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Im Doktorhause war es still geworden. Zu keiner Tageszeit hörte man mehr das Lärmen der Kinder. Sogar die Kranken in der Klinik wunderten sich darüber, daß sie nicht, wie so oft, hinter Frau Doktor Gregor oder einer der Schwestern einen Knaben durch die Tür schlüpfen sahen, um sie zu begrüßen. Schließlich erfuhren sie, daß Peter und Rudi in einem der Krankenzimmer lägen. Der ältere hatte sich eine Lungenentzündung zugezogen, und der jüngste war leicht erkältet und sollte auch noch unter den Folgen seines Unfalles zu leiden haben.
Aber auch mit Pucki war Claus nicht zufrieden. Sie hatte zwar den Schreck längst überwunden, aber ihr Aussehen war nicht mehr so frisch wie früher. Das Herz ging unruhig, und oftmals wurde Pucki von einer unerklärlichen Schwäche überfallen, die sie zwang, die Arbeiten für Augenblicke einzustellen. Sie hatte ihren Mann gebeten, er möge den erkrankten Peter nicht in die Klinik legen, sondern in der Wohnung lassen, aber Claus lehnte energisch ab.
»Du gefällst mir nicht, liebe Frau, du scheinst nicht ganz gesund. Die Pflege Peters würde dich gänzlich herunterbringen. Besuche deinen Jungen täglich mehrmals, er ist drüben in guter Hut. Außerdem kann ich Rudi schon in wenigen Tagen aufstehen lassen, dann macht er dir noch Unruhe genug.«
Aber Peter verlangte ständig nach der Mutti, so daß Pucki immer wieder hinüber in die Klinik eilte, um den Knaben zu sehen. Als sich sein Zustand dann von Tag zu Tag leider verschlimmerte, überkam sie solche Unruhe, daß sie den Gatten immer dringender bat, sie drüben bei dem kranken Kinde zu lassen.
»Pucki, du wirst auch noch krank werden!«
»Claus, ich werde es nur, wenn ich Peterli nicht selbst pflegen darf.«
So kam es, daß Frau Gregor stundenlang am Bettchen des erkrankten Kindes saß und nur auf energisches Zureden des Gatten in die Wohnung ging, um ihre Hausfrauenpflichten zu besorgen. Die gute Emilie nahm Frau Doktor Gregor nach Möglichkeit alle Arbeiten ab. Sie sah selbst, wie leidend die besorgte Mutter geworden war. Einmal, als Pucki wieder mitten in ihrer Arbeit innehielt und sich erschöpft im Zimmer auf das Sofa legte, begann Emilie bitterlich zu weinen. Sie beschloß, noch heute mit Herrn Doktor Gregor zu reden und ihm zu sagen, daß seine Frau viel zu elend sei, um alle Arbeiten weiterhin zu leisten.
Während Rudi die alte Fröhlichkeit wiedergewonnen hatte, war Karl seit dem Unglück auf der Nachbarwiese sehr still geworden. Er schämte sich vor Vater und Mutter, wagte kaum nach dem kranken Bruder zu fragen und stand mitunter vor der Tür des Krankenzimmers, angstvoll lauschend, ob er nichts von dem Bruder hören könnte. Seine Spiele waren auch nicht mehr so geräuschvoll wie früher. Lange Zeit konnte er still im Kinderzimmer neben seinen Stofftieren sitzen, ohne ein Wort zu sagen. Dann gingen seine Gedanken hin zu der kranken Mutti und zu Peterle und er dachte an alle Unarten, die er vollbracht hatte.
Auch an das schlimme Mädchen aus dem Buche, das die Mutti sein sollte, dachte er. So unüberlegt wie er war jene Hedi aber doch nicht gewesen. Sie brachte keinen Menschen in Gefahr, sie rettete sogar den Wald vor dem Verbrennen.
Als er in die Küche kam, sah er, wie Emilie sich die nassen Augen wischte.
»Warum weinst du denn?«
»Weil es deiner Mutti sehr schlecht geht.«
»Was hat sie?«
»Immerfort ist sie schwach. – Das kommt davon, daß ihr sie so sehr erschreckt habt. Seit daher ist ihr Herz nicht mehr in Ordnung. Wer ein krankes Herz hat, um den ist es schlimm bestellt. – Was seid ihr doch für Rangen!«
»Was hat die Mutti für ein schlimmes Herz?«
»Es ist krank. Und dafür habt ihr drei gesorgt.«
Karlchen schlich betrübt davon. Seine geliebte Mutti hatte ein krankes Herz. Er wußte genau, daß ein krankes Herz etwas Schlimmes war. Er legte beide Hände auf die linke Brustseite. – Dort saß das Herz. Ob es der Mutti weh tat? Auf Zehenspitzen schlich er zum Wohnzimmer, sah die Mutti auf dem Sofa liegen und eilte zu ihr hin. Neben ihr kniete er nieder und rief weinend:
»Mutti, hab' ich dir das Herz krank gemacht?«
»Nein, nein, Karlchen«, sagte Pucki lächelnd und strich zärtlich über das Blondhaar des Knaben.
»Tut es sehr weh, Mutti? – Tut es hier weh?« Er tippte auf ihre Herzgegend.
»Es wird wieder besser werden, Karlchen. Wenn nur Peterli erst wieder gesund wäre, damit die Mutti nicht mehr so große Sorgen hätte.«
»Mutti – ich muß mich immerzu schämen. – Das hat der Vati gesagt. Mutti, du hast mich wohl gar nicht mehr lieb, weil ich es gemacht habe, daß dir das Herz weh tut.«
»Mein geliebtes Karlchen, die Mutti hat dich immer sehr lieb, sie wird auch bald wieder ganz gesund sein, und dann spielt sie wieder mit euch wie früher.«
»Wenn doch dein Herz krank ist – das ist sehr schlimm.«
»Es wird schon wieder gesund werden, mein Junge. – Doch nun laß Rudi nicht allein, geh und spiele brav mit ihm. Das macht der Mutti Freude, dann wird ihr Herz wieder ruhiger.«
»Ja, Mutti, ich will sehr schön mit Rudi spielen! Meinetwegen soll er auch immerzu auf meinem Schaukelpferd reiten. Ich will ihn nicht herunterwerfen. – Ach, liebe Mutti mach doch schnell, daß dein Herz wieder gesund wird!«
Pucki erhob sich vom Sofa. »Jetzt ist schon wieder alles vorüber. Der Mutti geht es besser, und ihr könnt herkommen und bei mir spielen.«
Mit rührender Fürsorglichkeit war Karlchen um seinen kleinen Bruder bemüht. Rudi konnte noch so viel verlangen, alles wurde ihm bereitwillig gegeben. Wenn Karlchen einmal ungeduldig werden wollte, genügte ein Blick auf die still in der Sofaecke sitzende Mutti, die ihrem Ältesten liebevolle Blicke hinübersandte.
Da war es zwei Tage später, daß Karl von jähem Schrecken erfaßt wurde. Er war unten im Garten, dicht an der Eingangspforte. Plötzlich hörte er Schritte, Pferdegetrappel. Als er neugierig zur Pforte eilte, sah er einen Trauerzug daherkommen. Hinter einem Sarg, geschmückt mit Kränzen, schritten Männer und Frauen, alle schwarz gekleidet.
Der Zug war bald vorüber, aber ganz in Karlchens Nähe stand eine Gruppe Menschen, deren Gespräch der Knabe deutlich hören konnte.
»Daß die junge Frau sterben mußte«, sagte einer. »Sie hatte eben ein krankes Herz. – Da gab es keine Rettung mehr.«
»Vielleicht hätte sie sich mehr schonen müssen.«
»Wie konnte sie sich schonen! Fünf Kinder waren zu versorgen. Die Kinder haben ihr das Leben recht schwer gemacht, denn sie waren gar zu wild und ungezogen.«
»Ach, die armen Würmer! Nun haben sie keine Mutter mehr. – Schade um die gute Frau. – Ja, ja, wer es mit dem Herzen hat, muß sich vorsehen.«
Die Gruppe zerstreute sich. Karlchen stand noch immer regungslos da. Es war ihm, als wären seine Füße am Boden festgewachsen. Noch konnte er nicht ganz ermessen, was der Tod bedeutete, aber das wußte er, wenn einer im Sarge hinausgefahren wurde, kam er nie wieder.
Weil das Herz krank war, deswegen war die Frau gestorben, hatten die Leute gesagt. Seine Mutti hatte auch ein krankes Herz, sie hatte auch Kinder, die ihr viel Arbeit und Mühe machten.
Karlchen legte beide Hände auf die Herzgegend. – Was war das? Dort tat es auf einmal so weh. Und plötzlich begann er leidenschaftlich zu weinen.
»Mutti, Mutti – –«, Er wollte zu ihr eilen, besann sich aber schon im nächsten Augenblick. Die kranke Mutti durfte nicht erschreckt werden wie damals, als der Nachbar ihr den fast erstickten Rudi brachte. Er durfte nicht zur Mutti. Aber zu Tante Waltraut wollte er gehen und sie fragen, ob die Mutti mit dem kranken Herzen auch sterben müßte.
Er mußte ein Weilchen in der Vorhalle warten, ehe er Tante Waltraut sah. Aufgeregt klammerte er sich an sie. Dabei erschütterte erneut ein wildes Schluchzen seinen kleinen Körper.
»Sie haben eine Frau in den Sarg gelegt und fortgefahren, weil sie ein krankes Herz hatte, Tante Waltraut. – Die Mutti hat doch auch ein krankes Herz. – Wird die Mutti nun auch sterben?«
»Nein, mein lieber Junge! Wie kommst du auf solche Gedanken? Mutti ist nur augenblicklich etwas angegriffen. Die Mutti wird verreisen und nach einigen Wochen ganz gesund wieder zurückkommen.«
»Und wenn sie doch stirbt, weil sie so viele Kinder hat, die ihr immerzu Arbeit machen?«
»Das Herz der Mutti ist gar nicht so krank, mein lieber Junge.«
»Tante Waltraut, ich hab' auch ein krankes Herz. – Es tut hier so weh!«
»Das ist Herzweh, mein lieber Junge, das bekommt man, wenn man Sorgen und Kummer hat. Das geht wieder vorüber. Brauchst dir keine Sorgen zu machen, mein guter Junge. Tante Waltraut weiß ganz genau, daß die Mutti wieder gesund wird.«
»So gesund wie die alte Frau Weber?«
»Ja, Karlchen, Vati und Tante Waltraut haben die kranke Frau Weber auch gesund gemacht.«
»Liebe gute Tante, mach die Mutti auch wieder gesund! Du mußt immer um sie sein, ihre Zunge nachsehen und den Puls fühlen. Ich hab' solche Angst.«
In diesem Augenblick kam Doktor Gregor daher. Er sah das verweinte Gesicht seines Knaben und faßte ihn unter das Kinn. »Na, Kleiner, wo fehlt es schon wieder?«
Während Karlchen das Gesicht in die weiße Schürze Waltrauts drückte, gab sie dem Schwager im Flüstertone eine Erklärung über Karlchens Tränen. Doktor Gregor hob seinen Knaben empor. »Wir machen die Mutti bald wieder gesund, Karlchen, und du sollst mithelfen. Du mußt nur brav und artig sein und auf Rudi gut aufpassen, damit ihm nicht wieder etwas zustößt. Die Mutti muß verreisen, und dann kommt sie ganz gesund zurück.«
»Vati – ganz gesund?«
»Wahrscheinlich.«
»Ach, Vati, wir reisen alle mit! – Wohin reisen wir denn?«
»Ihr bleibt hier beim Vater. Die Mutti wird allein fortfahren, damit sie Ruhe hat.«
»Das macht ihr aber keinen Spaß, Vati.«
»Die Mutti braucht Ruhe, um gesund zu werden. Aber erst muß Peter über den Berg sein, dann kann sie fahren.«
»Und sie wird wieder ganz gesund?«
Als der Vater und Tante Waltraut diese Frage bejahten, kam wieder das helle Leuchten in die Kinderaugen. »Oh, dann muß ich gleich auf Rudi aufpassen.« Damit sprang Karlchen davon. –
Nach drei aufregenden Tagen konnte Doktor Gregor seiner besorgten Frau sagen, daß man für Peter nichts mehr zu befürchten habe. Er befand sich auf dem Wege der Genesung, und so wurde auch Pucki langsam wieder ruhiger. Trotzdem fühlte sie sich matt und elend.
Wenn Claus von einer Erholungsreise sprach, meinte sie matt: »Es wäre vielleicht ganz gut, Claus. Trotzdem geht es nicht. Die Kinder sind noch zu klein, ich kann meiner Mutter ihre Beaufsichtigung nicht zumuten. Und Schwester Waltraut hat in der Klinik überreichlich zu tun.«
»Deine Mutter kommt gar nicht in Betracht, Pucki. Ich habe mit ihr gesprochen und bei ihr angefragt, ob sie dich auf der Reise begleiten will. Ich möchte dich nicht allein fahren lassen.«
»Aber Claus, ich bin doch nicht so krank!«
»Aber elend und sehr pflegebedürftig! – Du mußt es dem Arzt schon glauben, Pucki. Du sollst als kerngesunder Mensch wieder heimkommen. Also wird sogleich etwas getan.«
»Aber lieber Claus, wer soll unsere Kinder betreuen? Ich hätte keine ruhige Stunde, wenn ich sie allein bei Emilie wüßte.«
»Das geht natürlich nicht, liebe Frau. Emilie kann wohl für einige Wochen den Haushalt besorgen, doch ist es ihr unmöglich, dann auch noch auf die Kinder zu achten.«
»Nun also! – Es geht wirklich nicht. Ich werde auch ohne eine Badereise wieder zu Kräften kommen.«
»Richte dich ein, Pucki, daß du in spätestens vierzehn Tagen Rahnsburg verläßt. Ich schicke dich für vier Wochen ins Bad, und deine Mutter begleitet dich.«
»Mutter kann den Vater unmöglich allein lassen, Claus.«
»Traust du deiner Schwester Agnes gar nichts zu? Mit deinen Angehörigen bin ich längst einig, Pucki. Alles ist besprochen, wir stoßen auf keine Hindernisse. Morgen kommen übrigens meine Eltern aus Rotenburg herüber, die sehr besorgt um dich sind.«
»Du denkst daran, deine Mutter herkommen zu lassen?«
»Nein, liebe Frau, auch daran denke ich nicht. Du weißt, daß Mutter in letzter Zeit viel mit Kopfweh zu tun hat. Mutter sagte mir jedoch, sie wisse eine geeignete Persönlichkeit für unser Haus. Alles das wird morgen besprochen.«
Pucki seufzte. »Ihr seid eine nette Gesellschaft! Die Hauptbeteiligte wird nicht gefragt, sie hat nur zu gehorchen. Ich fürchte, die Kinder werden vor Sehnsucht krank werden, wenn ich wochenlang fern bin.«
»Da wollen wir die Kinder einmal fragen«, lachte Claus. Er ging ins Kinderzimmer, und bald kamen Karl und Rudi angelaufen.
»Nun frage mal«, schmunzelte Claus und schaute Pucki an.
»Karlchen, denke einmal, deine Mutti soll vier Wochen fortfahren, und ihr sollt allein daheim bleiben. Ihr wollt doch sicher die Mutti behalten?« Pucki hoffte, daß sich die Knaben durch diese Fragestellung veranlaßt sehen würden, ihr zuzustimmen. Es erschien ihr ganz undenkbar, wochenlang von den Kleinen getrennt zu sein.
»Meine Mutti ist krank, meine Mutti muß in einem Badeort wieder gesund werden. Darum muß sie fortfahren«, sagte Karl und stand in strammer Haltung vor seiner Mutter. Dann warf er einen forschenden Blick hinüber zum Vater, der ihm befriedigt zunickte.
»Rudi, mein Kleiner!« Pucki nahm ihn auf den Arm. »Soll die Mutti fortfahren?«
»Mutti soll gesund werden!«
Pucki drohte Claus mit dem Finger. »Warte nur! Schon als Kind habe ich immer bei deinen Eltern Beistand gefunden. Sie werden auch jetzt einsehen, daß eine so lange Reise undenkbar ist. Und du wirst nicht wie bei den Kindern vorher Gelegenheit haben, ihnen die Worte, die du hören möchtest, einzureden.«
Karlchen hielt die Hand der Mutter fest. »Meine Mutti ist krank, meine Mutti muß verreisen und wieder gesund werden.« Das wiederholte der Knabe noch mehrmals.
Am nächsten Tage kam der pensionierte Oberförster Gregor mit seiner Frau. Die beiden, die früher in der schönen Oberförsterei in der Rahnsburger Forst gelebt hatten, wohnten seit ihrer Zurruhesetzung in der Stadt Rotenburg. Dort war Pucki zur Schule gegangen, dort hatte sie bei Tante Grete, der Schwester des Oberförsters, mehrere Jahre lang gelebt. In letzter Zeit war die junge Frau selten nach Rotenburg gekommen, dafür stellten sich Gregors öfters in Rahnsburg ein, um sich an dem Glück ihrer Kinder zu erfreuen. Pucki wußte, daß sie bei dem herzensguten alten Herrn immer einen Rückhalt fand, wenn sie etwas auf dem Herzen hatte. So wußte sie es auch heute einzurichten, daß sie kurz nach der Ankunft der Schwiegereltern mit dem Oberförster allein war.
»Du siehst doch auch ein, lieber Vater, daß ich unmöglich reisen kann.«
»Nein, mein Liebling, das sehe ich nicht ein. Du wirst reisen, denn du mußt gesund werden.«
»Aber Vater – –«
»Da gibt es nichts mehr zu reden. Deine Mutter hat den richtigen Ausweg gefunden, mit dem wir zufrieden sein können. Versuche nicht erst, mich zu beschwatzen. Das hast du schon als kleines Mädchen gerne versucht. Manchmal ist es dir auch gelungen, aber heute glückt es dir nicht!«
Pucki sah ein, daß sie nichts erreichen konnte. So war sie gespannt, welchen Ausweg man gefunden hatte.
Als sie gemütlich beim Nachmittagskaffee saßen, teilte Frau Gregor ihren Plan mit.
»Ich weiß nicht, Pucki, ob du dich noch unserer entfernten Verwandten Trude Radill erinnerst? Du hast sie einmal in unserem Hause gesehen. Sie war lange Jahre Krankenschwester, hat später ein Kinderheim selbständig geleitet, betätigte sich dann in einem Sanatorium und übernahm endlich ein Kinderkrankenhaus. Nun ist sie gerade frei. Ich glaube, daß Trude Radill – sie ist jetzt Oberin – geeignet wäre, dich hier zu vertreten.«
Pucki überlegte einige Augenblicke. Schließlich fragte sie zögernd: »Ist die Oberin Radill jene große starke Dame mit der Brille und dem männlichen Gesicht?«
»Ja, Pucki.«
»Hatte sie eine tiefe Stimme, so wie ein Mann spricht?«
Claus lachte. »Ich weiß schon, was du sagen willst, liebe Frau: Vor dieser Oberin hätten meine Kinder Angst, sie würden niemals Vertrauen zu ihr fassen.«
»Wenn du das denkst, Pucki«, unterbrach Frau Gregor ihren Sohn, »so irrst du dich. Gewiß macht die Oberin äußerlich einen strengen Eindruck, aber Trude ist von einer seltenen Gewissenhaftigkeit. Du brauchst dir keine Sorge um deine Kinder zu machen. Vielleicht ist sie etwas strenge, aber was schadet das?«
»Ich will durchaus nichts Schlechtes gegen die Oberin sagen, liebe Mutter.«
»Auch ich kann sie nur loben, Pucki«, sagte Oberförster Gregor. »Die Oberin ist zwar in ihren Ansichten etwas altmodisch, auch ihre Erziehungsmethode paßt sich nicht immer der Jetztzeit an. Trude ist mit der Jugend nicht recht mitgegangen, aber von einer alten Dame kann man nicht alles verlangen. Es kommt in der Hauptsache darauf an, daß deine Kinder sorgsam behütet und liebevoll betreut werden. Nach dieser Richtung hin können wir uns auf die Oberin Radill voll und ganz verlassen.«
»Es schadet meinen Jungen bestimmt nichts, wenn sie einmal eine Abreibung bekommen. Meinst du das nicht auch, Pucki?«
»Gewiß, Claus! Aber – die Oberin Radill machte bereits auf mich, als ich noch ein junges Mädchen war, einen zu strengen Eindruck. Ich möchte fast sagen, ich hatte Angst vor ihr –«
»Dann wird es unseren drei Buben genau so ergehen. Und das ist gut, denn sie werden ohnehin glauben, daß sie in deiner Abwesenheit das Haus auf den Kopf stellen dürfen. Da tut jemand not, der sie in der Hand behält.«
»Vielleicht könnte ich aber doch noch ein Inserat nach einem Kinderfräulein aufgeben«, wagte Pucki einzuwenden.
»Wenn du die Oberin Radill durchaus nicht haben willst, Pucki, können wir eine Anzeige aufgeben. Aber dann weißt du nicht, was du bekommst. Für Trude aber kann ich einstehen.«
»Ich will deine Pläne gewiß nicht durchkreuzen, liebe Mutter – –«
»Es kommt noch etwas anderes hinzu, Pucki. Trude ist ein wenig verbittert, weil man sie gehen ließ. Ich sagte ja schon, sie geht zu wenig mit der Jetztzeit mit, sie paßt nicht mehr recht in ein Kinderheim. Sie würde aber sehr glücklich sein, wenn ihr diese Stelle für die nächsten Wochen übertragen würde. Pucki, du kannst es ruhig mit ihr versuchen! Gewiß, wenn man sie zum ersten Male sieht, wirkt sie wenig angenehm. Aber sie dürfte es bald verstehen, die Liebe und das Vertrauen deiner Kinder zu gewinnen.«
»Und wenn das nicht der Fall ist«, fiel Claus ein, »gehen die vier Wochen auch einmal vorüber. Die Kinder können mit ihren Sorgen zu mir und zu Schwester Waltraut kommen. Wir bringen dann alles wieder ins Gleichgewicht. Doch sollst du die Entscheidung treffen, Pucki. Wollen wir an die Oberin Radill schreiben?«
»Wenn ihr meint, daß die Kinder bei ihr gut aufgehoben sind, soll es geschehen.«
»Und meine liebe kleine Frau wird inzwischen verreisen und wieder gesund werden.«