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Es war für Rosemarie sehr traurig, daß Schäfer Krischan mit seinen Schnucken den Weideplatz seit Wochen ziemlich entfernt vom Elternhause hatte. Wenn er mit seinen Schafen in der Nähe weidete, konnte sie täglich zu ihrem alten Freunde laufen, um sich von ihm schöne Geschichten erzählen zu lassen. Aber die Schnucken hatten im weiten Umkreise alles abgeweidet; so war Krischan gezwungen, mit seiner Herde täglich über eine halbe Stunde weit zu laufen. Die Eltern erlaubten es Rosemarie daher nicht, den Weg durch die Heide allein zu machen. Die Kinder vom Großbauern Petersen aber, die ihre treuen Schulgefährten waren, fanden kein Vergnügen daran, stundenlang beim alten Krischan zu sitzen. So mußte sich Rosemarie damit zufrieden geben, daß sie ihren lieben Freund nur abends, bei der Heimkehr, ein paar Augenblicke sah und sprach. Manchmal kam er freilich so spät zurück, daß sie nur vom Bett aus sein Kommen hörte. Ihre beiden Schnucken, Weißli und Beißli, wurden täglich vom Krischan mit hinausgenommen und sorgsam beim Malerhause wieder abgesetzt. Aus den beiden niedlichen Lämmern waren inzwischen rundliche Schafe geworden, die sich von Rosemarie gerne zausen oder streicheln ließen. Sobald sich das Kind zeigte, drängten sie sich an Rosemarie heran, weil sie wußten, daß das Kind stets ein wenig Salz mitbrachte, um es ihnen zu reichen. Voller Freude hatte sie Krischan neulich erzählt, daß sie die Lämmersprache bereits verstünde und genau wisse, was Weißli und Beißli von ihr wollten.
Seit der Unterredung mit dem Vater nahm sich Rosemarie des kranken Rudolf mit größter Liebe an. Wenn sie, wie der Vater meinte, dem alten Schäfer damit eine Freude bereiten konnte, wollte sie sich große Mühe geben, ihn zu einem klugen Jungen zu machen. So fragte sie fast täglich ihre Mutter, ob sie zu Petersens gehen dürfe, um Rudolf bei seinen Schulaufgaben zu helfen. Die Mutter gewährte der Tochter diese Bitte gern.
Das war freilich eine recht spaßige Stunde. Rosemarie saß auf dem Tisch und vor ihr auf einem Stuhl der zehnjährige Knabe. Dann sagte sie ihm mit unermüdlicher Geduld Zahlen und Buchstaben vor, oder sie schrieb dieses oder jenes Wort mit Kreide auf den Tisch und verlangte von Rudolf, es zu lesen oder nachzuschreiben. Aber das ging nicht so rasch. Rudolf lernte mit Mühe und Not bis fünf zählen, verwechselte aber stets die weiteren Zahlen. Niemals wurde Rosemarie ungeduldig. Immer wieder fing sie von vorn an und schloß ihren Unterricht mit den ermunternden Worten:
»Heute bekommst du eine gute Note, du hast herrlich aufgepaßt und wirst gewiß einmal ein kluger Junge werden. Dann freut sich dein Großvater.«
Die Folge davon war, daß Rudolf mit rührender Liebe an Rosemarie hing, weil sie die Einzige war, die sich des kränklichen Knaben annahm. Die Kinder Petersens kümmerten sich wenig um Rudolf; er war ihnen zu dumm. Frau Petersen hatte auch keine Arbeit für den Knaben, da er alles, was er tun sollte, verkehrt anfing. Vergeblich versuchte Rosemarie, die Kinder Hanne, Trine oder Albert dazu zu bringen, sich mehr mit Rudolf zu beschäftigen. Sie weigerten sich, denn der einfältige Junge langweilte sie.
»Ich werde ihm bald ein neues Rädchen in den Kopf gesetzt haben. Wenn er dann noch geölt wird, ist er ein kluger Junge.«
Der zehnjährige Albert lachte. »Womit willst du ihn denn ölen?«
»Er ist wie eine Uhr. Man muß denken, daß er lauter kleine Räder im Kopf hat. Einmal ist er auf die Erde gefallen, da ist die Uhr in ihm kaputt gegangen. Aber ich bin jetzt wie der Uhrmacher, da bekommt er ein neues Rädchen, und dann wird er geölt. Das hat mein Vater mir erklärt.«
»Mein Vadder hat eine Ölkanne«, sagte Margret, »soll ich sie dir bringen?«
»Unsinn«, erwiderte Rosemarie, »man muß ihm immerfort was vorsagen. So ist das mit dem Ölen gemeint. Mein Vater weiß das!«
Aber die Ölkanne ließ den Petersen'schen Kindern keine Ruhe. Sie versprachen sich einen schönen Spaß davon. Der Rudolf würde sich alles ruhig gefallen lassen; er sagte nie etwas, wenn man ihn hänselte.
Heimlich wurde die Ölkanne am nächsten Tage aus dem Schuppen geholt; dann riefen sie Rudolf, der am Gartenzaun stand und auf Rosemarie wartete.
»Komm, setz dich mal auf die Bank«, rief Albert und zog den kleinen Jungen mit sich fort. »So, – nun mach den Kopf nach vorn. – Richtig! – Die Augen zu!«
Hanne, die hinter der Bank stand, kicherte unermüdlich. Neben ihr stand die Ölkanne. Albert nahm sie.
»Jetzt zähle eins – zwei – drei –«
Rudolf begann langsam zu zählen. Er saß ganz still. Da er die Augen geschlossen hatte, merkte er auch nicht, wie Albert die Ölkanne erhob und über seinen Kopf hielt. Dann begann er das fettige Öl langsam auf das blonde Haar des Knaben zu träufeln.
»Vier – fünf – –«
»Noch einmal von vorne zählen!« rief Albert.
»Eins – zwei – drei – –«
Bei jeder Zahl ließ Albert einen Tropfen fallen. Rudolf rührte sich nicht, obwohl er merkte, daß etwas auf seinen Kopf tropfte. Erst als ihm das Öl über das Gesicht rann, hob er die Hand, um die Fettigkeit abzuwischen.
Hanne lachte laut auf. Sie stieß aus Versehen den Bruder an, dem die Kanne aus der Hand fiel, so daß der Junge den ganzen Guß über den Kopf bekam.
Aber nun sprang er auf! Er schüttelte sich wie ein Pudel und fing an, jammervoll zu schreien. Rosemarie, die in diesem Augenblick den Garten betrat, hörte die klagenden Rufe des Jungen, eilte rasch herbei und sah, wie ihm das Öl über das Gesicht rann.
Albert ergriff die Kanne und lief eiligst davon. Hanne, Berta und Margret umsprangen übermütig lachend den schreienden Knaben. Berta rief Rosemarie lachend zu: »Wir haben ihn geölt! Sieh nur, er ist ganz dreckig!«
Aber da kamen sie bei Rosemarie schlecht an. Wie sah der arme Rudolf aus. Heftiger Unwillen stieg in dem kleinen Mädchen auf. »Ihr Dreckfinken, – was habt ihr mit dem armen Jungen gemacht!«
»Wir haben ihn geölt, der Albert hat ihn begossen!«
»Schämt euch«, rief Rosemarie aufgebracht, »ihr seid eine böse Gesellschaft! Das ist ein armer Junge, den dürft ihr nicht ärgern! Ich haue euch den Bast voll, wenn ihr das wieder macht. Man darf so ein armes Kind nicht quälen, das ist gemein!«
Die Petersen'schen Mädchen wichen beschämt zurück. Sie sahen ein, daß sie zu weit gegangen waren. Nur Margret meinte, Rosemarie hätte selbst gesagt, man müsse den Rudolf ölen, und das hätten sie eben getan.
Rosemarie schlug die Hände zusammen. »Ochotti jau«, sagte sie entrüstet, »so war das doch nicht gemeint, du Dösbartel! Komm her, Rudolf, ich mache dich wieder sauber.«
Aber es war keine leichte Arbeit. Frau Petersen half ihr dabei, nachdem sie nacheinander ihre Kinder kräftig verprügelt hatte. Als Rudolf gewaschen war und in einer sauberen Jacke wieder in den Garten kam, streichelte er scheu Rosemaries Hände. »Du bist gut, dich habe ich lieb.«
Für Rosemarie war es eine Herzensfreude, daß sich der Junge die größte Mühe gab, etwas zu lernen. Aber es ging eben nicht so rasch. Sie mußte ihn oftmals damit trösten, daß er noch klein sei, später aber wahrscheinlich der beste Schäfer in der Heide werden würde.
»Du hast einen klugen Großvater, du mußt genau so werden wie der gute Krischan.« – –
Eines Nachmittags, als sich Rosemarie wieder einmal auf den Weg zu Petersens machte und am Gasthof des alten Lerz vorüberkam, blieb sie wie erstarrt stehen. Sie sah den weißen Lattenzaun vor dem Hause, und daran stand – ein Wichtelmann! Ein richtiggehender Wichtelmann! Rosemarie wagte keinen Schritt vorwärts und keinen rückwärts. Sie starrte auf das Männchen, das beide Arme um die Spitzen des Staketenzaunes gelegt hatte und sich nicht rührte. Kein ganz kleiner Wichtelmann war es, sondern erheblich größer als Rosemarie, aber für einen richtigen Mann doch viel zu klein. Er trug eine braune Mütze auf dem Kopf, hatte eine braune Jacke an und einen langen, langen grauen Bart.
Sollte sie fortlaufen? Sollte sie dem Wichtelmann einen Gruß zurufen? Wie hatte Trine gesagt? Wenn man lieb und gut zu den Wichtelmännern ist, helfen sie den Menschen. Aber anreden dürfe man sie auch nicht. Sie erinnerte sich jenes kleinen Wichtelmannes, der während des Gewitters bei ihr im Bett gelegen und sie schließlich in den Finger gezwickt hatte, weil sie ihn hatte streicheln wollen. Das war damals gewiß ein Wichtelmannkind gewesen. Der dort am Zaun stand, mußte ein Wichtelmannvater sein, weil er so groß war.
Noch immer blieb Rosemarie ratlos stehen. Schließlich machte sie einen artigen Knix, aber der Wichtelmann schien das nicht zu bemerken. Er hatte den Kopf erhoben und schaute in den Himmel hinein.
Rosemarie knixte noch etwas tiefer. Ob es wohl besser war, umzukehren und heim zu gehen? Aber es lockte sie doch wieder, den Wichtelmann ganz in der Nähe zu sehen. Vielleicht verwandelte er sich in eine Maus, wenn sie noch näher kam und – weg war er dann! Sie knixte zum dritten Male so tief, daß sie mit dem Knie beinahe den Erdboden berührte. Da nickte der Wichtelmann bedächtig mit dem Kopfe. Dabei wackelte sein langer Bart.
»Herr Wichtelmann, ich tue dir nichts«, rief sie schließlich hinüber. Ihr kleines Herz klopfte stürmisch vor Aufregung.
Das Gesicht des kleinen Mannes verzog sich zu einem freundlichen Lachen. »Komm nur her, du darfst mir die Hand geben, kleines, artiges Mädchen.«
»Dat Hart puckert«, erwiderte Rosemarie, »aber ich fürchte mich nicht vor dir, lieber Wichtelmann. Kinder, die sich fürchten, kann mein Vater nicht leiden. Bei mir im Bett war auch einmal ein Wichtelmann, der war noch viel kleiner als du. War das dein Kindchen?«
»Komm nur her, kleines Mädchen, ich bin ein guter Wichtelmann, der niemandem etwas zu Leide tut.«
Zögernd wagte sich Rosemarie bis an den Zaun heran. Nun stand sie dicht neben dem Wichtelmann und betrachtete dessen langen Bart. Solch einen Bart hatte niemand in der Heide. Es war ja auch nur dieser eine Wichtelmann hier. Und was für ein gutes Gesicht er hatte! Ganz lustige Augen, genau so, wie ein richtiger Wichtelmann.
»Ich bin Rosemarie, das Heidekind. – Hast du auch eine Schmiede? Hämmerst du unter der Erde?«
»Eine Schmiede habe ich nicht, ich habe aber etwas anderes, was dir viel Spaß machen wird. – Willst du mal hereinkommen und ansehen, wie die Wichtelmänner arbeiten, wie sie die Kohle aus der Erde holen und wie sie um den Amboß stehen und hämmern?«
»Das soll ich alles sehen?« Rosemarie vermochte vor Aufregung kaum zu sprechen.
»Ja, das will ich dir zeigen.«
»Wie die Wichtelmänner arbeiten?« Das kleine Heidekind war blaß geworden.
»Komm nur herein!«
Ein wenig Angst hatte Rosemarie nun doch. Sie sollte mitten unter die arbeitenden Wichtelmänner gehen? Das war gewiß gefährlich.
»Verzaubert man mich auch nicht in eine Maus?«
»Wenn du artig bist, tut dir kein Wichtelmann etwas zu Leide. Du darfst sie nur nicht in ihrer Arbeit stören und mußt die Hände stillhalten.«
»Ich halte meine Hände ganz fest. – O, richtige Wichtelmänner soll ich sehen?«
Der kleine Mann mit dem grauen Bart lachte. »Warte noch einen Augenblick, ich will die ganze Sache erst in Gang bringen, dort in dem Schuppen. Später wird alles hier im Garten aufgestellt, dann können die Leute die Wichtelmänner bei der Arbeit sehen. Jetzt bin ich noch nicht so weit. Ich bin erst vor wenigen Tagen angekommen und muß alles noch fertigmachen.«
»Bleibst du in Unslohe?«
»Ja, ich bleibe hier.«
»Bei Tante Lerz und beim Hinnerk?«
»Jawohl!«
»Ochotti jau«, stieß Rosemarie vor Aufregung hervor. »Darf ich oft zu dir kommen und den Rudolf mitbringen?«
»Das darfst du, kleines Mädchen. Aber nun warte ein Weilchen, ich gehe hinein zu den Wichtelmännern und lasse sie arbeiten.«
Mit klopfendem Herzen stand Rosemarie am Gartenzaun. Sie wünschte sehnlichst, daß eine ihrer Schulfreundinnen kommen möge, denn allein erschien ihr die Sache doch ein wenig unheimlich. Ob die Wichtelmänner sie freundlich ansehen würden? Vielleicht war einer darunter, der sie nicht leiden konnte.
Der große Wichtelmann war inzwischen zu dem Schuppen gegangen, der links neben der Gastwirtschaft stand. Ob sie sich ganz fix den Hinnerk holte, damit sie nicht so allein war?
Aber da kam der Wichtelmann auch schon aus dem Schuppen zurück und winkte ihr zu. Sie schaute auf seine Füße. Die steckten in grün gestickten Schuhen.
»Sind deine Schuhe mit den großen Spitzen, die immer nach oben stehen, beim Schuhmacher? Warum hast du keine richtigen Wichtelmannschuhe an?«
»Die hier sind bequemer, kleines Mädchen. Und nun komm!«
Der Wichtelmann stieß die Tür des Schuppens auf. Rosemarie sah in einen größeren Raum und hörte darin ein leises Schnurren. Dann stand sie vor einem riesigen Kasten, in dem sich mehrere aus Holz geschnitzte Figuren bewegten. Links in der Ecke saßen in einer kleinen Höhle drei Wichtelmänner, die ununterbrochen mit ihren Hämmern auf einen Amboß schlugen. Rechts kamen kleine Wagen aus der Erde hervor, beladen mit Kohle. Vorn saßen um einen Tisch kleine Männer, die von Tellern aßen. Alles bewegte sich.
Rosemarie bemerkte sofort, daß das keine lebenden Wichtelmänner waren, sondern aus Holz geschnittene Figuren, die durch ein Räderwerk getrieben wurden. Was sie hier erblickte, war so niedlich, daß sie sich nicht sattsehen konnte.
»Siehst du«, sagte der Wichtelmann, »so arbeiten die kleinen Männer emsig in der Erde. Ich habe sie aus Holz nachgeschnitten, damit die Menschen sehen können, was sie alles tun.«
»Dort – dort – die fleißigen Wichtelmänner!« Rosemarie zeigte auf die drei Zwerge, die ununterbrochen mit ihren Hämmern auf den Amboß klopften. »Das macht Spaß!«
Der alte Mann schaute belustigt auf das lebhafte kleine Mädchen, das noch immer fest glaubte, einen richtigen Wichtelmann vor sich zu haben. Und da Gribbe, der Vater der Gastwirtin, von jeher ein Spaßvogel war, wollte er seine Rolle noch ein wenig weiterspielen. Kaum einer kannte ihn in der Heide, denn er war erst vor wenigen Tagen angekommen und hatte seine schönen Schnitzereien mitgebracht. Seit vielen Jahren beschäftigte er sich damit, manches Kunstwerk war unter seinen fleißigen Händen erstanden.
Er lachte vergnügt in sich hinein. Dieses kleine Mädchen, das wahrscheinlich ebenso abergläubisch war wie die meisten Heidekinder aus der Gegend, machte ihm ganz besonderen Spaß. Warum sollte er nicht noch ein Weilchen in seinen Augen als Wichtelmann gelten?
Während Rosemarie immer wieder die Arbeit des alten Mannes bestaunte, erzählte sie von dem Wichtelmann, der in ihrem Bett gewesen war, von dem Rauch, der aus der Erde gekommen sei und von dem kleinen Wichtelmännchen, das sie einst gefangen hätten.
»Es hat sich ganz schnell in eine Maus verwandelt, dann ist es fortgelaufen. Kannst du dich auch in eine Maus verwandeln?«
»Freilich, freilich!«
»In eine ganz kleine Maus?«
»Ja, in eine weiße oder in eine graue Maus.«
»Kannst du mich auch in eine Maus verwandeln?«
»Freilich, – aber das tue ich nur, wenn Kinder sehr unartig sind. Artige Kinder hat jeder Wichtelmann lieb und hilft ihnen. Wenn aber eins ein recht ungezogenes Kind ist, dann spreche ich den Wichtelmannzauberspruch, und das Kind wird eine Maus.«
»Wie ist denn das? Schrumpelt man dann immer mehr zusammen oder fliegen die Arme und die Beine weg?«
»Ich will dir erzählen, wie das ist. Wenn ein Kind recht unartig ist und jemandem ein Leid zugefügt hat, wissen die Wichtelmänner davon. Nun lassen sie das Kind nicht mehr in Ruhe. Das Herz fängt ihm an zu klopfen, dann tut ihm der Kopf und alle Glieder weh, dabei wird es immer unruhiger und kann nirgends stille sitzen. Auch den Eltern kann es nicht mehr in die Augen sehen. Bis dahin ist es noch an der Zeit, sein Unrecht einzugestehen. Darauf warten die Wichtelmänner. Wenn aber das unartige Kind nichts sagt und unartig bleibt, sprechen sie den Wichtelmannzauberspruch. Dann wird das Kind immer kleiner und kleiner, und schließlich verwandelt es sich in eine Maus.«
Rosemaries Augen waren starr auf den kleinen Mann gerichtet. Der schaute belustigt auf das aufmerksam zuhörende Mädchen.
»Ich bin artig«, sagte Rosemarie ängstlich, »mich brauchst du nicht zur Maus zu machen. Aber manchmal sind auch die Wichtelmänner unartig. Den einen wollte ich streicheln, da hat er mich gezwickt.«
»Ja, ja, manchmal sind auch die Wichtelmänner unartig. Doch nun will ich dir noch ein kleines Tänzerpaar holen, das habe ich auch geschnitzt. Es ist oben in meinem Zimmer. Du kannst ruhig hier stehenbleiben, bis ich wiederkomme, und dir die fleißigen Männerchen ansehen.«
Rosemarie nickte, während der Wichtelmann davonging. Immer wieder betrachtete sie die kleinen aus der Erde hervorkommenden Wagen und die hämmernden Männer. Ob sie in den einen Wagen, der leer hervorkam, einige kleine Steinchen legte? Es würde ihr Spaß machen, wenn sie diesen Wagen belud.– Ob es wehtat, wenn sie den Finger auf den Amboß legte und die kleinen Männer auf ihre Finger hämmerten? Dann konnte sie der Hanne und der Margret erzählen, daß Wichtelmannhämmer auf ihren Fingern herumgeklopft hätten. O ja, das machte Spaß.
Rosemarie schob den Finger auf den Amboß und hatte ihre helle Freude daran, daß die Hämmer darauf niederfielen. Es tat gar nicht weh. Nun suchte sie kleine Steinchen und wartete auf den leeren Wagen, um ihn damit zu beladen. Er fuhr damit weiter. Da ging sie abermals vor die Scheune und brachte noch mehr Steinchen herbei. Als sich der Wagen wieder zeigte, schüttete sie ihn hastig voll. Die Steine fielen rechts und links daneben. Da gab es ein leises Knacken, und plötzlich stand alles still.
Ein heftiger Schreck durchfuhr das kleine Mädchen. Rosemarie ahnte, daß sie hier etwas verdorben hatte. Die Steine waren zum Teil vom Wagen gefallen, andere lagen auf den Schienen, auf denen die Wagen rollten. Kein Wichtelmann hämmerte mehr. Die vier Kerlchen vorn am Tisch aßen nicht, die Männer in der Höhle hielten die Hämmer hoch, sie klopften auch nicht mehr.
Angstvoll stand Rosemarie vor dem Schnitzwerk. Sie hatte einen Wichtelmann geärgert. Ein Wichtelmann aber verwandelte unartige Kinder in eine Maus. In wenigen Minuten würde sie eine Maus sein.
Nur fort von hier, bevor der Wichtelmann zurückkam! Schnell nach Hause laufen, damit Dirli-Mutti ihr Kind vor den erzürnten Wichtelmännern beschützen konnte. Vielleicht fand sie der Wichtelmann nicht, und der Zauberspruch nützte nichts.
Rosemarie überlegte nicht lange. Sie rannte aus dem Schuppen hinaus, lief über die Heide und stellte fest, daß ihr der Kopf wehtat. Das war gewiß der Anfang der Verzauberung. Immer eiliger stürmte sie weiter, zitternd vor Erregung.
»Dat Hart puckert«, rief sie angstvoll, »es geht schon los! Ach, alles tut mir weh, – es geht schon los!«
Einen Augenblick dachte sie daran, umzukehren, um dem Wichtelmann alles zu gestehen und ihn um Verzeihung zu bitten. Er hatte doch gesagt: wenn ein Kind bereue, würde alles vergeben werden. Sie brauchte dann keine Maus zu werden, wenn sie gestand.
»Ich bereue, – – ich bereue so sehr«, rief sie laut. »Lieber Wichtelmann, ich wollte ja nur, daß der Wagen nicht leer ist. Ach, lieber Wichtelmann, ich bereue so sehr!«
Wenn sie nur erst zu Hause wäre, wollte sie Dirli-Mutti alles sagen und mit ihr zum Wichtelmann zurückkehren. Aber allein wagte sie nicht, ihm unter die Augen zu treten.
Am Kreuzweg, der hinunter nach dem Dorf führte, sah sie Trine kommen. Sie eilte auf sie zu. »Ich habe den Wichtelmann gesehen! Ich habe ihm alles kaputt gemacht, nun muß ich eine Maus werden.«
Die abergläubische Trine, die alles glaubte, was man sich in der Heide erzählte, betrachtete Rosemarie mit scheuen Blicken. »Einen richtigen Wichtelmann hast du gesehen? Hast du mit ihm gesprochen?«
»Ja – –«
»Ochotti jau!« stieß Trine entsetzt hervor, »wirst du nun eine Maus?«
»Ja«, schluchzte Rosemarie, »er hat es gesagt.«
»Ja, dann wirst du eine Maus«, rief Trine, »du hast schon ein richtiges Mäusegesicht, – ochotti jau!« Dann rannte das abergläubische Mädchen davon und ließ die Schulfreundin stehen.
Jetzt kam das Elternhaus in Sicht. Im Garten stand der Vater. Mit ausgebreiteten Armen eilte Rosemarie auf ihn zu. Er sah sofort, daß seinem Töchterchen etwas Schlimmes geschehen war. Um das Kind zu beruhigen, rief er ihr lachend entgegen:
»Kleine Maus, warum rennst du so?«
Das war zuviel für Rosemarie. Sie war also schon verzaubert! Sie stieß einen lauten Schrei aus und taumelte. Der Vater kannte sie schon nicht mehr und glaubte, eine Maus vor sich zu haben.
Herr Deste fing das Kind in seinen Armen auf. Erschrocken schaute er in das blasse Kindergesicht. Seine kleine Tochter war ohnmächtig geworden.
»Rosemarie, – Liebling, was ist dir?«
Frau Deste hörte den angstvollen Ausruf ihres Mannes und kam aus dem Hause geeilt. Beide brachten Rosemarie hinauf in ihr Stübchen und legten sie aufs Bett.
Langsam schlug das Kind die Augen auf. »Sperrt mich nicht in die Falle«, kam es leise von ihren Lippen, »ich bin doch Rosemarie, das Heidekind, – ich bin keine Maus. Dirli-Mutti, gehe zum Wichtelmann und sage ihm alles.« Dann schlossen sich die Lippen wieder, das Kind zitterte vor Erregung.
Die Eltern hatten keine Ahnung, was mit Rosemarie geschehen war. Jedenfalls mußte sie schwer erschreckt worden sein, denn sie sprach verworrene Worte, die sie nicht enträtseln konnten. Immer wieder kam unverständliches Lallen aus ihrem Munde. Sie erzählte von einem Wichtelmann und von einer Maus. Erst als die Mutter kalte Umschläge auf die heiße Stirn machte, als sie beruhigend auf ihr Töchterchen einsprach, ließ Rosemaries Erregung nach; sie begann heftig zu weinen.
»Bin ich schon eine Maus?«
»Nein, – du bist unsere kleine Rosemarie.«
»Siehst du das ganz genau?«
»Natürlich sehe ich das, kleines Dummerchen! Hier sind deine Arme, hier deine Beine. Warum willst du denn eine Maus sein?«
»Ich will es nie wieder tun! Dirli-Mutti, geh doch zum Wichtelmann und sage ihm, daß ich unartig war.«
Wenige Minuten später hatten die Eltern den Grund von Rosemaries Erregung erfahren. Es dauerte längere Zeit, bis sie wieder ruhiger geworden war.
»Wenn ich den Heidekindern nur ihren dummen Aberglauben abgewöhnen könnte«, flüsterte Herr Deste. »Aber der sitzt nun einmal fest in ihnen, der erbt sich fort und ist nicht zu beseitigen.«
»Wo mag sie nur den Wichtelmann gesehen haben?«
»Vielleicht hat sie den Vater von Frau Lerz getroffen. Herr Gribbe, ein kleiner Mann, ist vor wenigen Tagen hierhergekommen. Er ist ein bekannter Holzschnitzer. Seine Frau ist gestorben, und nun wohnt er bei seiner Tochter, die für ihn sorgen will.«
»Sieht er denn einem Wichtelmann ähnlich?«
»Vielleicht durch den langen, grauen Bart. Ich sah ihn in einer braunen Joppe und einer braunen Mütze. Es könnte schon sein, daß unsere abergläubische Rosemarie, der die Petersen'schen Kinder so viel vorreden, in diesem Manne einen Wichtelmann sah. Außerdem meinte Frau Lerz, mit der ich vor wenigen Tagen sprach, daß ihr Vater, trotz seines Alters, noch ein großer Spaßvogel sei, der alt und jung gern foppe.«
Am nächsten Tage, es war ein Sonntag, mußte Rosemarie den Eltern genaue Auskunft geben. Jetzt endlich erhielten sie einen klaren Bericht. Frau Deste ging daraufhin gleich am Nachmittag mit ihrer Tochter zur Gastwirtschaft Lerz, um Herrn Gribbe aufzusuchen.
»Mein Hart puckert«, sagte Rosemarie, als man ihnen erzählte, Herr Gribbe sei im Schuppen. »Kannst mir glauben, Dirli-Mutti, es ist ein ganz richtiger Wichtelmann.«
»Nein, Rosemarie, das ist kein Wichtelmann. Wichtelmänner gibt es nicht!«
»Doch, Dirli-Mutti! – Er wird sehr böse auf mich sein.«
Der kleine Mann kam den beiden entgegen. Drohend hob er den Finger, als er das kleine Mädchen sah.
»Lieber Wichtelmann«, begann Rosemarie zögernd, »ich weiß es ganz genau, ich bin unartig gewesen, aber ich wollte den kleinen Männern helfen. Da habe ich Steine auf den Wagen gelegt. Ich werde es nie wieder tun.«
»Du hättest mir das ganze Werk verderben können, kleines Mädchen! Du kannst dir doch denken, daß das hier eine große Arbeit ist, an der ich jahrelang geschnitzt habe. Daran dürfen unnütze Kinderhände nicht rühren. Wenn ein einziges kleines Rädchen entzwei geht, steht das Ganze still.«
»Ach ja, ich weiß«, schluchzte Rosemarie, »wenn ein Rädchen kaputt ist, wird man dumm wie der Rudolf. Aber ich will ganz gewiß nichts mehr kaputt machen. Sei mir nicht böse, lieber Wichtelmann, ich hatte so große Angst.«
»Den ganzen gestrigen Abend habe ich damit zu tun gehabt, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen«, schalt Herr Gribbe.
Aufs neue flossen Rosemaries Tränen. Sie bereute aufrichtig ihre Unart und versprach immer wieder, in Zukunft nichts von den Schnitzereien anzurühren. Nur solle der Wichtelmann ihr nicht mehr zürnen.
Als der Holzschnitzer des Kindes großen Kummer sah, vermochte er nicht länger zu zürnen. Er nahm die Kleine auf seine Knie und trocknete ihre Tränen.
»In wenigen Tagen stelle ich die Wichtelmänner hinaus in den Garten, dort kann sie sich jeder ansehen. Aber erst muß ich ein Drahtgitter darum machen, damit nicht wieder unartige Heidekinder meine Arbeit zerstören. Später zeige ich euch noch andere Sachen, die ich geschnitzt habe.«
»Bist du nun wieder ganz gut?« fragte Rosemarie.
»Ja. –«
Stürmisch drückte Rosemarie dem Wichtelmanne die Hand, und sehr erleichtert verließen Mutter und Tochter darauf die Werkstatt.
»Dirli-Mutti, laß mich schnell zu Petersens gehen, ich will ihnen sagen, daß sie nichts anfassen dürfen.«
»Ich habe ohnehin bei Petersens etwas zu bestellen, wir können also gleich hingehen.«
Als beide dort ankamen, lief ihnen als erste Hanne in den Weg. Sie schrie vor Freude laut auf. »Bist du keine Maus? Die Trine hat gesehen, wie sie dich verhext haben, in eine ganz kleine Maus! Sie hat auch gesehen, wie du über die Heide gelaufen bist.«
»Die Trine soll nicht immer so dumme Geschichten erfinden«, tadelte Frau Deste.
Nun kamen auch die anderen Petersen'schen Kinder herbei. Flüsternd berichtete ihnen Rosemarie, was sich ereignet hatte. Trine aber blieb dabei, sie habe eine Maus laufen sehen.
»Ja ja«, sagte Albert, »die Wichtelmänner verhexen alles zu Mäusen, darum laufen so viele in der Heide umher. Das sind alles Kinder, die die Wichtelmänner geärgert haben.«
»Ich werde den Wichtelmann nicht mehr ärgern«, beteuerte Rosemarie feierlich.
Albert kraute sich hinter dem Ohr. »Wenn der Wichtelmann bei Lerz wohnt, ist das sehr schlimm für uns. Dort müssen wir immer vorüber, wenn wir zur Schule wollen. Da werden wir uns von jetzt an ganz leise vorbeischleichen, sonst werden wir auch verhext.«
»Ich nehme immer einen Mistelzweig mit«, flüsterte Hanne.