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Porträt von 1888 für Nina Grieg
Bildquelle: de.wikipedia.org

Erinnerungen an Leipzig, Hamburg und Berlin 1888


1.

Im Jahre 1886 wurde die Aufführung meiner Oper »Der Frauenschuh« im Kaiserlichen Großen Theater zu Moskau beabsichtigt. Die von K. Walz glänzend ausgeführten Dekorationen und die ganze luxuriöse Ausstattung, für die Intendant J. A. von Wsewolosky große Summen bewilligt hatte, waren bereits fertig und auch das musikalische Material hinlänglich vorbereitet, und ich wartete in ländlicher Zurückgezogenheit in der Nähe der Stadt Klin, daß man mich nach Moskau einladen würde, den ersten Proben beizuwohnen. Doch die Saison neigte sich schon ihrem Ende zu, die Butterwoche Fest vor Beginn der Fastenzeit [PG]stand vor der Tür und die ersehnte Einladung kam immer noch nicht.

Die Ursache dieser unliebsamen Verzögerung war die seit Dezember 1885 währende heftige Krankheit des ersten Kapellmeisters, des Herrn Altani, und vergebens hoffte man in den Kreisen der Moskauer Musikfreunde von Woche zu Woche, den geschätzten Künstler an sein Dirigentenpult zürückkehren zu sehen, an dem ihn inzwischen der Chordirektor Herr Awranek mit vielem Eifer vertrat. Ich hatte mich schon allgemach mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß mein Werk nicht mehr im Laufe der Spielzeit 1885/86 das Lampenlicht erblicken würde. Da trat ganz unerwartet an die Direktion des kaiserlichen Theaters von seiten eines jungen Moskauer Musikers das Anerbieten heran, ihm die Einstudierung und Leitung des Orchesters meiner Oper an Stelle des Herrn Altani zu übertragen. Natürlich wurde mir hiervon seitens der Direktion sofort Mitteilung gemacht und im Hinblick auf meine langjährigen freundschaftlichen Beziehungen zu Kapellmeister Altani und seine für mich unersetzliche Erfahrung zögerte ich keinen Augenblick, den Vorschlag des jungen Herrn, der Altani am Dirigentenpulte vertreten wollte, von der Hand zu weisen. Da ich aber andererseits nicht wünschte, daß die Leitung der kaiserlichen Theater, die sich von der Aufführung meiner Oper großen Erfolg versprach, auf Hindernisse von meiner Seite stoßen sollte, faßte ich den heroischen Entschluß, mich selbst als Dirigenten meiner Oper anzubieten. Mein Vorschlag wurde freundlich aufgenommen, aber durch das Zusammentreffen verschiedener ungünstiger Faktoren kam eine Aufführung meines Werkes in dieser Saison doch nicht zustande.

Als zu Beginn der nächsten Spielzeit die Dirigentenfrage wieder an mich herantrat, war Herr Altani bereits völlig genesen und somit lag für mich kein Grund vor, das bedenkliche Experiment zu wagen. Indessen wünschten einflußreiche Mitglieder der Administration der kaiserlichen Theater, Kapellmeister Altani selbst, sowie zahlreiche Moskauer Freunde, daß ich bei den Proben und bei der Premiere das Orchester leiten sollte. Seit langer Zeit hatte sich die Meinung festgesetzt, daß ich gar keine Begabung zum Kapellmeister besäße, und ich selbst glaubte um so hartnäckiger an meine Unfähigkeit in dieser Sache, als ein zweimaliger Versuch, meine krankhafte Schüchternheit zu überwinden und mit dem Taktstock in der Hand vor dem Moskauer Publikum zu erscheinen, kläglich gescheitert war. Wenn meine Gönner, und darunter Freund Altani, trotz alledem sich bemühten, mein Mißtrauen gegen mich selbst zu überwinden, damit ich in vorgerückteren Jahren es noch einmal mit dem Dirigieren versuchte, so wurden sie dabei nur von der aufrichtigsten Freundschaft und der Erkenntnis geleitet, daß meine Talentlosigkeit als Kapellmeister immer ein großes Hindernis für die Popularisierung meiner Schöpfungen bilden würde und daß, wenn ich es nach schweren inneren Kämpfen wenigstens soweit gebracht haben würde, die eine oder die andere meiner Kompositionen leidlich zu dirigieren, das Resultat dieser Anstrengungen ein starker Anstoß zur Verbreitung meiner zahlreichen Tonschöpfungen und eine erhebliche Steigerung meines Rufes als Komponist sein würde. Ermutigt durch solches Zureden meiner Freunde und von Altani mit unschätzbaren Ratschlägen und Anweisungen ausgerüstet, sowie im Vertrauen auf das Wohlwollen des Moskauer Publikums, das mir seit Anbeginn meiner musikalischen Laufbahn nie seine Sympathie versagt hatte, trat ich am 19.Januar 1887 um 8 Uhr abends im Orchesterraum des Kaiserlichen Großen Theaters ans Dirigentenpult und führte die Premiere meiner Oper glücklich durch.

Ich war damals schon beinahe 47 Jahr alt. In diesen Jahren pflegt ein wirklicher, echter Kapellmeister außer den Eigenschaften, die von dem Grade seiner angeborenen Begabung abhängen, auch schon eine mehrjährige Erfahrung zu besitzen; wenn man in Betracht zieht, daß mir diese fehlte, so kann man mein Debüt als vollständig gelungen bezeichnen. Ich bleibe trotzdem dabei, daß mir das echte Dirigententalent abgeht und mir die Vereinigung jener moralischen und physischen Eigenschaften fehlt, die aus einem Musiker im allgemeinen einen Kapellmeister im besonderen machen. Aber dieser erste und alle folgenden Versuche haben immerhin bewiesen, daß ich imstande bin, meine Werke mehr oder weniger erfolgreich zu leiten. Dies Bewußtsein war im hohen Grade geeignet, mich glücklich zu stimmen. Ich hielt es für notwendig, ausführlich die Geschichte meines ersten Versuches als Dirigent zu erzählen, weil den unzähligen glücklichen Wiederholungen auch meine dreimonatige Konzertreise im westlichen Europa sich anreiht, auf deren schöne Erfolge ich stolz sein darf. Und ich habe mich entschlossen, die Schilderung derselben dem russischen Publikum vorzulegen, weil außer Glinka, der nur ein Konzert in Paris gegeben hat, und außer Rubinstein, der dank seinem Genie als Virtuose schon lange über die Grenzen seiner Heimat hinausgedrungen ist und sich das Bürgerrecht auf den Bühnen und Konzertpodien der ganzen Welt erworben hat, ich der erste russische Komponist bin, dem es beschieden war, persönlich die Ausländer mit seinen Werken bekannt zu machen. Ich wage zu hoffen, daß es eine genügende Anzahl Leser gibt, die sich für diese Erzählungen interessieren.


2.

Anderthalb Monate, nachdem ich durch die Tat bewiesen hatte, daß ich über genügende Kräfte verfügte, um ein Opernorchester zu leiten, mußte ich auch im Konzertsaale die Probe bestehen. Am 4. März 1887 fand in Petersburg ein Konzert der Philharmonischen Gesellschaft statt, dessen Programm ausschließlich aus meinen Kompositionen zusammengestellt war, die ich selbst dirigierte. Auch dieser Versuch war von Erfolg gekrönt. Zu meinem größten Erstaunen hörte ich aus dem Munde von Leuten, deren Urteil ich volles Vertrauen schenke, so schmeichelhafte Urteile über meine Handhabung des Taktstocks, daß mir das Herz vor Freude und Stolz klopfte, weil ich über mich selbst, über jene grausame, moralisch-quälende Krankheit, an der ich zeit meines Lebens so schwer gelitten habe und die »Blödigkeit« heißt, triumphiert hatte. Ein sehr bekannter Musikkritiker, der niemals in seinen Urteilen über mich ein Blatt vor den Mund genommen und einst mein Debüt als Komponist mit den Worten begrüßt hatte: »Herr Tschaikowsky taugt nichts, er hat keinen Funken Begabung«, dieser selbe strenge und harte Richter konnte nun in ebensolcher Übertreibung nicht oft genug wiederholen, daß ich ein »vorzüglicher Kapellmeister« sei. Aber ich glaubte ihm dieses Mal ebensowenig wie damals an seine Behauptung meiner absoluten Talentlosigkeit. Ein siebenundvierzigjähriger Mann, der zum erstenmal den Taktstock in die Hand nimmt, kann kein vorzüglicher Dirigent sein, darf sogar nicht einmal mehr hoffen, ein solcher zu werden, wenn auch die dazu notwendige Begabung vorhanden ist, und ich begreife sehr gut, daß meine angeborene Schüchternheit und der Mangel an Selbstvertrauen mich immer hindern werden, als Dirigent mit einem Wagner und Bülow zu wetteifern. Ich wiederhole daher: für mich war nur der Umstand wichtig, daß ich bei der Ausführung meiner Werke nicht schlechter als jeder andere durchschnittliche Kapellmeister an der Spitze des Orchesters abschnitt. Ich sah voraus, daß dank diesem Siege über meine Schwäche sich mir die Möglichkeit auftat, in meinem Vaterlande wie in der Fremde Propaganda für meine Kompositionen zu machen, und sehr bald sollte sich dieser mein Wunsch verwirklichen. Im Juni erhielt ich von der Philharmonischen Gesellschaft in Hamburg die Einladung, Ende Januar 1888 zur Aufführung einiger meiner Orchesterwerke dorthin zu kommen. Ähnliche Aufforderungen ergingen an mich aus Wien, Dresden, Kopenhagen, Prag, Leipzig, Berlin, London. Was Paris anbelangt, so hatte schon früher der dortige Verleger meiner Werke, Felix Maquart, mir das Versprechen abgenommen, im Laufe der Wintersaison nach Paris zum Dirigieren eines Konzerts zu kommen, das er veranstalten wollte. Ein sehr natürliches Bestreben, soviel als möglich meinen Ruf als Komponist zu verbreiten, verband sich mit der Hoffnung, daß es mir gelingen würde, der russischen Kunst insgesamt einen Dienst zu erweisen, indem ich die Schöpfungen auch anderer russischer Komponisten bekannt machte.

In der Einbildung, hinlängliche Geldmittel zu besitzen, um in Paris ein Konzert, bestehend aus Kompositionen von Glinka, Dargomischki, Serow, Rubinstein, Balakirew, Rimski-Korsakow, Ljedow und Arenski auf eigene Rechnung wagen zu können, beschloß ich, außer dem von Herrn Maquart veranstalteten ausschließlich meinen Schöpfungen gewidmeten Konzertabend, an einem zweiten Abend Werke der obengenannten Meister der russischen Musik zu Gehör zu bringen, wobei mir der Gedanke nicht wenig schmeichelhaft war, als Dolmetsch der Schönheiten unserer vaterländischen Tonkunst vor dem für alles Russische begeisterten französischen Publikum wirken zu dürfen. Am Vorabend meiner Abreise aus Petersburg verbrachte ich mehrere Stunden in Gesellschaft meiner hochgeschätzten Freunde Rimski-Korsakow, Ljedow und Glasunow und beriet mit ihnen das Programm meines Unternehmens bis in die kleinste Einzelheit: außer den beiden Pariser Konzerten die Aufführung meiner eigenen Werke unter meiner Leitung in Leipzig, Dresden, Hamburg, Berlin, Kopenhagen, Prag, Wien und London; ich hatte mir wahrlich nicht zu wenig vorgenommen. Schon während zweier Monate vor meiner Abreise hatte ich mit einem ausländischen Konzertagenten, dessen Namen verschwiegen bleiben mag, eine lebhafte Korrespondenz geführt. Herr N. N. entwickelte in bezug auf mich und meine Musik einen fast übermäßigen Eifer und ging soweit, mir zuzureden, ich solle außer in den genannten Großstädten auch in einer ganzen Reihe deutscher und österreichischer Städte zweiten Ranges konzertieren. Da ich das richtige Gefühl hatte, daß der Agent das für meine Kompositionen im westlichen Europa vorhandene Interesse bei weitem überschätzte, verschob ich meine Zusage oder Ablehnung seiner diesbezüglichen Vorschläge bis zu unserer persönlichen Bekanntschaft, welche in Berlin erfolgen sollte. Bei dieser Gelegenheit lernte ich dann in Herrn N. einen sehr sonderbaren und originellen Menschen kennen, dessen Charakter mir in manchen Punkten bis heute rätselhaft geblieben ist.

Ob infolge von Ungeschicklichkeit und angeborener Taktlosigkeit oder infolge irgendwelcher geistigen Abnormität, genug, Herr N., der doch mein Freund und Berater sein wollte, handelte manchmal geradezu feindselig gegen mich und war schuld daran, daß mir während meiner Reise mehrere Unannehmlichkeiten und Kränkungen widerfuhren. Über seine Nationalität und seine Stellung in der Welt konnte ich ebensowenig klug werden wie über die Beweggründe seiner Handlungsweise gegen mich. Er gab sich als Russen aus, sprach aber ein sehr mangelhaftes Russisch. Wie dem auch sein mag, gern will ich bekennen, daß ich seiner Initiative die Einladungen nach Leipzig, Prag und Kopenhagen verdankte.

In letztere Stadt bin ich aus Mangel an Zeit indessen nicht mehr gekommen; das Konzert in Dresden kam infolge von Herrn N.s sonderbarem unpraktischen Verfahren auch nicht zustande; ebensowenig war es mit vergönnt, die Wiener mit meiner Musik bekannt zu machen, da das Konzert in Wien an einem Tage angesetzt war, wo ich unbedingt in Paris sein mußte.

Endlich kam auch N.s törichte Idee, mich eine Spazierfahrt durch kleine deutsche Städte machen und unbedeutende Orchester dirigieren zu lassen, die nicht imstande gewesen wären, meine komplizierten, schweren Partituren durchzuführen, natürlich nicht zur Verwirklichung. Das von mir geplante russische Gesamtkonzert in Paris erwies sich als ein unerfüllbarer Traum, von dem ich weiterhin noch reden werde. So konnte ich nur in Leipzig, Hamburg, Berlin, Prag, Paris und London wirken.


3.

Ich reiste am 15. Dezember des Jahres 1887 von Petersburg ab und kam am 17. (29.) Dezember in Berlin an. Der Vorstand der Berliner Philharmonischen Gesellschaft hatte bereits schriftlich mit mir über das Konzert, das unter meiner Leitung stattfinden sollte, verhandelt, indessen war eine persönliche Zusammenkunft erforderlich, um das Programm zusammenzustellen. Dies bereitete nicht geringe Schwierigkeiten, weil die Direktion sich bemühte, dem Geschmack des Berliner Publikums Rechnung zu tragen und gar nicht in Übereinstimmung mit meiner Wahl diejenigen Stücke wünschte, die ich nicht wollte, und solche vom Programm strich, auf die ich am meisten hielt und die, von dem ausgezeichneten Berliner Orchester vorgetragen, mich als Komponist von der besten Seite gezeigt hätten. Die mündliche Verhandlung wurde indessen aus folgenden Gründen vereitelt: Als mir am Morgen meiner Ankunft der Kellner zusammen mit dem Frühstück eine Berliner Zeitung brachte, las ich zu meiner nicht geringen Überraschung folgende Notiz: »Heute, am 29.Dezember, trifft der bekannte russische Komponist Tschaikowsky in Berlin ein. Zahlreiche Freunde und Verehrer beabsichtigen, ihn im Restaurant von X. um so und soviel Uhr durch einen Frühschoppen zu ehren.« Ich muß vorausschicken, daß der erwähnte Agent, Herr N., schon in einem seiner Briefe dieses Frühschoppens Erwähnung getan und mir sogar ein Exemplar einer Einladung geschickt hatte, die an zahlreiche Musikliebhaber, Künstler und in Berlin lebende Russen versandt worden war, an einem bestimmten Tage, zu einer bestimmten Stunde mich in einem der bekanntesten öffentlichen Lokale der Reichshauptstadt zu begrüßen. Herr N. hatte dabei im voraus bemerkt, daß ich sehr zurückhaltender Natur wäre, und diese Ehrung daher einen ganz intimen und freundschaftlichen Charakter tragen müsse. Nach Empfang dieses Briefes hatte ich sofort an Herrn N. telegraphiert, man möge durchaus von dieser geplanten Aufmerksamkeit Abstand nehmen, da ich auf keinen Fall erscheinen würde. Aus der Zeitung ersah ich nun aber, daß Herr N. trotzdem diesen Begrüßungsakt inszeniert und sogar meine Ankunft in der Presse bekanntgemacht hatte. Zum Glück wußte Herr N. nicht, in welchem Hotel ich abgestiegen war, und ich beschloß daher, einen Tag verstreichen zu lassen, bevor ich ihn von meiner Ankunft in Berlin in Kenntnis setzte. Ich darf wohl annehmen, daß die Leser begreifen, warum das Verfahren des Agenten mich in Unruhe und Schrecken versetzte. Er wünschte gewiß aufrichtig, mir einen Dienst zu erweisen, wählte aber recht eigentümliche Mittel dazu. Für diejenigen Leser, die mit den Beziehungen des ausländischen Publikums zu russischen Komponisten nicht vertraut sind, will ich bemerken, daß ich in Berlin nicht nur keine zahlreichen Anhänger habe, sondern daß man sogar meine Musik dort recht wenig kennt oder wenigstens früher nicht kannte. Einige meiner symphonischen Werke waren zwar zuweilen in Berlin gespielt worden, – Kapellmeister Bilse z. B. hat in seinen volkstümlichen Konzerten das beliebte Andante aus meinem Quartett häufig zum Vortrag gebracht – aber darauf beschränkte sich auch die Bekanntschaft der Berliner mit meinen Werken. Von den angeblichen zahlreichen Freunden und Verehrern in der mir völlig fremden deutschen Reichshauptstadt kannte ich nur den Chef der Firma Bote & Bock, Herrn Hugo Bock, und was die Beurteilung meiner Werke in der Presse angeht, konnte von einem einmütigen Lobe keine Rede sein. Der Einfall des Agenten N., für mich in Berlin ein Festbankett zu veranstalten, charakterisiert so recht die früher von mir schon gerügte Sonderbarkeit und leichtsinnige Handlungsweise dieses Menschen, der sich einbildete, auf diesem Wege meinen Namen beim deutschen Publikum populär machen zu können. Die Folge dieses Vorgangs war, daß ich mich in Berlin gleichsam beschämt fühlte. Es schien mir, als sei ich für die gesamten Berliner Musikerkreise ein Gegenstand des Spottes, weil man glauben könnte, daß ich mit Hilfe des Herrn N. die mir zugedachte Ehrung selbst veranlaßt hätte. Ich hatte nur den einen Wunsch, in der deutschen Hauptstadt niemanden zu sehen und zu sprechen, und nachdem ich am andern Morgen mit Herrn N. eine gründliche Auseinandersetzung gehabt und mit meinem Freunde Demidow, der damals auf der Durchreise in Berlin war, ein fröhliches Wiedersehen gefeiert hatte, reiste ich in aller Stille nach Leipzig ab, um von hier aus meine Künstlerfahrt durchs westliche Europa beginnen.


4.

In Leipzig wurde ich von drei Landsleuten, Brodski, Siloti und Arthur Friedheim und einem dortigen Musikkritiker empfangen. Mit Brodski, dessen Name dem russischen Publikum, besonders dem Moskauer, ja wohlbekannt ist, verbindet mich jahrelange intime Freundschaft, noch von der Zeit her, wo Brodski Professor am Moskauer Konservatorium war und ich ebenda Unterricht in der Theorie erteilte. 1877 gab Brodski seine Stellung am Konservatorium auf und wirkte eine Zeitlang in Kiew als Leiter der dortigen musikalischen Gesellschaft, unternahm dann längere Reisen im Auslande und wurde schließlich auf den ehrenvollen Posten eines Professors der Violinklasse des Leipziger Konservatoriums berufen, in welcher Stellung er sich die allgemeine Achtung und Liebe als Mensch und Künstler zu erwerben gewußt hat. Ich möchte diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne Brodski meine unauslöschliche Dankbarkeit wegen des folgenden Vorfalls auch an dieser Stelle auszusprechen. Im Jahre 1877 hatte ich ein Violinkonzert komponiert und dieses Herrn Auer gewidmet. Ich weiß nicht, ob Herr Auer sich von meiner Widmung geschmeichelt fühlte, wenigstens wollte er trotz unserer Freundschaft niemals die Schwierigkeiten dieser Komposition überwinden, erklärte es vielmehr für nahezu unmöglich, sie zu spielen, und solcher Ausspruch aus dem Munde einer Autorität wie der des Petersburger Virtuosen stürzte mein Unglückskind in den Abgrund tiefster Vergessenheit. Etwa fünf Jahre später – ich weilte gerade in Rom – fiel mir eines Tages im Café eine Nummer der »Neuen freien Presse« in die Hände, und mein Blick blieb auf einer Rezension Eduard Hanslicks über ein vor kurzem stattgehabtes Konzert der Wiener Philharmonischen Gesellschaft haften. In das Programm desselben war auch mein unglückseliges Violinkonzert aufgenommen worden, und der Professor warf dem Vortragenden, der kein anderer war als mein Freund Brodski, seine unglückliche Wahl vor und machte mein armes Konzert mit beißender Ironie herunter. »Wir wissen,« hieß es da, »daß in der zeitgenössischen Literatur immer häufiger Werke erscheinen, deren Autoren die widerlichsten physiologischen Erscheinungen wiederzugeben lieben, darunter auch garstige Gerüche. Solch eine Literatur kann man als ,stinkend' bezeichnen. Das Konzert des Herrn Tschaikowsky hat uns gezeigt, daß es auch stinkende Musik gibt.« Als ich dieses Urteil des berühmten und einflußreichen Kritikers las, stellte ich mir lebhaft vor, wieviel Fleiß und Anstrengung Freund Brodski nutzlos verschwendet haben mußte, um in der Wiener Philharmonie dieses »übelriechende« Konzert zur Ausführung zu bringen und wie peinlich diese gehässige Kritik ihm für seinen Freund und Landsmann sein mußte. Ich beeilte mich natürlich, Brodski meine innigste Dankbarkeit auszusprechen und erfuhr von ihm, was er in der Tat alles hatte durchmachen müssen, um sein Ziel zu erreichen, nämlich mein Konzert dem Abgrund unverdienter Vergessenheit zu entreißen. In der Folge spielte Brodski das angeblich übelriechende Konzert überall, stieß auch oft auf feindselige Kritiker von der Richtung Hanslicks, aber mein Konzert war doch gerettet und jetzt wird es häufig mit schönem Erfolge im westlichen Europa gespielt, besonders seitdem noch ein zweiter hervorragender Geiger, Halir, meinem Freunde Brodski zu Hilfe gekommen ist. Man wird nun begreifen, wie wohl es mir tat, gleich bei meiner Ankunft in Leipzig dort als moralische Stütze bei den mir bevorstehenden Aufregungen einen aufrichtigen lieben Freund zu finden. Nicht weniger freute ich mich über das Wiedersehen mit dem noch jungen, aber schon weltberühmten Pianisten Alexander Siloti. Ich hatte ihn schon als kleinen Knaben gekannt, als er als Schüler des Moskauer Konservatoriums unter meiner Leitung einige Kurse in der Kompositionslehre durchmachte. Seitdem hatte Siloti bei Liszt und nach dessen Tode bei Anton Rubinstein studiert und in Rußland und Deutschland sich großen Ruf erworben, besonders in Leipzig, wo er schon seit mehreren Jahren seinen ständigen, freilich durch häufige Konzertreisen unterbrochenen Wohnsitz hatte. Auch Siloti hat mir gleich Brodski viele Freundschaftsdienste erwiesen und zur Verbreitung meiner Werke in Deutschland nicht wenig beigetragen; durch ihn fand ich in Leipzig einen Kreis von Musikern, die sich warm für meine Schöpfungen interessierten, und bei der hervorragenden Stellung Leipzigs in der deutschen Musikwelt war das von großer Bedeutung für mich. Ich hatte die krankhafte Vorstellung gehabt, man wolle mich gleichsam in ein feindliches Lager locken und mich und meine Kunst verhöhnen, und nun überzeugte ich mich zu meiner angenehmen Überraschung, daß die Deutschen und besonders die Leipziger sich durchaus nicht so ablehnend uns gegenüber verhalten, wie viele in Rußland glauben. Ich stelle hier einfach die Tatsache fest, daß ich unter dieser Einbildung sehr gelitten habe und daß ich sehr glücklich war, statt unter Gegnern mich unter Menschen zu befinden, die mit meiner Musik vertraut waren und mir mit der wärmsten Sympathie entgegenkamen. Der dritte Landsmann, den ich in Leipzig traf, war der talentvolle Pianist Arthur Friedheim, ein geborener Petersburger und Schüler von Liszt, und schon seit Jahren in Leipzig heimisch. Der obenerwähnte Musikkritiker endlich war Martin Krause, Referent des Leipziger Tageblatts und seit längerer Zeit mit mir befreundet. Leipzig empfing mich mit echt russischem, rauhem Winterwetter. Der Schnee lag fußhoch auf den Straßen, und vom Bahnhof fuhr ich in einem Schlitten sehr eigentümlicher Konstruktion in Brodskis Wohnung, wo ich in einen echt russischen Kreis kam, der durch zwei sehr sympathische russische Damen, die Frau und die Schwägerin meines Wirtes, verschönt wurde. Da ich die letzten Jahre fast ununterbrochen in meinem Vaterlande verlebt hatte, erfaßte mich gleich beim Überschreiten der heimatlichen Grenze ein quälendes Heimweh, und nicht genug kann ich jenes warme Labsal preisen, das ich an jenem Abend und auch in der Folge während meines dreimaligen Aufenthalts in Leipzig empfand, wenn ich mehrere Stunden in Brodskis Familienkreis zubringen durfte. Nicht minder heimisch wurde ich in Silotis Haus, der unlängst eine junge Dame geheiratet hatte, die ich seit ihren Kinderjahren von Moskau her bereits kannte und schätzen gelernt hatte.


5.

Am Tage nach meiner Ankunft in Leipzig machte ich zwei außerordentlich interessante Bekanntschaften. Als ich um 1 Uhr zum Diner bei Brodski erschien, hörte ich Klänge von Klavier, Violine und Cello. Man probierte eben ein neues Trio von Brahms, das am folgenden Tage die Feuerprobe in der Öffentlichkeit bestehen sollte; Brahms selbst spielte den Klavierpart. Zum ersten Male im Leben hatte ich Gelegenheit, dem berühmtesten unter den zeitgenössischen deutschen Komponisten gegenüberzustehen. Brahms ist nicht groß an Wuchs und etwas beleibt. Sein hübscher, grauer Kopf erinnerte mich an einen seelensguten, ältlichen russischen Geistlichen. Für einen Deutschen charakteristische Züge hat Brahms meines Erachtens gar nicht, und mir ist es unbegreiflich, wie ein gewisser gelehrter Ethnograph (ich stütze mich dabei auf eine eigene Mitteilung des Komponisten) gerade seinen Kopf für das Titelbild eines Buches wegen seiner charakteristisch germanischen Züge wählen konnte. Eine gewisse Weichheit und sympathische Rundung der Linien, ziemlich langes, dünnes, graues Haar, gerade, freundliche Augen, ein dichter, graumelierter Bart, alles das erinnert weit eher an den Typus des echten Großrussen, wie man ihn besonders oft unter Personen geistlichen Standes antrifft. Brahms bewegte sich äußerst einfach und ungeniert, ohne allen Hochmut, und die wenigen Stunden, die ich in seiner Gesellschaft verbringen durfte, haben mir eine sehr angenehme Erinnerung hinterlassen. Zu meinem Bedauern muß ich gestehen, daß trotz unseres ziemlich langen beiderseitigen Aufenthaltes in Leipzig es mir nicht gelang, dem gefeierten Meister der zeitgenössischen deutschen Musik näherzutreten. Der Grund hierfür ist folgender: Wie alle meine musikalischen Freunde in Rußland schätzte ich Brahms als ehrlichen, überzeugungstreuen und energischen Musiker, aber trotz allen guten Willens kann ich seine Musik nicht lieben. Die Neigung für Brahms ist in Deutschland sehr verbreitet; es gibt eine Menge Autoren und ganze musikalische Vereinigungen, die sich dem Kultus von Brahms widmen, ihn für eine Größe allerersten Ranges halten, ja beinahe Beethoven gleichstellen. Freilich hat er auch in Deutschland Gegner, und im Auslande sind seine Schöpfungen wenig bekannt, vielleicht mit Ausnahme von London, wo dank der energischen Propaganda seines Freundes Joseph Joachim, der sich in England großer Popularität erfreut, Brahms' Größe anerkannt wird; im Gegensätze dazu hat er sich wohl nirgend so wenig eingebürgert wie in Rußland. In der Musik dieses Meisters liegt für das russische Herz etwas Trockenes, Kaltes, Nebelhaftes und Abstoßendes, von unserem Standpunkte aus fehlt Brahms jede melodische Erfindung. Der musikalische Gedanke wird bei ihm nie ganz ausgesprochen; kaum ist eine melodische Phrase angedeutet, so wird sie schon von allerhand harmonischen Modulationen überwuchert, als ob der Komponist sich eigens zur Aufgabe gemacht hätte, unverständlich und tief zu sein; er irritiert geradezu unser musikalisches Gefühl, indem er dessen Bedürfnis nicht befriedigt und sich scheut, in dem Ton mit uns zu reden, der zu Herzen geht. Wenn man ihn hört, fragt man sich: »Ist Brahms in der Tat tief, oder kokettiert er nur mit der Tiefe seiner musikalischen Erfindung, um die äußerste Armut der Phantasie zu maskieren?«, und es dürfte schwer halten, diese Frage definitiv zu entscheiden. Niemand wird beim Anhören einer Komposition von Brahms sagen, daß es schwache und unbedeutende Musik sei; sein Stil ist immer erhaben, und niemals wird er, wie andere zeitgenössische Komponisten, zu groben äußeren Effekten seine Zuflucht nehmen, er versucht auch nicht durch irgendwelche glänzende, orchestrale Kombinationen den Zuhörer in Erstaunen zu setzen, auch Brutalität oder Unselbständigkeit kann man ihm nicht vorwerfen. Alles ist ernst, gediegen, dem Anschein nach sogar selbständig, aber in allem fehlt die Hauptsache – die Schönheit ...!

Das ist mein Glaubensbekenntnis über Brahms' Schöpfungen. Soviel ich weiß, stehen alle russischen Musiker und das gesamte musikliebende russische Publikum ihm ebenso gegenüber. Als ich vor Jahren einmal Hans v. Bülow gegenüber ganz offen meine Meinung über Brahms äußerte, sagte er mir: »Warten Sie nur, es wird schon eine Zeit kommen, wo sich auch Ihnen Brahms' Tiefe und Schönheit eröffnen wird; gleich Ihnen habe ich ihn lange nicht verstanden, aber allmählich bin ich der Offenbarung seines Genius würdig geworden, und so wird es auch Ihnen ergehen.« Ich wartete – aber die Offenbarung wollte nicht kommen; ich kann nur wiederholen, ich achte in Brahms die künstlerische Persönlichkeit aufs höchste, ich beuge mich vor der keuschen Reinheit seines Stils und freue mich seiner Festigkeit gegenüber den triumphierenden Anhängern von Wagner und Liszt – aber ich liebe seine Musik nicht. Der Leser wird begreifen, daß dieser Umstand mich hinderte, mit Brahms, so sympathisch seine Persönlichkeit auch ist, in nähere Beziehungen zu treten; ich sah ihn beständig in Gesellschaft überzeugter Anhänger, zu denen auch mein Freund Brodski gehörte, und es war mir peinlich, in ihrer Mitte zu weilen, ohne ihren Kultus für ihren Abgott zu teilen und so in die vollste Harmonie der Seelen gleichsam eine Dissonanz durch meinen Unglauben an das mir fremde, religiös-musikalische Dogma hineinzutragen. Andererseits war es mir, als ob Brahms instinktiv fühlte oder sogar wußte, daß ich nicht zu seinen Anhängern zählte, und daß er aus diesem Grunde seinerseits keinen Schritt zu einer Annäherung tat. Er verkehrte mit mir zwanglos und freundlich wie mit allen – aber auch nicht mehr. Alles, was ich von dem Menschen Brahms gesehen und gehört habe, erhöht mein tiefes Bedauern darüber, daß sich die von Bülow prophezeite Offenbarung bei mir nicht einstellen wollte. Alle näheren Bekannten des Wiener Meisters rühmen seinen Charakter; der berühmte tschechische Komponist Dworak z. B. erzählte mir mit Tränen in den Augen, wie teilnehmend und edel Brahms sich ihm gegenüber benommen habe, als er seine, Dworaks, Kompositionen kennenlernte, die kein Verleger herausgeben und kein Künstler vortragen wollte, und welch mächtige Stütze Brahms dem ins Dunkel der Unbekanntheit versinkenden slawischen Mitbruder gewesen war. Auch Brodski rühmte mir die edle Bescheidenheit des großen Komponisten. Richard Wagner, der sich bekanntlich zu allen mit ihm gleichzeitig wirkenden Komponisten wenig entgegenkommend benahm, pflegte besonders beißend und boshaft über Brahms' Schöpfungen sich zu äußern. Als man Brahms nun einmal einen neuen, besonders boshaften Ausfall Wagners an seine Adresse hinterbrachte, rief er aus: »Mein Gott, Wagner schreitet ja triumphierend auf der großen Straße. Wodurch kann ich ihm wohl hinderlich sein oder ihn ärgern, wenn ich meinen bescheidenen, kleinen Fußpfad gehe, und warum kann er mich nicht in Ruhe lassen, da ich gewiß niemals seinen Weg kreuzen werde? –«


6.

Während desselben Diners bei Brodski machte ich noch eine andere, nicht weniger interessante Bekanntschaft, die noch den Vorzug hatte, sich nicht als eine bloß vorübergehende Zusammenkunft zu erweisen, sondern sich zu wiederholen und bald in eine aufrichtige Freundschaft überzugehen, deren Grundlage die innere Geistesverwandtschaft zweier musikalischer Naturen ist, wenngleich sie nicht derselben Nation angehören. Während der Probe des neuen Trios von Brahms, bei welcher ich mir in betreff der Tempi einige Bemerkungen erlaubte, die vom Komponisten sehr gütig aufgenommen und befolgt wurden, trat ein Herr von sehr kleinem Wuchs, von schwächlichem Aussehen, mit Schultern von ungleicher Höhe, hochwallenden, blonden Locken und spärlichem, beinahe jünglingshaftem Bartwuchs ins Zimmer. Die Gesichtszüge dieses Mannes, dessen Äußeres aus irgendwelchem Grunde bei mir sofort Sympathie erweckte, hatten nichts Besonderes, man konnte sie weder hübsch noch regelmäßig nennen, aber ungewöhnlich anziehend. Mittelgroße, blaue Augen, die an den Blick eines unschuldigen Kindes erinnerten, nahmen sofort den Beschauer gefangen. Ich war nicht wenig erfreut, als es sich bei der gegenseitigen Vorstellung erwies, daß der Besitzer dieser mir so sympathischen Augen und der Träger dieses mir so sympathischen Kopfes ein Musiker war, dessen tief empfundene Melodien schon lange mein Herz gewonnen hatten. Es war Edvard Grieg, der ausgezeichnete norwegische Komponist, der sich schon seit etwa fünfzehn Jahren bedeutender Popularität sowohl in Rußland wie im skandinavischen Norden erfreute. Ich glaube nicht zu irren, wenn ich sage, daß in demselben Maße, wie Brahms vielleicht unverdienter- und ungerechterweise bei der russischen Musikwelt unbeliebt ist, Edvard Grieg es verstanden hat, sich für immer die russischen Herzen zu erobern. In seiner von zarter Melancholie durchdrungenen Musik spiegeln sich gleichsam die Schönheiten der norwegischen Natur ab, die bald erhaben und großartig, bald in Nebel verschleiert, in anspruchsloser Dürftigkeit sich zeigt, aber für die Seele des Nordländers etwas unaussprechlich Reizvolles, einen verwandten Ton besitzt, der in unseren Herzen einen Widerhall weckt. Es ist möglich, daß Grieg viel weniger Meisterschaft besitzt als Brahms, weniger hochfliegende Pläne verfolgt und der Neigung zu bodenloser Tiefe gänzlich entbehrt, aber dafür steht er uns menschlich viel näher. Beim Anhören von Griegs Musik fühlen wir instinktmäßig, daß hier ein Mann zu uns spricht, der die überquellenden Empfindungen und Stimmungen einer hochpoetischen Natur in Töne ergießen will, die sich weder Theorien, noch vorgefaßten Prinzipien unterwerfen, sondern allein dem Drange eines lebhaften und innigen künstlerischen Gefühls folgen; Vollendung in der äußeren Form, strenge, tadellose Logik in der Ausarbeitung der Themata dürfen wir bei dem berühmten Norweger nicht immer suchen, aber welche Anmut, welche Unmittelbarkeit und Frische der musikalischen Empfindung entschädigt dafür! Wieviel Leidenschaft und frisch sprudelndes Leben webt in seinen Harmonien, wieviel Originalität in seinen biegsamen Modulationen, wieviel Eigenart in seinen Rhythmen! Fügt man noch hinzu, daß seine Musik nicht den Anspruch macht, etwas noch nie dagewesenes Tiefes und Neues zu bieten, und allem Gesuchten und Gequälten aus dem Wege geht, so ist es nicht zu verwundern, daß Grieg überall populär ist, daß sein Name in Deutschland und in Skandinavien, in Paris und London so gut wie in Wien und Moskau, überall auf den Konzertprogrammen steht, und daß die Ausländer, welche die alte Fjordstadt Bergen in Norwegen besuchen, es für eine angenehme Pflicht halten, wenigstens von ferne das reizende Tuskulum zu betrachten, das sich Grieg mitten unter den Felsen am Meeresstrande erbaut hat und in dem er den größten Teil seines Lebens verbringt.

Es könnte als Selbstlob erscheinen, daß diesem Dithyrambus aufs Griegs Talent die Äußerung vorhergeht, daß meine Natur und die seinige innerlich nahe verwandt seien. Indem ich die vorzüglichen Eigenschaften Griegs rühme, will ich selbstverständlich nicht behaupten, daß auch ich über dieselben verfüge. Ich überlasse es anderen, zu entscheiden, wie weit mir das alles fehlt, was Grieg in solchem Überflusse besitzt, und begnüge mich hiermit, die Tatsache festzustellen, daß auch Grieg etwas von jener Sympathie, die mich zu dem hochbegabten Norweger von jeher hingezogen hat, in bezug auf mich empfunden hat und empfindet. Ich werde später einmal noch einen Beweis dafür anführen können.

Zugleich mit Grieg trat eine leicht ergraute, äußerlich ihm sehr ähnliche, ebenso zart und sympathisch aussehende Dame ins Zimmer. Es war seine Frau und zugleich seine Cousine, wodurch sich die Ähnlichkeit erklärt. In der Folge hatte ich Gelegenheit, Frau Griegs verschiedenartige, wertvolle Eigenschaften kennenzulernen. Erstens erwies sie sich als vortreffliche Sängerin, obgleich sie keine Ausbildung gehabt hatte, zweitens entpuppte sie sich als eine ausgezeichnete Kennerin unserer Literatur, für die übrigens auch Grieg selbst sich lebhaft interessiert, drittens überzeugte ich mich sehr bald, daß sie ebenso seelensgut, kindlich und arglos war wie ihr berühmter Gatte. In derselben Gesellschaft befand sich noch eine vierte Persönlichkeit, bei der ich ein wenig verweilen möchte. Als wir beim Tee saßen, kam plötzlich ein hübscher Hund von guter Rasse, ein Setter, ins Zimmer gelaufen und begrüßte sofort der Reihe nach den Gastgeber, seine Damen und den kleinen Neffen. »Das bedeutet, daß Miß Smith gleich erscheinen wird,« riefen alle wie aus einem Munde, und einige Minuten später trat in der Tat eine große, schlanke Engländerin ins Zimmer, nicht jung und nicht hübsch, aber mit einem ausdrucksvollen, klugen Gesicht, und man stellte mich ihr sofort als einen Kunstgenossen vor. Miß Smith ist eine von den wenigen Komponistinnen, die man ernsthaft nehmen kann. Sie war schon seit mehreren Jahren in Leipzig wohnhaft, hatte gründliche Studien in der Kompositionslehre gemacht und einige interessante Sachen geschrieben, darunter als Bestes eine Violinsonate, die ich in der Folge von ihr selbst und Brodski in vortrefflicher Weise vortragen hörte. Da es keine Engländerin ohne Sonderbarkeiten und Schrullen gibt, so fanden sich solche auch bei Miß Smith, nämlich erstens der hübsche Hund, der von seiner Herrin unzertrennlich war und immer ihr Erscheinen anmeldete, zweitens die Leidenschaft für die Jagd, derentwegen das Fräulein häufig auf einige Zeit nach England reiste, und drittens eine unglaubliche, zur blinden Leidenschaft gesteigerte Verehrung für den musikalischen Genius von Brahms. Nach ihrer Meinung bedeutet Brahms den Gipfel aller Musik, alles, was vor ihm gewesen, diente nur als Vorbereitung auf ihn, und das Ideal absoluter musikalischer Schönheit verkörperte sich für Miß Smith nur in der Person des Wiener Meisters. Wie immer, wenn ich solch fanatische Brahmsverehrer traf, fragte ich mich mit Kummer und Unruhe, ob diese Leute sich etwa irrten und sich etwas einbildeten, was nicht vorhanden ist, oder ob ich von Gott und der Natur so vernachlässigt bin, daß ich nicht gewürdigt wurde, der von Hans von Bülow geweissagten Offenbarung teilhaftig zu werden.

An diesem, an verschiedenen Eindrücken so reichen Tage, der zugleich der Neujahrstag 1888 neuen Stils war, wohnte ich einem außergewöhnlichen Gewandhauskonzerte bei, in welchem zum ersten Male eine neue Schöpfung von Brahms aufgeführt wurde: das Doppelkonzert für Violine und Cello. Den Violinepart spielte Meister Joachim, den Cellopart der bekannte Berliner Virtuose Hausmann, und Brahms selbst dirigierte das Orchester. Dieses Konzert brachte trotz der vortrefflichen Ausführung nicht den geringsten Eindruck auf mich hervor, dafür aber wurde ich im höchsten Grade von einigen vollendet ausgeführten Chören a capella ergriffen, darunter eine Motette von Bach, die der aus Männer- und Knabenstimmen zusammengesetzte berühmte Leipziger Thomanerchor vortrug. Niemals zuvor hatte ich Ähnliches gehört und muß gestehen, daß ich erstaunt und betrübt zugleich war, denn ich hatte bisher immer geglaubt, daß einige unserer russischen Kirchenchöre ersten Ranges die besten in der Welt seien. – Die Aufführung der fünften Symphonie von Beethoven durch das vorzügliche Gewandhausorchester hätte mich gleichfalls in volles Entzücken versetzt, wenn ich nicht gefunden haben würde, daß der ehrenwerte Dirigent, Professor Karl Reinecke, die Tempi zu langsam nahm. Vielleicht rechtfertigte ihn althergebrachte Überlieferung, aber wenn dem so ist, wäre es besser, sich nicht sklavisch daran zu halten, denn ich bin fest überzeugt, daß die Art der Ausführung dieser gewaltigen Tonschöpfung bei uns eine viel lebhaftere und hinreißendere ist. Der Saal des neuen Gewandhauses gefiel mir ausgezeichnet. Er faßt sehr viel Publikum, ist gut beleuchtet und ventiliert, geschmackvoll und reich dekoriert, und was die Hauptsache ist, er besitzt eine musterhafte Akustik. In der großen Direktionsloge, in der ich saß, waren viele hervorragende Persönlichkeiten der Leipziger Musikwelt versammelt, mit denen ich sämtlich bekannt wurde, darunter Professor Reinecke, der mir sehr freundlich entgegenkam. Der Direktor der Gewandhausgesellschaft teilte mir mit, daß meine erste Probe auf den nächsten Vormittag 10 Uhr angesetzt sei.


7.

Die berühmten Gewandhauskonzerte, welche aus der verhältnismäßig kleinen Stadt Leipzig eines der musikalischen Zentren Deutschlands gemacht haben, zeichnen sich durch ein Orchester ersten Ranges und durch eine streng konservative Richtung aus und lassen außer den drei großen Klassikern Haydn, Mozart, Beethoven und deren Zeitgenossen nur Mendelssohn und Schumann zu Gehör kommen; Werke von Wagner, Berlioz und Liszt werden dort fast nie gespielt, nur in allerletzter Zeit haben die Leiter dieser musikalischen Veranstaltungen dem Zeitgeist einige schüchterne Konzessionen gemacht. Darunter gehörte auch die mir ganz unerwartet zugegangene Einladung, in Leipzig eine meiner Schöpfungen zu dirigieren. Man hat sich denn auch in Deutschland und in Rußland nicht wenig über diese Einladung gewundert, besonders in ersterem Lande, wo mich sehr viele für einen der Vertreter der ultrarevolutionären musikalischen Richtung hielten, was ebenso unbegründet ist, wie die in Rußland oft gehörte gegenteilige Behauptung, ich sei ein Reaktionär. Wahrscheinlich verdankte ich meine Einladung der teilnahmsvollen Fürsorge Brodskis, der in Leipzig große Autorität besitzt. Ich gestehe aufrichtig, daß die Aufnahme meiner Musik in das Programm des Gewandhauses meiner Eigenliebe als Autor sehr schmeichelhaft war, und ich gerade von Leipzig aus meine Künstlerfahrt sehr gerne begann, da dieser Umstand geeignet war, meinem Namen in Deutschland erhebliche Autorität zu verleihen. Aber ebenso groß wie meine Freude über die mir seitens der Gewandhausdirektion zuteil gewordene Ehrung war mein Wunsch, mich als würdigen Repräsentanten der russischen Musik in der Fremde zu zeigen, und um so quälender peinigte mich die schüchternen Leuten eigene Furcht, ich würde enttäuschen und mich bloßstellen. Nach einer infolge solcher Befürchtungen schlecht verbrachten Nacht – besonders bangte mir davor, ob ich als Dirigent genügen würde – begab ich mich in Begleitung meines Freundes Siloli zur Probe. Am Portal des Gewandhauses trafen wir mit dem ehrwürdigen Kapellmeister Reinecke zusammen, der gleichfalls zur Probe eilte, um mich dem Orchester vorzustellen. Professor Reinecke genießt in Deutschland und in ganz Europa den Ruf eines ausgezeichneten Musikers, talentvollen Komponisten Mendelssohnscher Schule und eines erfahrenen Dirigenten, der die Traditionen der berühmten Leipziger Konzerte würdevoll, wenn auch ohne besonderen Glanz aufrecht zu erhalten weiß. Ich sage »ohne besonderen Glanz,« weil es viele Leute in Deutschland gibt, die Herrn Reinecke die Kapellmeisterbegabung absprechen und wünschen, an seiner Stelle einen talentvolleren Musiker mit entschlossenerem Charakter zu sehen. Wenn auch nicht wenig Anhänger von Wagner, Liszt, Brahms und anderen Meistern des Fortschrittes derartig über Reineckes Tätigkeit denken, so kann doch niemand dem gewissenhaften und begabten Musiker seine Achtung versagen. Solche Achtung zollte auch ich ihm seit langer Zeit, und deshalb war mir die Teilnahme und Liebenswürdigkeit, die er mir gleich von Beginn unserer persönlichen Bekanntschaft an entgegenbrachte und während meines ganzen Leipziger Aufenthaltes bewies, nicht wenig wert. Nachdem der Orchesterdiener gemeldet, daß alle Musiker versammelt seien, gingen wir aus dem Künstlerzimmer aufs Podium. Herr Reinecke führte mich an das Dirigentenpult, klopfte mit dem Taktstock und sprach einige Begrüßungsworte, auf welche die Künstler mit Händeklatschen und durch Klopfen mit ihren Bögen auf die Pulte antworteten. Dann übergab er mir den Taktstock, ich trat ans Dirigentenpult, sprach einige, wahrscheinlich recht falsche deutsche Dankesworte, und die Probe begann. Es wurde meine erste, aus fünf Sätzen bestehende Suite aufgeführt, von denen die beiden ersten, Introduktion und Fuge, zu meinen gelungensten Arbeiten gezählt werden. Die erste Viertelstunde auf der ersten Probe mit einem fremden Orchester, solange man noch keine Zeit hat, die unbekannten Gesichter zu betrachten, ist unsagbar peinlich, wenigstens für solch schüchternen und wenig geübten Dirigenten, wie ich es bin. Nach der ersten Pause, nach den ersten Bemerkungen, die man zu machen genötigt ist, um irgendein Mißverständnis zu beseitigen, kurz, wenn man überhaupt in nähere Beziehungen zum Orchester getreten ist, weicht die Aufregung und man behält nur die Sorge um den bestmöglichen Verlauf der ganzen Probe. Nach dem ersten Satz der Suite sah ich an dem Mienenspiel, an dem Lächeln auf den Gesichtern, daß viele von den Orchestermitgliedern sofort meine Freunde geworden waren. Meine Schüchternheit schwand zusehends, die ganze Probe verlief sehr glücklich, und ich nahm die Überzeugung mit mir fort, daß ich es mit einer musikalischen Körperschaft von ungewöhnlich hohem Werte zu tun gehabt hatte. Reinecke und Brahms hatten beide im Hintergrunde des Saales der Probe beigewohnt. Brahms machte mir bei unserer Begrüßung keine aufmunternde Bemerkung, aber ich erfuhr später, daß der erste Teil der Suite ihn sehr befriedigt hatte, die folgenden dagegen nicht, besonders nicht der vierte Satz: » Marche miniature."

Die folgende Probe war schon die Generalprobe. In Leipzig herrscht die Sitte, zu diesen Generalproben das Publikum zuzulassen. Dieses besteht zum größten Teil aus der studierenden Jugend, die ebenso leicht begeistert und freigebig mit Beifallsbezeigungen, wie das Publikum der eigentlichen Konzerte am Abend schwer zu erwärmen ist und mit Applaus kargt. Suite und Autor wurden von den Hörern der Generalprobe mit stürmischem Beifall und mehreren Hervorrufen geehrt, und es kann wohl möglich sein, daß ich dies hauptsächlich der Anwesenheit vieler russischer Studenten verdanke, die mit ihren Beifallsbezeigungen für den vaterländischen Komponisten nicht geizten. Wie dem auch sei, ich war mit meinem Erfolge zufrieden, und meine Freude steigerte sich noch, als ich, nach Hause zurückgekehrt, eine Karte von Edvard Grieg fand, der von der Generalprobe sofort zu mir geeilt war und mir einige Zeilen hinterlassen hatte, in welchen er den von meiner Komposition empfangenen Eindruck in so warmen und begeisterten Worten wiedergab, daß ich mich scheue, dieselben dem Leser hier zu wiederholen. Eine aufrichtige Anerkennung von einem Mitstrebenden, wie es Grieg ist, bildet das größte Labsal, das einem Künstler zuteil werden kann.

Am nächsten Tage fand das Konzert selbst statt. Brodski hatte mich auf den kühlen Empfang seitens des Konzertpublikums vorbereitet, und ich war daher gar nicht erstaunt oder unangenehm berührt, als bei meinem Erscheinen auf dem Podium sich keine Hand regte und auch nach meiner Verbeugung Grabesstille herrschte. Dafür ertönte nach Beendigung des ersten Teiles der Suite lebhafter Applaus, der sich mehr oder weniger nach jedem Satze wiederholte, und am Schluß wurde ich sogar zweimal gerufen, was, wie man mir sagte, im Gewandhause schon einen starken Erfolg bedeutet. Nach dem Konzert folgte ich einer Einladung Reineckes zum Abendessen. Seine Familie und er selbst wetteiferten in Freundlichkeiten. Reinecke beherrscht die französische Sprache vorzüglich und zeigte sich als angenehmer, unterhaltender Gesellschafter. Unter anderem erzählte er mir Episoden aus dem Leben Robert Schumanns, dem er in der Jugend nahegestanden. Schumann war ein echter Melancholiker. Man konnte schon lange voraussehen, daß diese angeborene, unglückliche Naturanlage in Hypochondrie und Wahnsinn übergehen würde, wie es ja leider auch wirklich der Fall war. Schumanns Schweigsamkeit war erstaunlich; es schien, als ob ihn jedes Wort große Anstrengung kostete. Auffällig in seiner musikalischen Organisation war auch, daß er ganz unfähig war, zu dirigieren. Reinecke erzählte mir Fälle, aus denen hervorgeht, daß er sogar den Klang der einzelnen Instrumente nicht gut unterscheiden konnte, und daß das für den Kapellmeister so unentbehrliche angeborene rhythmische Gefühl bei ihm nur ganz unbedeutend entwickelt war. Wie schwer sind diese Anomalien bei einem Musiker zu begreifen, der, nach seinen Kompositionen zu urteilen, gerade in bezug auf den Rhythmus so erfinderisch war!

Professor Reinecke machte mich an jenem Abend auch mit einem französischen Komponisten bekannt, der den Winter stets in Leipzig verlebte. Herr G. ist ganz deutsch geworden, beherrscht die deutsche Sprache vollkommen und verhält sich seinem Vaterlande gegenüber geradezu feindselig. Er machte auf mich den traurigen Eindruck eines enttäuschten und gekränkten Menschen, der von seinen Landsleuten verkannt wird und infolgedessen geneigt ist, die Eigenschaften und Vorzüge fremder Nationen zu überschätzen. Herr G. hat wahrscheinlich genügende Ursachen, über das musikalische Frankreich sich zu beklagen, aber es war mir dennoch peinlich, ihn so alles Deutsche auf Kosten Frankreichs herausstreichen zu hören. Solch einem Franzosen war ich noch niemals vorher begegnet.


8.

Einen Tag später (nach russischem Stil war es gerade Weihnachten) wohnte ich einem Konzert des Lisztvereins im Saale des alten Gewandhauses bei. So großartig, geräumig und elegant das neue Gewandhaus ist, so klein, unbequem und häßlich, um nicht zu sagen, schmutzig, ist das alte, aber dafür hat dieser Saal und besonders das kleine Künstlerzimmer Traditionen aufzuweisen, die ihn zu einer Art Heiligtum deutscher Kunst machen, und es ergriff mich ein andächtiges Gefühl, als ich, im Künstlerzimmer sitzend, überdachte, daß diese schlichten Wände so oft Mendelssohn, Schumann und andere Große gesehen hatten, die im Lauf früherer Jahrzehnte auf dem Podium des Gewandhauses erschienen waren ... Das genannte Konzert fand am Morgen statt und war ausschließlich aus meinen Kompositionen zusammengestellt. Der Lisztverein widmet im Gegensatz zum neuen Gewandhause seine Tätigkeit der modernen Musik; er besteht erst seit zwei Jahren, hat aber doch schon sein eigenes, recht zahlreiches Publikum, das an jenem Tage den Saal bis auf das letzte Plätzchen füllte. Im Vorstande der Gesellschaft sitzen zahlreiche Verehrer Franz Liszts, größtenteils junge, energische Leute, und es scheint, daß mit der Zeit bei verständiger Leitung der Verein dem Gewandhause ernstliche Konkurrenz machen wird. Von den Persönlichkeiten, die besonders für das Gedeihen des Lisztvereins Sorge tragen, seien der schon genannte Musikkritiker Martin Krause, der Verleger Fritzsch, der Kapellmeister der Leipziger Oper, Arthur Nikisch, sowie Freund Siloti erwähnt. Aus Weimar war der Konzertmeister des dortigen großherzoglichen Orchesters, der junge Geiger Halir, eigens herübergekommen. Ich freute mich sehr, seine Bekanntschaft zu machen, weil, wie ich schon früher erzählt habe, Halir sich als Spezialität mein Violinkonzert ausgewählt hatte und trotz gelegentlicher Anfechtungen von seiten der Kritik es unentwegt vortrug, um mein Schmerzenskind zum Repertoirstück der deutschen Symphoniekonzerte zu machen. Halir spielte diesmal zusammen mit Siloti und dem vorzüglichen Cellisten Schröder, der sich auch in Moskau vorteilhaft bekannt gemacht hat, jenes Trio, das ich dem Andenken Nikolaus Rubinsteins gewidmet hatte. Das unter Leitung des Herrn Petri, des Konzertmeisters des Gewandhauses, stehende Quartett spielte meine erste Schöpfung dieser Gattung vorzüglich. Außerdem wurden noch einige meiner kleinen Stücke vorgetragen. Das Publikum des Lisztvereins war sehr freigebig mit Beifall und die Direktion überreichte mir einen Kranz. Ich saß während des ganzen Konzertes, dem Publikum sichtbar, auf dem Podium und hatte Grieg und seine Frau neben mir. Herr Fritzsch erzählte mir später, wie eine Dame auf mich und das Ehepaar Grieg deutend, zu ihrer Tochter sagte: »Sieh, mein Kind, da sitzt der Tschaikowsky und neben ihm seine Kinder!« Das wurde ganz ernsthaft gesagt und ist auch gar nicht so wunderlich, wie es auf den ersten Blick sich ausnimmt, denn ich bin grau und greisenhaft, und Grieg, der fünfundvierzig Jahre alt ist, und seine Frau sehen, zumal sie klein von Wuchs sind, von weitem sehr jugendlich aus. – Nach dem Konzert verbrachte ich einige sehr angenehme Stunden bei Siloti und seinen Freunden vom Vorstande des Lisztvereins. Die Unterhaltung drehte sich meistens um die russische Musik, und ich überzeugte mich zu meiner Freude, daß diese ganze begabte Jugend mit unseren Komponisten: Glinka, Balakirew, Rimski-Korsakow, Brodin, Glasunow bekannt ist und ihnen die größte Sympathie entgegenbringt; besonders lieben alle Balakirews »Islamey« und halten diese Komposition für genial und einzig in ihrer Art.

An diesem für mich so denkwürdigen Tage hörte ich von Halir mein schon mehrfach erwähntes Violinkonzert zum ersten Male spielen. Mir will scheinen, daß dieser Künstler, der über eine großartige Technik, bewunderungswürdige Schönheit, Glanz und Fülle des Tons verfügt, in sehr kurzer Zeit mit die erste Stelle unter den Geigern unserer Zeit einnehmen wird.


9.

Nach zwei für mich so bedeutungsvollen Tagen blieb ich noch eine ganze Woche in Leipzig, und in der Folge kam ich noch zweimal auf einige Tage dorthin. Um meine Leipziger Erinnerungen abzuschließen, will ich noch von einigen weiteren interessanten Bekanntschaften, die ich dort machte und von einigen anderen bemerkenswerten Ereignissen erzählen.

Die Leipziger Oper ist stolz auf ihren genialen jungen Kapellmeister Arthur Nikisch, einen Spezialisten für Wagners Musikdramen aus der letzten Periode seines Schaffens. Ich hörte unter seiner Leitung das »Rheingold« und »Die Meistersinger von Nürnberg«. Das Orchester im Theater ist dasselbe, wie im Gewandhause, folglich ersten Ranges, aber so tadellos die Konzertaufführungen unter Karl Reineckes Direktion auch sein mögen, so kann man sich einen rechten Begriff von der Vorzüglichkeit der orchestralen Leistungen erst bilden, wenn man die Wiedergabe der schwierigen, komplizierten Wagnerschen Partituren hört, von einem so bewunderungswürdigen Meister in seinem Fache geleitet, wie es Herr Nikisch ist. Sein Dirigieren hat nichts gemeinsam mit der berühmten und in ihrer Art unnachahmlichen Manier Hans von Bülows. So beweglich, unruhig und effektvoll in seinen zuweilen in die Augen fallenden Kunstgriffen beim Dirigieren der letztere auch ist, so wunderbar ruhig, jede überflüssige Bewegung vermeidend, aber dabei so erstaunlich mächtig, energisch und voll Selbstbeherrschung ist Arthur Nikisch. Er dirigiert nicht, sondern es scheint, als ob er sich einer gewissen geheimnisvollen Zauberei hingibt; man bemerkt ihn kaum, er bemüht sich durchaus nicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und doch fühlt man, daß das ungeheure Orchesterpersonal, wie ein Instrument in den Händen eines bewunderungswürdigen Meisters, sich vollständig und willig den Anordnungen seines Hauptes fügt. Dieses Haupt nun ist ein mittelgroßer, sehr blasser jünger Mann von etwa dreißig Jahren, mit schönen strahlenden Augen, der in der Tat über irgendeine zauberische Kraft verfügen muß, vermöge derselben er das Orchester zwingt, bald zu donnern wie tausend Trompeten von Jericho, bald sanft zu girren wie ein Täubchen, bald zu verhallen in einem atemraubenden, geheimnisvollen Klang. Und das alles geschieht so, daß die Hörer den kleinen Kapellmeister nicht einmal bemerken, der ruhig schwebt über seinem ihm sklavisch gehorsamen Orchester.

Herr Nikisch ist germanisierter Ungar; ich vermute, er ist nicht das einzige Beispiel dieser Art. Aber ganz gewiß ist man niemals, wenigstens unter Musikern, einem echten in Florenz geborenen Italiener begegnet, der dort auch seine Kindheit und seine Knabenjahre verbracht hat und der in solchem Grade die dem schönen Süden eigenen Züge eingebüßt (es versteht sich dies nur im musikalischen Sinne) und in so großer Vollkommenheit von den Deutschen Sprache, Manieren und besonders ihre musikalische Art und den Stil angenommen hat, wie der talentvolle Feruccio Busoni, mit dem ich Gelegenheit hatte, recht nahe bekannt zu werden. Herr Busoni lebt seit seinen Knabenjahren in Deutschland, wo er eine gute musikalische Schule durchgemacht und sich zu einem technisch sehr hervorragenden Pianisten und Komponisten emporgearbeitet hat. Ich hörte in vorzüglicher Wiedergabe durch Herrn Petri und seine drei Genossen ein unlängst von Busoni komponiertes Quartett. Dasselbe zeugt von großem Talent, sowie von der ungewöhnlich ernsten Richtung des Herrn Busoni; da ich dank unserer persönlichen Bekanntschaft Grund habe, zu glauben, daß dieser junge Komponist einen starken Charakter, einen glänzenden Verstand und einen edlen Ehrgeiz besitzt, so zweifle ich nicht, daß man in kurzer Zeit viel von ihm reden wird. Als ich das Quartett hörte und mich im höchsten Grade an seinen originellen rhythmischen und harmonischen Kombinationen ergötzte, bedauerte ich jedoch, daß Herr Busoni seiner Natur Gewalt antut und sich um jeden Preis bemüht, als Deutscher zu erscheinen. Ähnliches kann man noch bei einem anderen Italiener aus der jüngsten Generation bemerken, bei Sgambati. Sie schämen sich beide, Italiener zu sein, fürchten, daß in ihren Kompositionen auch nur ein Schatten von Melodie durchleuchtet und wollen »tief« sein nach deutscher Art. Traurige Erscheinung! Der geniale Greis Verdi eröffnete in »Aida« und »Othello« den italienischen Musikern neue Bahnen (ohne im geringsten in Germanismus zu verfallen, denn ganz ohne Grund nehmen viele an, daß Verdi in Wagners Fußtapfen tritt), seine jungen Landsleute wenden sich nach Deutschland und versuchen Lorbeeren zu sammeln im Vaterlande Beethovens, Schumanns, auf Kosten einer gewaltsamen Wiedergeburt, indem sie sich bemühen, Brahms ähnlich, »tief«, unverständlich, sogar langweilig zu sein, wenn man sie nur nicht mit jener Legion italienischer Tonkünstler vermengt, die den abgestandenen Trank der Opern von Bellini und Donizetti mit Wasser verdünnen. Jene Ehrgeizigen vergessen die alte Fabel, daß das Lamm, wenn es sich auch in eine Löwenhaut steckt, doch immer ein – Lamm bleibt und, wenn der Löwe von Natur mit Kraft und Stolz begabt ist, ihm Sanftmut, schöne Wolle und andere nützliche Eigenschaften zuteil geworden sind, die sich im Laufe der kulturellen Entwicklung noch vervollkommnet haben und nicht weniger geschätzt werden als die der Lammnatur ganz entgegengesetzten Leuentugenden und Vorzüge. Ich bin fest überzeugt, daß die italienische Musik nur dann eine neue Blüteperiode erleben wird, wenn ihre Vertreter sich entschließen, anstatt im Widerspruch mit ihrem künstlerischen Naturell in die Reihen derer um Wagner, Liszt und Brahms zu drängen, aus dem Innern ihres nationalen Geistes heraus neue musikalische Anregungen zu schöpfen und unter Verzicht auf die veralteten Banalitäten der dreißiger Jahre neue Formen zu finden, die in Übereinstimmung mit der sie umgebenden üppigen südlichen Natur sich durch glänzenden Melodienreichtum und gefällige äußere Einkleidung auszeichnen. Solche Eigenschaften waren ja von jeher für den italienischen Genius charakteristisch und lassen sich vielleicht auch mit Tiefe vereinbaren, wenn auch nicht Tiefe im deutschen Sinne.

Um mit den in Leipzig erhaltenen Eindrücken zu schließen, will ich eine kleine Episode erzählen, welche beweist, daß die Politik nicht im mindesten die Musik beeinflußt und daß Mars und Apollo voneinander unabhängige Götter sind. Ganz Deutschland war damals noch vor Bismarcks berühmter Februarrede bekanntlich nicht gerade russenfreundlich gestimmt und in leidenschaftlicher Bewegung. Eines Morgens nun wurde ich sehr früh von starkem Lärm und großer Unruhe im Korridor des Hotels geweckt und gleich darauf klopfte es an meine Tür. Etwas erschreckt sprang ich aus dem Bette, öffnete und erfuhr von dem Kellner, der geklopft hatte, daß unter meinem Fenster gleich ein Ständchen beginnen würde, und daß man mein Erscheinen am Fenster erwarte, trotz des ziemlich starken Frostes. Zugleich überreichte mir der Kellner ein kunstvoll gemaltes Programm, das acht Nummern der verschiedenartigsten Musik aufwies. In demselben Augenblick ertönten vom Hofe die Klänge unserer Nationalhymne. Ich kleidete mich Hals über Kopf an, öffnete das Fenster und sah gerade unter mir ein vollständiges Militärorchester aufgestellt: in der Mitte der Kapellmeister in glänzender Uniform, deren sich ein General nicht hätte zu schämen brauchen. Aller Augen richteten sich auf mich, ich verneigte mich und blieb während der ganzen Zeitdauer dieses unerwarteten Konzerts am Fenster stehen, mit entblößtem Kopf trotz des starken Frostes an diesem Februarmorgen. Die Kapelle, die mir diese Auszeichnung erwies, war eine der in Leipzig in Garnison liegenden Regimenter. Die Meisterschaft, mit der die einzelnen Musikstücke vorgetragen wurden, war um so anerkennenswerter, als die grausame Winterkälte doch die Hände der armen Musiker, die schon während einer ganzen Stunde mit stoischem Gleichmut froren, lähmen mußte. Der greise Kapellmeister, Herr Saro, der meiner Musik besondere Sympathie entgegenbringt, welchem Umstande ich diesen Ohrenschmaus verdankte, kam nach Beendung des Ständchens zu mir herauf und begrüßte mich herzlich, mußte sich aber leider gleich wieder entfernen, da dienstliche Pflichten ihm keine Zeit ließen. Ich war selbstverständlich über diese schmeichelhafte Aufmerksamkeit einer deutschen Militärkapelle tief gerührt. Ob die anderen Gäste des Hotels damit zufrieden waren, daß der Donner der Posaunen und das Geschmetter der Trompeten sie so früh aus den Federn trieben, weiß ich freilich nicht, aber jedenfalls war ihre Neugierde im höchsten Maße erregt. Alle Fenster waren mit Menschen besetzt, die das erste beste Kleidungsstück angezogen hatten, um zu sehen, was es da unten gäbe.


10.

In Hamburg bestehen zwei Unternehmungen für Symphoniekonzerte. Die eine derselben erfreut sich schon sehr langer Dauer, verfügt über große Geldmittel und über ein ausgezeichnetes Orchester; die andere, erst unlängst von dem bekannten Hamburger Theatermann Pollini ins Leben gerufene, besitzt kein eigenes Orchester, sondern benutzt die Kapelle des Theaters, die aus Künstlern zweiten Ranges zusammengesetzt ist, die dazu noch bis zur Ohnmacht vom Theaterdienst ermattet sind. Beide Unternehmungen veranstalten alljährlich eine Reihe symphonischer Konzerte; die Philharmoniker dirigiert schon seit langer Zeit Dr. Bernut, ein erfahrener, tüchtiger Kapellmeister, der sich als Mensch und Künstler in Hamburg allgemeiner Achtung erfreut, und das Orchester der anderen Gesellschaft leitet Hans von Bülow. Wie das wohl überall der Fall ist, herrscht zwischen beiden Konzertunternehmern gegenseitige Feindseligkeit und das Bestreben, einander zu übertrumpfen. Ich war ausgefordert worden, in einem der Abonnementskonzerte der Philharmonischen Gesellschaft drei meiner Kompositionen zu dirigieren, und auf diese Weise geriet ich in das Hans von Bülow feindliche Lager. Wie es mir übrigens schien, war Bülow seinerseits den Philharmonikern auch nicht gerade freundlich gesinnt. Ich gestehe, daß dieser Umstand für mich recht betrübend war, denn Hans von Bülow hatte mir in früheren Tagen unschätzbare Dienste geleistet, für die ich mich ihm zeit meines Lebens verpflichtet fühle, und es schmerzte mich, nachdem ich die Lage der Dinge in Hamburg erkannt, daß er mein Benehmen vielleicht übelnehmen könne. Aber meine Besorgnis erwies sich als ganz grundlos. Hans von Bülow, als geborener Edelmann, benahm sich bei meinem Einzug ins Lager der feindlichen Musikgesellschaft ganz wie ein Gentleman. Obgleich er unpäßlich und durch die fortwährenden Reisen von Hamburg nach Bremen, von Bremen nach Berlin und von Berlin nach Hamburg (in allen dreien Städten dirigierte er die Symphoniekonzerte), äußerst angegriffen war, bereitete er mir den freundlichsten Empfang, besuchte mich, und, was die guten Hamburger am meisten erregte, er wohnte von Anfang bis zu Ende meinem Konzerte bei. Ähnlich, wie seinerzeit im Leipziger Gewandhause, war ich sehr aufgeregt, als ich mich am Morgen des 17. (5.) Januar zur ersten Probe in den Saal des Konzertgartens begab, wo die Symphoniekonzerte der Philharmonischen Gesellschaft stattfinden. Mit denselben Förmlichkeiten wie in Leipzig wurde ich dem Orchester vorgestellt. Ich begann hierauf mit dem Finale meiner dritten Suite (Thema mit Variationen). Die Gesichter der Orchestermitglieder drückten in dem Augenblick, als ich den Taktstock in die Hand nahm, nichts als kalte Neugierde aus, aber bald begannen einige freundlich zu lächeln und einander triumphierend zuzunicken, als ob sie sagen wollten: »Dieser russische Bär ist nicht so übel«; ein sympathisches Fluidum bildete sich zwischen mir und dem Orchester, und alles Mißtrauen gegen mich selbst verschwand bei mir wie mit einem Zauberschlage. Die weiteren Proben und das Konzert selbst waren für mich nur eine Quelle von Vergnügen, denn wie ich schon früher einmal betonte, quälend und unerträglich ist für einen Künstler nur diejenige Aufregung, wenn er in einem fremden Milieu, in dem er wirken soll, sich einsam und verlassen vorkommt; die Angst und Aufregung, die jeder, besonders der Schüchterne beim Heraustreten vor das Publikum aussteht, ist gar nicht so qualvoll und schwer zu überwinden, wenn man von der Sympathie der Umgebung überzeugt ist.

In der zweiten Probe erlebte ich einen großen Genuß durch den Triumph, den mein Landsmann Sapelnikow feierte. Dieser junge Pianist war auf Empfehlung Sophie Menters, unter deren Leitung er im Petersburger Konservatorium ausgebildet worden war, von der Hamburger Philharmonischen Gesellschaft eingeladen worden, mein ungemein schwieriges erstes Klavierkonzert unter meiner Leitung zu spielen. Kurz vor meiner Abreise aus Petersburg hatte ich schon Gelegenheit gehabt, das Spiel des Herrn Sapelnikow kennenzulernen, und obgleich mir seine hervorragende Tüchtigkeit nicht verborgen geblieben war, so hatte ich doch damals wahrscheinlich infolge der Aufregung, die einer so weiten Reise vorherzugehen pflegt, nicht wahrgenommen, welche außergewöhnliche Höhe der Künstlerschaft der sympathische junge Pianist erreicht hatte. Jetzt in der Probe wuchs in dem Maße, wie Sapelnikow die unglaublichen Schwierigkeiten meines Konzertes eine nach der anderen siegreich überwand und dabei alle Seiten seiner großartigen Begabung entwickelte, mein Entzücken, und was das Allerangenehmste war, sämtliche Mitglieder des Orchesters teilten meine Empfindungen und beglückwünschten Sapelnikow nach jedem Satze und besonders am Schlusse. Ungewöhnliche Kraft, Glanz und Farbe des Tons, eine erstaunenswerte Technik und eine hinreißende Art des Vortrags, ohne daß der Künstler in weiser Selbstbeherrschung sich jemals über die künstlerischen Grenzen hinreißen läßt – das sind die charakteristischen Eigenschaften in Sapelnikows Spiel. Ausdrücke wie famos, unglaublich, kolossal! konnte man aus dem Munde der Orchestermitglieder am Schlusse hören. Wie angenehm für mich diese aufrichtige Freude der deutschen Künstler über das Spiel unseres Landsmannes war, kann man sich vorstellen. Gute Pianisten mittleren Ranges gibt es so viele. Es ist unendlich schwer, sich auf dieser Laufbahn auszuzeichnen, und nun hier plötzlich eine Menge ausländischer Musiker in so aufrichtiger Begeisterung für einen Landsmann zu sehen, welch ein Triumph!

Die nächste Probe war wie in Leipzig eine öffentliche und am Abend desselben Tages fand das Konzert statt. Dem Hamburger Publikum gefiel von meinen drei Kompositionen, die zum Vortrage gelangten, besonders die Serenade für Streichmusik, die mit sehr lebhaftem Beifall gewürdigt wurde. Das Klavierkonzert an und für sich gefiel sehr wenig, obgleich die Leistung Sapelnikows nach Verdienst geschätzt wurde und man den Pianisten immer wieder hervorjubelte; das Finale meiner dritten Suite war, wie es schien, gar nicht nach dem Geschmack des Hamburger Publikunis. Die gar zu geräuschvoll und auf den Effekt berechnete Instrumentierung dieses Stückes verwirrte die an den symphonischen Stil der neuesten Zeit nicht gewöhnten Abonnenten der Philharmonie. Man erklärte mir später, daß das Publikum dieser Konzerte sehr konservativ sei und von lebenden Komponisten eigentlich nur Brahms gern zuließe.

Nach dem Konzerte fand bei Dr. Bernut großer Empfang und Souper statt. Es wurde mir viel Schmeichelhaftes über die russische Musik im allgemeinen und über die meinige im besonderen gesagt. Ich antwortete in deutscher Sprache und man nahm meine Rede trotz ihrer syntaktischen Unbeholfenheit und vielen Fehler mit großer Nachsicht auf. Nach Schluß der Gesellschaft schleppten einige meiner neuen Freunde mich und Sapelnikow in ein Bierlokal, wo wir bis gegen zwei Uhr plauderten; aber damit war der Abend noch nicht zu Ende, man beredete uns vielmehr noch in eins der Wiener Cafés zu gehen, die in Hamburg die ganze Nacht geöffnet sind. Dort saßen wir wieder geraume Zeit und brachten dem Bacchus reichliche Trankopfer dar. In Hamburg lebt man, wie mir scheint, gar nicht so solide, ehrbar und regelmäßig, wie in anderen deutschen Städten. Alle meine Hamburger Freunde, sogar die ernsthaftesten und in den verantwortlichsten Lebensstellungen befindlichen, lieben ein wenig zu bummeln, und ich glaube, niemals in meinem Leben habe ich soviel herumgeschwärmt, wie in dieser hübschen, amüsanten, freundlichen Stadt.

Am anderen Tage wurde mir zu Ehren im Tonkünstlerverein eine Soiree veranstaltet. Es gelangten ausschließlich von mir stammende Kompositionen zum Vortrag; ein Fräulein Nathan sang einige meiner Lieder, Sapelnikow spielte in vortrefflicher Weise drei meiner Klavierstücke.

Ebenso wie ich in Leipzig in den Familien von Brodski und Siloti mich besonders wohlgefühlt hatte, bereitete mir auch in Hamburg der Vertreter der Firma Büttner, der in der musikalischen Welt Rußlands bestens bekannte, freundliche Dr. Rater, einen geradezu verwandtschaftlichen Empfang. Seine Familie lebte schon sehr lange in Hamburg, seitdem der Tod eines geliebten Sohnes in Petersburg und die Besorgnis um die übrigen Kinder Herrn Rater zwangen, sich zu einer Trennung von seiner Familie zu entschließen, die er nun von Zeit zu Zeit besucht und in deren Mitte er im Sommer drei Monate verweilt. In Gesellschaft Herrn Raters, seiner Gattin und wohlerzogener Kinder, von denen leider nur der älteste Knabe einige Worte Russisch versteht, obwohl er in Rußland geboren ist, verbrachte ich viele angenehme Stunden. Mir ist es um so angenehmer, an dieser Stelle meinen Dank auszusprechen, als ich eigentlich durch Herrn Raters Initiative nach Hamburg aufgefordert wurde und von dort aus die weiteren Einladungen in deutsche Städte, eine nach der anderen, an mich ergingen.


11.

In Hamburg machte ich ebenso wie in Leipzig und Paris einige ebenso interessante wie angenehme Bekanntschaften. Vor allen nenne ich den Ersten Vorsitzenden der Philharmonischen Gesellschaft, den hochbejahrten Herrn Avé-Lallement. Der verehrungswürdige, mehr als achtzigjährige Greis erwies mir eine geradezu väterliche Teilnahme; ungeachtet seines hohen Alters und seiner weit entfernten Wohnung besuchte er die beiden Proben, das Konzert und die nachfolgende Gesellschaft bei Herrn Bernut. Sein Interesse für mich ging so weit, daß er meine Photographie zu besitzen wünschte, die bei der besten Hamburger Firma angefertigt werden sollte, und er selbst traf Anordnungen über den Zeitpunkt und das Format der photographischen Aufnahmen. Bei meinen Besuchen bei diesem liebenswürdigen, alten Herrn, der die Musik leidenschaftlich liebt und von dem alten Leuten sonst oft eigenen Widerwillen gegen alles, was die Neuzeit hervorgebracht hat, vollkommen frei ist, unterhielt ich mich sehr eingehend und interessant. Herr Avé-Lallement bekannte ganz offen, daß vieles in meinen Werken, die er in Hamburg gehört hatte, gar nicht nach seinem Sinn wäre, daß er das wuchtige Getöse meiner Instrumentierung nicht vertragen könne und besonders die ausgiebige Verwendung der Schlaginstrumente ihm unsympathisch sei, daß aber trotz alledem in mir das Zeug zu einem echten deutschen Komponisten ersten Ranges läge. Und mit Tränen in den Augen ermahnte er mich, Rußland zu verlassen und mich für immer in Deutschland anzusiedeln, wo die Traditionen und die mich umgebenden Bedingungen einer alten, höchst entwickelten Kultur mich von einem Fehler befreien würden, der seiner Meinung nach sich leicht durch den Umstand erklärte, daß ich in einer Gegend, die in der Zivilisation noch weit hinter Deutschland zurücksteht, geboren und erzogen worden war. Augenscheinlich besaß der Greis ein großes Vorurteil gegen Rußland, und ich versuchte nach Möglichkeit, seine Antipathie gegen unser Vaterland, die er übrigens nicht geradezu aussprach, sondern die nur manchmal durch seine Reden hindurchschimmerte, etwas abzuschwächen. Trotz dieser Meinungsverschiedenheit trennten wir uns in voller Freundschaft. Ebenso offen und teilnahmsvoll verhielt sich eine der Spitzen der Hamburger Musikkritik, Herr Professor Sittard, zu mir. Er besuchte sämtliche Proben, studierte genau die Partituren der vorgetragenen Stücke und schrieb eine lange, ausführliche Rezension, in welcher er freilich einen entschiedenen Tadel gegen die von mir eingeschlagene Richtung und gegen meinen symphonischen Stil aussprach, den er zu derb und zu wild fand und kurzweg als musikalischen Nihilismus bezeichnete. Denselben Tadel äußerte Herr Sittard auch mündlich mir gegenüber ganz offenherzig, aber zugleich sprach sich sowohl in seiner Rezension wie in seinen Worten so viel Interesse und Teilnahme für mein Schaffen aus, daß ich eine sehr angenehme Erinnerung an unsere kurze Bekanntschaft bewahre.

Noch einige andere, mehr oder minder mit der Musik in Beziehung stehende Persönlichkeiten haben gleichfalls durch ihr freundliches Entgegenkommen in meinem Gedächtnis einen ständigen Platz gewonnen. Es waren dies der durch seine interessanten musikalischen Forschungen auch bei uns in Rußland nicht unbekannte Dr. Hugo Riemann und der greise Gurlitt, Verfasser zahlreicher, vielgespielter Phantasien, Transkriptionen und Arrangements für Klavier, ferner der vielversprechende Geiger Willy Burmester, Kapellmeister Laube und eine Reihe anderer Geiger und Organisten. Aus den Gesprächen mit allen diesen Künstlern ersah ich, daß der Brahmskultus nirgends so verbreitet ist wie in Hamburg. Die für mich so quälende Frage, die sich mit dem Namen des Komponisten verknüpft, fand hier endlich ihre Lösung. Hier erst begriff ich endlich, wie das Schaffen eines Künstlers zuweilen nicht nach seinem absoluten Wert beurteilt wird, sondern nach zufälligen Umständen. Ein russisches Sprichwort drückt das nicht übel aus: »Für den Angler ist auch der Krebs ein Fisch.« Die Sache ist nämlich die, daß Wagner und seine Richtung durchaus nicht das ganze deutsche Publikum erobert hat, wie viele glauben. Es gibt eine Menge überzeugter und einflußreicher Jünger der Wagnerschen Schule, die sich auf alle Art bemühen, ihren Meister in Deutschland einzubürgern, den Erfolg seiner Musik zu einem unbestrittenen zu machen, aber eine große Mehrheit des deutschen Publikums ist höchst konservativ und gern bereit, gegen jegliche musikalische Neuerung zu protestieren. Wenn diese Leute sich auch bis zu einem gewissen Grade mit dem Siegeszug Wagners in der Opernwelt ausgesöhnt haben, so halten sie dafür im Konzertsaal um so fester an den klassischen Traditionen. Die Schule Franz Liszts begegnet in ihrem Streben, das Podium der Konzertsäle zu erobern, fast unüberwindlichen Hindernissen und ihre Erfolge sind noch sehr problematischer Natur. Der musikalische, noch nicht vom Wagnerkultus angesteckte Deutsche besitzt ein gewisses Schamgefühl, eine gewisse Keuschheit des Gehörapparates, die ihn zwingt, sich voller Widerwillen von allem, was auf den Effekt hinauszielt, von allem Pikanten und Brillanten, kurz von allem abzuwenden, worin die neue symphonische Musik aller europäischen Schulen ihre Stärke sucht. Das Bedürfnis der Musiker und Musikfreunde, die sich der symphonischen Manier der Klassiker zuneigen und getreu den Traditionen der großen Meister genießen und schaffen, ist so stark, daß in Ermangelung eines neuen Genius, der fähig wäre, die deutsche Musik auf dem von Haydn, Mozart, Beethoven, Mendelssohn und Schumann vorgezeichneten Wege zu neuen Großtaten zu führen, ein großer Teil der Deutschen seine Hoffnungen auf Brahms konzentriert hat, der, wenn er auch niemals ein Beethoven sein wird, doch von dem edlen Eifer beseelt ist, in den Fußtapfen dieses Großen zu wandeln.


12.

Die Berliner Philharmonische Gesellschaft, oder besser gesagt, die Gesellschaft der Musikfreunde, welche den Musiksaal in dem den Namen »Philharmonie« tragenden Gebäude gemietet hat, lud mich zu einem Konzert ein, welches ausschließlich aus meinen Kompositionen bestand. Wie ich schon früher erwähnte, war die Zusammenstellung des Programms mit nicht geringen Schwierigkeiten verknüpft, da der Vorstand der Gesellschaft und ich verschiedener Ansicht waren über dasjenige, wodurch ich mich bei dem Berliner Publikum am besten einführen könnte. Ich hielt und halte noch immer meine Ouvertüre »Anno 1812« für ein ganz mittelmäßiges Produkt, welches nur eine lokale, patriotische Bedeutung hat und nur für Konzerte in Rußland tauglich ist. Aber der Vorstand wollte gerade diese Ouvertüre auf dem Programm haben, weil dieselbe schon mehrfach mit Erfolg in Berlin gespielt worden sei. Ich meinerseits hatte auf die Phantasie »Franzesca da Rimini« als auf eine Hauptnummer gerechnet, und der Vorsitzende der Philharmonischen Gesellschaft, Herr Schneider, ein sehr gefälliger, freundlicher Herr, willfahrte schließlich doch meinem Wunsch, wenn auch sehr ungern. Es schien ihm nämlich gefährlich, bei meinem ersten Auftreten in Berlin ein so kompliziertes Stück zu spielen, dessen Aufnahme beim Publikum noch sehr zweifelhaft war. Wir beschlossen, Hans von Bülow um seinen Rat zu fragen, da dieser meine Musik ebensogut wie den Geschmack des Berliner Publikums kannte. Zu meinem größten Erstaunen stellte er sich entschieden auf die Seite des Herrn Schneider und ich gab nach.

Das vortreffliche Philharmonische Orchester in Berlin besitzt eine besondere Eigenschaft, für die ich keinen passenderen Ausdruck finden kann als Elastizität. Es besitzt die Fähigkeit, sich den Dimensionen eines Berlioz und Liszt anzupassen und die bunten Arabesken des ersteren wie den Batteriedonner des letzteren vollendet wiederzugeben und andererseits sich auf die sanften Ansprüche eines Haydn zu reduzieren. In dieser Hinsicht erinnern die Berliner sehr an unsere Petersburger und Moskauer Philharmonikerorchester. Das kommt wahrscheinlich daher, weil in Berlin wie bei uns ein entschiedener Eklektizismus in der Zusammenstellung der Konzertprogramme herrscht. In Berlin wie in Petersburg und Moskau findet man in einem und demselben Konzerte Haydn und Glasunow, Beethoven und Bizet, Glinka und Brahms vertreten, wobei alles mit gleicher Liebe, gleichem Eifer und gleicher Meisterschaft ausgeführt wird. Die Mitglieder des Philharmonischen Orchesters sind in den Theatern nicht beschäftigt, infolgedessen nicht abgehetzt und abgemattet, und da sie eine eigene Korporation bilden, so spielen sie zu ihrem eigenen Nutzen und nicht im Solde eines Unternehmers, der den Löwenanteil in die Tasche steckt. Das Zusammentreffen dieser günstigen Ausnahmebedingungen kommt natürlich der Harmonie der künstlerischen Darbietungen zustatten. Ich wurde gleich bei der ersten Probe, die ich abhielt, durch die freundliche Aufmerksamkeit und den Eifer der Orchestermitglieder ermutigt, so daß von Anfang an alles gut vonstatten ging. Den Proben wohnten mehrere in der musikalischen Welt hervorragende Persönlichkeiten bei, unter anderen Grieg, der eigens zu meinem Konzert aus Leipzig herübergekommen war, ferner Moritz Moszkowski, Professor Ehrlich und Hans von Bülow, der trotz äußerster Abspannung keine Probe versäumte und sich sehr teilnahmsvoll mir gegenüber erwies. Siloti spielte mein Konzert vorzüglich und mit glänzendem Erfolge. Der junge Sapelnikow hatte die Begleitung der Sängerin, Fräulein Friede, übernommen, welche mehrere meiner Lieder vortrug. Von den symphonischen Werken gefielen am meisten die Introduktion und Fuge aus der ersten Suite und die Ouvertüre zu 1812.

Der Leser wird vielleicht bemerkt haben, daß ich von meinem Berliner Aufenthalt bei weitem nicht so gern und ausführlich berichte, wie man es wohl erwarten könnte in Anbetracht der großen Bedeutung Berlins in der musikalischen Welt, aber dafür ist ein schwerwiegender Grund vorhanden, den ich gleich angeben werde. Es ist mir nämlich ebenso schwer und schmerzlich, in Berlin zu verweilen, wie über Berlin zu schreiben. In meinem Herzen leben die Erinnerungen an einen unersetzlichen Verlust, den ich dort in der Person des verstorbenen J. Kotek erlitten; meines Schülers und intimsten Freundes, der die letzten acht Jahre seines Lebens in Berlin verbrachte und sich dort eine glänzende Stellung erworben hatte. Ich begegnete täglich Leuten, die nahe Bekannte des Verstorbenen gewesen waren; jeden Augenblick stieß ich auf Personen oder Gegenstände, die mich lebhaft an den dahingeschiedenen Freund erinnerten und die kaum vernarbte Wunde wieder aufrissen. Man nennt die Zeit das einzige Heilmittel für solche Wunden, aber es bedarf sehr, sehr langer Zeit, um über den Tod eines so jungen, talentvollen und kraftbegabten Mannes hinwegzukommen ...

Von Berliner Persönlichkeiten, die mir besonders dienstbereit und wohlwollend entgegenkamen, will ich den bekannten Konzertagenten Wolff nennen, den ausgezeichneten Geiger Emile Sauret, den mir als Musiker und Mensch gleich sympathischen Moritz Moszkowski, den als Mensch und Verleger mir gleich werten Hugo Bock und endlich die beim Moskauer Publikum in so guter Erinnerung stehende Madame Artôt. Diese geniale Sängerin hat sich seit einiger Zeit in Berlin niedergelassen, wo sie sich sowohl beim Hof wie in weiteren Kreisen des Publikums großer Beliebtheit erfreut und erfolgreichen Unterricht erteilt. Ich verbrachte bei Madame Artôt zusammen mit Freund Grieg einen Abend, der zu den angenehmsten Erinnerungen meines Berliner Aufenthalts zählt. Die Persönlichkeit und die Kunst dieser Sängerin sind noch ebenso bezaubernd wie einst.


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