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Rodrigo Alzadore war am zeitigen Vormittag in den Wald gegangen und hatte seinen Diener beauftragt, das Mittagessen etwas später bereit zu halten. Der Gelehrte, der ernsten Studien in der Botanik oblag, interessierte sich lebhaft für die zahllosen Moosarten und trug sich mit der Absicht, eine solche Sammlung anzulegen. So unternahm er fast täglich weite Streifzüge, mitunter hatte er sich in den ausgedehnten Waldungen schon gründlich verlaufen, da ihm das ganze Revier noch zu fremd war. Sein Diener fürchtete bei jedesmaliger Verspätung seines Herrn, ihm sei ein Unglück zugestoßen, und häufig rannte er gradwegs in den Wald hinein, ließ mit einer Bärenstimme ein »Hoho« ertönen, das Rodrigo den rechten Weg weisen sollte. –
Die Mittagszeit war längst vorüber, und auch heute schien sich der Herr verirrt zu haben. Jim wartete noch eine halbe Stunde, dann aber überkam ihn wieder die alte Angst. Er eilte auf gut Glück los.
Steffy und Angela, die ebenfalls an diesem schönen Nachmittag einen Waldspaziergang unternommen hatten, sahen sich ganz plötzlich einem Neger gegenüber. Im ersten Augenblick wollten beide davonlaufen, aber dann flüsterte Steffy der Kusine zu: »Das ist der Diener vom Indianer. Der tut uns nichts.«
»Wollen wir ihn ein bißchen ausfragen über seinen Herrn?«
Die Neugier der beiden jungen Mädchen in bezug auf Alzadore war doch gar zu groß. Auch der Schwarze starrte die beiden hellgekleideten Gestalten an und fing dann sich überhastend an, Frage auf Frage zu stellen, in einer den beiden völlig unbekannten Sprache.
»Du, das ist die Indianersprache,« sagte Steffy.
»Nein, ich glaube, das ist spanisch,« meinte Angela, »bei uns im Hause verkehrten auch Spanier, das klang so ähnlich, wenn die beiden miteinander sprachen.«
Der Neger plapperte weiter, aber Steffy zuckte mit den Achseln. Da grübelte der Schwarze vor sich hin.
»Hat Frau Mann gesehen im Wald?«
Da kam Steffy die Erleuchtung. Er sucht seinen Herrn. Dann wandte sie sich an den Neger: »Ihr Herr ist Ihnen wohl entlaufen?«
»Ja – entlaufen.«
»Und jetzt suchen Sie ihn?«
»Ja, Jim sucht Herr.«
»Wir haben ihn nicht gesehen. Vielleicht hat er sich verirrt.«
Der Neger nickte lebhaft mit dem Kopfe. »Ja, Herr irre!« –
Von den Lippen der beiden Mädchen brach ein leiser Schrei. Nun hatten sie die Bestätigung aus dem Munde des Wärters. Rodrigo Alzadore war wirklich ein Irrsinniger, den man, da er vielleicht gefährlich war, in Einzelhaft gebracht hatte. Barmherziger Himmel, und Steffy war diesem Manne neulich allein begegnet. Er hätte sie ja erwürgen können. Auch Angela kamen ungefähr die gleichen Gedanken. Sie hatte erst kürzlich in Berlin einer Othello-Vorstellung beigewohnt, und die Sterbeszene Desdemonas war ihr fest im Gedächtnis haften geblieben. Jetzt, da sie den Schwarzen vor sich sah, erschien ihr der Wärter auch gefährlich. Vielleicht fiel es dem Neger sogar ein, einen Angriff auf die beiden Mädchen zu wagen. Sie zog sich etwas hinter Steffy zurück und rief dem Schwarzen etwas hastig zu:
»Gehen Sie nur hier den Weg weiter, vielleicht finden Sie Ihren Herrn.«
Der Neger sagte wieder etwas in seiner Sprache, verschränkte die Arme über der Brust und verneigte sich.
»Grade wie der Othello!« murmelte Angela zaghaft. »Komm, Steffy, wir wollen weitergehen.«
Und jetzt, als die Augen des Schwarzen noch einmal rollend über die beiden Mädchen glitten, da erschien es auch Steffy ratsam, davonzugehen. Um aber die Wut des Schwarzen nicht herauszufordern, machte sie ihm einen artigen Knicks, dann liefen sie mehr als sie gingen davon.
Beim Abendessen fing dann Steffy an zu erzählen, es gehe das Gerücht um, der Mann im Jagdschloß sei ein Wahnsinniger, und der Schwarze, den er bei sich habe, sei sein Wärter. Da kam sie aber beim Vater schlecht an.
»Was ist das nun wieder für ein dummes Gerede? Wer hat denn diesen Unsinn gebracht?«
»Der Wärter hat es uns selbst gesagt.«
»Unsinn! Der Neger versteht ja kaum ein deutsches Wort. Ich wünsche nicht, daß ihr den Unsinn etwa weiter verbreitet. Basta!«
Da wagte sich keines der beiden jungen Mädchen, von der Begegnung mit dem Schwarzen zu sprechen. Der Vater würde vielleicht schon noch zur Einsicht kommen. Steffy und Angela wußten es jedenfalls ganz genau, daß Alzadore geistesgestört war.
So näherte sich der September seinem Ende, und damit kam die Zeit heran, daß Angela wieder nach Berlin zurück sollte. Das war Steffy gar nicht recht. Die Kusine hatte ihre ganze Sympathie erworben, und am liebsten wäre es Steffy gewesen, wenn Angela für immer auf der Oberförsterei geblieben wäre. Die Aussicht, gleich nach Weihnachten auf acht Wochen nach Berlin zu dürfen, tröstete sie allerdings ein wenig.
»Ich muß heute noch einmal hinaus in den Wald, Steffy,« hub Angela an. »Die Sonne lockt gar so sehr, ich gehe zum Torberg. Kommst du mit?«
»Natürlich,« pflichtete Steffy bei, und so machten sich die beiden jungen Mädchen auf den Weg. An einer Waldlichtung setzte sich Angela nieder. »Wie wär's, wenn wir hier ein Nachmittagsschläfchen hielten?«
Steffy verzog das Gesicht. »Ich denke, wir gehen lieber noch ein Viertelstündchen weiter bis zu den Brombeeren. Das Mittagessen hat mir heute nicht recht geschmeckt, ich habe Hunger.«
»Ach, ich bin ganz satt und ganz faul, Steffy. Geh' du ruhig zu den Brombeeren, ich lege mich inzwischen hier ein bißchen hin und schaue in den Himmel. Du kannst mich dann abholen. Aber bleibe nicht gar zu lange.«
»Nein, in einer Viertelstunde bin ich wieder hier. Ich will mich nur sattessen. Aber besser wäre es, du kämst mit, denn dort sind wirklich sehr viel Beeren.«
»Laß mich nur hier,« versetzte Angela. »Wir sind ja nicht weit auseinander. Wenn du laut rufst, höre ich dich.« Dann streckte sie sich der Länge nach auf dem moosigen Waldboden, und Steffy huschte davon, um sich an den Brombeeren gütlich zu tun.
Oh, wie das schmeckte! Sie vergaß darüber Zeit und Stunde, pflückte und aß und konnte gar nicht genug bekommen. Angela hatte inzwischen die Müdigkeit überwältigt, sie war fest eingeschlafen. Aber im Traum trat ganz plötzlich die Gestalt des Negers vor sie hin, er würgte sie. Die Angst preßte ihr jammervolle Töne, ein Stöhnen und Seufzen aus, dann warf sie sich unruhig hin und her, aber das schwarze Gespenst verfolgte sie weiter.
Den schmalen Waldweg, der an dem Torberg vorbeiführte, kam Rodrigo Alzadore geschritten. Auch ihn hatte der prachtvolle Herbsttag ins Freie gelockt. Als er um die kleine Wegbiegung schritt, sah er auf dem moosigen Waldboden eine hellgekleidete Gestalt liegen. Er hörte einige gequälte Seufzer und trat rasch näher. Verwundert blieb er vor dem jungen Mädchen stehen, das mit geschlossenen Augen auf dem Waldboden lag, von dessen Lippen aber so schmerzliche Laute kamen, daß er sich behutsam niederbeugte, um zu sehen, ob die junge Dame verunglückt sei. Jetzt wälzte sich Angela halb auf die andere Seite, und Alzadore hörte abermals einen gurgelnden Ton. Da zog er rasch entschlossen ein Fläschchen aus der Tasche, kniete an der Seite der jungen Dame nieder, goß etwas von der Flüssigkeit auf seinen Handteller und rieb der Schlafenden die Stirn und den Hals damit ein. In dem Augenblick erwachte Angela, sie schlug die Augen auf, die groß und starr wurden. Sie fühlte noch die Hand Alzadores an ihrem Halse, sah ihn über sich gebeugt, und nun brüllte sie in wahnsinnigem Schrecken los:
»Zu Hilfe, zu Hilfe, er will mich erwürgen!«
Der Schreck lähmte ihr so die Glieder, daß sie nicht fähig war, sich vom Boden zu erheben. Ihre angstvoll geöffneten Augen starrten Alzadore an, der nicht wissend, was das bedeute, noch immer neben ihr kniete.
»Aber mein Fräulein!«
»Zu Hilfe, er mordet mich!«
Da kam Steffy herbeigestürzt. Sie hatte den entsetzten Ruf der Kusine vernommen und brach mitten durch das Gestrüpp. Sie sah Alzadore neben Angela knien. Der Wahnsinnige wollte der Kusine ans Leben gehen. Und nun überkam ein Riesenmut das junge Mädchen. Ein ziemlich dicker Baumast lag dicht in ihrer Nähe. Sie wußte selbst nicht, woher sie die Kraft nahm, den schweren Ast emporzuheben, aber das Leben Angelas stand auf dem Spiele.
»Ich rette dich,« rief sie Angela zu, hob den Ast, um auf Alzadore einzuschlagen, der aber war zur Seite gesprungen, griff nach dem niedersausenden Ast und schlug ihn so heftig zur Seite, daß jetzt Steffy darüber stolperte und am Boden lag. Aber sie raffte sich sogleich wieder auf, und in ihrer Verzweiflung drang sie auf Alzadore ein. Seinen Riesenkräften war sie natürlich nicht gewachsen. Mit einem einzigen Griff packte der Gelehrte ihre Handgelenke und hielt sie wie in einem Schraubstock gespannt fest.
»Sie – gnädige Frau? Aber was wollen Sie denn von mir?«
Er sah ihr erhitztes Gesicht, ihre angstvollen Augen, und ganz sanft kam es von seinen Lippen: »Beruhigen Sie sich doch.«
Inzwischen hatte sich Angela erhoben, und mit entsetzten Hilferufen stob sie davon, in der Richtung nach der Oberförsterei, um von dort her Rettung für die in Todesnöten schwebende Steffy zu holen.
Steffy aber war von dem Schreck so benommen, daß sie alle ihre Kräfte schwinden fühlte. Sie wankte, und da fing Alzadore die Erblassende in seinen Armen auf. Fest drückte er sie an sich, und fast zärtlich glitten seine Blicke über die jugendliche Gestalt hin. Steffy raffte all ihre Energie zusammen. Sie zitterte und bebte am ganzen Leibe, und schließlich wußte sie nichts Besseres zu tun, als vor Alzadore auf die Knie zu sinken und ihm die flehend erhobenen Hände entgegenzustrecken.
»Töten Sie mich nicht!« kam es von ihren Lippen.
Ein Erschrecken glitt über sein Gesicht. »Aber, gnädige Frau, ich bitte Sie! Ich tue Ihnen bei Gott nichts zuleide. Wie kommen Sie nur auf den Gedanken?«
Steffy schien diesen Worten keinen Glauben zu schenken. Sie flehte nochmals mit Tränen in den Augen: »Töten Sie mich nicht!«
Wie ein Kind hob er sie auf. »Ich tue Ihnen wirklich nichts. Ich bin ein ganz harmloser Mann, der im Walde nach Moos suchte. Da fand ich jene junge Dame, ich glaube, Ihr Fräulein Tochter, nahm an, sie sei leidend, weil sie im Schlafe stöhnte, und wollte ihr beistehen.«
Steffy horchte hoch auf. »Ja, sind Sie denn nicht irrsinnig?«
Ihre Augen ruhten in treuherziger Frage auf Alzadore. Er betrachtete voll Entzücken das junge Mädchen. Ein leises Lächeln glitt über sein Gesicht.
»Ich irrsinnig? Ja warum denn?«
»Ja, ich weiß eigentlich selbst nicht warum.«
»Aber Sie zittern ja noch so. Jetzt setzen Sie sich erst ein wenig nieder und beruhigen sich. Dann werde ich mir erlauben, Sie heimzugeleiten. Oder fürchten Sie sich noch immer vor mir?«
Steffy schlug plötzlich die Augen nieder. Es war ihr so eigentümlich zumute. Sie wagte gar nicht aufzusehen. Endlich stieß sie stockend hervor:
»Mir ist jetzt wieder ganz gut, ich möchte lieber gleich heimgehen, man ängstigt sich sonst um mich.«
»So gestatten Sie, daß ich Sie begleite. Ich fürchte, die Angst hat Sie gar zu sehr mitgenommen. Sie haben es ziemlich weit nach Ihrem Besitz, gnädige Frau.«
Da fiel Steffy plötzlich ein, daß sie dem Manne ja niemals die Wahrheit gesagt hatte. Wie war es doch gewesen? Sie hatte ein Schloß oder eine Burg hier in der Nähe. Sie war an einen alten Herrn verheiratet, und Angela war ihre Stieftochter. Und wie hieß sie doch gleich? Ja, das hatte sie ganz vergessen. Nein, sie durfte dem Manne nicht sagen, daß sie ihn so beschwindelt hatte. Sie würde versuchen, ihm aus dem Wege zu gehen, außerdem reiste sie ja gleich nach Weihnachten nach Berlin, und wenn sie zurückkam, hatte er sie längst vergessen.
»Ich danke sehr für Ihre Begleitung. Es ist wirklich nicht nötig. Ich kann allein gehen,« und dann fügte sie ganz zögernd hinzu: »Entschuldigen Sie nur, daß ich Sie für einen Räuber hielt.«
»Darf ich kommen, um mich nach dem Befinden der gnädigen Frau zu erkundigen?«
»Um Himmels willen nicht,« stieß Steffy angstvoll hervor, ihrer Lüge eingedenk. »Mein Mann – – ja, mein Mann ist furchtbar eifersüchtig, er duldet das nicht. Aber nun leben Sie wohl, ich muß jetzt fort.«
Zögernd streckte sie ihm die Hand hin, die Alzadore mit festem Griff umschloß. »Ich wünsche mir, gnädige Frau, ich sähe Sie bald wieder!« Seine Stimme klang in weicher Zärtlichkeit. Da überfloß ein dunkles Rot Steffys Antlitz, und ohne noch ein Wort zu sagen, wandte sie sich um. Wie gejagt rannte sie davon, daß die blonden Zöpfe auf ihrem Rücken nur so tanzten. Alzadore aber stand noch immer auf dem gleichen Fleck und sah ihr lange nach. Als sie entschwunden war, machte er einige Schritte in der gleichen Richtung, dann aber blieb er wieder stehen und legte die Hand über die Augen.
»Sie sieht aus wie das Märchen vom Glück. Aber ob sie wohl glücklich ist an der Seite eines alten Mannes?«
Seine Augen irrten den Weg entlang, und darin lag jetzt ein Schimmer heißer Sehnsucht.
Je mehr sich Steffy der Oberförsterei näherte, umsomehr verlangsamte sich ihr Schritt Sie dachte an Alzadore. Wie mußte er sie auslachen. Beinahe hätte sie diesen doch wahrlich recht netten Mann geschlagen. Unerhört! So eine Dummheit. Warum hatte Angela aber auch gar so jämmerlich um Hilfe geschrien. Sie hätte Alzadore doch auch ansehen müssen, daß er nicht wahnsinnig sei. Nein, wie war Angela doch dumm! Aber, Steffy legte die Hand nachdenklich an die Stirn. Hatte sie nicht selbst das Märchen ausgestreut, daß der Fremde geistesgestört sei? Hatte es der Schwarze nicht schließlich bestätigt. Der Herr sei irre, hatte er gesagt. Jetzt freilich wußte sie ganz genau, was der Diener damit gemeint hatte, Alzadore habe sich im Walde verirrt.
Plötzlich überkam sie eine furchtbare Angst. Lieber Himmel, wenn Angela nun in die Oberförsterei gestürmt war und dort Knecht, Magd und alle im Büro arbeitenden Beamten zur Hilfe herbeirief, dann eilte jetzt vielleicht schon eine Menge hin zum Jagdschloß, und Alzadores Leben schwebte am Ende in Gefahr. Sie stürmte davon. Sie mußte das Unglück verhüten. Da sah sie von der entgegengesetzten Richtung her im fliegenden Lauf Angela herankommen. Ein Freudenruf brach von den Lippen der Atemlosen, als sie Steffy ansichtig wurde.
»Du lebst! Gott sei Dank! Ich wollte Hilfe holen« – sie schnappte förmlich nach Luft. »Aber in der Angst habe ich den Weg nach Hause verfehlt und mich verlaufen. Eben komme ich erst heim. Jetzt wollen wir aber sofort dem Onkel sagen, welche Gefahr uns droht.«
Steffy streckte die Arme vor. »Du, Angela, wir wollen uns erst einmal ein bißchen verpusten.«
»Nachher,« entgegnete die Angeredete. »Wir wollen lieber gleich erzählen, daß der Wahnsinnige im Walde umherläuft. Schließlich kommt er noch hierher und dann kann es sehr leicht ein Unglück geben.«
Angela wollte davonlaufen, aber Steffy hielt sie zurück. »Bleibe nur hier, ich habe jetzt mit dir zu reden, etwas sehr wichtiges.«
Angela sah die Kusine erstaunt an, aber sie bat Steffy doch, man möge wenigstens in den Garten eintreten. sie fürchte sich hier im Walde.
»So komm in die Laube.«
Steffys Gedanken kreisten fieberhaft. Unter keinen Umständen durfte Angela den Eltern den Vorfall berichten. Sie schämte sich doch gar zu sehr all' ihrer Lügen und ihres Betragens.
»Wir müssen schweigen, Angela. Wir haben uns beide doch gar zu lächerlich betragen. Der Mann aus dem Jagdschloß hat auch von Zeit zu Zeit lichte Momente. Er wollte dir ja gar nichts tun. Er dachte, du seiest ohnmächtig. Er hat sich sehr nett bei mir entschuldigt.«
Angela aber schüttelte energisch den Kopf. »Mag er seine lichten Momente haben. Er ist wahnsinnig und daher gefährlich. Nein, Steffy, wir müssen den Onkel auf die Gefahr aufmerksam machen.«
»Quatsch, Gefahr,« zürnte Steffy. »Der Mann ist für uns keine Gefahr, der tut überhaupt keinem Kinde etwas zuleide. Ich weiß das. Wenn du nicht gleich so närrisch losgeschrieen hättest, dann wäre überhaupt alles ohne Aufregung vorübergegangen.«
»Soll ich etwa stille sein, wenn er mich erwürgen will?« –
»Das wollte er aber gar nicht!«
»So? Was wollte er denn von mir?«
Steffy erhob sich mit majestätischer Würde. »Eine junge Dame legt sich überhaupt nicht in den Wald und schläft dort ein. Du hast gewimmert und geächzt im Schlafe. Wahrscheinlich hattest du zu viel von den Klößen zu Mittag gegessen. Da hast du Alpdrücken bekommen, und jener Herr tat nur recht, wenn er sich mitleidig zu dir herniederbeugte.«
Angela schwieg eine Weile, dann entgegnete sie: »Mir kann es ja schließlich egal sein. Ich reise in wenigen Tagen von hier fort, aber wenn hier ein Unglück passiert, wenn der Wahnsinnige einmal auf euch losgeht, so ist das allein deine Schuld.« –
Die letzten acht Tage, die den Aufenthalt von Angela im Hause der Verwandten bildeten, verliefen sehr schnell. Der Tag des Abschiedes kam heran, und beide Mädchen waren tieftraurig und schwuren sich mit tausend Eiden ein baldiges Wiedersehen.
»Gleich nach Weihnachten komme ich zu euch,« versicherte Steffy, »und im nächsten Sommer kommst du wieder zu uns. So machen wir das unser ganzes Leben lang. Ich schwöre dir ewige Treue.«
Auch Angela schwur es Steffy, und wenn nicht der Oberförster mit gemütlichem Lachen die beiden Mädchen voneinander getrennt hätte, so hätten sie sich auch noch allerlei andere Eide gegeben.
In dem hübschen Wagen mit den schmucken Rappen fuhr man Angela nach Reifenstein zur Bahn. Angela hatte die Augen voller Tränen, als sie endlich in den Zug stieg, und schluchzend rang es sich aus ihrer Brust: »Auf Wiedersehen,« dann rollte der Zug zur Halle hinaus.
In den kommenden Tagen war es ziemlich still in der Oberförsterei. Die Kusine fehlte der lustigen Steffy überall, an Bruder Karl lag ihr vorläufig gar nichts. Seine Späße gefielen ihr nicht mehr recht und auch ihre ausgedehnten Waldspaziergänge unterblieben, ohne daß jemand einen Grund dafür wußte. Steffy hütete sich wohl, den ihrigen mitzuteilen, daß sie unter keinen Umständen Alzadore begegnen wollte.
Der Herbstwind zauste in ihren Haaren, als sie jetzt im Garten emsig damit beschäftigt war, mit einer langen Stange die letzten Nüsse von den Bäumen zu schlagen. Schritte ließen sie aufblicken. Beinahe hätte sie einen erschreckten Ausruf getan, denn dort am Gitter entlang kam Alzadore. Wollte er in die Oberförsterei? Steffy verschwand hinter einer Laube, von wo sie den Eingang überblicken konnte. Richtig! Er kam zu den Eltern. Was wollte er denn jetzt? Wollte er sich beklagen über Steffy? Aber nein, er wußte ja gar nicht, daß sie hier in die Oberförsterei gehörte. Das Herz klopfte ihr bis zum Halse, als sie jetzt Alzadore im Innern des Hauses verschwinden sah.
Alzadore betrat den Flur des Hauses und drückte auf die Klingel. Das Hausmädchen erschien sogleich, und der Fremde fragte nach der Oberförsterfamilie. Schon nach wenigen Minuten saß er in dem gemütlichen Wohnzimmer, und der Oberförster lud ihn ein, den heutigen Rest des Nachmittags in ihrem Kreise zu verbringen. Soeben sei eine neue Kiste mit Wein angekommen, die sollte sogleich geöffnet werden, und Alzadore, als der nächste Nachbar, sollte die Weinprobe halten. Der Fremde willigte gerne ein, und so war bald eine lebhafte Unterhaltung im Gange.
Frau Uhde schellte nach dem Mädchen und gab den Auftrag, sie möge Steffy rufen und ihr sagen, daß ein lieber Gast hier sei, den sie auch kennen lernen solle. Aber Steffy, die das längst erwartet hatte, hockte oben in ihrem Zimmer in höchst ungemütlicher Verfassung. Als sie jetzt Schritte die Treppe heraufkommen hörte, öffnete sie rasch die Schranktür, huschte dort hinein und zog die Tür von innen an. Das Mädchen, das zweimal geklopft hatte, öffnete jetzt die Zimmertür, sah sich suchend um und ging dann wieder hinaus. Sofort kletterte auch Steffy aus ihrem Versteck, verharrte aber mäuschenstill in ihrem Zimmer. Mochten doch die Eltern denken, sie sei in den Wald gelaufen. –
Nachdem Anna vergeblich die Oberförsterei nach der Tochter des Hauses durchsucht hatte, meldete sie, daß von Fräulein Steffy nichts zu sehen sei. Die Oberförsterin wandte sich an den Gast.
»Es tut mir leid, Herr Alzadore, daß Sie meine Tochter heute nicht kennen lernen, aber sie liebt den Wald über alles und läuft oft stundenlang in dem Forst umher.«
»Fürchtet sie sich nicht?« nahm Alzadore das Wort.
Die Oberförsterin lachte. »Da kennen Sie meine Tochter schlecht. Furcht im Walde ist ihr gänzlich fremd.«
»Da erinnere ich mich eines kleinen Erlebnisses,« begann der Gelehrte, »das mir beinahe schlecht bekommen wäre. Eine junge Dame, anscheinend eine sehr beherzte, ging mit einem ziemlich starken Ast mir zu Leibe.«
Der Oberförster lachte belustigt auf. »Was hatten Sie denn begangen?«
Alzadore berichtete von seinem Spaziergange, von dem schlafenden jungen Mädchen, das so sehr gestöhnt hatte. Als sie dann erwachte, hätte sie ganz gräßlich um Hilfe geschrieen. Da sei die Stiefmutter des jungen Mädchens herbeigeeilt und habe ihn mit dem Baumaste bedroht.
Erstaunt hörten Uhdes den Bericht an.
»Kannten Sie die beiden Damen?«
»Die beherzte Helferin ist eine Dame, die hier in der Nähe ein kleines Schlößchen besitzen soll. Ihr eigentümlicher Name Gschkwi oder so ähnlich, ist mir nicht im Gedächtnis geblieben. Sie, Herr Oberförster, dürften sie gewiß kennen.«
Uhde schüttelte verneinend den Kopf. »Ein Schloß soll sie hier haben? Ah, vielleicht Frau Runkelmann, aber die Villa liegt etwa drei Stunden von hier. Und dann ist Frau Runkelmann auch nicht mehr in den Jahren, daß man sie für eine junge Dame ansprechen könnte.«
»Das setzt mich in Erstaunen, Herr Oberförster. Die junge Frau ist anscheinend noch sehr jung. Sie ist an einen älteren Herrn verheiratet, dem ich gleichfalls im Walde begegnete. Er soll sehr eifersüchtig auf seine junge Frau sein, und so ist jene stets in Angst, wenn sie einem Herrn begegnet. Vielleicht erinnern Sie sich, wenn ich Ihnen mitteile, daß jene Dame eine ungefähr gleichaltrige Stieftochter hat.«
»Nein, so eine Familie kennen wir in der Gegend nicht,« begann nun auch die Oberförsterin. »Wir sind nun schon zehn Jahre hier am Ort, aber ich habe von solch einer jungen Frau noch nichts gehört. Aus Reifenstein kann sie auch nicht sein. Dann würde ich sie kennen. Es müssen Fremde gewesen sein. Wir haben ja hier eine stattliche Anzahl Sommergäste.«
»Das könnte sein,« stimmte jetzt Alzadore bei. »Ich muß gestehen, die junge Dame mit den beiden langen blonden Hängezöpfen und den hübschen blauen Augen hat einen äußerst sympathischen Eindruck auf mich gemacht.«
Der Oberförster blickte plötzlich interessiert auf seinen Gast. »So? Hängezöpfe hat sie gehabt? Ist sie groß oder klein? Nicht wahr, ungefähr die Größe meiner Frau? – Wie alt denn?«
»Noch nicht zwanzig, taxiere ich.«
»Kennst du sie?« fragte die Oberförsterin verwundert den Gatten.
In des Oberförsters Gesicht zuckte es vor verhaltenem Lachen. »Ich habe so eine leise Vermutung,« entgegnete er. »Aber erst sagen Sie mir noch, wie sah denn die Stieftochter aus? Rötlichblondes Haar, etwas stärker als die Frau mit dem sonderbaren Namen. Ja.«
»Ganz recht,« stimmte Alzadore bei.
»Haben Sie sich vielleicht auch die Toilette der jungen Damen gemerkt?«
»Die der Schläferin ganz genau, denn ich hatte längere Zeit Gelegenheit, sie zu betrachten. Es war ein dünnes rosa Sommerkleid mit schwarzen Punkten – –«
»Und eine breite schwarze Samtschleife als Gürtel,« lachte jetzt der Oberförster dröhnend auf.
»Angela?« fragte zögernd die Gattin.
Der Oberförster nickte ihr verstohlen zu und wandte sich dann wieder an Alzadore. »Ja, ja, ich erinnere mich. Also die junge Frau mit den blonden Zöpfen ist verheiratet. So, so. Den Mann haben Sie auch gesehen?«
Da beschrieb Alzadore auch den alten Herrn, und lachend erhob sich der Oberförster. Er klingelte. Das Mädchen kam sogleich.
»Sehen Sie doch noch einmal nach, ob meine Tochter nicht daheim ist. Vielleicht ist sie inzwischen heimgekommen.«
Und wieder sprang Steffy in den Kleiderschrank, als sie das Mädchen auf der Treppe hörte.
Sie war nicht zu finden. Da lenkte der Oberförster das Gespräch in andere Bahnen, aber erst nachdem er sich von Alzadore hatte sagen lassen, auf welche Weise jene Frau mit dem Ast sich dann empfohlen habe.
Merkwürdigerweise hielt er auch den Gelehrten nicht länger, als jener sich dann verabschiedete. Er forderte ihn aber herzlich auf, recht bald wiederzukommen.
»Das will ich gern tun, Herr Oberförster. Allerdings schwebt das Damoklesschwert einer Reise nach Berlin über mir. Ich soll dort einen Vortrag halten. Ich denke allerdings, es verzögert sich noch etwas.«
»Na,« lachte der Oberförster. »Wenn Sie nach Berlin reisen, dann verlange ich ein Versprechen von Ihnen. Sie müssen unbedingt den Herrn Professor Klattermann in Charlottenburg, Hardenbergstraße 90, aufsuchen, den Mann müssen Sie kennen lernen.«
Gehorsam zog Alzadore sein Notizbuch heraus und schrieb Namen und Adresse des Professors auf. Er begriff nicht recht, warum der Oberförster dabei gar so belustigt schmunzelte.
Herzlich verabschiedete man sich von dem Gast. Steffy hörte oben in ihrem Zimmer die Tritte auf den Fliesen und lugte durch die Gardine. Da ging er. Gottlob, und sie hatte schon gefürchtet, ihn während des Abendessens zu treffen. Für heute war die Gefahr also glücklich vorüber.
In der nächsten Viertelstunde lärmte sie wieder durch das Haus.
»Wie schade, Steffy,« meinte die Mutter. »Du hast lieben Besuch verpaßt.«
Steffy wurde rot und lief davon. Als sie nach etwa einer Stunde an der Wohnzimmertür vorüberkam, hörte sie die Mutter sagen: »Nein, Kurt, das kann ich mir nicht denken. Aber du kannst sie ja mal fragen.«
»Mir genügt ein Blick in ihre Augen, dann weiß ich Bescheid,« entgegnete der Vater.
Sie dachte nicht mehr lange an diese Worte, erst beim Abendessen kamen ihr die Worte wieder in den Sinn, denn der Vater sah sie durchdringend an.
»Schade, Mädel, daß du am Nachmittag nicht da warst. Herr Alzadore hat uns eine reizende Geschichte erzählt.« –
»So?« kam es unsicher von Steffys Lippen.
»Was denn?« fragte Bruder Karl voller Neugierde.
Man setzte sich nieder, der Vater aber ließ den Blick nicht von seiner Tochter.
»Nun hört mal. In unserem Walde passieren Räubergeschichten. Da wohnt irgendwo in einem Schlosse eine junge Frau mit einem alten grämlichen Manne. Die Frau hat Hängezöpfe und blaue Augen. Ist dir so eine Frau schon einmal begegnet, Steffy?«
Das junge Mädchen tippte beinahe mit der Nasenspitze in die Suppe und fragte unvermittelt: »Schmeckt die Suppe eigentlich nur versalzen, oder ist sie es wirklich?«
»Aha,« dachte der Oberförster. »Also, was ich euch weiter erzählen wollte. Diese Gnädige mit den Hängezöpfen hat eine Stieftochter, die ist fast ebenso alt wie die Mutter. Einst, als die Stieftochter im Walde schläft, kommt Herr Alzadore daher, findet die im Traume Aechzende, kniet nieder, um ihr zu helfen. Die Stieftochter erwacht, schreit, weil sie sich einbildet, Alzadore sei ein Räuber, und was meint ihr, was nun geschieht? Die gnädige Frau mit den Hängezöpfen stürzt herbei, reißt wie ein Herkules einen Baumast vom Erdboden auf und will damit auf Herrn Alzadore einschlagen. So geschehen vor einigen Wochen hier in meinem friedlichen Walde.«
Steffy tat, als hätte sie sich entsetzlich verschluckt. Sie war krebsrot im Gesicht. »Die Suppe kratzt so furchtbar, Muttchen.«
Aber der Oberförster ließ ihr noch immer keine Ruhe. »Diese Gnädige mit den Hängezöpfen hat einen ganz eigentümlichen Namen, so, wie wenn der Karl niest. Und einen bösen Mann hat sie auch noch. Oh je! Du, Steffy, kennst doch die ganze Gegend. Ist dir die junge Frau auch bekannt?« –
Da traf den Vater ein so jämmerlich flehender Blick, daß er schmunzelnd die Augen von seinem Kinde wandte und von jetzt an mehr zu den anderen sprach. Steffy aber saßen die Tränen in der Kehle, sie vermochte nicht weiter zu essen.
»Ist dir nicht gut, Kind?« fragte die besorgte Mutter.
Auch der Vater hatte Mitleid mit seinem gequälten Mädel. »Wie wäre es, Steffy, wenn du auf dein Zimmer gingst und dich zu Bett legtest?«
»Ja,« hauchte sie, »gute Nacht.« Im Nu war sie aus dem Zimmer. Sorgenvoll schaute die Mutter ihr nach. Sie wollte sich erheben, aber der Oberförster legte ihr die Hand auf den Arm.
»Da haben wir es, Agnes, gottlob, so verstellen kann sie sich doch nicht. Ich glaube, es hat sich mit ihr ausgegnädigt.«
»Du hättest sie nicht so quälen sollen, Kurt.«
»Laß nur, das ist ihr ganz recht. Die Lust, die gnädige Frau noch weiter zu spielen, wird ihr jetzt wohl für immer vergangen sein.«
Karl hatte schier das Essen vergessen. Er saß mit aufgerissenem Munde da und blickte bald den Vater, bald die Mutter an.
»Was hat sie denn gemacht?« fragte er endlich. »Sie hat wohl gesagt, sie ist die junge Frau?«
»Grünschnabel, was kümmert dich das,« wehrte der Vater seinem Sohne. Er wollte seinem Mädel den Geschwisterspott ersparen und fing von etwas anderem zu reden an.
Nach einigen Tagen berichtete der Vater, daß er den jungen Forscher heute im Walde getroffen habe und daß dieser morgen verreise. Er nehme seinen Diener mit und so stände das Jagdschloß wieder leer.
Steffy jauchzte innerlich auf. Da der Herbst schön war, weilte Steffy jetzt täglich im Walde. Meist in der Nähe des Schlößchens. Das ganze Gebiet interessierte sie lebhafter denn je. Sie ahnte nicht, daß Alzadore bereits gestern wieder von seiner kurzen Reise zurückgekommen war und daß er sie durch einen Vorhang schon ein ganzes Weilchen beobachtete. Es war doch eigentümlich, daß diese junge Frau auch jetzt noch im rauhen Herbst hier als Sommergast weilte.
Wie fröhlich leuchteten doch die blauen Augen aus diesem Kinderantlitz. Ob sie wohl recht glücklich war an der Seite des alten Mannes, des Mannes, der so eifersüchtig sein sollte, der aber seiner Gattin doch so viel Freiheit ließ, daß sie stundenlang in dem Forst herumstreifen konnte.
Alzadore riß seinen Hut vom Haken und eilte der jungen blonden Frau nach. Ahnungslos schritt sie ihm voran, der weiche Waldboden verschlang den Schritt des Näherkommenden. Steffy sah sich erst um, als Alzadore dicht hinter ihr war. Erschrocken fuhr sie zusammen. Im ersten Augenblick wollte sie davonlaufen, dann aber blieb sie mit gesenktem Haupte stehen.
»Habe ich Sie wieder so erschreckt, gnädige Frau? Nehmen Sie nochmals die Versicherung, daß ich ganz harmlos bin.«
»Ich denke. Sie sind verreist,« stotterte sie verlegen.
Er lächelte unmerklich. »Ist die Reise eines einsamen Mannes hier ein so merkwürdiges Ereignis, daß die Kunde bis in Ihr entlegenes Schlößchen dringt?«
Steffys Verlegenheit wurde immer größer. »Ich – – ich hörte davon,« stotterte sie.
»Erlauben Sie, daß ich ein wenig mit Ihnen gehe?«
Sie wollte anfänglich ein kurzes Nein herausstoßen, aber die weiche Stimme klang gar so schmeichelnd in ihrem Ohr. Und da keine Antwort von ihren Lippen kam, trat Alzadore ruhig an ihre Seite und schritt neben ihr her.
»Gedenken Sie den ganzen Winter über hier zu bleiben, gnädige Frau?«
»Ja,« hauchte sie. Steffy wußte selbst nicht, warum es ihr in der Brust so eng war. Alzadore aber wollte durchaus Näheres über die merkwürdige Frau wissen und forschte weiter.
»In welcher Gegend liegt eigentlich Ihr Heim, gnädige Frau? Ich bin schon viel in der Umgegend herumgestreift, es ist mir aber noch niemals gelungen, Ihr kleines Schlößchen zu entdecken.«
Schwer atmend wandte Steffy den Kopf zur Seite. Sie wußte wirklich nicht mehr, was sie antworten sollte. War es nicht das beste, sie gestand dem Manne alles ein? Er, mit seinem gütigen Wesen würde sicherlich den Spaß recht verstehen. Dann aber schämte sie sich wieder, und so murmelte sie nur etwas Unverständliches vor sich hin.
Schweigend schritten sie weiter. Endlich nahm Alzadore das Gespräch wieder auf. »Man ist mir, als ich jetzt in Hamburg weilte, mit einem sehr ehrenvollen Auftrage nähergetreten. Es rüstet sich eine Expedition nach Australien, und man fragte bei mir an, ob ich gewillt sei, daran teilzunehmen.«
»Wann wollen Sie fort?« fragte Steffy.
»Das kann ich Ihnen leider jetzt nicht sagen. Es ist möglich, daß ich noch vor Weihnachten meine Einsamkeit hier verlasse und erst in drei bis vier Jahren wieder zurückkehre.« Ein trauriges Lächeln spielte um seinen Mund. »Sie sind dann den gefährlichen Burschen los!«
Steffy senkte schwer den Kopf. »So lange denken Sie fortzubleiben?«
»Wenn ich mich der Expedition anschließe, ganz sicher. Es ist möglich, daß ich Sie heute zum letzten Male sehe, gnädige Frau. Schenken Sie mir daher noch ein Stündchen zum gemeinsamen Plaudern.«
Es würgte ihr etwas in der Kehle. Sie war ganz traurig geworden und wußte doch selber nicht warum. Alzadore hub wieder an:
»Erzählen Sie mir doch etwas von sich selbst, gnädige Frau.« –
Fast verstört schaute sie den Frager von der Seite an. Warum trieb er sie so in die Enge? Dann aber kam plötzlich ihr alter Uebermut wieder zum Vorschein. Ach was, dieser Mann reiste auf viele Jahre von hier fort, vielleicht bald, sie sah ihn heute zum letzten Male, warum sollte sie sich daher so blamieren und ihm ihre kleinen Schwindeleien eingestehen. Es war viel bester, sie redeten heute von ganz etwas anderem, er blieb in dem Glauben, sie sei eine verheiratete Frau, alles andere war höchst gleichgültig. Entschlossen hob sie den Kopf.
»Waren sie schon einmal in Australien?«
»Ja, vor fast acht Jahren.«
»Ich möchte auch so viel herumreisen, wie Sie. Ich darf nach Weihnachten nach Berlin, und dort werde ich mir alles recht genau ansehen. Kennen Sie Berlin?«
»Freilich, gnädige Frau. Reisen Sie mit Ihrem Gatten oder allein?«
Da kam wieder der alte Jammer über sie, und ganz plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen, und aufschluchzend schlug sie die Hände vor das Gesicht.
»Gnädige Frau, was ist Ihnen?«
Diese gnädige Frau klang ihr furchtbar in den Ohren. Warum hatte sie so gelogen, und aus diesem beschämenden Gefühl heraus schluchzte sie: »Erinnern Sie mich nicht immer an die gnädige Frau! Ach, ich bin ja so unglücklich!«
In heißem Mitleid schaute er auf sie nieder. Jetzt war es ihm klar, daß diese junge Frau an der Seite des alten Gatten ein gar trauriges Los hatte.
»Armes Kind,« sprach er mehr zu sich selbst, aber Steffy hatte die Worte doch verstanden.
»Ja, Sie haben ganz recht,« nickte sie. »Ich wollte, ich hätte mich nie verheiratet, dann hätte ich jetzt nicht diese Seelenqualen. Ich wollte, ich hätte auch niemals eine Stieftochter, denn es ist schrecklich, wenn man immer danach gefragt wird, und man kann nicht so recht sagen, wie es ist.«
»Haben Sie Vertrauen zu mir. Wie konnte man Sie aber auch an einen so alten Herrn verheiraten!«
»Ich habe es ja selber getan,« schluchzte Steffy, »und auch an der Stieftochter bin ich schuld und an dem verwünschten Namen. Ach, hätte ich doch niemals den Unsinn begangen.«
Es war ihr schon etwas leichter ums Herz, und rasch trocknete sie ihre Tränen. Mit einem fast schelmischen Augenaufschlag schaute sie Alzadore an. »Am besten wird es sein, ich lasse mich scheiden, und dann bin ich wieder unverheiratet, und Angela ist nicht mehr meine Stieftochter, sondern meine Freundin. Nicht wahr, das ist doch das beste?«
Sein Blick war sehr ernst. »Ihre Jugend, gnädige Frau, läßt Sie all das viel leichter ansehen, als es in Wahrheit ist. Eine Ehe ist keine Spielerei. Man übernimmt mit ihr Pflichten, die man getreulich erfüllen muß.«
Steffy fuhr zusammen. Nein, jetzt durfte sie Alzadore nicht sagen, daß sie ihn beschwindelt hatte. Mit einer Ehe durfte man nicht spielen, hatte eben sein Mund gesprochen. Er blickte auch so ernst auf sie nieder, daß ihr ganz unbehaglich war.
»Ja, ja. Sie haben ganz recht. Jeder muß eben die Suppe ausessen, die er sich eingebrockt hat.«
Wieder schritten sie schweigend dahin. Alzadores Gedanken waren lebhaft bewegt. Er wurde nicht recht klug aus seiner Begleiterin, die eben noch so bitterlich geweint hatte über ihr trauriges Los, die aber jetzt schon wieder heiter und froh dreinblicken konnte. Vielleicht lag nur ein augenblicklicher Zwist zwischen ihr und dem Gatten vor, den sich die temperamentvolle kleine Frau im Augenblick zu Herzen genommen hatte. Ihre Tränen waren ihm freilich glühendheiß ins Herz gefallen. Seit jenem ersten Male, da er Steffy erblickt hatte, hatte das holde Geschöpf einen starken Eindruck auf ihn gemacht. Dieser Eindruck hatte sich dann noch vertieft, und jetzt umschwebte ihn ständig dieser Blondkopf. Alle seine Gedanken kreisten um Steffy, um die Frau eines anderen Mannes. Er hatte mit Gewalt versucht, sich von dem Bilde zu lösen, aber es war ihm nicht gelungen.
»Lasten Sie mich Ihr Freund sein,« bat er plötzlich ganz unvermittelt, so daß Steffy, die stark mit ihren Reuegedanken beschäftigt war, heftig zusammenschrak.
»Nein, das geht wohl nicht, ich bin eine zu schlechte Person. Oder, würden Sie eine Frau lieb haben können, die – die – –«
»Warum fahren Sie nicht fort, gnädige Frau?«
Aber Steffy schwieg.
»Lassen wir es nur,« wehrte sie. »Ich mache mir ja genug Gedanken über meinen Mann und meine Stieftochter. Ich denke ohnehin schon viel zu viel an Sie, und wenn Sie mein Freund werden würden, dann könnte ich überhaupt nichts anderes mehr denken.«
Ein gepreßter Laut aus seinem Munde ließ sie verstummen. Sie wandte den Kopf nach ihm um und sah, wie sich seine Hände nach ihr ausstreckten, dann aber schlaff an der Seite herniedersanken.
»Verzeihung,« murmelte er. Sein Gesicht war erblaßt.
Ein banges, drückendes Schweigen entstand. »Wir wollen uns trennen,« kam es zaghaft von Steffys Lippen. »Ein jeder geht seinen Weg. Ich nach Hause und Sie – – nach Australien.«
»Es ist wohl am besten so,« stimmte er zu.
»Sehe ich Sie noch einmal?« Steffys Stimme klang fast klagend.
Alzadore sah sie nicht an. »Ich glaube nein. Aber ich werde oft an Sie denken, gnädige Frau, sehr oft. Mit tausend guten Wünschen für Ihr Leben.«
Sie wollte etwas antworten, aber die Tränen verlegten ihrer Stimme den Weg. Mit abgewandtem Gesicht reichte sie ihm die Hand. Fast heftig preßte er die Kinderhand in der seinen.
»Gottes Segen über Sie, mein Kind. Auch im fernen Erdteile wird ein Einsamer für Sie beten.«
Da hielt Steffy nicht länger an sich, sie schluchzte leidenschaftlich. »Sie sollen nicht fortgehen. Sie sollen sich nicht in Australien in Lebensgefahr bringen. Ach, machen Sie wie Sie wollen. Was kümmert es mich denn! Leben Sie wohl.« Sie stürmte davon und ließ ihn allein zurück. –
Seit jenem Tage war mit Steffy eine große Veränderung vorgegangen. Das bisher so fröhliche Mädchen war still und gedrückt. Zwar brach ihr alter Frohsinn noch hier und dort durch, aber eine leise Trauer machte sich doch recht oft bemerkbar. Den Eltern entging diese Veränderung nicht. Man drang in Steffy, die aber äußerte lachend, es fehle ihr gar nichts, sie sei vollkommen gesund.
Inzwischen rückte der Dezember heran, und die Vorbereitungen zum Weihnachtsfest riefen Frau Uhde häufiger als sonst nach Reifenstein. Es galt allerlei Besorgungen zu machen, und mitunter wurde auch Steffy mit in die Stadt genommen, um der Mutter bei den Einkäufen zu helfen. Als man Anfang Dezember, an einem Vormittag kurz vor Tisch aus Reifenstein zurückkehrte, meldete das Mädchen, daß Herr Alzadore soeben dagewesen sei. Er habe es lebhaft bedauert, niemanden anzutreffen. Er wollte seinen Abschiedsbesuch machen, denn er verlasse morgen die Gegend.
Bei dieser Nachricht fiel der Oberförsterin wieder Steffys toller Streich ein. Mit lachendem Gesicht blickte sie auf die Tochter. Aber das Scherzwort, das sie beabsichtigt hatte, kam nicht über ihre Lippen. Steffy war ganz blaß im Gesicht.
»Jetzt geht er fort, nach Australien.«
Das hatte die Mutter nicht erwartet. Diese Erkenntnis kam ihr wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Fast erschrocken strich sie der Tochter über den blonden Scheitel.
»Aber, Steffy, Steffy, was ist dir denn?«
Sie tappte ganz im Dunkeln. Sie wußte gar nicht, daß ihre Tochter Alzadore kannte, und nun mußte sie hier fühlen, daß eine Liebe das Herz Steffys gefangen hielt. Aber Steffy schien bereits voller Scham, daß sie ihr innerstes Empfinden verraten hatte. Sie zwang sich zu einem Lachen, während noch die Tränen über die Wangen liefen.
»Ist ja alles Mumpitz, Mutterchen. Ich bin ein wenig übergeschnappt. Sage dem Weihnachtsmann einen schönen Gruß, er soll eine Rute für mich besorgen.« Mit diesen Worten schoß sie wie ein Pfeil die Treppe hinauf in ihr Stübchen. –
Der Oberförster war nicht wenig erstaunt, als er von seiner Frau erfuhr, welchen Grund Steffys seltsames Benehmen zu haben schien. Man wollte die Tochter nicht fragen, wann und wo sie mit Alzadore zusammengetroffen sei, aber man rief Karl und forschte ihn aus. Jedoch auch er konnte keine Aufklärung geben.
In der Oberförsterei war man recht erfreut, daß für Steffy gleich nach Neujahr die Reise nach Berlin zu Klattermanns in Aussicht genommen war. Steffy würde dort eine Menge neue Eindrücke haben und so am schnellsten über ihr erstes Liebesleid hinwegkommen. Glaubten doch die Eltern beide, daß diese Liebe noch gar nicht so tief im Herzen der Tochter säße und daß einige fröhliche Wochen sie von ihrem Sehnen heilen würden.
Und auch Steffy sehnte den Tag der Abreise herbei. Es war ihr jedesmal schmerzlich, wenn sie das Jagdschloß erblickte. Dann wanderten ihre Gedanken zu dem, der sich vielleicht schon auf hoher See befand und der sie gewiß längst vergessen hatte.
Neben den Weihnachtsvorbereitungen gingen auch die für Steffys Abreise Hand in Hand. Die Oberförsterin hatte aus der nahen Stadt eine Schneiderin kommen lassen, die jetzt in der Oberförsterei saß und für Steffy hübsche Kleider nähte. Aber Steffy fand keine rechte Freude an all den Sachen, die Munterkeit war noch immer nicht ganz wieder zurückgekehrt.
Die Oberförsterin hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, ihr Töchterchen für die Reise nach Berlin ganz besonders nett auszurichten, und nach Rücksprache mit ihrem Gatten beschloß sie, sogar auf zwei Tage nach der Provinzstadt zu fahren, um dort noch allerhand hübsche Kleinigkeiten für die Tochter zu kaufen.
Just an dem Morgen, da sie abreisen wollte, überbrachte ihr der Oberförster einen Brief von Alzadore. Darin teilte der Gelehrte mit, daß er vorläufig noch in Hamburg weile, und sich auch noch nicht fest entschlossen habe, an der australischen Expedition teilzunehmen. Wahrscheinlich werde er erst noch ein wenig in Deutschland bleiben, um dann seine Entschließung zu treffen. Die Expedition sei vorläufig bis zum kommenden Frühjahr verschoben, und so brauche er sich mit seinen Entschließungen nicht zu beeilen. Fürs erste werde er nicht in sein Haus zurückkehren, trotzdem wollte er seinen kleinen Besitz nicht unbewohnt lassen. Es werde daher eine Verwandte von ihm, eine ältere Dame, schon in der allernächsten Zeit in Reifenstein eintreffen, um im Jagdschloß Wohnung zu nehmen. Ihm sei das außerordentlich angenehm, seine wertvollen Bücher und Sammlungen nicht unbeaufsichtigt zu wissen. Er käme noch mit einer großen Bitte zu Herrn Uhde. Obwohl die Dame die Schlüssel zu allen Räumen bereits erhalten habe, würde sie sich doch sofort nach ihrer Ankunft in Reifenstein in der Oberförsterei vorstellen. Herr Uhde mochte dann die Liebeswürdigkeit haben, seiner Verwandten irgendeine Person, eine Magd, lieber sei ihm allerdings eines seiner Kinder, mitgeben zum Geleit nach dem Schlößchen.
Der Oberförster beschloß, sogleich Herrn Alzadore zu antworten, daß er natürlich gern bereit sei, der Dame nach jeder Richtung hin Beistand zu gewähren. Dann reiste Frau Uhde für zwei Tage ab, ihre Kinder vorher noch einmal eindringlich ermahnend, sich während ihrer Abwesenheit zu vertragen.
Während des Mittagessens las der Oberförster den Brief Alzadores seinen Kindern vor, und wieder zuckte und zitterte es um Steffys Lippen.
»Sollte ich nicht anwesend sein, wenn die Dame kommt, so wirst du, Steffy, oder du, Karl, die Dame sehr liebenswürdig empfangen und einer von euch oder ihr beide geht dann mit ihr hinüber zum Schlößchen.«
Steffy war still, und Karl schaute sie von der Seite an. Als nach dem Essen der Vater einen Weg in die Stadt antrat, da zuckte es schon wieder in Karls Gesicht vor verhaltenem Lachen. Er winkte Bruder Robert heran, und dann zogen sich die beiden Brüder zurück.
Fräulein Karsten, die Schneiderin, hatte heute keine rechte Ruhe. Robert borgte sich bei ihr jenes Holzgestell aus, das dazu diente, Steffys neue Kleider auszuprobieren. Dann bat er, das Fräulein möge ihm eine schwarze Spitze zu einer Art Haube zusammennähen. Auch das tat Fräulein Karsten, freundlich gewährend, dann wurde sie allein gelassen. –
Gegen die fünfte Stunde klopfte es an Steffys Tür, die in ihrem Zimmer herumkramte, um sich schon alles für ihre Reise zusammenzusuchen. Marie, die Magd, stand in der Tür. –
»Fräulein Steffy, es ist Besuch da. Eine Frau Alzora oder so ähnlich. Ich habe sie in das Eckzimmer geführt.
Steffy fuhr auf. »Wer ist da?«
»Eine Frau Alzora. Aber ich weiß nicht genau.«
Steffy stürmte die Treppe hinab. Sie suchte Karl. Der kam ihr schon entgegen. »Du, Steffy, was machen wir denn nun? Der Vater ist nicht da, und eben kommt eine alte Schachtel, die uns sagen läßt, sie sei Frau Alzadore. Ich habe sie in das Eckzimmer genommen. Unterhalten kann man sich mit ihr nicht. Sie ist auf beiden Ohren taub. Was machen wir denn nun?«
Steffy schloß einen Augenblick die Augen. Das war ohne Zweifel die Dame, von der der Vater heute gesprochen hatte. Sie führte seinen Namen! Vielleicht gar seine Mutter? Nein, das hätte er geschrieben. Aber was tun? Sie mußte hinein, man konnte doch die fremde Dame nicht so allein lassen.
»Geh du doch hinein, Karl,« bat sie endlich.
»Was soll ich denn bei der Alten, die ist ja taub.«
»Taub ist sie?« fragte Steffy.
»Nun ja, so dreiviertel. Man muß ihr alles direkt in die Ohren schreien, sonst hört sie nichts.«
»Allein können wir sie doch nicht lassen. Ich werde also hineingehen.«
Sie öffnete die Tür zu dem kleinen Eckzimmer, und Karl trat hinter ihr ein, blieb aber an der Tür stehen. Da kam auch Robert herbei und faßte hinter dem Bruder Posten. –
In dem Zimmer herrschte schon ziemliche Dunkelheit, nur durch das Fenster, vor dem eine Dame stand, den Rücken zur Tür, fiel noch ein heller Schein in den Raum. Die große, ziemlich korpulente Dame schien die Eintretende nicht zu hören, sie verharrte noch immer am Fenster und schien in die Schneelandschaft hinauszublicken.
»Guten Abend,« sagte Steffy. Der Besuch rührte sich nicht. »Guten Abend,« wiederholte Steffy lauter. Wieder tiefe Stille.
»Siehste,« meinte Karl, »ich habe ja gesagt, sie ist taub.« –
Da trat Steffy näher an die Dame heran. Mit höchstem Erstaunen musterte sie die eigentümliche Toilette. Ein nicht gerade gutsitzender schwarzer Rock, darüber eine altmodische Pelerine und dann ein unmöglicher Hut, der tief in das Gesicht gedrückt war. Der Besuch stand noch immer unbeweglich. Steffy machte eine artige Verbeugung und schrie dann laut:
»Guten Abend!«
Karl und Robert lachten schallend auf. »Seid doch stille,« flüsterte Steffy entrüstet. Nun ging sie direkt an das Fenster, aber im nächsten Augenblick brach ein Zornruf von ihren Lippen. »Dumme Bengels!« Jetzt erst sah sie, daß man das Probiergestell angezogen und mit einem Hut geschmückt hatte. Das war natürlich Bruder Karls Werk, der die Magd bestimmt hatte, Steffy anzuführen. Ohne die Brüder, die in der Tür standen und sich vor Lachen krümmten, auch nur eines Blickes zu würdigen, ging sie aus dem Zimmer.
Am nächsten Tage kehrte die Mutter aus der Stadt zurück. Sie hatte eine Menge hübscher Sachen eingekauft, die man Steffy auf den Weihnachtstisch legen wollte. Nur noch drei Tage fehlten bis zum Fest, und auch in der Oberförsterei machte sich die uns allen bekannte geheimnisvolle Weihnachtsstimmung bemerkbar. Für Frau Uhde war das immer eine besonders anstrengende Zeit, denn die gutmütige Dame konnte gar nicht genug einkaufen, um alle zu erfreuen. Kam der Nachmittag, so machte sie sich auf den Weg nach Reifenstein und kehrte dann zur Abendstunde stets mit vielen Paketen beladen nach Hause zurück.
Heute war sie wieder in die Stadt gegangen, Steffy saß mit den Brüdern im Wohnzimmer und vergoldete Nüsse. Da kam das Mädchen herein und meldete, daß soeben eine Dame gekommen wäre, die einen Gruß von Herrn Alzadore überbringe und gern Frau oder Herrn Uhde gesprochen hätte. Steffy warf einen entrüsteten Blick auf die Brüder.
»Haben Sie sie vielleicht ins Eckzimmer geführt?«
Das Mädchen nickte zustimmend.
»Ja, Fräulein Steffy.«
»Ich soll sie wohl empfangen?« Steffys Blick glitt zu den Brüdern hinüber.
»Die gnädige Frau ist nicht zu Hause,« gab das Mädchen zurück, »und auch der Herr Oberförster ist nicht da.«
»Na, lassen Sie die Dame mal ruhig im Eckzimmer stehen. Sie soll warten.«
Kopfschüttelnd entfernte sich Anna, und verdutzt sahen sich die Brüder an. »Wenn es aber wirklich die Dame ist, von der Alzadore geschrieben hat,« meinte Karl zögernd, »so können wir sie doch nicht drüben stehen lassen, bis die Mutter heimkommt.«
Da brauste Steffy auf. »Meint ihr, ich falle auf eure Dummheit noch einmal rein? Nun gut, ich werde der Person ›Guten Tag‹ sagen, aber ihr kommt mit.«
Mit einer raschen Bewegung raffte sie die Schürze mit den Nüssen zusammen und eilte durch den Flur zum Eckzimmer. Gerade so wie vor drei Tagen stand jetzt im halben Dämmerschein eine Dame am Fenster und schaute hinaus. Da griff Steffy in die Schürze, warf eine Handvoll Nüsse, gleich daraus noch eine und noch eine gegen jene Regungslose, die jetzt wie vom Blitz getroffen herumfuhr und einen erschreckten Schrei ausstieß, sich dann Schutz suchend hinter den Vorhang zurückzog. Steffy aber ließ vor Schreck die Schürze mit den Nüssen fallen und stand wie zur Bildsäule erstarrt.
»Steffy!« Niemand hatte es gehört, daß der Vater gerade in dem Augenblick, als Steffy die dritte Hand voll Nüsse gegen den Besuch warf, hinzugekommen war. Er starrte ganz entgeistert auf seine ungezogene Tochter, die einen Besuch auf diese Weise empfing.
Steffy vermochte kein Wort der Entschuldigung zu stammeln. Die Dame aber, die das allgemeine Entsetzen wahrnahm, sprang mit ein paar Sätzen zur Tür, vorbei an dem Oberförster und den Kindern, und eilte zum Hause hinaus. Nun kam auch Leben in den Oberförster.
»Wir beide sprechen uns noch,« rief er zornig seiner Tochter zu, dann wandte er sich um, um der Enteilenden nachzugehen. Die Dame aber, die bereits das Gartentor erreicht hatte, hörte wohl die rufende Stimme des Oberförsters, aber einen neuen Angriff fürchtend, eilte sie, so schnell sie ihre Füße tragen konnten, zu dem wartenden Wagen und rief dem Kutscher in Angst zu: »Fahren Sie rasch, rasch davon, zum Jagdschloß!« So blieb dem Oberförster nichts anderes übrig, als wieder in sein Haus zu gehen und Strafgericht zu halten.
Steffy stand noch immer inmitten der verstreuten Nüsse. »Was soll solch ein Betragen?« donnerte er jetzt die Tochter an. »Bist du denn ganz närrisch geworden?«
Beinahe rauh faßte er Steffy am Arm und schüttelte die Regungslose hin und her.
Da würgte Steffy hervor: »Ich dachte, sie lebt nicht, ich dachte, es ist die Probierpuppe. Wenn ich gewußt hätte, daß es wirklich eine Dame ist, hätte ich sie doch nicht mit Nüssen geworfen.«
Steffy weinte jetzt wirklich herzbrechend. Karl und Robert aber hatten sich längst aus dem Staube gemacht, und so blieb dem Oberförster nichts anderes übrig, als sich abermals, Aufklärung heischend, an seine Tochter zu wenden. Seine Stimme grollte:
»Sprich ordentlich! In eine strenge Pension gehörst du, wo man dir Anstand und gute Sitten beibringt. Ein dummes Ding mit solchem Betragen kann man nicht nach Berlin lassen. Ich werde mir die Sache auch noch sehr überlegen.«
Da weinte Steffy noch heftiger. Sie verklagte nicht gern die Brüder bei den Eltern, aber jetzt sah sie ein, es gab doch keinen anderen Ausweg, als dem Vater den Zusammenhang zu erklären. Noch mit den Tränen kämpfend, aber doch wenigstens im Zusammenhang berichtete sie nun von jenem ersten Besuch der Frau Alzadore, der sich nach drei Tagen wiederholt habe. Da sie wieder einen Streich der Brüder vermutete, habe sie eben den neuen Gast so unartig empfangen.
Ein wenig war Steffy ja damit entschuldigt, aber der Groll in dem Vater war doch zu groß. Was mußte sich jene Dame von dem Hause des Oberförsters denken.
»Das hast du nun für deinen Uebermut und für deine Hitzigkeit. Ein ganz dummes Ding bist du, und morgen putzt du nicht den Weihnachtsbaum. Wir gehen statt dessen gemeinsam hinüber ins Jagdschloß. Dort wirst du die Dame um Entschuldigung bitten.«
Aber auch die beiden anderen Missetäter gingen nicht leer aus. Der Oberförster versetzte seinen beiden Söhnen ein paar ordentliche Ohrfeigen.
»Das schickt euch die Dame aus dem Jagdschlosse. Ihr werdet selber wissen, warum –«
Als Frau Uhde abends heimkehrte, erfuhr sie von ihrem noch immer erregten Gatten, was sich inzwischen im Hause ereignet hatte. Sie war gänzlich fassungslos.
Am anderen Morgen gegen elf Uhr rief der Oberförster seine Tochter. »Bist du fertig, wir wollen gehen.«
Steffy kam an, bereits in Hut und Mantel. »Den Wagen habe ich nicht anspannen lassen, wir gehen zu Fuß.«
So schritt sie schweigend, mit gesenktem Kopfe, neben dem Vater her und überlegte, auf welche Weise sie am besten ihre Entschuldigung vorbringen könnte. Was mußte sich Alzadore denken, wenn ihm seine Verwandte schrieb, daß sie mit Nüssen beworfen worden war. Vielleicht hatte die fremde Dame auch ihre blonden Hängezöpfe bemerkt, und Alzadore spann dann eine Verbindung zwischen ihr und jener gnädigen Frau, die ihn im Walde angefallen hatte.
Der Weg erschien ihr heute unsäglich lang. Von Zeit zu Zeit schaute sie scheu mit verstohlenem Seitenblick auf den Vater, der aber gar keine Augen für seine gedrückte Tochter hatte.
Endlich hatte man das Schlößchen erreicht. Der Oberförster klingelte. Alles blieb still. Er klingelte noch einmal. Wieder tiefe Stille. Da wandte er sich an seine Tochter.
»So werden wir heute nachmittag noch einmal herkommen. Und wenn die Dame dann nicht daheim ist, so gehst du morgen am heiligen Abend noch einmal hin und so lange jeden Tag, bis du deine Entschuldigung angebracht hast.« Noch einmal klingelte er, aber auch jetzt kam keine Antwort. Nur ein Holzweiblein kam des Weges, die auf dem Schlitten eine große Menge dürrer Aeste hinter sich herzog.
»Grüß Gott, Herr Oberförster,« nickte die Alte. »Dort ist niemand zu Hause. Das Fräulein, das gestern hier ankam, grade als ich hier vorbeiging, hat den Wagen warten lassen und ist mit dem Abendzuge wieder abgereist.«
»So, abgereist,« knurrte der Oberförster. »Na ja, kein Wunder, bei solch einer Behandlung.«
Steffy war das Weinen schon wieder sehr nahe. Die Dame war fort, fuhr gewiß jetzt nach Hamburg, und vielleicht schon heute erfuhr Alzadore, was sie getan hatte. Der Gedanke daran war ihr so gräßlich, daß ihr förmlich das Herz weh tat. Nur mit größter Mühe drängte sie die Tränen zurück. Sie wußte, der Vater konnte es nicht leiden, wenn man weinte. Ebenso schweigend, wie man gekommen, legte man den Heimweg zurück. Verweht war für Steffy all die fröhliche Weihnachtsstimmung.
Die gute Mutter, die nicht sehen konnte, daß ihr Kind litt, vermittelte dann am Abend wieder zwischen ihrem Gatten und Steffy. So konnte man am anderen Tage doch wenigstens in Frieden das Weihnachtsfest begehen, und als Steffy auf ihrem Gabentische all die reichen und schönen Geschenke liegen sah, da war für einen Augenblick ihr Jammer vergessen. Nur den Baum durfte sie nicht ansehen. Dort hingen gar so viele goldene Nüsse daran, und die goldenen Nüsse schufen ihr in diesem Jahre Pein. Es war ihr immer, als schauten zwischen den grünen Zweigen des Baumes zwei dunkle, ernste Augen mit vorwurfsvollem Blick hervor.
Das Fest verging, das neue Jahr hielt seinen Einzug. Nun noch wenige Tage, dann hieß es Abschied nehmen aus der Oberförsterei, dann ging Steffy nach Berlin, von wo aus fast an jedem Tage Briefe kamen, erwartungsvolle liebe Briefe, die Steffy immer aufs neue aufforderten, sich ja für viele Wochen einzurichten.
Je näher der Tag der Abreise rückte, um so erwartungsvoller wurde Steffy. Was würde sie in der Hauptstadt nicht alles sehen, nicht alles hören! Angela hatte ihr ja schon so mancherlei erzählt. Sie würde viele neue Gesichter sehen und viel unter Menschen sein. Schade, schade, daß der Eine nicht in Berlin war. Der weilte in Hamburg und traf die Vorbereitungen für eine dreijährige Reise nach Australien. Ach, Gott, was er wohl gesagt hatte, als die Verwandte wieder zu ihm gekommen war. Sie wußte, daß nach jenem schrecklichen Ereignis der Vater an Alzadore geschrieben hatte. Es waren auch zwei Briefe von jenem ins Haus gekommen. Aber Steffy hatte von deren Inhalt nichts erfahren. Wahrscheinlich hatte Alzadore heftig auf sie gescholten, und die guten Eltern hatten ihr darum den Inhalt verschwiegen. Sie ahnte ja nicht, daß der Vater in beredten Worten für seine Tochter um Entschuldigung gebeten hatte, daß er Alzadore ausführlich jenen tollen Streich geschildert hatte und daß der Spanier in sehr humoristischer Weise die Sache aufgefaßt und Steffy bei seiner Verwandten entschuldigt hatte.
So reiste in den ersten Tagen des Januar Steffy nach Berlin ab. Die Mutter gab ihr bis zu der ersten Kreuzungsstation das Geleit, dann fuhr das Oberförsterkind zum ersten Male in seinem Leben allein in die Welt hinaus.