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Jeden Morgen pflegte die Oberin durch die Zimmer der Wohnung zu gehen, um sorgfältig den Staub von den Möbeln zu wischen, um die Blumen in den Vasen mit neuem Wasser zu versehen und überall nach dem Rechten zu sehen. Sie war nicht träge, sie legte, wenn es nötig war, sogar beim Kehren und Aufwaschen mit Hand an. Sie überbürdete Emilie nicht mit Arbeiten, sondern hielt es für ihre Pflicht, überall einzuspringen. Ihre Hauptaufmerksamkeit galt allerdings den drei Knaben, die sie nur ungern für längere Zeit aus den Augen ließ. Sie hatte es daher so eingerichtet, daß Peter und Rudi an den Vormittagen an ihrer Seite blieben. Karl ging wieder in die Schule, denn die Ferien waren zu Ende, und den beiden Kleinsten teilte die Oberin kleine Pflichten zu. Sie halfen auch gerne. Da ihnen die Frau Oberin gesagt hatte, daß die Mutti, wenn sie heimkäme, sich nicht auf verstaubte Stühle setzen könne, wischten die Knaben alltäglich mit Feuereifer die Stühle ab, während die Frau Oberin die anderen Möbel vornahm. Als Doktor Gregor einmal die drei mit den Staubtüchern in den Händen antraf, lachte er herzlich, meinte aber, es schade gar nichts, wenn die Knaben von früh auf an zweckmäßige Tätigkeit gewöhnt würden.
So ging die staubwischende Kolonne alltäglich von einem Zimmer in das andere. Anfangs erzählte Frau Oberin den Knaben hin und wieder ein Märchen, sie wurde jedoch sehr oft von den Kindern unterbrochen, denn immer hieß es:
»Bitte, Frau Oberin, das war anders!«
Wenn sie die Knaben fragte, wie es gewesen wäre, so erzählten die beiden wortgetreu das Märchen so wieder, wie sie es von der Mutti gehört hatten. Da Pucki die Märchen wohl zwanzigmal und mehr den Kindern erzählen mußte, kannten sie Wort für Wort den Inhalt und verbesserten jede andere Ausdrucksweise.
Die Oberin hielt es daher für richtiger, während der Morgenarbeit nützliche Ermahnungen zu geben. Wenn eines der Kinder tags zuvor eine Unart oder auch nur einen kleinen Fehler begangen hatte, so wurden am anderen Morgen Nutzanwendungen daran geknüpft. So auch heute. Karl und Peter waren gestern abend noch hinaus auf die Straße gelaufen; sie kamen zwar sofort wieder ins Haus zurück, doch trotzdem hielt es die Oberin für unrecht, daß Kinder bei Dunkelwerden noch auf der Straße waren.
»Ich bin vor wenigen Tagen am späten Abend vom Markt heimgekommen«, sagte sie. »Es war unfreundliches Wetter. Auf einmal kommt ein Mann mit schnellen Schritten hinter mir her. Immer schneller wurde sein Gang. Oh, wie bin ich da gelaufen!«
»Ganz toll?«
»Ja, schnell und immer schneller, Peter.«
»Muß das aber Spaß gemacht haben! – Haben Sie ihn eingekriegt, Frau Oberin?«
»Wie meinst du das, Peter?«
»Nu, Sie sind doch hinter ihm hergerannt. – Was haben Sie denn da gemacht?«
»Aber Peter – ich hatte Angst!«
»Vor dem Manne? – Was hat er denn gemacht? – War es ein böser Mann?«
»Man kann das niemals wissen. – Ich wollte nur damit sagen, daß man abends nicht mehr hinaus auf die Straße gehen soll.«
»Warum sind Sie denn gegangen, Frau Oberin, wenn man nicht darf?«
»Erwachsene dürfen abends hinausgehen, nur Kinder müssen daheimbleiben. – Und nun wollen wir weiter wandern. Jetzt gehen wir hinüber ins Wohnzimmer, um Staub zu wischen.«
Vom Wohnzimmer ging es ins Schlafzimmer der Eltern. »Wann kommt die Mutti?« klang es von Rudis Lippen.
»Noch viermal schlafen gehen«, schrie Peter, »nur noch viermal, dann ist sie endlich wieder da! – Ich möchte viermal nacheinander schlafen gehen, damit sie schnell wieder da ist.«
»Freust du dich wirklich so sehr auf die Mama?«
»Oh, ich bin ganz voll vor Freude! Manchmal bin ich im Bauch ganz aufgeblasen.«
»Deine Brust ist mit Freude erfüllt, so heißt es, Peter.«
»Mein Bauch aber auch, Frau Oberin!«
Die Oberin verließ das Zimmer, um in eine Vase neues Wasser zu füllen. Ein sehnsüchtiger Ausdruck trat in Peters Augen, als er den Nachttisch am Bett der Mutter sah. Dort stand der Schrank, in dem ihre Kleider hingen und in dem es immer so schön nach Rosen roch. Die Mutti hatte ihnen einmal gezeigt, daß sie im Schrank ein kleines Kissen hängen hatte, das nach Rosen roch. Nun rochen alle ihre Kleider auch nach Rosen. Und die Mutti natürlich auch. Karl hatte gesagt, das sei ganz richtig so, denn die Mutti wäre auch eine schöne Rose.
»Nur noch viermal schlafen gehen, dann ist sie wieder hier!«
»Wenn doch die Mutti erst da wäre!«
Die Oberin betrat wieder das Zimmer und tadelte, daß die Knaben noch nicht mit ihrer Arbeit begonnen hätten. Endlich war auch dieses Zimmer fertig.
»So, nun geht hinüber in euer Zimmer und spielt wie alle Tage miteinander. Ich bin in der Küche und werde öfters herüberkommen, um zu sehen, ob ihr brav seid.«
Als die Oberin nach einer Viertelstunde ins Kinderzimmer kam, fand sie die Knaben artig beim Spielen. Dann gab es in der Küche viel zu tun, und außerdem kam Besuch, den die Oberin abfertigen mußte. So war über eine halbe Stunde vergangen, bis sie wieder nach den Knaben sehen konnte.
Das Kinderzimmer war jetzt leer. Unordentlich lagen die Spielsachen auf der Erde. »Ich bin tief betrübt«, klang es von ihren Lippen. »Peter! – Rudolf – kommt zu mir, bringt Ordnung in eure Spielsachen!«
Kein Laut war zu hören. Die Oberin schritt durch die Zimmer, doch von den beiden Knaben war nichts zu sehen. Sie ging hinaus auf die Terrasse, rief erneut ihre Namen, ging hinaus in den Garten – immer ängstlicher wurde ihr ums Herz. Doch noch hoffte sie, die Kinder in einem Krankenzimmer zu finden. So wurde Schwester Waltraut gefragt.
»Ich habe die beiden nicht gesehen, Frau Oberin, ich werde aber sofort durch die Klinik gehen.«
Auch hier war nichts von den Kindern zu entdecken. Auf den Wangen der Oberin brannten zwei rote Flecke. Wieder ertönten die Namen der beiden Knaben, doch nicht mehr so streng wie bisher. Bittend, fast flehend klang ihre Stimme.
Doktor Gregor war nicht daheim. So beteiligte sich Waltraut an dem Suchen. Sie eilte hinaus auf die Straße, ging nach Rahnsburg hinein und fragte überall, ob man die Knaben gesehen hätte.
Die Oberin wollte das Mittagessen richten, doch Emilie schickte sie aus der Küche, als sie sah, daß sich die alte Dame vor Aufregung kaum noch auf den Füßen halten konnte. Karlchen kam aus der Schule und wurde sofort mit Fragen bestürmt.
»Karl, hast du deine Brüder irgendwo gesehen?«
»Nein, Frau Oberin, bitte!«
»Sie sind verschwunden – –«
»Oh«, sagte er, »dann weiß ich, wo sie sind.«
»Wo? Rede schnell, Karl Gregor!«
»Sie stecken beide auf der Wiese.«
»Karl«, schrie die Oberin erschreckt auf. Dann lief sie durch den Hausflur, hinaus auf die Straße und hin zum Nachbar Dreffensteg. Sie schrie ihm angsterfüllt ihre Befürchtungen zu und bat ihn, mit ihr nach dem Bach zu gehen.
Die beiden schritten den Bach entlang – nichts war zu sehen.
»Die kommen nicht mehr auf meine Wiese«, sagte Bauer Dreffensteg, »die haben zu große Angst!«
Wieder ertönte das Rufen über die stille Straße, durch den Garten der Klinik und durch das Doktorhaus. Doktor Gregor, der soeben von Krankenbesuchen zurückkehrte, traf mit der völlig verstörten Oberin im Hausflur zusammen.
»Ich finde sie nicht, ich habe sie aus den Augen gelassen. – Ich habe meine übernommenen Pflichten versäumt.«
»Aber beste Frau Oberin, nicht diese Aufregung! Die Kinder sind bestimmt irgendwo in Rahnsburg. Wir wollen noch ein Weilchen warten. Sie werden schon heimkommen.«
»Das sagen Sie so ruhig, Herr Doktor?«
»Karl ist schon dreimal ausgerückt. Doch ich will selbst einmal auf den Hausboden hinaufgehen. Vielleicht sitzen sie dort oben und spielen.«
Er durchsuchte den Boden, stieg hinunter in den Keller, schritt durch die ganze Klinik: nichts war von den beiden Knaben zu entdecken.
»Sie sind gewiß in Rahnsburg.« Er ging ins Schlafzimmer, um sich die Hände zu waschen und sich für das Mittagessen fertigzumachen. Beim Abtrocknen der Hände hob er lauschend den Kopf. – Was waren das für sonderbare Töne? Kamen sie aus Puckis Kleiderschrank? – Wieder lauschte er. Dann öffnete er behutsam die Schranktür. In der Ecke saß Rudi. Sein Köpfchen lehnte an einem Mantel der Mutti, der tief herabhing. Die Augen des Kindes waren geschlossen, das Mäulchen weit geöffnet – so schlief der Kleine seligen Kinderschlaf. – Und in der anderen Schrankecke schlummerte Peter. Ihm hing eines von Puckis Kleidern über das Gesicht. Er war es auch, der so kräftig schnarchte. Auf beiden Gesichtern lag selige Verklärtheit.
Eine Weile betrachtete Doktor Gregor seine beiden Söhne. Er konnte ihnen nicht zürnen, er wußte ja, die Kinder baten ihn jeden Morgen, sie an Muttis Kleiderschrank zu führen. Jeden Morgen wurde der Schrank geöffnet, die Kleinen streichelten die Kleider der Mutti und sagten immer wieder:
»Mutti, bitte, komm recht bald wieder zurück!«
Hatte sie die Sehnsucht in den Schrank getrieben? Hatten sie an die ferne Mutti gedacht und waren dann eingeschlafen? Träumten sie jetzt vielleicht, daß die schmerzlich Entbehrte wieder bei ihnen weilte?
Leise verließ Doktor Gregor das Schlafzimmer. Wieder hörte er die Oberin verängstigt rufen; ihre Stimme hatte kaum noch Klang.
»Sie sind da, die Kinder.«
»Wo? – Wo sind die unartigen Knaben?«
»Kommen Sie mit mir, Frau Oberin, Sie müssen sie sehen.«
»Sie haben strenge Strafe verdient, schwere Strafe. Sie soll ihnen nicht geschenkt werden.«
»Vielleicht doch, beste Frau Oberin.«
»Nein, Herr Doktor! – Ich bin tief betrübt, daß Sie glauben können, ich würde solch ein Vergehen nicht ahnden.«
»Kommen Sie – aber bitte, recht leise.«
Er führte die Oberin vor den geöffneten Schrank und zog Puckis Kleider zur Seite, damit sie die beiden schlummernden Knaben sehen konnte. Das strenge Gesicht der Frau Oberin wurde weich und immer weicher.
»Sehnsucht nach der Mutter«, sagte er leise.
Lange blickte die Oberin auf die schlafenden Kinder. Dann wandte sie sich an Herrn Doktor Gregor: »Sie haben recht, Strafe ist hier nicht angebracht. Ich ahne, was in den Kinderherzen vorging. Seit sie wissen, daß ihre Mutter in wenigen Tagen heimkommt, sind sie übervoll von Verlangen. Die kleinen Herzen können die Freude kaum noch bändigen. Ich kann das begreifen. Ich freue mich, Herr Doktor, daß so viel Gutes in Ihren Kindern schlummert!«
»Vielen Dank für diese Worte, Frau Oberin.«
»Aber nun – schlägt die Mittagsstunde. Man muß Kinder zur Pünktlichkeit erziehen. Wir werden sie wecken.«
»Gewiß, Frau Oberin.«
»Ich lasse das Essen auftragen und bitte Sie, Herr Doktor, mit Ihren Söhnen in wenigen Minuten im Eßzimmer zu sein.«
Es zuckte um die Lippen des Arztes. Stumm machte er der würdigen Dame eine Verbeugung. »Sehr gut, Frau Oberin, ich werde gleich mit meinen Söhnen kommen.«
Die Oberin rauschte aus dem Zimmer. Da neigte sich Doktor Gregor nieder, nahm den schlafenden Rudi auf den Arm, legte ihn auf sein Bett und holte dann den zweiten Knaben aus dem Schrank.
»Mutti –« klang es erwachend, und zwei Kinderarme schlangen sich um den Hals des Vaters. »Mutti – bist du wieder da?«
Nun war auch Rudi erwacht. Beide Knaben rieben sich die Augen und hörten erstaunt vom Vater, daß sie im Schrank eingeschlafen wären.
»Was wolltet ihr denn in Muttis Kleiderschrank?«
»Müssen wir jetzt noch dreimal oder noch viermal schlafen, ehe die Mutti kommt?«
»Es vergehen noch vier Tage, Peter. – Aber sagt einmal, was wolltet ihr denn im Schrank?«
»Vati, ganz nahe bei der Mutti sein, weil sie so weit weg ist!«
»In die Töff-Töff gesetzt und fortgefahren!« rief Rudi.
»Vati, wir haben Lokomotive gespielt, um zur Mutti zu fahren. Dann – und dann – – dann weiß ich nicht mehr. Dann warst du da!«
»Geduldet euch noch kurze Zeit, dann kommt die liebe Mutti. Aber bis dahin müßt ihr noch sehr artig sein.« – –
Karl war der einzige, der die Brüder auszankte. Von der Oberin erhielten sie dieses Mal keinen Vorwurf. – –
Je näher der Tag der Ankunft der Mutti kam, um so öfter wurde gefragt: »Wann kommt die Mutti?«
»Morgen!« –
Jubelschreie erfüllten daraufhin das Kinderzimmer.
»Ich bitte um Ruhe! Wir werden heute nachmittag für die liebe Mama eine Laubgirlande winden, die wir morgen an der Tür befestigen. Wir werden ebenfalls heute nachmittag für die liebe Mama Blümchen pflücken, denn in jedem Zimmer soll ein von euch gepflückter Blumenstrauß stehen. Und du, Karl, lernst zum Empfang der lieben Mama ein kleines Gedicht, das ich gedichtet habe. Die liebe Mama wird sich außerordentlich darüber freuen.«
»Fein – Blumen für die Mutti!«
»Und eine Girlande –!«
»Oh, ich will das Gedicht schon lernen!«
So klang es durcheinander, und die Aufregung wuchs von Stunde zu Stunde. Trotz ihrer Ungeduld waren die Knaben sehr brav.
»Bitte, Frau Oberin, was soll ich lernen?«
»Karl, ich werde dir Zeile für Zeile vorsprechen, und du wirst die Worte nachsagen. – Also, gib gut acht!«
Die drei Kinder hörten aufmerksam zu. Karl stand vor der Oberin. Sie begann:
»Jubelhymnen lasset schallen
zum Empfang vom Mütterlein,
Dankeszähren laßt mich weinen,
Neu erquicket kehrst du heim.
Laß dich frohgemut begrüßen,
schau der Deinen frohe Schar,
die dir bringt mit Enthusiasmus
ehrfürchtig die Grüße dar.«
Karlchen machte ein merkwürdiges Gesicht und blickte die Oberin verlegen an.
»So, mein Kind, nun wollen wir beginnen: Jubelhymnen lasset schallen – –. Sage die Zeile nach.«
»Jubelhimmel lasset schallen –«
»Hymnen, mein Kind. Hymnen sind festliche Gesänge. – Also noch einmal: Jubelhymnen lasset schallen –«
»Jubelhymm – himm – – Jubel –«
Die Oberin begann von neuem. Wort für Wort wurde Karlchen eingetrichtert und Erklärungen zu jedem Wort gegeben, das ihm fremd war. Aber nicht nur Karlchen lernte emsig, auch Peter und Rudi flüsterten das Gedicht leise mit. Peter beschloß im stillen, der Mutti gleich beim Empfang das schöne Gedicht zuzurufen. Karl konnte es später noch einmal sagen.
Nach dem Kaffeetrinken machten sich die Knaben zum Ausgehen fertig, um mit der Frau Oberin Blumen für die Mutti zu holen.
»Wir brauchen nur in den Garten zu gehen, dort rupfen wir alles ab.«
»Nein, Peter, kein Blümchen im Garten wird angetastet. Wir holen sie von der Wiese.«
»Bitte, nein, Frau Oberin!«
»Karlchen, ich bin sehr betrübt, von dir einen Widerspruch zu hören. Wir holen Wiesenblumen, die deine Mutter sehr liebt.«
»Bitte, Frau Oberin, darf ich etwas sagen?«
»Jetzt rede ich, Karl. Wir gehen zum Bach. Noch blühen dort die schönen Bachvergißmeinnicht. Wir winden daraus ein Kränzlein; das legen wir auf einen Teller, den wir mit frischem Wasser füllen. Dann blühen die Blümelein immer weiter, und die Mama hat noch wochenlang ihre Freude daran. Also auf, zur Wiese und zum Bach.«
Die Knaben rührten sich nicht. Einer hatte den anderen an der Hand gefaßt. Die drei standen wie eine Mauer.
»Nun, so laßt uns gehen!«
»Darf ich nun was sagen, Frau Oberin, bitte?«
»Bitte, Karl, jetzt darfst du reden.«
»Wir dürfen nicht mehr auf die Wiese, wir dürfen auch nicht mehr an den Bach. Der Vati hat es uns streng verboten, weil sonst der Rudi wieder hineinfällt.«
»Ich werde euch auf die Wiese führen.«
»Nein, Frau Oberin, wir dürfen nicht auf die Wiese!«
»Peter –«
»Nein, wir dürfen wirklich nicht, Frau Oberin! Der Vati hat es gesagt! Wir bekommen furchtbar viele Keile, wenn wir wieder auf die Wiese gehen. Wir rupfen lieber Blumen aus dem Garten.«
»Aha, jetzt verstehe ich. – Wir werden natürlich die Wiese, auf der seinerzeit das furchtbare Unglück geschah, nicht betreten, denn wir haben dazu keine Berechtigung. Aber es gibt andere Wiesen, die man betreten darf und auf denen die herrlichsten Blümlein wachsen. – Gut, wir werden auch den Bach meiden. – Ihr werdet keine Strafe zu erwarten haben, denn die Wiese, zu der ich euch geleite, ist ungefährlich und zum Betreten freigegeben.«
»Wollen wir nicht lieber erst den Vati fragen?«
»Wenn du meinen Worten nicht glauben willst, Peter, bleibst du daheim.«
»Nein, nein«, rief er schnell, »ich will auch für die Mutti Blumen holen!«
Sie holten nun die Blumen. Die Oberin mußte schließlich Einhalt gebieten, denn immer noch war es den Kindern nicht genug, immer wieder jauchzten sie: »Morgen kommt die Mutti!«
Sie saßen später wie die Mäuschen um die Frau Oberin herum und reichten ihr die Blätter zu, die für die Herstellung der Girlande nötig waren. Wenn die Knaben meinten, daß Frau Oberin nicht hinsähe, preßten sie ihre Lippen auf ein Blatt, denn es sollten eine Menge Willkommensküsse in die Girlande geflochten werden. Die Oberin sah es natürlich, fand jedoch kein Wort des Tadels, im Gegenteil, ihre grauen Augen streiften zärtlich über die Kleinen hinweg.
»Kannst du auch dein Gedicht, Karl?«
Er mußte es noch mehrmals aufsagen, stotterte daran herum, versprach sich sehr oft, wurde aufs neue verbessert, wiederholte aber willig die Zeilen, die er zum Empfang der Mutti sagen sollte.
In dieser Nacht fuhr Doktor Gregor aus dem Schlafe auf. Ein Schrei erweckte ihn. Er kam aus dem Kinderzimmer. Sofort ging er hinüber. Da saß Peter in seinem Bettchen.
»Vati, ach Vati!«
»Hast du geschrien, Peterli?«
»Ja, Vati. – Jetzt habe ich geschlafen, und nun brauche ich nicht mehr zu schlafen, bis die Mutti kommt. – Vati, mein Bauch ist bis hier oben hin voll Freude.« Dabei wies er mit der Hand bis zum Hals hinauf. »Da mußte ich mal schreien.«
»Mein Bauch ist auch ganz voll«, tönte es aus Rudis Bett.
Da richtete sich auch Karlchen auf und rieb sich die Augen. »Dankeszähren laßt mich weinen – neu erquicket kehrst du heim.«
»Karlchen, was sagst du da? Träumst du?«
»Vati«, rief Peter, »hör mal: Jubelhimmel lasset schallen –«
»Das ist mein Gedicht«, schrie Karlchen.
»Aber Kinder, es ist Nacht, ihr sollt schlafen!«
»Vati, ich kann nicht. Faß nur mal meinen Bauch an, wie der voll Freude ist!«
»Freilich, Peterli, meiner auch.«
»Vati, laß mich mal fühlen.«
»Nein, jetzt wird weiter geschlafen, sonst ärgert sich die liebe Mutti, wenn sie morgen heimkommt. Sie will Kinder sehen, die gut ausgeschlafen haben.«
Gehorsam legten sich alle drei Kinder um. Aber plötzlich ertönte aus Peters Bettchen: »Dackelzähne laß mich weinen, neu quiekest du heim.«
»Peter, das ist mein Gedicht«, rief der Älteste. »Der Vati soll es nicht wissen!«
»Kinder, jetzt wird geschlafen! Ich will kein Wort mehr hören.«
Nach einer Viertelstunde ging Doktor Gregor nochmals ins Zimmer seiner Kinder. Er trat leise an jedes der Bettchen. Alle schliefen, nur die Lippen seines Ältesten bewegten sich. Vorsichtig beugte er sich zu ihm nieder:
»Jugelhimmel lasset schallen – – Jugelhimmel lasset schallen –« hörte er.
»Armer Junge«, sagte Doktor Gregor, »was hat man dir nur wieder eingetrichtert!«