwandelt und endlich eine rein antiquarische Bedeutung gewinnt. Aus diesem Grunde ist es nicht verwunderlich, daß auch die in der höchsten künstlerischen Sphäre sich haltenden Schöpfungen des Genius in gewisser Hinsicht veralten. In den Werken eines Raphael, eines Shakespeare und Mozart finden sich, trotz aller Größe der Konzeption, solche rein äußerlichen Züge, welche allen Erzeugnissen ihrer Zeit anhaften und den Anforderungen des modernen Geschmacks nicht entsprechen; aber damit ist noch keineswegs erwiesen, daß der Zahn der Zeit auch das innerste Wesen solcher künstlerischen Erzeugnisse berührt hat, und deshalb ist z. B. Mozarts »Don Juan« trotz seiner achtzig Jahre, dank der unverwelklichen und unversiegbaren Kraft des Mozartschen Genius nur in rein technischer Hinsicht gealtert; wir hören diese Oper mit demselben Entzücken, das sie einst in den Herzen unserer Urgroßväter hervorgerufen hat. Mozarts Instrumentierung ist im Vergleich zu derjenigen von Berlioz z. B. natürlich recht dünn, seine Arien sind etwas gedehnt und geben bisweilen den Virtuosenlaunen der damaligen Sänger und Sängerinnen allzusehr nach, sein ganzer Stil erinnert an das gezierte und gespreizte Wesen der höfischen Sphäre seiner Zeit, aber dabei enthalten seine Opern, besonders der »Don Juan«, eine solche Fülle fesselnder, dramatischer Momente, sind seine Melodien so anmutig und seine Harmonien so reich und interessant, daß keine Generation ohne größten Nachteil eine derartige Schöpfung auf dem Repertoire wird missen können. Als Entschädigung für die nicht eben tiefen, langen Konzertarien seiner Opern bietet er in den Ensemblesätzen, in den Szenen voll dramatischer Bewegtheit eine lange Reihe unnachahmlicher Muster. Wie ergreifend sind z. B. die Szenen, in denen Donna Anna erscheint! Ihr herzzerreißendes Weinen und ihr Gram an der Leiche des gemordeten Vaters, ihr Entsetzen und ihr Rachedurst in der Szene, wo sie mit dem Urheber ihres Unglücks zusammentrifft, das alles ist von Mozart mit so ergreifender Wahrheit wiedergegeben, daß solche Szenen hinsichtlich der Tiefe des hervorgebrachten Eindrucks nur den besten Szenen der Shakespeareschen Tragödien zur Seite gestellt werden können. Zu den Glanzstellen der Oper gehört ferner das Finale des ersten Aktes, das Sextett im zweiten Akt (bemerkenswert durch den komischen Kontrast zwischen dem verkleideten Leporello und den übrigen Personen, die ihn für Don Juan halten); endlich Don Juans letzter Auftritt vor der Statue des Komturs. Zu welch einfachen, scheinbar schwachen Mitteln greift Mozart in dieser Szene, um das Entsetzen des unbußfertigen Wüstlings angesichts der schreckensvollen Erscheinung auszudrücken, und wie mächtig wirkt doch diese Szene auf die Zuhörer. Ein zeitgenössischer Komponist würde ein donnerartiges Getöse von Posaunen und Trompeten, Becken und Pauken auf das Publikum niederrauschen lassen; während Mozart einen unendlich größeren Effekt durch die einfachen Mittel seines Genius erreicht.


Beethovens »Eroica«

In dieser dritten seiner großen Symphonien enthüllte Beethoven zuerst die unermeßliche, wunderbare Kraft seines Schöpfergeistes, während er in seinen beiden ersten Symphonien noch nicht mehr als ein braver Nachfolger seiner Vorgänger Haydn und Mozart gewesen war. Im ersten Satze der »Eroica« erregte Beethoven das Erstaunen seiner Zeitgenossen durch die Neuheit der Form und die lakonische Kraft der musikalischen Grundidee, auf der er mittels großartiger polyphoner Kunst und bislang ungekannter Vollkommenheit der orchestralen Technik sein Kolossalwerk aufbaut. In der Tat dient als Grundthema des ersten Allegros nur eine kurze, aus vier Takten bestehende Fanfare, die in kaleidoskopischer, immer neuer Veränderung stets wiederkehrend diesen Hauptteil der Symphonie bildet. Hierauf folgt das Andante von düsterem, trauermarschartigem Charakter, aus dem wir die Wehklage über den Untergang jenes Helden heraushören, den Beethoven in der Widmung seiner Symphonie erwähnt. »Sinfonia compasta per festiggiare la memoria d'un grande uomo.«

Das feurige Scherzo voll phantastischer Episoden hat man auf sehr verschiedene Weise zu erklären versucht und ist in dem unschuldigen, aber unverständigen Bestreben, die unergründlichen Entwürfe Beethovenscher Phantasie in reale Bilder zu kleiden, soweit gegangen, z. B. zu erklären, Beethoven hätte in dem erwähnten Scherzo einen Angriff der Kavallerie auf feindliche Infanterie musikalisch ausdrücken wollen. Wie dem auch sei, jedenfalls bringt dieses Scherzo mit dem unerwarteten Einfall des Streichorchesters und den jauchzenden Fanfaren in der Mitte einen gewaltigen Eindruck hervor.

Die Symphonie schließt mit einem glänzenden, von Siegesjubel erfüllten Finale.


Beethovens »Fidelio«

Beethoven hat bekanntlich nur eine Oper geschrieben, der ein ziemlich dünner, bürgerlich sentimentaler Stoff zugrunde liegt. Die Musik ist hübsch, kann aber mit seinen Symphonien nicht verglichen werden und steht weit hinter den Opern Mozarts zurück. Wie konnte auch die mächtige Phantasie eines Beethoven an den sentimentalen Ergüssen Leonorens, an dem halbkomischen Benehmen des Gefängniswärters Rocco, dem Bösewichte von Gouverneur sich begeistern? Mit Ausnahme der Einleitung zum dritten Akt und der darauffolgenden Arie des gequälten Florestan, sowie des Duetts Fidelios und Roccos, die das Grab schaufeln, erreicht Beethovens Musik nirgends den hohen Flug, den man in seinen Symphonien oder Quartetten bewundert. Dafür ist er aber in den Ouvertüren zu »Fidelio« derselbe musikalische Stern erster Größe, als welchen ihn die ganze Welt nach seiner Kammermusik und seinen symphonischen Werken bewundert.

Beethoven hat vier Ouvertüren zu »Fidelio« geschrieben: eine in E-Dur, die gewöhnlich als Ouvertüre zur Oper gespielt wird, und drei in C-Dur, von denen die dritte die bedeutendste ist. Ich vermute, daß in Beethovens Erinnerung, als er diese Ouvertüre komponierte, das Bild Leonorens und Florestans verblaßt war, denn nach dem grandiosen Stil der Grundmotive, dem tragischen Pathos der Stimmung und der Größe der Form hat dieses wuchtige, symphonische Erzeugnis nichts gemein mit der rührenden, aber alltäglichen bürgerlichen Geschichte einer treuen Gattin. Auch die Introduktion der Ouvertüre mit ihrem düsteren, geheimnisvollen Charakter, das leidenschaftliche, stürmische Allegro, die traurige Klage, die von den Blasinstrumenten durchgeführt wird, das glänzende, feurige Stretto, das den Schluß der Ouvertüre bildet, passen nicht recht zu den Gestalten der Oper. Die Vollendung dieser Ouvertüre ist so groß, daß auch der unvorbereitete Zuhörer als einen vielleicht halb unbewußten, künstlerischen Genuß empfindet, was die ausführenden Künstler, hingerissen von der Schönheit der Musik, mit besonderem Eifer spielen.


Schumann als Symphoniker (1872)

Schumanns Symphonie Nr. 3, Es-Dur, gehört zur dritten Schaffensperiode dieses nach Beethoven bemerkenswertesten Symphonikers der deutschen Schule.

Die deutsche Kritik nennt diese Periode der Schumannschen Tätigkeit – eine Zeit des Verfalls seiner Schöpfungskraft, der durch den unruhigen Zustand seiner Seele erklärlich ist, bekanntlich mit völliger Geistesumnachtung endete und ihn zuerst ins Irrenhaus und dann ins Grab brachte. Aber auch in dieser Periode seiner schöpferischen Tätigkeit, sagen die deutschen Kritiker, hat Schumann einige ausgezeichnete Werke geschaffen, zu denen die Musik zu Byrons »Manfred« gehört, eine mächtige, tief durchdachte Tondichtung, deren Ouvertüre zu den großartigsten Schöpfungen seit Beethoven zählt.

Im ganzen indessen unterliegt die Abnahme seines Talents in diesem Zeitabschnitt keinem Zweifel. Schumanns Größe beruht einerseits im Reichtum seiner Empfindungsfähigkeit, andererseits in der Tiefe der von ihm ausgedrückten Seelenstimmungen und in seiner scharf ausgedrückten Individualität. Was den äußeren Ausdruck dieser Stimmungen anbetrifft, so ließ sie immer viel zu wünschen übrig. Vielleicht ist es Schumann nur in seinen besten Momenten gelungen, plastische Klarheit zu erreichen. Der Rückschritt Schumanns in seiner letzten künstlerischen Tätigkeit äußert sich darin, daß bei der unbestreitbaren und ungeschwächten Kraft und Macht des Inhalts die äußerlichen Formmängel immer bemerkbarer wurden.

In der Tat fallen Schumanns beste Kompositionen, die am meisten pathetischen Ergüsse seines mächtigen Schöpfergeistes, bedeutend ab durch jene unbegreifliche Nichtübereinstimmung des ausgezeichneten Inhalts mit der Plumpheit der orchestralen und vokalen Technik, was besonders in den Werken der letzten Periode bemerkbar ist, zu denen die obengenannte dritte Symphonie gehört. Schon von den Vorboten seiner Geisteskrankheit betroffen, scheint der große Künstler jene Momente ruhig objektiver Beziehung zu seinen Werken nicht mehr finden zu können, die ihm ermöglicht hätte, die nötige Aufmerksamkeit auf die formellen Bedingungen ästhetischer Schönheit zu wenden, ohne deren Beobachtung kein Kunsterzeugnis den Grad der Vollendung erreichen kann. Die quälende Fülle von Stimmungen verlangt einen Ausweg und der Künstler, der noch nicht völlig mit den unvermeidlichen technischen Formalitäten eines Werkes fertig geworden ist, eilt, schon ein neues zu beginnen, ohne dem ersten Drange seiner Begeisterung Zeit gelassen zu haben, sich zu äußern. In den letzten Jahren seines Lebens arbeitete Schumann unermüdlich, als ob er fürchtete, daß die herannahende Katastrophe das Halbgesagte, daß er so gern noch in Tönen ausdrücken wollte, unterbrechen würde! ...

Besonders die Instrumentierung gelang Schumann nicht. Er verstand nicht, aus dem Orchester jene gegensätzlichen Wirkungen von Licht und Schatten, jene Reihenfolge abgesonderter Gruppen herauszulocken, in deren durchdachter Vermischung die Kunst der Instrumentierung besteht. Die Farblosigkeit und plumpe Dichtheit seiner Tongebung schwächt nicht nur in vielen Fällen den Eindruck großer Schönheiten in seinen symphonischen Werken ab, sondern raubt zuweilen, besonders den wenig entwickelten und nicht durch vorhergehendes Studium vorbereiteten Zuhörern jede Möglichkeit, diese Schönheiten zu würdigen. Ich weise z. B. auf den ersten Teil der obengenannten Symphonie hin, wo das Pathos der Begeisterung, die unerreichbare Schönheit der melodischen und harmonischen Seite der Komposition vom Publikum immer unverstanden bleiben, infolge der farblosen Massigkeit der Orchestrierung, die in aufdringlicher Weise die Gehörnerven des Zuhörers reizt. Der zweite Teil der Symphonie, im Menuettrhythmus, mit der einfachen, leicht verständlichen Melodie in klarer Form, hat mehr als alle übrigen Teile die Eigenschaft, dem Publikum zu gefallen. So war es auch bei der Ausführung der Symphonie im letzten Konzert; wenigstens war dieser Satz nicht von jener Grabesstille begleitet, die der Ausführung der übrigen folgte.

Das Andante der Symphonie, von rein-deutschem etwas sentimentalem Charakter, ragt nicht besonders unter den Schumannwerken dieser Art hervor und hält jedenfalls nicht den Vergleich aus mit dem herrlichen, bezaubernden Andante der zweiten Symphonie desselben Komponisten.

Darauf folgt ein aus dem Rahmen der gewöhnlichen symphonischen Form heraustretender, vierter, episodischer Teil, wo Schumann, der Überlieferung nach, den erhabenen Eindruck ausdrücken wollte, den der Anblick des Kölner Doms auf ihn hervorgebracht hatte. Nichts Mächtigeres, Tieferes ist aus der künstlerischen Schöpferkraft eines Menschen hervorgegangen. Obgleich bis zur Vollendung des Kölner Domes mehrere Jahrhunderte vorübergegangen und eine Reihe Generationen ein Teilchen ihrer Arbeit zur Verkörperung dieses grandiosen architektonischen Gedankens beigetragen haben, so wird doch eine Seite des großen Musikers, der entflammt war durch die majestätischen Schönheiten der Kathedrale, künftigen Geschlechtern eben solch ein leuchtendes Denkmal der Größe des menschlichen Geistes bilden, wie der Dom selbst. Das kurze, schöne Thema dieses Teiles der Symphonie, das gleichsam als musikalische Nachbildung der gotischen Linie dienen soll, durchdringt das ganze Stück, bald in Form des Grundmotivs, bald als kleinstes Zierwerk, dem Werk jene unendliche Mannigfaltigkeit in der Einheit verleihend, die den eigentümlichen Zug der gotischen Architektur bildet. Der Zauber dieser ausgezeichneten Musik wird noch verstärkt durch den charakteristischen Reiz der Es-Molltonart, die der düster-erhabenen von Schumann beabsichtigten Stimmung entspricht, und durch die massive Instrumentation, die dieses Mal ganz passend angewandt ist. Hier zeigt sich mehr als irgendwo anders die erstaunliche Verwandtschaft, die man zwischen den beiden Künsten Musik und Architektur beobachten kann, trotz der Verschiedenheit des ästhetischen Materials und der Formen, in welchen diese und jene erscheinen. In der Tat, ist die herrliche Verbindung der Linien, die Schönheit der Zeichnung ohne alle Beziehung zur Wirklichkeit der Erscheinungen in der Natur; die Einheit des Grundmotivs, die sich im ganzen und in den Details offenbart, das Gleichgewicht in den episodischen Teilen, – ist das alles nicht den beiden Künsten gleich eigen, die so entgegengesetzt in den materiellen Mitteln zur Darstellung des Schönen und so einig und verwandt sind im Reich der künstlerischen Idee? Das Publikum nahm diesen Teil der Symphonie, wie zu erwarten war, kalt auf – und man darf deshalb mit ihm nicht hadern. Solch tiefsinnige Produkte musikalischen Schöpfergeistes ist auch der Musiker von Beruf zum erstenmal nicht zu bewältigen imstande. Das Finale der Symphonie ist ihr mindest gelungener Teil. Dem Anschein nach wollte Schumann einen Kontrast erzielen dadurch, daß nach dem düstern vierten Teil ein Stück von festlich jubelndem Charakter folgte. Aber diese Art Musik war nicht Sache Schumanns, des berufensten Sängers menschlichen Leids. Nur am Schluß des Finale kommt ein prächtiger, harmonischer Gang auf einer im Baß ausgehaltenen Note, worin Schumann ein unnachahmlich großer Meister war. Die ganze übrige Musik des Finale mit ihrem erzwungen heiteren Rhythmus und ihrer schwerfälligen Scherzhaftigkeit bietet nichts besonders Interessantes.

Die Symphonie wurde befriedigend ausgeführt, aber nicht glänzend; es ist aber auch schwer, ein vollendetes Ensemble zu erzielen beim Einstudieren solch einer bunten, schwierigen Partitur, die ohne Rücksicht auf die »Dankbarkeit« der Ausführung geschrieben worden ist. Die Musiker fürchten die Schwierigkeiten nicht, wenn dieselben »dankbar« sind, d. h. wenn sie an der passenden Stelle und dem Charakter des Instrumentes angepaßt sind. Indessen diese Fähigkeit ging Schumann eben ab; viel Arbeit gibt er allen auf, aber als Resultat kommt doch etwas Schwerfälliges, Massives, Trübes heraus.


Mendelssohn, Schumann und Brahms

Mendelssohns E-Mollquartett zeichnet sich wie alle Erzeugnisse dieses Komponisten durch ungewöhnliche Anmut der Form und vorzügliche Instrumentierung aus; aber das sind nur äußere, technische Vorzüge, die Mendelssohn im höchsten Grade besitzt, vielleicht mehr als irgendein anderer deutscher Komponist. In der Tat ist die Abrundung der Form und die fließende Folge der Takte bei ihm bis zu einer so idealen Reinheit durchgeführt, daß dies sonderbarerweise süßlich fade, ja geleckt erscheint, wenn man sich so ausdrücken darf. Auch im Leben begegnen uns Menschen, die gebildet, klug und angenehm im Umgänge, mit lieblich fließender Rede begabt, niemals die Grenzen des feinsten Anstandes überschreiten; immer ruhig, reinlich gekleidet, sorgfältig frisiert und parfümiert sind. Solche Leute bezaubern uns das erstemal, aber versucht man es, täglich und stündlich mit ihnen zusammen zu sein, so fühlt man sich von dieser unverändert schönen Äußerlichkeit gelangweilt. Als solch eine Art musikalischer Persönlichkeit erscheint unter den Komponisten Mendelssohn. Indem er anfangs die ganze musikalische Welt mit seinen unstreitig liebenswerten Eigenschaften bezauberte, besonders durch seine schöne Abrundung der Form, die ihm von Anfang an zu Gebote stand (mit zwanzig Jahren schrieb er bekanntlich sein bestes Werk, den Sommernachtstraum), wurde er das Haupt einer ganzen Schule von Nachahmern, die sich nicht nur alle seine Eigentümlichkeiten, sondern auch die süßliche Melodik anzueignen suchten. Ungefähr zwanzig Jahre lang war Mendelssohn der Abgott des musikalischen Publikums beider Welten und die größte Autorität auf dem Gebiete seiner Kunst, so daß sich ihm z. B. ein an Tiefe und Macht des Talentes weit überlegener Zeitgenosse, Robert Schumann, unbedingt unterwarf. Aber da dieser ganze Kultus int Grunde nichts als Modesache war und Moden bekanntlich leicht vergehen, so begannen Mendelssohns Ruhm und Autorität ebenso schnell zu sinken, wie sie sich erhoben hatten, und wie jede starke Bewegung rief auch dieser Kultus Mendelssohns eine heftige Reaktion hervor, und jetzt ist man in Deutschland und auch in russischen Musikkreisen ins entgegengesetzte Extrem verfallen, indem man Mendelssohn die Schöpfergabe beinahe gänzlich abspricht. Jedoch die ruhig prüfende, unbestechliche Kritik wird ihm seinerzeit die gebührende Gerechtigkeit widerfahren lassen; Mendelssohn wird immer ein Muster der Stilreinheit bleiben und als scharf gezeichnete musikalische Individualität anerkannt werden, die zwar vor dem Strahlenglanz eines Genies wie Beethoven erblaßt, aber sich aus der ungeheuren Schar der handwerksmäßigen Musiker deutscher Schule turmhoch abhebt. – In dem obenerwähnten Quartett Mendelssohns ist der zweite Teil des Allegretto besonders reizvoll instrumentiert und durch eine originelle, rhythmische Form ausgezeichnet; das Finale interessiert durch die vorzügliche polyphone Technik. Bemerkenswert ist, daß mitten in das Thema des Schlußsatzes sich zweimal ganz unerwartet die schöne Melodie in Moll aus dem ersten Allegro mischt, eine im höchsten Grade gelungene und wirkungsvolle Abweichung von der allgemein angenommenen Form. In derselben Quartettmatinee wurde ein Sextett von Brahms gespielt. In seiner Jugend zog dieser Komponist die Blicke ganz Deutschlands auf sich. Man erwartete von ihm, daß er seine Kunst in neue, unbekannte Bahnen lenken würde und fähig wäre, nicht nur seine großen Vorgänger zu erreichen, sondern dieselben durch seine Schöpfergabe wohl gar zu verdunkeln. Dies Aufsehen in der musikalischen Welt beim Erscheinen der ersten Kompositionen von Brahms zu Beginn der fünfziger Jahre wurde durch keinen Geringeren als Robert Schumann hervorgerufen. Es ist bekannt, daß große Künstler selten die Gabe eines unfehlbaren, kritischen Instinktes besitzen und sich durch die größte, oft unbegreifliche Nachsicht gegen ihre Kunstgenossen auszeichnen. Als treffendes Beispiel solcher kritischer Gutherzigkeit kann Schumann dienen, der sich während seines ganzen Lebens vor Mendelssohn, Chopin und Berlioz, ja sogar vor solchen Nullen im Bereich der Töne, wie Hesselt und Hiller, bewundernd beugte. Er geriet in aufrichtiges Entzücken, sobald er irgendein fremdes Talent zu entdecken glaubte, und kannte nur seinen eigenen Wert nicht. Auch gegen Ende seines Lebens begann Schumann in der damals von ihm herausgegebenen Leipziger Musikzeitung die nahe Ankunft seines musikalischen Messias zu verkündigen, welcher die ganze Musikwelt mit den Strahlen seines Genius erleuchten und Beethovens verwaiste Stelle einnehmen sollte. Als die ersten Sonaten von Brahms erschienen waren, benachrichtigte Schumann seine Leser mit der lakonischen Phrase: »Er ist erschienen!« von der Ankunft des prophezeiten Genies, und proklamierte auf diese Weise den jugendlichen Brahms als Thronerben. Die Zeit hat indessen gelehrt, daß dieses unvorsichtige Vorgehen Schumanns ein Fehler dieses edlen und hochherzigen Künstlers war, der sich eben nur zu leicht von seiner Begeisterung hinreißen ließ. Brahms hat die Hoffnungen, die Schumann und nach diesem das ganze musikalische Deutschland auf ihn setzte, nicht gerechtfertigt. Brahms ist einer jener Komponisten geblieben, an denen die deutsche Schule so reich ist. Er schreibt fließend, gewandt, rein, aber ohne eine Spur selbständiger Eigenart, indem er sich in endlose Variationen klassischer Themata verliert.


Auber

Einen erfrischenden Eindruck bringen die Opern »Fenella« und »Fra Diavolo« von Auber auf mich hervor, der, wenn auch kein Komponist ersten Ranges, doch viele Vorzüge besitzt. Wie alle guten Komponisten der französischen Schule zeichnet sich Auber durch Eleganz und Sauberkeit der Harmonieführung, durch Reichtum an anmutigen und wirkungsvollen Melodien und gefällige Instrumentierung aus. Leidenschaft, Schwung und hohe Begeisterung darf man von ihm allerdings nicht erwarten. In seinen Werken erscheint er als der gewandte, fröhliche, weltmännische Franzose, der er auch im Leben war. Es genügt, auf einen bemerkenswerten Zug im Leben dieses Komponisten hinzuweisen, um seine künstlerische Persönlichkeit zu charakterisieren. Nachdem er bis ins hohe Alter hinein in Paris gelebt hatte, inmitten alles Luxus und aller Genüsse dieser »Hauptstadt der Welt«, wie die Franzosen sie gerne nennen, hat er niemals das Bedürfnis empfunden, sich durch neue Eindrücke anderer Art zu erfrischen. Während doch jeder Pariser, dem es seine Mittel irgend erlauben, dann und wann aus dem schwülen Getriebe der Stadt hinauseilt, gestand Auber offen ein, daß er für Naturschönheiten keinen Sinn habe und sich außerhalb Paris und des vertrauten weltstädtischen Milieus unglücklich fühle. So machte der greise Maestro tagsüber den Schülerinnen des unter seiner Leitung stehenden Konservatoriums den Hof, strich abends hinter den Kulissen und in den Damengarderoben der Theater herum und arbeitete nachts handwerksmäßig an seinen Opern, deren er im Laufe seines langen Lebens eine Menge komponiert hat. Er hatte etwas Besonderes an sich, was an die Stutzer und Modedamen des vorigen Jahrhunderts erinnerte. Eine gewisse aristokratische Kälte und Skepsis behütete Auber vor romantischen Ausschweifungen und schwärmerischen Sentimentalitäten, denen andere Künstler, Berlioz z. B., so rückhaltlos sich hingaben. Deshalb treten Aubers sympathische Eigenschaften nirgends so stark hervor wie in seinen komischen Opern, besonders wenn der Stoff derselben dem Leben der großen Welt entlehnt ist. In der Oper »Fenella« gibt es viele Glanzstellen, aber es fehlt dem Werke an jener Tiefe, die zur Vollendung einer tüchtigen Oper erforderlich ist. Man sieht, daß Auber sich anstrengen muß, um von der Opéra comique zur Grand opéra überzugehen, dagegen fühlt er sich in Werken wie der »Schwarze Domino« und »Fra Diavolo« in seinem Element, und seine liebenswürdigen Eigenschaften entfalten sich hier in ihrer ganzen Pracht. Inmitten der schwulstigen Erzeugnisse, aus denen sich der Spielplan der italienischen Oper zusammensetzt, bildet solch ein Werk wie »Fra Diavolo« jedenfalls eine erquickende Abwechslung.


»Hamlet« von Ambroise Thomas (1872)

Seit Scribes Tode, der ein großer Meister in der Verfertigung lebendiger, charakteristischer Operntexte war, haben die französischen Librettisten, an ihrem Erfindungsgeist verzweifelnd, angefangen, ihre Sujets aus den kapitalen Werken der fremdländischen Literatur, besonders aus Shakespeare und Goethe herauszusuchen. Nach dem großartigen Erfolge von Gounods »Faust« erschien seine Oper über das Sujet der Shakespeareschen Tragödie »Romeo und Julia«, dann »Mignon« und zuletzt »Hamlet« von Ambroise Thomas. Wenn eine gehörige Portion Kühnheit dazu gehört, sich zu solch einer Art Entlehnung zu entschließen, so ist kein Zweifel, daß Carré und Barbier die größte Dosis von Selbstgefühl unter allen Zuschneidern der Operntexte besessen haben, indem sie einen Eingriff in das große Kunstwerk von Shakespeares »Hamlet« gemacht haben. Unter den deutschen Komponisten hat sich bisher keiner gefunden, der sich entschlossen hätte zu einer Reproduktion dieses großen Typs, nicht nur in Opernform, sondern nicht einmal in symphonischer Form, die mehr als andere Arten von Musik fähig ist, jene tiefsinnige Idee auszudrücken, auf der Shakespeare den unsterblichen Typus seines dänischen Prinzen aufgebaut hat. Mit der den Deutschen eigenen Feinheit der kritischen Analyse haben die Komponisten der germanischen Schule erfaßt, daß die Musik, so mächtig sie auch sei, zur Wiedergabe solcher Seelenstimmungen doch unzulänglich ist und namentlich für den Hamlets Natur eignen beißenden Spott, von dem alle seine Reden durchdrungen sind. Jene Prozesse seines von konzentrierter Bosheit erschütterten Verstandes machen ihn zum trüben Skeptiker, der den Glauben an die guten Seiten der menschlichen Seele verloren hat. Aber der leichtsinnige Franzose, der jedes dramatische Erzeugnis zunächst nur unter dem Gesichtspunkt des äußeren Effektes betrachtet, denkt nicht weiter über die psychologischen Feinheiten Hamlets nach; er sieht in ihm nur den gewöhnlichen tragischen Helden, den Rächer seines ermordeten Vaters, den Mann, der um dieser Rache willen die Liebe der schönen Ophelia opfert. Wie verführerisch für den Librettisten ist doch der Geist dieses Vaters, dann die irrsinnige Ophelia mitten unter den tanzenden Landleuten, der Ein- und Austritt des königlichen Paares begleitet von den Tönen der Trompeten und Trommeln. – Alles dieses genügt vollkommen für eine effektvolle Szenerie; und so stellen Carré und Barbier für Ambroise Thomas, welcher wahrscheinlich bis dahin keine Ahnung von der Existenz eines Shakespeare mitsamt seinem »Hamlet« gehabt hat, ein Libretto her. Selbstverständlich hat »Hamlet« durch seine Versetzung von der dramatischen Bühne in die französische Oper alle seine charakteristischen Züge verloren und ist ein gewöhnlicher Opernheld geworden; natürlich mußte alles für die Musik nicht Passende (Polonius, Fortinbras, Rosenkranz, Güldenstern) herausgeworfen werden und das Geeignete mehr Relief bekommen, aber was kümmert sich Ambroise Thomas und seine Librettisten um das Heiligtum der Shakespeareschen Kunst? In szenischer Beziehung geriet die Oper sehr wirkungsvoll und das allein braucht der Franzose. Übrigens muß ich hinzufügen, daß, so sehr auch die französischen Librettisten vom Verlauf der echten Tragödie abwichen, ihr Erzeugnis doch nicht der Handlung, des Interesses und Sinnes entbehrt und vom Gesichtspunkt der praktischen Bedingungen der Bühne nicht schlechter ist als die bekannten Opernlibretti der französischen Schule. Die Autoren haben sich an vielen Stellen sogar bemüht, den Shakespeareschen Text beizubehalten, so daß einige Nummern, z. B. das Duett im ersten Akt recht gelungen sind auch in rein literarischer Beziehung. Wenn Carré und Barbier am Ende der Oper nicht den Einfall gehabt hätten, bei der Beerdigung Ophelias ganz unbegründet den Schatten des Vaters erscheinen zu lassen, der über das Schicksal der handelnden Personen verfügt, jedem nach seinem Verdienst, die Königin ins Kloster steckt, Hamlet zum Regieren bestimmt, so kann man, abgesehen von dem größeren oder kleineren Maß der Entstellung, der die Shakespearesche Tragödie bei der Umarbeitung unumgänglich unterworfen wurde, das Libretto der neuen Oper von Thomas als gelungen betrachten, da es für die musikalische Bearbeitung eine dankbare Unterlage darbot.

Jetzt wollen wir der Reihe nach die der Szenerie angepaßte Musik des berühmten französischen Komponisten durchsetzen und uns bemühen, eine allgemeine Abschätzung des jedenfalls recht interessanten Werkes vorzunehmen. Die Oper beginnt mit einer kurzen Introduktion von düster erhabenem Charakter, die von der Bühne aus von Fanfaren bei dem Aufgange des Vorhanges unterbrochen wird. Der erste Akt spielt im Schloß des Königs, der seine Hochzeit mit Hamlets Mutter feiert. Nach einem Marsch und Chor in breitem Meyerbeerschen Stil tritt die Königin herein, an die ihr Gemahl sich in einem farblosen Arioso wendet, das wieder von einem Chor unterbrochen wird, worauf das königliche Paar und der Hof die Bühne verlassen. Nach dieser ersten Nummer folgt ein Duett, Hamlet und Ophelia, sehr geschickt und hübsch aufgebaut auf der Singstimme im Charakter eines Liebesliedes. Die Melodie ist nicht im geringsten originell, aber elegant, geschmackvoll und besonders lieblich beim Eingreifen von Ophelias Stimme in das Duett. Ich zähle dieses Duett zu den allergelungensten Nummern der Oper in der Form sowohl wie wegen der dankbaren Aufgabe für die Sänger. Die weitere Musik des ersten Aktes bietet nichts Hervorragendes, und ein Chor der zum Hofe Gehörigen und Pagen ohne Begleitung des Orchesters ist wohl in der Absicht geschrieben, mit seinem pikanten Rhythmus à la Offenbach großen Effekt zu machen, zeichnet sich aber durch große Abgeschmacktheit aus und könnte mit Erfolg im »Blaubart« oder der »Schönen Helena« untergebracht werden. Das zweite Bild des ersten Aktes zeigt uns die Schloßterrasse in einer Winternacht mit Schneewehen. Das Orchester präludiert vor der Szene Hamlets mit dem Geiste des Vaters, dann soll eine weite Strecke des Cello nach dem Verschwinden des Schattens den Schrecken und das Bedauern Hamlets vor dem geliebten Bild des Vaters ausdrücken. Alles dieses ist von der Hand eines erfahrenen Meisters geschrieben, der die vokalen szenischen Operneffekte vorzüglich kennt und sie in rechtem Maße zur rechten Zeit zu gebrauchen versteht.

Im zweiten Akt bemerke ich ein reizendes Liedchen der lesenden Ophelia – wenn ich nicht irre, vom Komponisten skandinavischen Volksliedern nachgebildet – und eine bacchische Arie Hamlets auf der Bühne mit den Schauspielern. Das Arioso der Königin und die ganze Szene mit dem Sohne ist geschickt durchgeführt, alles mit derselben Beherrschung der Operntechnik, aber ohne musikalisches Interesse, farblos und arm an Melodik. Das zweite Bild dieses Aktes (nach unserer Einteilung der dritte Akt) stellt die Pantomime dar, die Hamlet in Gegenwart des Hofes ausführt. Sie endigt mit einem großen Ensemble, von technischer Seite ganz interessant. Im dritten Akt (bei uns der vierte) bringt Hamlets Monolog einen überaus komischen Effekt hervor ( to be or not to be). In dem darauf folgenden Trio (Königin, Ophelia und Hamlet) ist am Schluß ein hübsches Stretto und besonders eine Phrase Ophelias, in welcher die Vorwürfe der hoffnungslos verlassenen Frau und das Vorgefühl einer tragischen Lösung sehr gut wiedergegeben sind.

Das zweite Bild des dritten Aktes beginnt mit einem langweiligen Ballett der fröhlichen Landleute, ganz ohne musikalische Vorzüge, und dann folgt die ebenso farblose Wahnsinnsszene der Ophelia, wo alles berechnet ist auf die vokalen und szenischen Eigenschaften der Frau Nilsson, für die die Partie der Ophelia komponiert war. In der wässerig dünnen Musik, in welcher Thomas sich bestrebt, den Wahnsinn des schönen Mädchens wiederzugeben, tritt nur ihre Ballade hervor, die auch skandinavischen Gesängen entlehnt, sehr hübsch ist und in der Melodie unseren großrussischen Volksliedern ähnelt.

Der fünfte Akt wird bei uns in Moskau für überflüssig erachtet und auf Grund mir unbekannter Umstände ganz fortgelassen. Auf diese Art führt das Sinnreiche der Shakespeareschen Intrige, die ganze komplizierte dramatische Handlung nur dazu, daß Ophelia sich mit dem Rücken aufs Wasser legt und von der Strömung rasch davongetragen wird nach einer unbekannten Richtung ... nein, pardon! nach der Kulisse rechts, gerade nach der Stelle, wo der Bühnenmeister steht und mit Spannung den Effekt seiner Maschinerie beobachtet, welche sehr hübsch die Strömung des Flusses darstellt. Ich stelle mir das Erstaunen derjenigen Zuschauer vor, die Shakespeares Tragödie nicht kennen und nun Ophelia davonschwimmen sehen in der vermeintlichen jähen Flut, indem sie auf ewig das Geheimnis von Hamlets Schicksal und seiner Umgebung mit sich fortträgt. So verlassen alle diese Zuschauer das Theater ohne zu begreifen, weshalb Hamlet so wütend geworden war, wozu er so großen Skandal gemacht hatte, was aus dem Könige und seiner Gemahlin geworden ist, wo der Schatten von Hamlets Vater geblieben ist und endlich wo Ophelia selbst hingeschwommen ist, ob sie irgendein entferntes Ufer erreicht hat oder ob sie unterwegs von einem großen Haifisch verschlungen worden ist? Ich überlasse es den Lesern, welche die Oper nicht gesehen haben, zu urteilen, wie unzeremoniös die Theateradministration mit dem Publikum verfährt, indem sie auf diese Art mit dem gesunden Menschenverstand der nachsichtigsten Zuschauer ihr Spiel treibt. Jetzt will ich in kurzen Worten mein Urteil über die Musik dieses Hamlet abgeben, die den Franzosen sehr zusagt, aber wie es scheint, dem Publikum nicht besonders gefällt.

Ambroise Thomas ist ein erfahrener Musiker, der seine beschränkten Fähigkeiten auf das raffinierteste ausnutzt und die technischen Seiten vollkommen beherrscht, dem aber jegliche Originalität fehlt. Seine Musik ist aus bunten Flicken zusammengesetzt von Meyerbeer, Gounod, Verdi, Auber, und zwar so geschickt, daß man nicht unterscheidet, wo eine Nachahmung aufhört und die andere anfängt. Ihr fehlt der leidenschaftliche Schwung des unzweifelhaften Talents, es fehlen die Übergänge von stark empfundenen dramatischen Momenten zu den weniger aus sich herausgehenden musikalischen Ideen und Formen. Bei Ambroise Thomas ist alles glatt, rein, ebenmäßig, aber – arm. Der Musikspezialist kann zwar mit Interesse alle Schlauheiten verfolgen, zu denen der Autor seine Zuflucht nimmt, um durch glänzende Technik seine künstlerische Machtlosigkeit zu verdecken – aber der Mehrzahl muß diese Musik im höchsten Grade langweilig, farblos und matt erscheinen. Eins, was mit den Schwächen einigermaßen aussöhnt, ist freilich die wirklich künstlerische Instrumentation. Aber in unserer Zeit der Beherrschung aller musikalischen Effekte, d. h. der Triumph der sinnlichen Begierden der Musik über ihren Geist – wer strebt da wohl nicht nach dem hellen Kolorit im Orchester, wer bemüht sich nicht durch äußere Schönheit der Musik die Hörer zu bestechen zugunsten des Wesens selbst, des musikalischen Erzeugnisses! »Hamlet« verdankt seinen Erfolg ausschließlich dieser Seite seiner Musik und auch noch dem Umstande, daß die Partie der Ophelia von einer so hochbegabten Künstlerin wie Christine Nilsson ausgeführt wurde.


»Die Jüdin« von Halévy

drückt wohl am schärfsten, wenn nicht am besten die Tradition und den Geist der französischen Opernschule aus. Wenn man Meyerbeer als die größte Stütze der französischen Schule, als Kraft und Individualität anerkennen muß, so fanden anderseits die Anforderungen des Pariser Publikums in Opernsachen einen treueren und genaueren Interpreten in Halévy. In Meyerbeers schöpferischer Kraft merkt man trotz aller Elastizität und Vielseitigkeit seines Genius, der sich stets den ernsten ästhetischen Prinzipien sowohl der Nation, in deren Mitte er lebte, wie ihren vorübergehenden Launen anzupassen verstand, – fühlt man die pedantische Erziehung des deutschen Abtes Vogler. Halévy, der in Paris seine musikalische Ausbildung erhielt, ist frei von allen Nebeneinflüssen; in seinen Opern ist er vor allen Dingen Franzose, ganz durchdrungen vom Geist der französischen Opernschule mit all ihren Vorzügen und Fehlern und ihrer Routine. Es ist möglich, daß gerade infolge dieser ungekünstelten Unmittelbarkeit des schöpferischen Prozesses die Musik Halévys und besonders seine beste Oper »Die Jüdin« Eigentum aller lyrischen Bühnen geworden ist und ihre Popularität mit der des »Freischütz« in Deutschland verglichen werden kann. Es ist bekannt, daß das französische Publikum vor allen Dingen in der Oper das glänzende Schauspiel verlangt, die luxuriösen Dekorationen, reiche Ausstattung, Ballett, feierliche Aufzüge usw., es werden auch starke dramatische Effekte, wenn auch verlogene und unmotivierte gewünscht; kurz, das französische Publikum will leicht faßliche, pikant-rhythmisierte Melodien, eine einfache, durchsichtige Harmonie und eine dekorativ derbe, aber glänzende Instrumentierung. Alle diese Bedingungen erfüllt Halévy in hohem Maße. Vom rein musikalischen Standpunkt kann seine »Jüdin« auf keinen Fall den großen lyrisch-dramatischen Werken zugezählt werden, aber sie hat Vorzüge, die ihr noch dauernden Erfolg sichern, trotz der veralteten Formen. Die Faktur ist sehr hübsch und im Vergleich mit italienischen Opern sehr sorgfältig, die Melodie glänzt nicht durch Originalität, ist aber weit entfernt von Trivialität, wenn auch nicht so reich wie bei Meyerbeer. Jedenfalls bietet diese Oper dem vom Anhören der »Lucia«, »Traviata«, »Troubadour« ermüdeten Ohr eine sehr angenehme Erfrischung. Wenn wir schon verurteilt sind, das traurige Hinwelken unserer russischen Oper zu sehen, wenn wir der Möglichkeit beraubt sind, wenigstens in erträglicher Ausführung die Werke Glinkas, Dargomischkis und Serows zu sehen, so wollen wir uns wenigstens damit trösten, daß die Bühnenleitung unserer italienischen Oper nicht ausschließlich italienische Erzeugnisse aufführt, sondern auch bedeutendere Werke fremdländischen Ursprungs in ihr Repertoire aufnimmt.


Verdi

So geht es in unserer vergänglichen Welt! Sobald der Mensch nach vieljähriger Arbeit, nach langen, bitteren Erfahrungen und Enttäuschungen viele Hindernisse überwunden und endlich den richtigen Weg eingeschlagen hat – siehe, da fängt auch schon seine Kraft zu erlahmen an. Diese Gedanken kamen mir in den Sinn während der Aufführung von Verdis »La Traviata«. Dieser Sohn des sonnigen Südens hat viel an seiner Kunst gesündigt, indem er die ganze Welt mit seinen abgeschmackten Leierkastenmelodien überflutete, aber vieles muß ihm verziehen werden um des unzweifelhaften Talentes, der Innigkeit des Gefühls willen, die jeder der Verdischen Kompositionen eigen ist. Auf der Neige seiner Künstlerlaufbahn, als der Quell der Begeisterung schon zu versiegen begann, besann sich Verdi endlich und schlug plötzlich einen neuen Weg ein, einen Weg, der ihn weit von der allgemeinen Heerstraße der italienischen Musik ablenkte, und was meinen Sie wohl, wohin führte? – zu Richard Wagner. Diese Wendung, deren Vorbote der 1867 in Paris aufgeführte »Don Carlos« war, kam in der Oper »Aïda«, die auf Bestellung des ägyptischen Khedive für das Theater in Kairo geschrieben wurde, voll zum Ausdruck. Als ich unlängst mit begreiflichem Vorurteil in den prachtvoll gedruckten Klavierauszug der »Aïda« hineinschaute, war ich angenehm überrascht, schon in den ersten Takten der Introduktion, die unter starkem Einfluß der Wagnerschen Muse geschrieben ist, eine ungewöhnliche Anmut der harmonischen Verbindungen und an Künstelei grenzende Originalität der Melodie zu finden. Mit größter Aufmerksamkeit sah ich nun die ganze Partitur durch und dachte mit Kummer darüber nach, welch einen schädlichen Einfluß das in ästhetischer Beziehung so anspruchslose italienische Publikum, für das Verdi seine Opern in erster Linie schuf, auf den Maestro ausgeübt hatte. Was wäre aus Verdi geworden, wenn er in seinen jungen Jahren, wo die schöpferische Quelle noch reich in ihm sprudelte, zu der Reife gediehen wäre, die er jetzt bekundete! Wie viele wonnige Minuten hätte er der Menschheit verschaffen können! Aber ach, in »Aïda« spürte ich neben dem großartigen Fortschritt in der Technik und dem Einfluß Wagners doch auch eine bedenkliche Abnahme der melodischen Erfindungsgabe ...

Ich kehre zu »La Traviata« zurück. Die Patti sang. In Moskau und wie es scheint, auch in Petersburg ist es Mode geworden, über diese Sängerin ein etwas herablassendes Urteil zu fällen. Sobald jemand den Ruf gewisser Sachkenntnis genießt, hält er es für seine Pflicht, zu erklären, die Patti ließe kalt und sänge ohne Ausdruck, wie ein Vogel, oder sogar noch strenger, wie eine Fleisch gewordene Klarinette; auch gibt es wunderliche Käuze, die die Patti ohne jedes Bedenken als einen Holzklotz bezeichnen. Ich versichere, daß dies alles der barste Unsinn und boshafte Verleumdung ist. In Wahrheit kann man sich nichts Vollkommeneres vorstellen als den Gesang dieser Künstlerin. Gewiß, diesem kindlich graziösen Persönchen mit der katzenartigen Gewandtheit und schelmischen Koketterie liegt der Schwung genialer Leidenschaft fern, wie ihn seltene Ausnahmekünstler wie die Viardot und die Artôt besitzen, aber daraus folgt noch nicht, daß die Patti mit Ausnahme des von niemandem bestrittenen Reizes der Stimme gar keine anderen Vorzüge hätte. Abgesehen von der genialen Reinheit ihrer Koloratur und der Sicherheit ihres Tonansatzes sind alle Lagen ihrer Stimme von gleicher Kraft und Schönheit; dabei singt sie mit viel Geschmack und besitzt hinlänglich genügende Wärme und innere ungeheuchelte Belebtheit des Spiels. In dem Duett des zweiten Aktes der »Traviata«, wo jene glänzenden Läufe und Triller fehlen, auf denen der Erfolg der Diva begründet ist, brachte sie dennoch einen tiefen Eindruck hervor durch den rührenden Ausdruck des Schmerzes und der Verzweiflung, den ihr Spiel zu betätigen weiß. Es versteht sich von selbst, daß das Theater zum Brechen voll war und das Entzücken des Publikums keine Grenzen kannte, trotz der Meinung der Herren »Kenner«.


Die »Afrikanerin« und der »Troubadour«
in der italienischen Oper 1872

Am 19. Dezember wurde die italienische Opernsaison mit Meyerbeers »Afrikanerin« eröffnet. Direktor Merelli hatte mit der Wahl dieser Oper keinen glücklichen Griff getan, um das Publikum mit seinem Personal bekannt zu machen. Vor allem bietet die »Afrikanerin« ungeheure Schwierigkeiten sowohl in gesanglicher Hinsicht, als auch in jeder anderen. Nicht ohne Grund hat Meyerbeer viele Jahre lang sich nicht entschließen können, die längst fertige Partitur aus der Lade seines Schreibtisches herauszugeben, und er ist auch gestorben, ohne einer Sängerin begegnet zu sein mit solchen Mitteln, wie er sie zur Ausführung der Partie der Selica für erforderlich hielt. Sodann ist die Partitur der »Afrikanerin« aus einer Menge großer Ensemblesätze und schwieriger Rezitative zusammengesetzt, die längere, gründliche Wiederholungen verlangen. Endlich erfordert auch die Inszenierung der Oper großen Aufwand und die höchste Kunst des Maschinenmeisters. Allen diesen Bedingungen können nur so vorzügliche Opernbühnen, wie die von Paris, Wien, Berlin und München entsprechen, wo außer einem trefflichen Personal, großem Chor und Orchester und einer splendiden Ausstattung ein festes, aber mehr oder weniger beschränktes Repertoire existiert, das im Laufe einer Saison nur die Aufführung einer oder höchstens zweier Opernnovitäten zuläßt. In unsern Theatern hingegen, wo ein und derselbe Chor heute in der russischen Oper erscheint und morgen genötigt ist, unter der Fahne des Herrn Merelli zu dienen, wo das Publikum hinkommt, nicht um Musik zu hören, sondern um sich an Trillern, dem hohen C der Tenöre und ähnlichen Äußerlichkeiten der Gesangskunst zu erlaben, wo Direktor Merelli allwöchentlich eine neue und neu einstudierte Oper bieten muß, – denn sonst bleibt sein Haus leer oder das Publikum macht Skandal, – da liegen die Dinge ganz anders. Würde Direktor Merelli sich an den abgespielten, aber leichten Erzeugnissen italienischer Produktion genügen lassen, so wäre es für ihn bequemer und dem Publikum angenehmer.

Aber es scheint mir, daß, selbst wenn man alle Mittel und die Zeit zur genügenden Einstudierung einer schwierigen Meyerbeerschen Oper, besonders der »Afrikanerin«, zur Verfügung hat, es nicht der Mühe wert ist, solche Oper zu bringen, denn man kann die »Afrikanerin« in jeder Hinsicht als mißlungen betrachten, und der Umstand, daß der Komponist selber dieses Werk sehr schätzte, wird für die musikalische Welt ewig ein Rätsel bleiben.

Denn erstens ist das Libretto der Afrikanerin höchst mangelhaft, was um so erstaunlicher ist, als Meyerbeer bekanntlich sehr wählerisch in der Annahme der Texte zu seiner Musik war. Irgendeine scharfsichtige und leidenschaftlich in Vasco de Gama verliebte Wilde entdeckt diesem berühmten Seefahrer den Weg nach Indien und verfolgt ihn auf der Landkarte mit dem Zeigefinger, als ob sie auf ihrer heimatlichen Insel Madagaskar nichts anderes getan hätte als Geographie zu lernen. Kann wohl ein auf diesem abgeschmackten Grundmotiv aufgebauter Text die Seele eines wahren Künstlers begeistern und ihr begeisterte Töne entlocken? Diese Frage muß unbedingt verneint werden. Der Grund dieser unglücklichen Textwahl liegt darin, daß in Meyerbeer zwei ganz entgegengesetzte Naturen miteinander kämpften. Er vereinigte in sich den reichbegabten Künstler mit dem willfährigen Sklaven gegenüber den Launen der in ästhetischer Hinsicht rohen großen Masse. Diese Berücksichtigung der niederen Instinkte des französischen Boulevardpublikums hat den Maestro öfters vom rechten Wege abgelenkt, aber nirgends wohl hat er ein derartiges sacrificio dell'intelletto gebracht, wie in der »Afrikanerin«. Wie glänzend auch seine Begabung war, so vermochte er mit aller Kunst und aller Erfahrung dennoch nicht, das dürftige Material, das der Stoff der »Afrikanerin« bietet, in künstlerische Form zu bringen. Ich wüßte keine Stelle in der ganzen Oper zu bezeichnen, die auch nur im entferntesten den Vergleich mit den Schönheiten der »Hugenotten« und des »Propheten« aushalten könnte. Daß Meyerbeers vielgerühmte Technik auch in der »Afrikanerin« sich auf Schritt und Tritt kundgibt, versteht sich von selbst, aber das will nicht mehr bedeuten, als die Schminke auf dem Antlitz einer verwelkten Schönheit. Das einzige in der »Afrikanerin«, was mir der Aufmerksamkeit wert erscheinen will, sind die Tänze und einige Chöre im vierten Akt, wo es dem Komponisten gelungen ist, mit kühner Tonmalerei die wilde Fröhlichkeit und den groben Fanatismus der uns fremden afrikanischen Welt zu charakterisieren. Was das berühmte Präludium im fünften Akt anlangt, so ist dasselbe nichts weiter als ein überraschender Orchestereffekt, der eine ganz gewöhnliche, nicht im mindesten originelle Idee in grobe Formen kleidet. Aber wie ich schon an anderer Stelle einmal zu bemerken Gelegenheit hatte, daß die Mehrheit des Publikums in der Musik wie in der Malerei der Zeichnung das Kolorit vorzieht und gern tiefere, künstlerische Mängel verzeiht, wenn der äußere Eindruck nur effektvoll ist, so auch hier. Die Pariser Kritiker haben die Herrlichkeit dieser wenigen Takte des Präludiums in die Welt hinausposaunt und von einer gleichsam höheren, himmlischen Kraft gefaselt, die diese Taktstelle geschaffen hätte, und wo nur auch die »Afrikanerin« gegeben wird, wartet das Publikum ungeduldig auf das berühmte Unisono, und um nur ja nicht hinter Paris zurückzubleiben, äußert es lautes Entzücken, ruft Dacapo und verläßt das Theater unter dem Eindrücke der eingebildeten Schönheiten dieses Präludiums.


Christine Nilsson und Adelina Patti
(1871-1875)

Mit großer Mühe und um den Preis vieler qualvoller Minuten gelang es mir, am 30. November in der italienischen Oper dem ersten Auftreten Christine Nilssons als Margarete in Gounods »Faust« beizuwohnen. Meine Qual entsprang dem Gefühl gekränkter Liebe zu meinem Vaterland im allgemeinen und zu unserer Hauptstadt im besonderen. Man sollte meinen, wie kann wohl ein Musiker Moskau lieben, wo so wenig musikalisches Interesse herrscht, Moskau, wo eine so nützliche Einrichtung wie das Konservatorium aus Mangel an Teilnahme niederging und nur durch die Unterstützung seitens der Spitzen einer erleuchteten Administration Mittel zum Weiterbestehen fand?! Moskau, dessen Publikum ins Theater stürzt, wenn vorzügliche Künstlerinnen wie die Patti und die Nilsson singen, das aber ebenso einen Sturmlauf auf die Kasse unternimmt, um das Gebrüll eines Herrn X. und eines Fräulein Y. zu hören, die als Größen verschrien sind. Aber ich bin nicht nur Musiker, sondern auch Bürger der guten Stadt Moskau und liebe diese Stadt ebenso wie der Lappländer seine Schneegefilde und seine rauchigen Jurten, wie die Maus ihr Loch und der Jude sein Getto liebt; deshalb geht es mir wie dem feingebildeten Sohne jener reichgewordenen Kaufmannsfrau, der sich zu Tode schämt, wenn seine Mutter in Gegenwart sogenannter Standespersonen mit einem Wörtchen herausplatzt, das nicht im Komplimentierbuch steht. Ich empfinde jedesmal quälende Scham, wenn unser »Mütterchen« Moskau sich vor den Ausländern blamiert. – Dem Debüt der Frau Nilsson wohnten einige preußische Offiziere bei, die in der kaiserlichen Seitenloge saßen, und sie waren die Veranlassung, daß ich über »Mütterchen« Moskau und sein hochlöbliches Publikum errötete und in Verwirrung geriet. In der Tat, was sollen diese feingebildeten Ausländer denken, wenn sie jene unglaublichen, unmöglichen Chöre hören, an die wir längst gewöhnt sind; was sollen sie denken beim Anblicke der geradezu elenden Fassung, in welcher bei uns Edelsteine wie Christine Nilsson und Adelina Patti erscheinen; welch einen Begriff sollen sie von unserem Publikum bekommen, wenn sie Zeugen solch unziemlichen Benehmens sind während der Opernvorstellung und noch dazu einer so schönen Vorstellung wie Gounods »Faust«?

Besonders unpassend benehmen sich die oberen Regionen des Theaters. Man sagt, daß in der italienischen Oper auch auf der Galerie nur »anständiges« Publikum sitzt. Wenn man hierunter Herren in Smokings versteht und Damen in Chignons, so will ich in dieser Hinsicht die Anständigkeit nicht leugnen; aber es ist allbekannt, daß sehr oft ein einfacher, plumper Bauer mehr Taktgefühl besitzt und sich schicklicher zu benehmen weiß, als mancher adlige Herr im feinen Frack. Der zu rügende Übelstand liegt darin, daß die anständigen Leute, die im »Paradies« unseres Operntheaters Posto fassen, gar nicht verstehen, ihre unmittelbaren Gefühlsausbrüche zu bemeistern, und in dieser Kunst beruht eben die ganze sogenannte Anständigkeit. Namentlich den Herrschaften auf dem »Olymp« liegt es nur daran, Spektakel zu machen und ihre Gegenwart durch unmäßiges und unzeitiges Applaudieren und ebenso unpassendes Zischen zu bekunden. Eine junge Anfängerin singt z. B. im zweiten Akt ein unbedeutendes Liedchen mit jugendlicher, hübscher Stimme – der Vortrag läßt allerdings einiges zu wünschen übrig: sofort ertönt von der Galerie ein Pfeifen, das zwar von dem Protest des einsichtsvolleren Publikums übertönt wird, das aber die junge Novize tief verletzt. Haben diese eifrigen »Kenner« und Kunstwächter wohl jemals darüber nachgedacht, daß diese strengen, zum Teil ungerechten, lauten Bezeigungen des Mißvergnügens sich wie schwere Steine auf das Herz des Künstlers legen? Oder Frau Nilsson führt mit erschütternder Wahrheit die Szene in der Kirche aus, wie der von Furcht und Kummer niedergebeugten Margarete der böse Geist erscheint, die Nachbarn sie fortführen und das Mädchen, wie vom Blitze getroffen, an der Schwelle des Hauses besinnungslos zusammenbricht – sogleich erschallen von der Galerie laute Hervorrufe und wahnsinniges Händeklatschen, so daß die unglückliche Künstlerin, ohne noch Zeit gehabt zu haben, den erschütternden Eindruck der von ihr seelisch tief mitempfundenen Lage der Margarete zu überwinden, zum Vergnügen der Herrschaften herauskommen und ihr Lächeln an diese abgeschmackten Verehrer verschwenden muß. Glauben diese feinen Kunstkenner wirklich, daß Frau Nilsson sich von dieser groben Beifallsbezeigung, geschmeichelt fühlt und daß sie dieser unzeitigen Hervorrufe bedarf? Sie erschüttert das für wahre Kunst empfängliche Publikum durch die geniale Leidenschaft ihres Spiels, sie reißt uns in die überirdischen Fernen eines wirklich ästhetischen Genusses fort, aber die Leute auf der Galerie, die nur ins Theater kommen, um Lärm zu machen, übernehmen die Rolle einer kalten Dusche und beeilen sich, durch ihre alberne Einmischung die geniale Künstlerin und die durch deren Spiel tief ergriffene Zuhörerschaft in den Bereich des seelenlosen Alltagslebens zurückzuführen!

Noch einige Worte über Frau Nilsson, deren Erscheinen auf der Bühne des Kaiserlichen Theaters eine Epoche in unserer Kunstchronik bedeutet. Frau Nilsson ist mit einer sehr umfangreichen Stimme begabt, die zwar nicht so metallisch rein ist, wie die Stimmen italienischer Schulung gewöhnlich zu sein pflegen, aber nichtsdestoweniger außerordentlich sympathisch wirkt. Die Mittellage klingt sogar ein wenig belegt, aber der Zauber schöner Weiblichkeit, den die Persönlichkeit der Frau Nilsson ausstrahlt, ist so groß, daß selbst dieser kleine Fehler zu einem Vorzug wird und die Eigenschaft besitzt, die Zuhörer zu entzücken; wenigstens gipfeln die stärksten stimmlichen Effekte ihres Gesanges in den langausgehaltenen Tönen gerade dieses schwächsten ihrer Register. Mit den hohen, forcierten Tönen kann Frau Nilsson ebenso paradieren wie die stimmlich hervorragendsten Sängerinnen italienischer Schule. Ihre Kopftöne sind kräftig, von schöner Klangfarbe und werden mit größter Leichtigkeit hervorgebracht. Frau Nilssons Koloratur ist trefflich ausgearbeitet: ihre Triller, Läufe und Verzierungen kommen leicht und anmutig heraus. So bildet sie in stimmlicher Hinsicht eine außerordentlich angenehme, wenn auch nicht gerade einzig dastehende Erscheinung. Der Grund ihrer gewaltigen Erfolge liegt auch nicht so sehr in ihren gesanglichen Vorzügen, als in der Verbindung eines ungewöhnlich sympathischen Äußeren mit einer genialen Darstellungsgabe, die ihr unbedingt die erste Stelle unter den zeitgenössischen Opernsängerinnen anweist. Ich berücksichtige bei diesem Ausspruche, daß Madame Viardot ihre Bühnentätigkeit schon lange aufgegeben hat, die Karriere der Artôt sich zu Ende neigt und die Lucca nach ihrer amerikanischen Tourné die Bühne zu verlassen beabsichtigt und in Europa nicht mehr singen wird. Frau Nilssons Darstellung von Goethes Gretchen, welche Gestalt die französischen Librettisten verständigerweise verschont und auch nicht durch einen Zug entstellt haben, erscheint mir beinahe als die Verkörperung von Goethes Ideal. Frau Nilsson besitzt, ganz unabhängig von der äußeren Vollendung ihres Gebärdenspiels, die sie in Paris auf der Hochschule szenischer Darstellungskunst erworben, jene ganze Fülle reiner, durch nichts Künstliches übertünchter, weiblicher Anmut, die zur Verkörperung der Margarete erforderlich ist. Die anstrengende und schwierige Rolle wurde von ihr von Anfang bis zu Ende mit ergreifender Wahrheit durchgeführt, ohne daß die Darstellung auch nur einmal ins Alltägliche hinunterglitt. Einen besonders tiefen Eindruck hat Frau Nilsson auf mich im dritten Akt in der Liebesszene mit Faust hervorgebracht.

Hier verfügte sie über solch packende Kraft plötzlich auflodernder Leidenschaft, solch ungekünstelte Tiefe und Einfachheit jugendlichen Gefühls, daß man mit der Künstlerin eine jener Minuten zu durchleben glaubte, die sich in unauslöschlichen Zügen fürs ganze Leben in die Seele prägen ...

Der Leser erwartet vielleicht jetzt von mir einen Vergleich, der auf jedermanns Lippen schwebt: Wer ist die bessere von beiden, Adelina Patti oder Christine Nilsson?

Ohne mich auf eine ausführliche Vergleichung beider Sängerinnen einzulassen, will ich nur das eine bemerken: Frau Patti ist, ungeachtet ihrer phänomenalen Gaben, eigentlich immer nur ein reizendes, liebenswürdiges Kind voll Leben und naiver Koketterie geblieben; sie wird nie zum Weibe heranreifen. Christine Nilsson dagegen ist die Personifizierung anmutiger Weiblichkeit; sie ist die Verkörperung jenes idealen Typus weiblicher Anmut, den sich Shakespeare und Goethe erträumten, als sie ihre unsterblichen Gestalten Ophelia, Cordelia, Julia und Gretchen schufen ...

Adelina Patti (1871). Ich gestehe bereitwillig, daß eine Hauptstadt, die etwas auf sich hält, unmöglich eine italienische Oper entbehren kann. Aber kann ich als russischer Musiker, indem ich die Triller der Patti höre, vergessen, welche Erniedrigung unsere heimische Kunst erleidet, für die es keine Zuflucht, keinen Ort, keine Zeit in Moskau gibt? Kann ich die traurige Vernachlässigung unserer russischen Oper vergessen, da wir in unserem Repertoire einige Werke besitzen, auf die jede andere Residenz stolz sein würde, wie auf einen kostbaren Schatz? Man wird mir darauf antworten, daß wenn eine Patti in Moskau weilt, so ist es lächerlich, an die russische Oper auch nur zu denken. Was Frau Patti selbst anlangt, so wundere ich mich durchaus nicht über das von ihr hervorgerufene Entzücken und lache über die Puristen, die nur deshalb Gleichgültigkeit heucheln, weil es ein teures Vergnügen ist sie zu hören. Frau Patti ist ein Phänomen und diese sind selten. Wer wie ich die Patti im »Barbier von Sevilla« gehört hat, wird es nicht bedauern, daß dieser Genuß teuer zu stehen kam. Ihr Gesang erschien mir in dieser Oper staunenswert. In der zauberhaften Schönheit ihrer Stimme, der nachtigallartigen Reinheit ihrer Triller und der Leichtigkeit ihrer Koloratur liegt etwas Übermenschliches.

(1872.) Zum letztenmal ergötzten wir uns an dem Gesange der Unvergleichlichen in der lieblichen, von zarten Melodien erfüllten »Somnambule« von Bellini. In dieser Rolle hat Frau Patti die Meinung einiger vermeintlichen Musikkenner widerlegt, die da behaupten, daß diese Sängerin nur in Erstaunen setzt, aber nicht rührt und daß die Eindrücke, die sie hervorbringt, kaum bis zur Droschke vorhalten, wie ein Herr unlängst sich vor mir äußerte. Sie hat die Rolle der Amina mit bemerkenswertem Feingefühl durchdacht und talentvoll durchgeführt. Während ich diese Zeilen schreibe, hat sich Frau Patti unter den grauen aber sie bewillkommenden Himmel von Petersburg begeben. Zum Ersatz erscheint nun die Nilsson, die aber gleichfalls bald wieder nach Petersburg zurückkehrt.

(1874.) Zum Abschiedsbenefiz der Patti hörten wir den »Barbier von Sevilla« von Rossini, diesen unschätzbaren Edelstein der italienischen Musik. Rossini war groß in kleinen Dingen; seine Sphäre ist das leichte komische Genre, und auf diesem Felde konnte außer dem hochbegabten Auber niemand mit ihm rivalisieren. Es gibt nichts Anziehenderes als die ungezwungene, ungekünstelte Fröhlichkeit der Rossinischen Musik. Sie ist so lieblich-kokett, so geschmackvoll und schön, wie keine andere Musik leichteren Genres, und wenn man dieses alles vereint mit Rossinis Meisterschaft in der Harmonie und mit der Kunst für die Stimme so zu schreiben, wie es für den Sänger angenehm und bequem ist, mit seiner glänzenden gewandten Instrumentierung – so ist das Resultat eine musterhafte und zugleich unnachahmliche lyrische Schöpfung.

Wenn es in der Welt eine Sängerin gibt, die auf der Höhe dieser ausgezeichneten Musik steht, so ist es natürlich niemand anderes als die Patti. In der Rolle der Rosine ist sie über alles Lob erhaben. Die wunderbare Stimme, das bezaubernde Äußere, das freie ungekünstelte Spiel, die Reinheit der Intonation, die absolute Unfehlbarkeit der Koloratur – alles dies macht Frau Patti würdig aller Ovationen, mit denen sie an ihrem Benefizabend geehrt wurde. Anläßlich dieser Ovationen könnte man einige Episoden erzählen, die unser Moskauer Publikum von einer sehr komischen Seite zeigen würde, aber ich habe kein Recht, in das Bereich meines Kollegen vom Feuilleton der »Russischen Nachrichten« überzugreifen. Wie dem auch sei, Frau Patti erhielt mehrere sehr kostbare Geschenke, wurde mit Blumen und Lorbeeren überschüttet, worüber ich mich sehr freue, da ich nochmals betonen muß, daß sie nicht nur eine unnachahmliche Sängerin, sondern auch die gewissenhafteste aller Künstlerinnen ist.

(1875.) In der italienischen Oper herrscht jetzt Frau Patti. Ich habe schon so oft von den staunenswerten Eigenschaften dieser vollkommensten aller Sängerinnen berichtet, daß ich nicht von neuem darauf zurückkommen will. Sie trat zuerst in der »Traviata« und dann in »Romeo und Julia« auf. Diese letztere Oper ist sehr lieblich, von der ersten bis zur letzten Note von Eleganz, Weichheit und Grazie durchflutet, wie sie dem sympathischen Talent Gounods eigen ist. Aber alles, was darin hervorragt, hat der Autor schonungslos gestohlen von einem ihm sehr nahestehenden Menschen – dem Komponisten des »Faust«. Wenn auch der unzeremoniöse Eingriff in das unverrückbare Eigentumsrecht des Komponisten des »Faust« von seiten des Komponisten von »Romeo und Julia« nicht gerade ein strafwürdiges Verbrechen ist, so kann man ihn doch dafür nicht loben. Ich wiederhole, daß beide Komponisten sehr talentvoll sind, aber der erstere ist erfinderischer als der zweite. Die beste Stelle der Oper ist die Szene beim Bruder Lorenzo. Die Person des Mönches ist meisterhaft gezeichnet und das Trio, das er, Romeo und Julia beim hochzeitlichen Segen, singen, ist warm, schön und hinreißend. Die allgemeine Ausführung war glatt. Frau Patti glänzte in blendendem Licht im ersten Aufzug, besonders in dem Walzer, aber ach! sie war nicht tragisch, feurig und leidenschaftlich genug in den übrigen. Es ärgert mich, wenn von ihr gesagt wird, daß die Patti ganz gefühllos ist, aber ich muß denen zustimmen, die da behaupten, daß ihr Hauptgenre das sogenannte Leichte ist.


Carlotta Patti (1875)

Ich konnte nur das dritte Konzert der Carlotta Patti besuchen. Als sie auf das Podium stieg, glänzend in ihrer hübschen, kostbar geschmückten Tunika, ihrer wie aus Bronze gegossenen Frisur und dem hellen Rot der Wangen auf dem künstlich weißen Fond des Gesichts, und als sie unbeweglich auf ihrem Platze stand, erschien sie mir durch mein Opernglas wie eine Wachsfigur, die man in den Schaufenstern der Friseure sieht. Und als diese leblos-hübsche Wachspuppe die Arie aus »Luzia« zu singen begann, suchte ich immer noch bei ihr irgendwelche menschlichen Lebens- und Gefühlszeichen. Ihre Stimme ist gewiß von irgendeinem geschickten Meister in ihre Kehle hineingearbeitet; die Bewegungen des Kopfes sind das Resultat eines scharfsinnig erdachten Mechanismus. Wir bewundern die Kunst und Geschicklichkeit dieser Meister und denken uns, wieweit auch die Entwicklung der Mechanik und aller Wissenschaften gediehen sein mögen – die sprechenden und sogenannten singenden Automaten werden immer neue Parodien auf die Menschen sein. Ein Vergleich der Frau Carlotta Patti mit ihrer Schwester Adelina ist undenkbar. Es wird gesagt, Adelina sänge wie ein Vögelein. Nun ja, vielleicht. Aber dann singt Carlotta auch wie ein Vogel, aber wie ein im Spielladen gekaufter, künstlicher, nicht wie einer, der frei umherfliegt, sein Nestchen baut und sich an der Sonne wärmt.


Rimski-Korssakow

In einem der Konzerte der russischen musikalischen Gesellschaft und ferner in der von der Moskauer Theaterdirektion zum Besten der Hungerleidenden am 19. Februar 1868 veranstalteten Soiree wurde die serbische Phantasie von Rimski-Korssakow aufgeführt, das Werk eines jungen Komponisten, der in hohem Maße das Interesse des musikalischen Publikums auf sich lenkt.

Wir wollen mit dem Moskauer Publikum nicht darüber hadern, daß es sich diesem schönen Erzeugnis des in unserer Stadt debütierenden russischen Komponisten gegenüber recht gleichgültig verhielt; in der ganzen Welt gibt es kein Publikum, welches in seinem Urteil, das sich entweder in lautem Beifall oder in absolutem Stillschweigen äußert, unfehlbar wäre. Wenn man auch Städte findet und Gegenden, wo man infolge der kulturhistorischen Entwicklung und dank dem Einflusse einer auf festen ästhetischen Prinzipien beruhenden Kritik eine gerechte Schätzung irgendwelcher künstlerischen Erscheinungen vom Publikum verlangen darf, so gehört Moskau doch keineswegs zu der Zahl solcher Städte. Die russische musikalische Gesellschaft, in welcher die Moskauer eine musikalische neue Welt entdeckt haben, übt erst seit kurzem ihren wohltätigen Einfluß auf die erwachenden künstlerischen Instinkte unseres Volkes aus; die Stimme einer ernsthaften Kritik regt sich erst seit kaum drei Monaten in den »Russischen Nachrichten« in der Person des Herrn Laroche. Aber wenn es auch außer dem eben genannten Schriftsteller in der russischen Presse keinen Repräsentanten einer musikalisch durchgebildeten Kritik gibt, so haben wir doch sowohl in Petersburg wie in Moskau berufsmäßige Rezensenten, die dem Publikum ihre persönlichen Eindrücke von Zeit zu Zeit mitteilen. Von diesen Herren können wir nur das eine fordern, daß sie ihre oft recht verworrenen Eindrücke den Lesern nicht in der Form entschiedener, angeblich unwiderleglicher Urteile übermitteln. Der Leser muß wissen, daß, wenn der Rezensent irrt, er sich auf ehrliche Weise irrt; er konnte vielleicht nicht verstehen, aber er mußte verstehen wollen. Als solch einen Rezensenten, der vielleicht oft nicht verstehen kann, aber immer verstehen will, kann ich den Musikkritiker der in Moskau erscheinenden Zeitung »Der Zwischenakt« nennen. Seine Berichte bekunden zwar nicht den kompetenten Kenner, aber jedenfalls einen seine Arbeit redlich und gewissenhaft betreibenden Menschen. Um so betrübender war es für mich, das Urteil dieses Herrn über die serbische Phantasie des nach meiner Meinung höchst begabten Rimski-Korssakow zu lesen: »Die serbische Phantasie des Herrn Rimski-Korssakow könnte mit demselben Rechte eine ungarische, polnische oder chinesische Phantasie genannt werden, so farblos und unpersönlich ist dieselbe.« Wir können schwerlich glauben, daß diese harten, mißgünstigen Worte die einzigen sind, die die Moskauer Presse für das Erzeugnis eines jungen und talentvollen Mannes hat, auf den alle, die unsere Kunst lieben, so große Hoffnungen setzen, und ich will daher im Namen des ganzen musikalischen Moskauer Publikums den Fehler gutmachen und dem Autor ein Wort der Anerkennung zurufen.

Rimski-Korssakow erschien an unserm musikalischen Horizont vor zwei Jahren mit einer Symphonie, die in Petersburg in einem Konzert des Konservatoriums unter Leitung Balakirews aufgeführt wurde und den enthusiastischen Beifall des Publikums sowie der Petersburger Kritik errang. Diese nach dem Muster der deutschen Symphonien geschriebene Komposition war der erste Versuch des jungen in technischer Beziehung noch unbewanderten Talentes. Der erste und letzte Teil waren die schwächsten dieses ersten symphonischen Versuchs des jungen Russen, aber im Adagio und Scherzo zeigte sich das bedeutende Talent, besonders das auf einem Volkslied aufgebaute Adagio setzte alle durch seinen originellen Rhythmus (Siebenvierteltakt), durch den Reiz der effektvollen, aber doch nicht gesuchten Instrumentierung und durch die Frische der echt russischen Melodienführung in Erstaunen und ließ sofort in Rimski-Korssakow ein bemerkenswertes, symphonisches Talent erkennen. Nach dieser Symphonie schrieb er noch einige Lieder, eine Ouvertüre über russische Volksliederthemata, die serbische Phantasie und in letzter Zeit eine neue symphonische Dichtung über ein episches Volkslied. Was die heute in Rede stehende Phantasie anlangt, so weiß ich nicht, inwiefern Rimski-Korssakow das Recht hatte, dies Werk als serbisch zu bezeichnen. Wenn die Motive, aus denen seine Phantasie aufgebaut ist, wirklich serbischen Ursprunges sind, so wäre es interessant, zu erfahren, warum diese Melodien das deutliche Zeichen des Einflusses der Musik östlicher Völkerschaften aufweisen; aber wir wollen die Entscheidung dieser Frage den Orientalisten und den Slawisten überlassen und das Werk von der rein musikalischen Seite betrachten. Die serbische Phantasie beginnt mit der auf dem reizenden ersten Thema aufgebauten Introduktion. Dieses Thema, voll von einer gewissen morgenländischen Süße, wird abwechselnd von den verschiedensten Instrumentengruppen gespielt, der Refrain bewegt sich bei beständiger Wiederholung mit einer gewissen krankhaften Hartnäckigkeit in ein und derselben Tonart. Es ist schwer, in Worten den bezaubernden Eindruck wiederzugeben, der durch diese harmonischen Kontraste, den spielenden Kampf der verschiedenen Instrumente, der zuletzt in einem kurzen, betäubenden Tutti endigt, erzielt wird. Nach einer ziemlich langen Pause kommt ein lebhaftes, feuriges Tanzthema, anfangs allein von den Streichinstrumenten gespielt und dann von abgebrochenen Posaunen- und Trompetenstößen begleitet. Der beschränkte Raum einer Zeitungskritik gestattet mir nicht, Takt für Takt das reizende Stück zu verfolgen, ich will nur noch erwähnen, daß beide Themata, die zuerst miteinander abwechseln, sich schließlich verbinden und nach den verschiedenartigsten Modulationen in feierlicher Steigerung zum Hauptthema zurückkehren.

Man kann dreist behaupten, daß der junge Komponist in jeder Beziehung im Laufe der zwei Jahre, die zwischen seiner ersten Symphonie und der Aufführung seiner serbischen Phantasie in Moskau verflossen sind, bedeutend vorwärtsgeschritten ist, aber das soll natürlich nicht heißen, daß Rimski-Korssakow schon mit dem festen Tritte eines gereiften Talentes einhergeht. Sein Stil ist noch nicht fest bestimmt, und den Einfluß Glinkas, Dargomischkis und Balakirews erkennt man auf den ersten Blick, aber Rimski-Korssakow ist noch ein Jüngling, der die ganze Zukunft vor sich hat; unzweifelhaft wird dieser hochbegabte Musiker eine der schönsten Zierden unserer heimischen Kunst werden.


Serow und Glinka (1872)

Jedes Jahr nach den Fasten beginnt unsere russische Oper von ihrem kurzlebigen Dasein Anzeige zu erstatten. Die Anschlagzettel verkündigen die Neuinszenierung dieser oder jener russischen Oper, die Herzen der Patrioten ziehen sich in Wonne zusammen, das Publikum drängt ins Theater, alles sprudelt in lebendiger Tätigkeit, aber kaum sind die italienischen Nachtigallen herangeflogen, so sind die vaterländischen Meisterwerke wie weggeblasen. Dort, wo gestern Frau Honoré noch alle ihre Kräfte angestrengt hat, ergeht sich heute die graziöse Frau Patti in ihren Trillern; auf der Estrade, die gestern noch brach unter den plumpen Schritten des Herrn Radoneshski, erscheint das für unsere Damen verführerische Bild eines Herrn Niccolini und der ganze Flitterglanz des kurzen Aufblühens unserer heimischen Oper versinkt in das tiefe Dunkel der Vergessenheit. Etwas in dieser Art geschieht in einem herrschaftlichen Hause, wenn die Herrschaft abgereist ist. Kaum ist die Kalesche abgefahren, so kriechen aus den Gesindestuben, dem Mädchenzimmer und der Küche die Vertreter des herrschaftlichen Personals hervor und ergreifen sofort Besitz von den noch von herrschaftlichen Wohlgerüchen erfüllten Gemächern. Der Kammerdiener schmückt sich mit dem Schlafrock des Herrn, und sich auf dem üppigen Diwan räkelnd, raucht er eine vom Herrn nachgelassene Havanna; die Kammerzofe spaziert wichtig im Salon umher und bespritzt sich mit dem Eau de Cologne der Gnädigen – kurz, jeder bemüht sich, die kurze Abwesenheit der Herrschaft zu benutzen, um wenn auch nicht für lange Zeit ihre Einbildungskraft mit den Wonnen der Besitzenden zu versüßen. Aber kaum ertönt von ferne das Rollen der herannahenden Equipage, so sind im Augenblick die Bewohner der entfernten Winkel des Hauses verschwunden. Mit diesem Vergleich will ich den Künstlern der russischen Oper nichts Beleidigendes sagen: mehr als irgend jemand weiß ich ihre guten Eigenschaften zu schätzen. Mit meinem Vergleich will ich nur voll Betrübnis die Rolle andeuten, die das ungerechte Geschick unsern Künstlern zuerteilt. Aber wie dem auch sei, so hat die Direktion es möglich gemacht, uns im Laufe einer Woche zwei bemerkenswerte Werke des russischen Spielplans zu bringen. Am vorigen Sonntag wurde die Lieblingsoper des Publikums »Rogneda« von Serow gegeben. Der Grund des andauernden Erfolges der »Rogneda« liegt nicht so sehr in den wirklichen Schönheiten, als in der feinen Berechnung schlagender Effekte, die den Autor bei dem Komponieren dieser Oper geleitet hat. Der verstorbene Serow war nur in geringem Maße mit schöpferischer Kraft begabt, aber er fing spät an und hatte im Laufe der Jahre das ganze Bereich der musikalischen Kunst sich zu eigen gemacht, beherrschte vollkommen die technische Seite der Sache und sah die Möglichkeit, schnell und leicht in der tonschöpferischen Laufbahn vorwärts zu kommen. Das Publikum aller Gegenden und Völker ist in ästhetischer Beziehung nicht vielfordernd; es liebt äußere, erschütternde Effekte, starke Kontraste und ist äußerst gleichgültig gegen die Erscheinungen einer tiefen, originellen Schöpferkraft, wenn sie nicht mit hellglänzendem Kolorit geschmückt ist. Man muß es Serow lassen, er hat es verstanden, dem Publikum zu gefallen.

Vier Tage nach der »Rogneda« gab die russische Oper »Das Leben für den Zaren«. Ich erwartete viel von der schon lange angekündigten Neuinszenierung dieser ersten und besten russischen Oper. Man sprach von wer weiß welch luxuriösen Dekorationen und Kostümen; man nahm an, daß sie auch in musikalischer Beziehung neu einstudiert werden würde, doch die Erwartungen wurden nicht in vollem Umfange erfüllt.

(Neuinszenierung von »Rußlan und Ludmila«) Die Koryphäen der russischen Musikkritik haben einstimmig Glinka an die Spitze der selbständigen russischen Schule gestellt und zugleich gehen sie bei der Beurteilung der beiden Opern unseres genialen Musikers scharf auseinander. Die einen, mit Serow an der Spitze, bekannten sich offen zu der ersten Oper »Das Leben für den Zaren«. In einer ganzen Reihe von Aufsätzen, »Rußlan und die Rußlanisten« mühte er sich zu beweisen, daß, so schön die Musik dieser Oper auch sei, so reif Glinkas Meisterschaft darin hervortrete und so reich die melodische Erfindung und die üppige Instrumentation sowie der kontrapunktische Glanz wäre, so müßte doch dieses Werk als nicht gelungen betrachtet werden. Serows Urteil entsprang aus der Devise seiner ganzen kritischen Tätigkeit, nämlich aus Wagners Prinzip: »Die Oper ist ein musikalisches Drama.« Serow bewies, daß Rußlan kein Drama wäre. Das Libretto dieser Oper ist aus bunten Flicken zusammengesetzt, die flüchtig zusammengenäht sind. Dagegen im »Leben für den Zaren« gibt es tragische Situationen.


Hans von Bülow (1874)

Vor zehn Jahren hatten Petersburg und Moskau Gelegenheit, einen Pianisten kennenzulernen, dessen Ruhm sich eben erst in Europa zu verbreiten anfing: Hans von Bülow, der Schwiegersohn Liszts und begeisterte Verfechter der musikalischen Theorien und Schöpfungen Richard Wagners. Das Auftreten dieses Virtuosen bildete damals kein Ereignis in unserer Konzertchronik. Das vorzügliche Spiel Bülows wurde zwar von den Musikern von Fach und jenem kleinen Teil des Publikums, welcher sich für jede hervorragende Erscheinung in der Kunstwelt interessiert, nach Verdienst gewürdigt; die große Menge aber bewies diesem Künstler gegenüber eine Gleichgültigkeit, die an Geringschätzung grenzte. Die Konzertsäle, in denen Bülow auftrat, blieben zur Hälfte leer, und wenn der Künstler keine empfindlichen materiellen Verluste erlitt, so geschah das nur, weil er auf Einladung der Petersburger Philharmonischen Gesellschaft nach Rußland gekommen war und sich die Reisekosten sowie ein gewisses Honorar hatte garantieren lassen. Seit diesem ersten Auftreten in Rußland hat sich Hans v. Bülows Ruf als vorzüglicher Pianist mit staunenerregender Technik, ebensolchem Gedächtnis und schönem Vortrag fest begründet, kurz der Name Bülow ist so populär geworden, daß er vollen Anspruch auf eine vielfältigere Anerkennung hätte, als ihm vor zehn Jahren zuteil geworden ist. Diese Erwartungen haben sich in der Tat auf die glänzendste Weise erfüllt. Hans von Bülows Konzerte haben sich eine große Beliebtheit beim Publikum erworben, und dem vorzüglichen Künstler sind große Ovationen dargebracht worden. In Moskau gab Bülow nur ein Konzert im großen Theater. Ebenso wie Anton Rubinstein spielt er alles ohne Mitwirkung anderer Künstler und ohne Orchester. Auf seinem Programm standen die Namen Bach, Haydn, Beethoven, Chopin. Ohne mich auf eine Parallele zwischen Bülows und Rubinsteins Spiel einzulassen, will ich seine Individualität kurz zu charakterisieren versuchen. Zunächst wird der Hörer von der unglaublichen Entwicklung der Technik Bülows frappiert. Die Reinheit seines Spiels ist eine tadellose und absolute; auch die boshaftesten Hörer können in seinem Spiel kein Danebengreifen, keine überhasteten Läufe, keinen falschen Sprung finden. Bülow hat Hände, elastisch wie Gummi, ausdauernd wie Stahl, leicht wie Flaumfedern, und wenn es nötig ist, massig wie Granit, mit einem Worte, Bülow entspricht vollkommen in physischer Hinsicht allen Anforderungen an einen großen Virtuosen. Was die künstlerische Ausführung anbelangt, so zeichnet sie sich durch ruhige Objektivität, feine Ausarbeitung der kleinsten Einzelheiten und schöne Nuancierung aus, die indessen niemals den Eindruck des Gesuchten macht. Fehlt seinem Spiel auch der starke, subjektive Charakter und die hinreißende Leidenschaft, die einen Hauptvorzug der Künstler der entgegengesetzten Richtung bilden, so bezaubert er die Zuhörer durch die fortdauernde Schönheit und die tiefe Durchdachtheit der Gesamtleistung. Die Vereinigung so vieler schätzenswerter Eigenschaften ergibt als Resultat eine ungewöhnlich interessante künstlerische Individualität. Ich bin sehr erfreut, daß das Moskauer Publikum Hans von Bülow jene freundliche Aufnahme bereitet hat, an die der Meister gewöhnt ist, wo immer er auf dem Konzertpodium erscheint, und ich freue mich um so mehr, daß Moskau davon keine Ausnahme machte, als Bülow der Liebhaberei unseres Publikums für das sogenannte leichte Genre durchaus nicht schmeichelte. Man hörte geduldig nicht nur die lange chromatische Phantasie von Bach an, in der die lebhafte Einbildungskraft des alten Meisters vergeblich mit den konventionellen Kunstgriffen der damaligen Schule kämpft, sondern auch ein Werk Rheinbergers, der das Produkt seiner armseligen Schöpferkraft in eine längst veraltete und dem Publikum wenig sympathische Form gekleidet hat. Den größten Erfolg hatte Bülow mit dem Vortrag der Es-Dursonate, der Berceuse von Chopin und zweier Etüden von Liszt, welche den Schluß des glänzenden Konzerts bildeten. Nach endlosen Hervorrufen spendete der Meister noch eine Mazurka von Liszt als Zugabe.


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