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Pjotr Tschaikowski

Pjotr Tschaikowski, Öl auf Leinwand, 1893, Nikolai Kusnezow, Tretjakow-Galerie
Bildquelle: de.wikipedia.org


Pjotr Tschaikowski, Signatur

Einleitung

Rußlands bedeutendster Komponist, Peter Iljitsch Tschaikowsky, wurde als Sproß einer altadligen russisch-polnischen Familie am 7. Mai 1840 zu Wotkinsk im Gouvernement Wiatka geboren. Sein Vater bekleidete an verschiedenen Orten des Zarenreiches leitende Stellungen im Bergbau- und Hüttenwesen. Die Mutter entstammte einer französischen Refugiéfamilie. Als Tschaikowskys Vater 1852 nach seiner Pensionierung dauernden Aufenthalt in Petersburg nahm, wurde der Knabe einem dortigen Gymnasium, der sogenannten Rechtsschule, überwiesen, deren erfolgreicher Besuch ihren Zöglingen die Aussicht auf die höchsten Justizämter des Reiches eröffnete. Obgleich zum Programm der häuslichen Erziehung in der Familie Tschaikowsky auch das Klavierspiel gehörte, so wies doch keins der näheren oder entfernteren Familienmitglieder eine bemerkenswerte musikalische Begabung auf, und auch Peter Iljitsch erschien seinen Eltern keineswegs für die Komponistenlaufbahn vorbestimmt. Wirkliche Fortschritte in der Musik machte er erst, als er dreizehnjährig die Unterweisung des tüchtigen deutschen Klavierpädagogen Rudolf Kündiger und gleichzeitig die des italienischen Gesangsmeisters Pizzioli genoß. Nachdem er die Rechtsschule durchlaufen, trat Tschaikowsky, dem Wunsche des Vaters folgend, als Kanzlist ins Justizministerium ein, obgleich ein innerer Drang ihn trieb, dem Studium der Musik sich zu widmen. Auf einer ausgedehnten Reise ins Ausland, die ihn über Berlin und Brüssel bis nach Paris und London führte, kam der Zwanzigjährige über sich und seinen eigentlichen Beruf ins klare und vertauschte, obgleich sein in Vermögensverfall geratener Vater ihm nur sehr geringe Unterstützung angedeihen lassen konnte, die sichere Beamtenlaufbahn mit der im damaligen Rußland noch höchst ungewöhnlichen und unsicheren eines berufsmäßigen Komponisten. Diese Wendung in Tschaikowskys Geschick fällt mit der Begründung des Petersburger Konservatoriums der Musik durch Anton Rubinstein zusammen (1862). Der junge Tschaikowsky zählte bald zu den Lieblingsschülern des genialen Klaviermeisters und zeichnete sich ebenso im theoretischen Unterricht wie als Pianist aus. Nach dreijährigem Studium verließ er das Konservatorium und erhielt für seine freilich recht schwache Examenskomposition eine Medaille. Aus dem eifrigen Schüler wurde schon in kurzer Zeit ein nicht minder eifriger Lehrer, indem Tschaikowsky 1866 an das von Anton Rubinsteins Bruder Nikolai in Moskau gegründete Konservatorium berufen wurde, dem bereits so vorzügliche Meister wie Alexander Dreischock, Leschetizky, Winiawsky und Davidoff verpflichtet waren. In Moskau wirkte Tschaikowsky dreizehn Jahre lang als Lehrer in den theoretischen Klassen und verfaßte u. a. eine noch heute geschätzte Harmonielehre und eine Übersetzung von Lobes Katechismus der Musik. Noch vor Beginn seiner Lehrtätigkeit hatte im Sommer 1865 der damals in Petersburg gastierende Walzerkönig Johann Strauß der Öffentlichkeit zum erstenmal eine Komposition des jungen Tonkünstlers vermittelt. 1867 erschien seine erste, Anton Rubinstein gewidmete Komposition im Druck, 1868 seine erste Oper »Der Woiwode«, die er freilich in weiser Selbsterkenntnis zum Feuertod verurteilte. Ende der siebziger Jahre setzten ein jährliches Legat von sechstausend Rubeln seitens einer Tschaikowsky persönlich unbekannt gebliebenen, bejahrten reichen Verehrerin und ein jährliches Gnadengehalt des Zaren den Komponisten in den Stand, auf eine fernere Tätigkeit am Konservatorium zu verzichten und sich lediglich seinen schöpferischen Arbeiten zu widmen. Er lebte seitdem vorzugsweise in und bei dem Städtchen Klin im Gouvernement Moskau. Aus Gesundheitsrücksichten weilte er wiederholt mehrere Monate in der Schweiz und in Italien. Schon früh hatte sich Tschaikowsky an eine genaue Zeiteinteilung gewöhnt. Fünf Stunden des Tages waren für das Hauptgeschäft, das Komponieren, bestimmt. Die Mitwirkung bei der Inszenierung seiner neuen Opern und Ballette, die Durchsicht der Bearbeitungen und Übersetzungen seiner Kompositionen und Gesangstexte, eine mit den Jahren immer umfangreicher werdende Dirigententätigkeit, die sorgfältige Erledigung seiner ausgedehnten Korrespondenz nahmen gleichfalls mehrere Stunden des Tageslaufs in Anspruch. Seine Erholung bestand hauptsächlich in einsamen Spaziergängen, auf denen er seine Werke im Geiste durchdachte und skizzierte. Nach Art großer schöpferischer Naturen arbeitete er im Geiste überhaupt unaufhörlich. Inmitten einer zahlreichen Gesellschaft verstummte er oft plötzlich und horchte auf die seinem inneren Ohre tönenden Klänge. Dank seiner musterhaften Zeiteinteilung fand er neben dieser angestrengten eigenen Tätigkeit noch Muße, fremde Kompositionen eingehend zu studieren und eine sehr ausgedehnte Lektüre zu pflegen. Eine 1877 übereilt geschlossene Ehe mit einer früheren Schülerin wurde bald wieder gelöst. – Nachdem die ersten fünf Opern mehr oder minder Fehlschläge bedeutet hatten, brachten 1879 die dramatischen Szenen »Eugen Onegin« trotz des nicht eben geschickten Librettos Tschaikowsky einen weit über Rußlands Grenzen sich erstreckenden dauernden Erfolg als Opernkomponist. 1880 schuf er mit der Ouvertüre »1812« zur Einweihung der Erlöserkirche in Moskau die zumal im Ausland noch heute populärste seiner Tondichtungen. 1876 unternahm Tschaikowsky als Vertreter einer Moskauer Zeitung die denkwürdige Reise nach Bayreuth, Ende Dezember 1887 die für ihn nicht minder denkwürdige große Auslandsreise als Dirigent seiner eigenen Schöpfungen. 1892 besuchte er die »Internationale Musik- und Theaterausstellung« in Wien und folgte im Sommer 1893 der ehrenvollen Einladung der Universität Cambridge, gemeinsam mit Boitot, Saint Saëns und Max Bruch die Würde eines Ehrendoktors der Musik zu empfangen. Nachdem er Ende Oktober desselben Jahres in Petersburg die Uraufführung seiner Sechsten Symphonie geleitet, erkrankte er plötzlich an der Cholera, derselben Krankheit, die ihm 1854 die Mutter entrissen und beinahe auch den Vater geraubt hatte, und die jetzt wieder die russische Hauptstadt verheerte. Am 5. November erlag er trotz sorgfältigster Pflege, erst dreiundfünfzigjährig, der unheimlichen Seuche. Der jähe Todesfall erregte weit über Rußlands Grenzen schmerzliches Aufsehen. Mit seltener Einmütigkeit stellte die Tages- und Fachpresse fest, daß das Zarenreich in dem Dahingeschiedenen einen seiner größten Söhne und seinen bedeutendsten Tondichter verloren habe. Seit Turgeniews und Dostojewskys Beisetzung hatte Petersburg kein so prunkvolles Leichenbegängnis gesehen wie das Tschaikowskys und keine so allgemeine Teilnahme. Eine ausgezeichnete lebensgroße Statue des großen Tondichters wurde im Herbst 1898 im Saale des Petersburger Konservatoriums aufgestellt, desgleichen eine Porträtbüste im Leipziger Gewandhause.

Obgleich Tschaikowsky bei längerer Lebensdauer zweifellos noch manche musikalische Tat vollbracht hätte, so ist die Zahl seiner Tondichtungen schon letzt sehr groß und achtunggebietend. Umfaßt doch sein Gesamtschaffen außer den vom Komponisten fortlaufend numerierten Opus 1-80 sieben Opern, zwölf Orchesterkompositionen, acht Klavierschöpfungen und fünfzehn Chordichtungen. Vgl. die auch die wichtigsten Zeitungsartikel über den Komponisten berücksichtigende Bibliographie in dem Tschaikowsky-Büchlein des Musikarchivars der »Brücke«, Otto Keller (Leipzig 1914). Tschaikowsky begann mit Klavierstücken und erreichte in seinen großen Orchesterdichtungen den Höhepunkt seines Schaffens. Durch die Polyphonie seines musikalischen Ausdrucks und die Originalität seiner Klangmischung gehört er zweifellos zu den größten Instrumentationskünstlern aller Zeiten, wenn auch seine starke Vorliebe für die Blech- und Schlaginstrumente westeuropäische Ohren anfangs befremdet hat. Das Liebenswürdige und Volkstümliche seiner Eigenart kommt vielleicht am sinnfälligsten in seinen Ballettkompositionen »Schwanensee«, »Schneewittchen« und »Der Nußknacker« zum Ausdruck. Mit seinem Bülow gewidmeten Klavierkonzert in B-Moll und seinem einst vielangefochteuen Violinkonzert in D-Dur hat er das eiserne Inventar der Virtuosen des Konzertsaals bereichert. Von seinen Opern hat sich außerhalb Rußlands keine dauernd im Spielplan eingebürgert, woran zum großen Teil die zumeist mangelhaften Librettitexte schuld sind. Als Symphoniker wird der Name Tschaikowskys namentlich durch seine letzte, bedeutendste Schöpfung, die Symphonie Pathétique, weiterleben. In seinen Liedkomkompositionen, die auch im Ausland gern gesungen werden, überwiegt das Anmutige das Bedeutende. – Eine den meisten unbekannt gebliebene Seite von Tschaikowskys Tätigkeit wurde 1898 durch den Sammelband »Musikalische Feuilletons und Studien« enthüllt, in dem Professor Hermann Laroche in Moskau, ein ausgezeichneter Musikgelehrter und Jugendfreund des verstorbenen Meisters, die Früchte von Tschaikowskys kritischer und journalistischer Tätigkeit in den Jahren 1869-1876 zusammenfaßte, woran sich die leider Fragment gebliebenen Aufzeichnungen über seine Konzertreise 1888 schlossen. 1899 habe ich durch meine aus diesem Bande getroffene Auswahl von Erinnerungen und Feuilletons der deutschen Musikwelt die Bekanntschaft mit Tschaikowsky dem Kritiker und Schriftsteller vermittelt. Die ebensoviel stilistische Gewandtheit wie gründliche Sachkenntnis und temperamentvollen Freimut verratenden Würdigungen hervorragender Repräsentanten und Schöpfungen der internationalen Musikwelt, die hier vermehrt und in sorgfältiger Überarbeitung in deutschem Gewande erscheinen, fügen, wie einer seiner Biographen treffend bemerkt hat, als musikalische Glaubensbekenntnisse in der Tat die letzten ergänzenden Striche zu Tschaikowskys Bilde. In seiner gehaltvollen Einleitung beantwortet Laroche auch ausführlich die Frage nach dem Lieblingskomponisten seines großen Freundes. Der Obergott von Tschaikowskys musikalischem Olymp war und blieb Mozart. Seine Vorliebe für den Schöpfer des »Don Juan« erstreckte sich sogar auf Mozarts Zeitgenossen und die Musik des achtzehnten Jahrhunderts überhaupt. Von dieser schwärmerischen Liebe war die große Ehrfurcht, die der russische Tondichter für Beethoven hegte, sehr verschieden. In seinen schriftlichen Äußerungen über Beethoven war Tschaikowsky nach Laroches Meinung absichtlich sehr vorsichtig und farblos, um nicht eine unnötige Polemik herauszufordern. Bach und Händel stand er ganz fremd gegenüber. Des ersteren Fugen spielte er zwar gelegentlich auf dem Klavier, nannte aber beispielsweise Bachs Kantaten eine »wahrhaft klassische Quälerei«. Zu den Komponisten, die auf Tschaikowsky während seiner ganzen Schaffenstätigkeit einen tiefen Eindruck hervorgerufen haben, zählt Robert Schumann, allerdings mischte sich in seine spätere Beurteilung des deutschen Meisters ein kühlerer Ton. Zu Tschaikowskys Antipathien gehörte, vielleicht wegen mancher ihm selbst unbewußten Ähnlichkeit mit dem polnischen Meister, Chopin. Der italienischen Oper brachte er in seiner Jugend leidenschaftliche Vorliebe entgegen und blieb bis an sein Ende ein Freund von Hesperiens Volk und Sprache. Unter den russischen Opern behielt er Zeit seines Lebens für Glinkas »Leben für den Zar« schwärmerische Verehrung. Sehr interessant sind Tschaikowskys Beziehungen zu Richard Wagner. Den Hauptteil seines Lebens hindurch verhielt er sich gegen den Bayreuther Meister kühl und skeptisch, auch nach seinem Besuch der Bayreuther Festspiele, 1876. Erst als er Mitte der achtziger Jahre den Klavierauszug des »Parsifal« kennenlernte, geriet er, wie Laroche berichtet, in wahrhaftes Entzücken. Von dieser Zeit an lassen sich sogar gewisse Wagnersche Einflüsse auf Tschaikowskys eigene Kompositionen nachweisen, obgleich er Wagners Theorie des Musikdramas bis zu seinem Lebensende ablehnend gegenüberstand.

Berlin, 1921.

Dr. Heinrich Stümcke.


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