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Der Schimmel

Rosemarie konnte den Eltern nicht genug von ihren Erfolgen erzählen, die sie bei dem kranken Rudolf hatte. Ihre Freude war riesengroß, wenn Rudolf etwas begriff. Er konnte schon bis zehn zählen, und wußte auch, wieviel zwei und drei sind. An den Fingern rechnete er sogar noch schwerere Aufgaben. Gar zu gerne hätte sie Krischan davon erzählt, aber der war weit weg. Sie ersehnte seine Rückkehr, um ihm bei Rudolf zu zeigen, daß er auch schon mehrere Buchstaben schreiben konnte.

In der Schule paßte sie genau auf, wie der Lehrer den Allerkleinsten das Lesen und Schreiben beibrachte. Wenn sie dann zu Petersens ging, hatte sie auf einem Stück Papier einzelne Buchstaben aufgemalt und ließ sie sich von Rudolf immer wieder vorlesen. Die Petersen'schen Kinder lachten Rosemarie oftmals aus und meinten, Rudolf würde doch nichts lernen, aber sie ließ sich dadurch nicht irremachen.

»Er muß einmal ein so guter Schäfer werden, wie sein Großvater ist, denn der weiß alles.«

»Wenn Rudolf in der Schule einmal eine richtige Antwort gab, war es für Rosemarie schwer, ihren Jubel zu unterdrücken, so sehr freute sie sich.

»Herr Lehrer, – Herr Lehrer, er weiß etwas«, rief sie laut in die Klasse hinein. Einmal war sie sogar aufgesprungen, um Rudolf zu streicheln. Aber das verbot ihr der Lehrer. Auch das Gesicht des Knaben glänzte vor Freude über sein Können.

Aber nicht nur in der Schule, auch auf dem großen Bauernhofe Petersens führte Rosemarie ihren Freund umher. Sie zeigte ihm die Pferde, die Kühe, die Schweine und weckte so allmählich die Aufmerksamkeit des Knaben für diese Dinge.

Ihren Wichtelmann besuchte sie oft. Sie hatte keine Angst mehr vor dem alten, freundlichen Herrn und nahm einmal sogar Rudolf mit, der am liebsten in dem Schuppen geblieben wäre. Was er hier sah, fesselte ihn ungemein. Hinnerk Lerz sorgte übrigens dafür, daß alle Kinder aus Unslohe die Schnitzereien seines Großvaters bewunderten. So war Herr Gribbe, der im ganzen Orte kurzweg ›der Wichtelmann‹ hieß, alltäglich von Besuchern überlaufen. Wenn er in seiner Werkstatt saß und kleine Figuren schnitzte, standen die Kinder stumm daneben und sahen ihm zu. –

Eines Spätnachmittags fuhr Bauer Petersen mit seinem Wagen vor das Haus des Malers. Vorn, neben ihm, saß Rudolf, hinten im Wagen hockte Trine. Petersen betrat das Malerhaus, um mit Herrn Deste etwas zu besprechen. Rosemarie eilte hinaus zu den beiden Kindern.

»Er fährt zum Großvater«, sagte Trine und zeigte mit dem Finger auf Rudolf. »Der Vater hat in Olshope zu tun, er holt dort eine Kommode ab. Dann besucht er den Krischan, der in der Gegend bei den Schafen ist. Der Vater will, daß er den Rudolf sieht.«

»O, ich möchte mit zum Krischan fahren.«

»Nein, wir sind erst abends wieder zurück; es ist auch gleich Abend.«

»Ich möchte auch am Abend mit.«

Rosemarie eilte ins Haus zu Dirli-Mutti und streckte ihr flehend beide Hände entgegen: »Sie fahren zum Krischan, Dirli-Mutti, bitte, laß mich mit!«

»Du sollst gleich Abendbrot essen, Kind.«

»Dann gib mir ganz schnell Abendbrot. Der Rudolf ist draußen, er fährt zum Krischan. Da möchte ich mit und dem Krischan erzählen, daß der Rudolf schon schreiben kann. – Ach, liebe Dirli-Mutti, ich habe mich immerfort so viel mit dem Rudolf abgequält, jetzt will ich zeigen, was ich ihm alles beigebracht habe. – Liebe, süße Dirli-Mutti, laß mich mitfahren!«

»Es wird zu spät, Rosemarie. Herr Petersen kommt erst gegen neun Uhr zurück.«

»Einmal kann es doch spät werden! Dirli-Mutti, bitte mache deiner kleinen Rosemarie die große Freude! O, ich würde so froh sein! Ich weiß gar nicht mehr, wie der Krischan aussieht. Ich habe ihm doch auch eine neue Jacke gekauft. Ach, Dirli-Mutti, morgen mache ich den Hausflur ganz allein sauber, den ganzen Tag helfe ich! Aber laß mich mitfahren!«

Frau Deste sah den flehenden Blick ihres Kindes. »Ich werde Herrn Petersen fragen, wann er zurückkommt.«

»Dirli-Mutti, du bist die allerbeste Mutti der Welt! Ich werde auch morgen in der Schule furchtbar artig sein. Das verspreche ich dir. Aber laß mich zum Krischan fahren. Weißt du, hier in meinem Hart ist es schon ganz heiß, weil ich den lieben Krischan so lange nicht gesehen habe. Liebe Dirli-Mutti, sage ja!«

Frau Deste lachte. Noch war sie nicht entschlossen, Rosemarie abends bis ins übernächste Dorf mitfahren zu lassen. Sonst lag sie um neun Uhr längst im Bett.

Als Petersen aus des Vaters Zimmer kam, wurde er von Rosemarie festgehalten und zur Mutter geführt. »Nimm mich doch mit«, bettelte sie mit heißen Augen, »ich will den Krischan sehen.«

»Mein lieber Herr Petersen, wohin wollen Sie fahren?« fragte Frau Deste.

»Ich muß nach Olshope und will dort eine Kommode abholen, die ich gekauft habe. Dann soll der Krischan auch seinen Enkel wiedersehen. Ich finde, der Bengel hat sich gut herausgemacht. Der Großvater wird sich freuen.«

»Wann denken Sie zurück zu sein?«

»Gegen neun Uhr bin ich wieder hier.«

»Rosemarie möchte gerne mitfahren. Aber es ist mir eigentlich zu spät für das Kind.«

»Ach, Frau Deste, geben Sie mir die kleine Ützepogge ruhig mit. Meine Trine ist ja auch dabei. Rosemarie jammert schon immerfort nach dem Krischan. Ich werde mich beeilen. Wir werden uns auch nicht lange beim Krischan aufhalten. Vielleicht bin ich schon früher wieder hier. – Freilich, der Weg ist an manchen Stellen so schlecht, daß ich oft Schritt fahren muß.«

»Nun gut, so nehmen Sie Rosemarie mit.«

Rosemarie stieß einen Freudeschrei aus, der durch das ganze Haus schallte und den Vater erschreckt zusammenfahren ließ, der in seinem Zimmer arbeitete.

»Was ist denn los!« rief er, die Tür aufreißend.

»Ich fahre mit, – ich fahre mit, ich fahre mit!« rief Rosemarie.

»Noch einen Augenblick, Kind«, rief die Mutter. Schon lief das Kind hinaus und wollte auf den Wagen steigen. »Ich packe deine Brote ein, und Trine sorgt dafür, daß sie unterwegs gegessen werden. Nicht wahr, Herr Petersen, Sie setzen das Kind sofort ab, wenn es nicht brav ist.«

»Ja, das mache ich! – Brav und artig müßt ihr schon sein, sonst kehre ich um, und ihr kommt nicht zum Krischan.«

Wenige Augenblicke später begann die Fahrt. Vorn, neben Petersen, saß Rudolf, hinten im Wagen, auf einem Bund Stroh, lagen die beiden Mädchen. Rosemarie war voller Freude. Sie aß rasch ihre Brote auf, dann kroch sie zu Rudolf, um ihn nochmals die Zahlen von eins bis zehn hersagen zu lassen.

Petersen hielt es für richtig, schon auf dem Hinweg den Umweg über die Weidestelle der Schnucken zu machen. Schon aus großer Entfernung sah Rosemarie die Herde und bald auch den Schäfer. Wieder jubelte sie hell auf.

»Sieh, Rudolf, da ist er, der Großvater! O, wird er eine Freude haben, daß du schon so viel gelernt hast!«

Beim Krischan hielt Petersen an. Die Kinder stiegen ab. Rosemarie umhalste den alten Schäfer stürmisch. Sie schrie ihm mit überstürzten Worten zu, was Rudolf schon alles gelernt hätte und pries ihn als den klügsten Jungen aus Unslohe. Dann eilte sie wieder zu Rudolf und rief ihm zu: »Komm her und zähle!«

Der Knabe war erst ein wenig verschüchtert. Als er vom Großvater aber liebevoll getätschelt wurde, und Rosemarie mit blitzenden Augen ihn noch einmal aufforderte, fing er an, die Zahlen fehlerlos herzusagen.

»Na, was sagst du nun?«, rief das Heidekind und umhalste erneut den alten Mann. »Das hat er alles gelernt und noch viel mehr!« Sie zeichnete einen Buchstaben in die Luft. »Rudolf, – was ist das?«

»Das ist ein I.«

»Und das hier?«

»Das ist ein N.«

»Krischan, lieber Krischan, freust du dich? O, er wird alles noch lernen! Er weiß noch viel mehr! Sieh mal, Rudolf, da ist der Hopplala, der tut nur so, als ob er eine Schnucke ins Bein beißen wollte, aber er tut keiner Schnucke was. Das lernst du auch noch, damit du ein berühmter Schäfer wirst.«

So ging das Geplauder des Kindes weiter. Krischan hielt in einem Arm seinen Enkel, im anderen die kleine Rosemarie.

»Krischan, jetzt lerne ich stricken, noch keinen Strumpf, nur einen Lappen. Aber wenn du wieder in unserer Nähe bist, lerne ich bei dir Glücksstrümpfe stricken, und der Rudolf lernt es gleich mit.«

Schließlich mahnte Petersen zum Aufbruch, es würde sonst zu spät.

»Ochotti jau, ich bin noch lange nicht fertig, ich habe noch so viel zu erzählen.«

»Noch fünf Minuten, dann ist Schluß«, erklärte der Bauer.

Nach fünf Minuten befahl Petersen den Kindern, wieder auf den Wagen zu steigen. Rosemarie schüttelte den Kopf. »Wir sind noch nicht fertig.«

»Mußt schon gehen, Sünnenschienchen«, mahnte der Alte, »die Eltern haben sonst Sorgen, wenn du so spät heimkommst.«

»Wir fahren noch lange nicht heim, wir fahren erst nach Olshope.«

»Das ist noch ein ganzes Stück Weges, Sünnenschienchen, du kommst ein anderes Mal wieder. Ich bin ja bald wieder in deiner Nähe.«

»Ich weiß was«, rief Rosemarie. Dann lief sie zu Petersen, der bereits wartend am Wagen stand. »Fahre mal allein mit der Trine nach Olshope, ich bleibe mit dem Rudolf hier. Wenn du wiederkommst, holst du uns ab.«

Petersen schüttelte den Kopf. »Nein, Kind, das geht nicht. Der Umweg ist zu groß. Von Olshope fahren wir auf geradem Wege heim. So, nun steige auf!«

»Warte noch ein kleines Weilchen, ich muß dem Krischan ganz was Wichtiges sagen.«

»Dann aber schnell!«

»Krischan, ich habe dich schrecklich lieb!«

»Das weiß ich, Sünnenschienchen, und nun geh!« Nochmals umarmte er sein Enkelkind und seinen kleinen Liebling, nochmals sprang Hopplala schweifwedelnd an Rosemarie empor, dann drängte der Schäfer zum Abfahren. »Ich hebe dich auf den Wagen, Sünnenschienchen.«

»Brauchst nicht«, lachte die Kleine, »sieh mal, ich kann mit einem Hopp selbst hinauf.«

Trine saß schon oben. Rosemarie mußte noch einmal den Krischan umarmen.

»Wenn du jetzt nicht kommst«, sagte Petersen, »kannst du was erleben!«

»O, ich möchte gerne was erleben, Onkel Petersen.«

»Du, – – sei nicht ungezogen!«

»O nein, das bin ich nicht.«

»Aufsteigen!« befahl er kurz.

»Da bin ich«, sagte Rosemarie und war mit einem Hopsa auf dem Wagen. Dann flüsterte sie Trine zu: »Wenn er ein böses Gesicht macht, dann kriegt man Angst. Dann muß man schon.«

Petersen holte Rudolf wieder nach vorn, dann setzte sich der Wagen in Bewegung. Rosemarie stand hinten und winkte mit beiden Händen. Plötzlich fiel sie um, denn der Weg war gar zu holprig und schlecht. Sie lachte laut auf, weil der Fall ins Stroh nicht schmerzhaft gewesen war.

Dann ging es weiter nach Olshope.

»Ochotti jau, – ist das ein Rumpelweg«, sagte Trine, »unsere Wege in Unslohe sind besser.«

Petersen mußte langsam fahren. Trotzdem wurden die Kinder kräftig hin- und her geschüttelt.

»Warum nehmen wir denn den langen Strick mit?« fragte Rosemarie und zeigte auf die dicke Leine, die im Wagen lag.

»Damit bindet der Vater nachher die Kommode fest, damit sie nicht umfällt. Neulich hatten wir ein Pferd daran gebunden.«

»Warum habt ihr es angebunden?«

»Der Vater hat einen ganz kleinen Schimmel geholt, der ist hinten an den Wagen gebunden worden. Den kleinen Schimmel haben wir jetzt im Stall. Ich durfte ihn auch einmal halten. Immer kam er hinter unserem Wagen her. Das machte Spaß.«

»So ein kleiner Schimmel?« Rosemarie hielt die Hände ein wenig auseinander. »Ein Wichtelmannschimmel?«

»Du Dösbartel! – Ein richtiger Schimmel war es, der einen Wagen ziehen kann. Aber er war klein.«

»Habt ihr ihm den Strick um den Hals gebunden?«

»Nein, – der Vater hat eine Halfter gehabt, daran hat er den Strick gebunden.«

Endlich war Olshope erreicht. Vor einem Bauernhause machten sie Halt. Die beiden Kinder mußten vom Wagen steigen. Petersen holte mit Hilfe des Bauern eine Kommode heraus, die sie in der Mitte quer auf den Wagen setzten.

»Jetzt haben wir zwei Stuben auf dem Wagen«, lachte Rosemarie. »Vorne wohnst du, Onkel Petersen, hinter der Kommode wohnen wir.«

»Ihr könntet mit nach vorne kommen.«

»Ach, laß uns lieber hinten sitzen.«

»Macht aber keine Dummheiten!«

»Ochotti jau«, lachte Rosemarie, »wir machen überhaupt keine Dummheiten!«

Es war nicht nötig, die Kommode festzubinden. Sie stand gut zwischen den Brettern des Wagens. So blieb der Strick bei den Kindern liegen, die sich, als der Wagen wieder abfuhr, damit vergnügten, das eine Ende des Strickes nachschleifen zu lassen.

»Es ist aber kein Schimmel dran«, meinte Rosemarie, »wir müßten einen Schimmel haben.«

»Ich weiß was«, entgegnete Trine, »ich binde mir den Strick um den Bauch und springe vom Wagen, du bleibst oben und hältst den Strick. Der Vater kann jetzt doch nicht schnell fahren.«

»Ja, du bist der Schimmel«, jubelte Rosemarie und schlang den Strick um Trine, die sich vom Wagen gleiten ließ. Rosemarie nahm das andere Ende des Seiles in die Hand. Was war das für ein Spaß! Trine wieherte von Zeit zu Zeit wie ein richtiges Pferd, und Rosemarie redete dem Schimmel zu, er solle brav nachkommen, er bekäme bald Hafer.

Das lustige Spiel ging ein ganzes Weilchen so weiter, dann wollte Rosemarie der Schimmel sein.

Trine sprang auf den Wagen, und Rosemarie wurde festgebunden. Auch das ging ein Weilchen gut.

»Jetzt sind wir zwei Schimmel«, sagte Trine und fing an, das andere Ende der Leine um ihren Körper zu knoten. Dann hüpfte auch sie vom Wagen, aber die Kinder achteten nicht darauf, daß der Strick oben keinen Halt mehr hatte, sondern auch vom Wagen glitt.

»Hü hü hü«, wieherte Rosemarie vergnügt, »jetzt bockt mein Schimmel.«

Sie machte ein paar wilde Sprünge in die Luft. Das gefiel Trine, und sie tat ein gleiches.

»Mein Schimmel will nicht mehr neben deinem Schimmel gehen«, sagte Rosemarie und sprang Trine an. Dabei achtete sie nicht des schlechten Weges und fiel auf die Nase.

»Mein Schimmel ist gepurzelt! – Hü hü hü –«

Sie stand wieder auf, aber im selben Augenblick ließ Petersen ein lautes »hü – hott« hören, worauf die Pferde sich in schnelle Gangart setzten. Da die Kommode hinter ihm stand, konnte er nicht sehen, was die Kinder trieben. Er hatte auch nicht bemerkt, daß sie vom Wagen gesprungen waren und Schimmel gespielt hatten.

»Du«, sagte Rosemarie, »er fährt fix!«

»Vadder – Vadder!«

Das Räderrollen verschlang den Ruf. Petersen, der möglichst schnell heimkommen wollte, trieb seine Braunen zu immer größerer Eile an.

Rosemarie blieb stehen. Ihr war der Schreck in die Glieder gefahren.

»Vadder, – Vadder –« schrie Trine aus Leibeskräften. Aber Petersen hörte nicht.

Trine begann zu weinen, zumal sie gerade neben einem hohen Wacholder stand. »Hinter dem Wacholder sitzt oft der Zauberer«, schluchzte sie. »Es wird dunkel; dann kommen die Hexen aus den Schornsteinen und hauen uns mit den Besen.«

»Hier sind keine Schornsteine«, flüsterte Rosemarie, der auch ein wenig bange wurde. »Onkel Petersen wird schon anhalten; er wird merken, daß der Wagen so leicht geworden ist. Komm, wir wollen ihm nachlaufen.«

Zuerst stolperten sie mehrfach über die Leine, dann machte sich Trine davon frei, und auch Rosemarie löste den Strick. Keines der Kinder dachte daran, die wertvolle Leine mitzunehmen. Sie blieb auf dem Wege liegen.

»Vadder, – Vadder! rief Trine aus Leibeskräften.

Petersen war schon weit fort. Der Weg hatte sich gebessert, daher konnte er schnell fahren.

Nun fing auch Rosemarie an zu weinen, zumal Trine von den Fledermäusen erzählte, die des Nachts den Menschen um die Köpfe fliegen.

»Es sind Heidegeister, sie werden uns beißen«, jammerte sie.

»Hier sind aber keine Fledermäuse«, tröstete Rosemarie.

»Doch, doch, sie kommen, wenn es dunkel wird.«

»Mein Vater sagt, du sollst nicht immer so dummes Zeug reden«, schalt Rosemarie.

»Ich habe die Fledermäuse schon oft fliegen sehen. Man hört sie nicht. Sie wohnen in alten Gemäuern und fliegen den Menschen in die Haare. – Hu, es ist schlimm!«

Leise vor sich hinweinend liefen die beiden Kinder auf dem Wege weiter. Von dem Wagen sahen sie nichts mehr, denn große Wacholderbüsche versperrten die Sicht. Als sie dann an eine Wegkreuzung kamen, wußten sie nicht, wo sie weitergehen sollten. Trine glaubte Räderspuren zu sehen, die nach links abbogen; da schlugen beide Kinder den Weg nach links ein.

Es wurde überraschend schnell dunkel, zumal graue Wolken am Himmel aufzogen. Trine weinte immer lauter, setzte sich auf einen Stein und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Der Vadder muß doch gleich zurückkommen. Ich gehe nicht weiter. – Dort hinten kommen Männer!«

Rosemarie riß die Augen weit auf. Waren das Männer oder waren es Bäume? In der hereinbrechenden Dunkelheit sah alles ganz anders aus als sonst.

»Komm doch, wir wollen nach Hause gehen«, rief sie angstvoll.

»Nein, ich warte auf den Vadder!«

Da blieb Rosemarie auch nichts anderes übrig, als sich neben Trine zu setzen, die aber bald wieder aufsprang, weil sie sich einbildete, Männer kämen des Weges. »Ich glaube, es ist der Heideteufel«, rief sie angstvoll.

Beide liefen hinter einen großen Wacholderbusch und kauerten sich dort nieder. Sie wollten warten, bis der Heideteufel vorüber gegangen wäre. Aber der Heideteufel blieb regungslos auf seinem Platze stehen, weil er eben wirklich nur ein Wacholderstrauch war.

»Ich höre ihn schnaufen«, sagte Trine.

»Dat Hart puckert!« flüsterte Rosemarie.

»Sei still, dann hört er uns nicht.«

Lautlos blieben die Kinder sitzen. Von Zeit zu Zeit schaute Trine hinter dem Busch hervor. Der Heideteufel stand noch immer an derselben Stelle.

»Liebe kleine Wichtelmänner«, bat Rosemarie, »kommt und helft uns!«

Aber es kam kein kleiner Wichtelmann. Die Zeit verrann. Von Zeit zu Zeit wischten sich die Kinder die tränenüberströmten Gesichter ab. Schließlich wurde Rosemarie müde, und bald schlief sie, an Trine gelehnt, ein. –

Inzwischen war Bauer Petersen unbekümmert weiter gefahren. Er sah nach der Uhr und nickte zufrieden. Er konnte das Malerhaus schon vor neun Uhr erreichen und Rosemarie dort absetzen. Immerhin hatte er Mühe, mit den beiden Pferden fertig zu werden. Die Braunen waren heute besonders unruhig.

»Was ist nur mit euch los? Fürchtet ihr euch vielleicht auch vor den Hexen?«

Endlich kam das Malerhaus in Sicht. Wenige Augenblicke später hielt Petersen den Wagen an. Herr Deste und seine Frau saßen im Garten auf der Bank und erwarteten ihre kleine Tochter.

»Das ist schön, daß Sie so rasch zurück sind«, rief Frau Deste den Anfahrenden entgegen. »So, Rosemarie, – ja, wo ist denn das Kind?«

Petersen stieg vom Wagen und ging nach hinten. Eiskalt überlief es ihn. Weder Trine noch Rosemarie lagen im Stroh.

»Wo ist Rosemarie?« forschte Frau Deste nochmals besorgt.

»Ochotti jau, wo sind die Kinder geblieben?«

Ratlos stand Petersen am Wagen. Er hatte nicht übersehen können, was die beiden Mädchen auf dem Wagen getrieben hatten, denn die daraufstehende Kommode nahm ihm den Ausblick.

»Heruntergefallen? – Nein, das ist nicht möglich«, stotterte er.

Sie riefen laut nach den Kindern, aber keine Antwort erfolgte.

»Ich fahre sofort zurück, ich bringe die Kinder wieder. Seien Sie ohne Sorge! Trine kennt den Weg. Beide sind wahrscheinlich, als sie das Haus sahen, vom Wagen gesprungen. Ich bringe sie Ihnen wieder.«

»Lassen Sie mich mitfahren«, sagte der Maler.

»Nimm für Rosemarie den Mantel mit, es wird kühl«, riet Frau Deste, eilte ins Haus und brachte den Mantel heraus. Deste stieg auf.

»Sie können nicht weit sein«, beruhigte Petersen. Schon hatte er gewendet. Die Fahrt ging den gleichen Weg zurück.

Die Gesichter der Männer wurden immer bekümmerter. Sie waren schon eine Viertelstunde gefahren, aber von den Kindern sahen sie nichts. Dagegen kam ihnen der Schäfer mit seiner Herde entgegen. Petersen hielt an und forschte Krischan aus, ob er nicht wisse, wo Trine und Rosemarie geblieben wären.

»Mein Sünnenschienchen?« fragte Krischan bekümmert.

Er ließ sich von Petersen alles Nähere berichten, aber der konnte nicht viel sagen.

»Herr Petersen, ich helfe Ihnen! Ich bringe rasch die Herde drüben in den Schafkoben, dann nehme ich meinen Hopplala mit, und wir beide werden suchen.«

»Ja, Krischan, Sie haben Ihre Pfeife, die tönt weithin. Wenn Sie etwas finden, geben Sie uns ein Zeichen damit. Wir fahren weiter nach Olshope.«

Plötzlich hielt Petersen die Pferde an. Auf dem Wege lag ein Strick. Er erkannte ihn als sein Eigentum. – Was bedeutete das? Hatten die Kinder mit dem Strick gespielt? War er heruntergefallen, waren beide nachgesprungen, um ihn zu holen? Dabei konnte ihnen der Wagen weggefahren sein. Man brauchte also nicht erst bis Olshope zu fahren. Die Kinder mußten in der Nähe sein. – Aber wo sollte man sie finden?

Herr Deste stieg vom Wagen. Mit lauter Stimme rief er nach allen vier Himmelsrichtungen den Namen seiner Tochter und Trines. Eine Antwort kam nicht. Es wurde immer dunkler.

»Wie werden sich die Kinder ängstigen«, sagte der besorgte Vater.

»Es ist nur möglich, daß sie sich im Weg geirrt haben und bei den Birken nach links gegangen sind. Dann kommen sie nach Hadebruch. Es ist wohl am richtigsten, Herr Deste, Sie steigen wieder auf und wir fahren nach Hadebruch zu. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«

Wieder wendeten sie und fuhren am Kreuzwege links ab. Hin und wieder ließen die Männer ein lautes Rufen ertönen. Aber alles war vergeblich. Sie fuhren an hohen Wacholderbüschen vorüber, an einem riesenhaften, einzeln dastehenden Busch, aber von den Gesuchten war nichts zu sehen. Die Kinder lagen wenige Meter davon entfernt in festem Schlaf.

So kamen sie nach Hadebruch. Dort fragten sie überall nach den Ausreißern, aber keiner hatte sie gesehen.

»Nun weiß ich wirklich nicht, wo wir sie noch suchen sollen«, sagte Petersen sorgenvoll.

»Vielleicht liegen sie irgendwo in der Heide und schlafen.«

»Es wird nichts übrigbleiben, als abzuwarten, bis es wieder hell wird. Jetzt finden wir sie bestimmt nicht mehr.«

»Entsetzlich«, sagte Deste, »meine kleine Rosemarie ängstigt sich zu Tode.«

»Wir werden langsam heimfahren, alle fünf Minuten vom Wagen steigen und laut rufen. Bis zum Kreuzwege müssen sie noch auf dem Wagen gewesen sein. Das sagt mir die gefundene Leine. Sie sind bestimmt in dieser Gegend.«

Wieder fuhren beide zum Kreuzweg zurück.

»Dort kommt der Krischan«, rief Petersen erleichtert, »ich höre seinen Hund bellen. Der Alte kennt jeden Winkel in der Heide, der wird uns bestimmt helfen.«

Der Krischan hatte die beiden Männer erreicht. Sein faltiges Gesicht wurde noch kummervoller, als er hörte, daß die Kinder nicht gefunden worden waren.

»Geben Sie mir den Mantel vom Sünnenschienchen her, Herr Deste, den brauche ich.«

»Was wollen Sie damit?«

»Hopplala soll mir die beiden Kinder suchen. Er hat eine gute Spürnase.«

Dann nahm der Schäfer den Mantel und hielt ihn dem Hund vor.

»Such, Hopplala, such unser Sünnenschienchen, such – such! –« Dabei ließ er den Hund den Mantel eine geraume Weile beschnuppern. Immer wieder redete er auf den Hund ein: »Such – such –«

»Ich gehe nach links, den Weg nach Hadebruch zu, Herr Petersen«, sagte Krischan.

»Dort waren wir schon.«

»Lassen Sie den Wagen ruhig am Kreuzweg stehen, gehen Sie noch einmal ein Stück nach Olshope zu, die Kinder können nicht weit sein.«

Dann entfernte sich Krischan. Er tätschelte nochmals seinen Hund, hielt ihm wieder den Mantel vor die Nase und wiederholte beständig: »Such – such!«

Da sauste der Hund davon, kehrte aber bald zu Krischan zurück, der ihn erneut am Mantel riechen ließ.

»Such, Hopplala, such!«

Der Schäfer ging vom Wege ab, er schaute bald hier bald dort hinter die Büsche, hinter alle Bodenerhebungen. Plötzlich vernahm er lautes Freudengebell.

»Er hat sie! – Er hat sie!« kam es beglückt von seinen Lippen. Dann begann der Alte zu laufen, so rasch, wie er es seit Jahren nicht mehr getan hatte.

Hopplala war es tatsächlich gelungen, die beiden Kinder zu finden. Sie schliefen ganz fest. Der Hund umsprang sie, dann bellte er laut und immer lauter. Da erwachte Rosemarie und rieb sich verschlafen die Augen.

»Wau – wau – wau«, kläffte es neben ihr. Hopplala stieß sie mit der Schnauze an und begann ihr das Gesicht zu lecken.

»Der Schimmel – der Schimmel –« stammelte Rosemarie, die aus einem bösen Traum erwacht war. »Der Schimmel hat mich schrecklich gebissen.«

»Wau – wau – wau – –« bellte der Hund.

Da erkannte Rosemarie den Hund. »Hopplala – o Hopplala, ach, es ist ja so dunkel!«

»Sünnenschienchen!« rief die heisere Stimme des alten Schäfers.

»Krischan!« antwortete Rosemarie freudig.

Trine, die ebenfalls von dem Gebell erwacht war, schrie und heulte laut.

Bauer Petersen und Herr Deste, die nicht nur das Gebell, sondern auch das laute Rufen des Schäfers hörten, stiegen sogleich auf den Wagen, auf dem immer noch Rudolf still und geduldig wie ein Bild aus Stein saß und alles ruhig über sich ergehen ließ. Ihm gefiel das Hin- und Herfahren in der dunklen Nacht.

Bald waren die beiden Männer bei den gefundenen Kindern. Petersen versetzte seiner Trine zuerst eine gehörige Tracht Prügel und schalt sie kräftig aus, Herr Deste dagegen brachte es nicht über sich, sein verängstigtes Kind noch zu strafen. Er nahm Rosemarie auf den Arm und spürte das Zittern ihres Körpers.

»Der Schimmel – der Schimmel!« sagte sie leise vor sich hin.

Krischan saß ruhig am Wege. Er hatte den Hopplala auf den Knien und legte seinen Kopf an dessen Fell. »Guter Hopplala, lieber Hopplala«, sagte er immer wieder, »der Herrgott und du haben es gut gemacht.« Der Hund hielt ganz still, er ließ sich die Liebkosungen seines Herrn zufrieden gefallen. Er schien zu wissen, daß er allen heute einen großen Dienst geleistet hatte.

Erst am nächsten Tage machten die Eltern Rosemarie ernsthafte Vorhaltungen über ihren Ungehorsam. Noch immer verängstigt, erzählte sie ihnen den schrecklichen Traum von dem Schimmel, der sie gebissen hatte.

»O, es war schrecklich schlimm! Aber ich werde nicht mehr vom Wagen springen. – Ach, der böse, böse Schimmel!«


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