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Flo war seit acht Tagen außer Bett, als von Herrn Prell die erste Nachricht eintraf. Der Sänger wies Pucki etwas Geld an und fragte, ob sie mehr benötige; er würde in etwa drei Wochen zurückkommen. Auch von Frau Edda kam eine Karte, die aber nicht froh klang. Sie hätte viel Ärger gehabt und sehne sich nach Ruhe; in etwa vierzehn Tagen würde sie wieder in Nürnberg sein.
Je näher der Tag der Heimkehr rückte, desto unruhiger wurde Tristan. Vor kurzem war der Lotteriegewinn ausgezahlt worden; das Geld befand sich in Puckis Händen. Täglich ließ Tri sie den Schreibtisch aufschließen, um die Scheine anzusehen.
»Mutti wird bis an die Decke springen, wenn sie es bekommt.«
»Sie wird Augen wie große Kugeln machen«, pflichtete Flo dem Bruder bei, »dann wird sie sich so freuen, daß sie immerfort schreit.«
»Wir gehen zusammen zur Burg und essen viel Schlagsahne. Mutti aber wird ganz glücklich sein. Meinst du nicht auch, Pucki?«
»Freilich, Tri!«
»Wenn sie nur erst hier wäre! – Wenn sie wüßte, daß ich soviel Geld für sie habe, käme sie gleich.«
»Sie hat noch zu arbeiten.«
»Schreibt sie noch immer an dem Roman: ›Mutterherzen‹?«
»Ja, Tri.«
»Den mußt du uns vorlesen, Pucki, wenn er fertig ist. Die Mutter in dem Roman hat drei kleine Kinder, für die sie alles opfert. Dann wird sie ganz arm und geht sogar betteln für die drei Kinder. Das eine Kind ärgert sie immerfort; aber sie hat es doch sehr lieb. – Glaubst du, daß eine Mutter ihr Kind lieb hat, wenn es ihr immerfort Ärger macht?«
»Freilich, eine Mutter verzeiht und vergißt alles, mein Junge.«
»Sie wird mich doppelt liebhaben, wenn ich ihr die tausend Mark gebe. – Ob sie sich wirklich darüber furchtbar freut und nicht mehr schilt?«
Solche Fragen, die an Pucki alltäglich mehrmals gerichtet wurden, füllten das Denken der Kinder aus. Wenn sie beieinandersaßen, dann malte sich Tristan aus, was die Mutter sagen würde, wenn er das Geld vor sie hinlegte.
»Soll ich es ihr auf den Tisch legen? Soll ich es ihr gleich auf dem Bahnhof geben oder im Auto, wenn sie nach Hause fährt? Oder soll ich gar nicht mit auf den Bahnhof gehen und hier im Wohnzimmer auf sie warten? Ihr Bild in die Mitte auf den Tisch stellen und die Scheine ringsherum legen? Pucki, gib mir doch mal das Geld, ich will sehen, wie es aussieht.«
An einem Freitag kam von Frau Edda abermals eine Karte mit der Botschaft, daß sie am Montag einträfe. Den Zug könne sie nicht angeben, man brauche sie nicht abzuholen.
Den Sonntag über war Tri sehr aufgeregt. Wohl zum zehnten Male zählte er das Geld durch. »Oh, wie wird sie sich freuen!«
Am Montag mit dem Mittagszug kam Frau Prell nicht. Tri stand im Wohnzimmer neben dem aufgezählten Geld und stellte fest, daß die Standuhr noch nie so langsam gegangen wäre wie heute.
»Kommt sie um sechs Uhr, Pucki?«
»Ich weiß es nicht.«
Valeria war auch noch nicht zurückgekommen. Vor einigen Tagen hatte sie angefragt, wann Prells zurückkehren wollten. Als Pucki der Wahrheit gemäß antwortete, teilte ihr Va mit, daß sie erst Mitte der nächsten Woche zurückkommen würde. So waren Pucki und die beiden Knaben die vielen Wochen allein geblieben. Die Zeit war gar rasch vergangen und dünkte ihr wunderschön. Die Knaben hatten sich fest an sie angeschlossen, öffneten ihr vertrauensvoll die kleinen Herzen und ließen sich willig von Pucki leiten.
Endlich schlug die Glocke im Flur an. Flo stürmte zur Tür und schrie zurück: »Sie ist es! – Bist du endlich da, Mutter? Na warte, jetzt kommt gleich was Schönes!«
»Alles gesund geblieben?« fragte Frau Edda und reichte Pucki zum Gruße die Hand. »Ich habe entsetzlichen Ärger gehabt. Ich habe es satt bis über beide Ohren!«
»Schimpf mal nicht gleich wieder, Mutter, zieh dich rasch aus und komm dann ins Wohnzimmer.«
Tri kam nicht hinaus auf die Diele. Er stand neben dem aufgezählten Gelde und zitterte in freudiger Erwartung. Gleich würde die Mutter hier sein, gleich würde er ihr das viele Geld übergeben können.
Frau Edda machte unterdessen im Nebenzimmer ihrem Ärger Luft. Sie hätte auch auf der Reise unangenehme Gesellschaft gehabt. Hinzu kamen noch leichte Kopfschmerzen, kurzum: ihre Stimmung war die denkbar schlechteste. Flo huschte ins Wohnzimmer.
»Sie schimpft wieder. Aber gleich wird sie lachen.«
»Kommt sie bald?«
»Sie zieht sich nur um.«
»Oh, wie wird sie sich freuen! – Sieh mal, Flo, zehn schöne Scheine. – Ich bin so froh! – Wenn sie mich nur nicht totdrückt vor Freude.«
»Mich soll sie auch drücken, so recht fest, so fest, wie mich Pucki manchmal drückt. Das ist schön!« Dann lief Flo wieder aus dem Zimmer, zur Mutter hin und drängte: »Bist du nicht bald fertig? Komm doch ins Wohnzimmer!«
»Laß mich in Ruhe, Junge!«
Doch dieses Mal zeigte Flo kein betrübtes Gesicht. Er zwinkerte listig mit den blauen Augen und kehrte zum Bruder zurück.
Währenddessen berichtete Pucki von der Krankheit Flos, daß aber sonst alles glatt gegangen sei.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Pucki! Ich weiß, Sie sind ein Prachtmädchen. Wir haben einen guten Griff mit Ihnen getan. – Ach, ich vergaß, Ihnen ein Schmuckstück mitzubringen, doch das hole ich nach.«
»Und nun, Frau Edda, gehen Sie hinüber zu den Knaben, die schon sehnsüchtig auf Sie warten.«
»Gehen Sie lieber hinüber zu den Kindern, ich will mich ein wenig niederlegen. Das Abendessen bringen Sie mir später ans Bett.«
»Bitte, gehen Sie erst zu den Kindern.«
»Lieber Gott, was ist denn? – Meinetwegen! Inzwischen decken Sie mein Bett ab.«
Frau Edda betrat das Wohnzimmer. Die beiden Knaben standen am Tisch und schauten der Mutter mit brennenden Augen entgegen.
»Nun bist du wieder da«, sagte Tri, »das ist schön! – Sieh mal, Mutter, das schenke ich dir. Das sind tausend Mark, die habe ich in der Lotterie gewonnen. Das ganze Geld ist für dich. Ja, für dich, ich schenke es dir, damit du froh bist.«
Frau Edda schaute fassungslos auf das Geld. »Wo habt ihr das her?«
»Ich habe Lotterie gespielt und gewonnen. – Ganze tausend Mark! Nun schenke ich sie dir.«
»Das ist nett von dir, Tri, deine Mutter kann gerade Geld gebrauchen. Spiele nur öfter in der Lotterie, du scheinst ein Glückspilz zu sein. Morgen schenke ich jedem fünf Mark. – Seid ihr auch brav gewesen?«
Keine Antwort erfolgte. Frau Edda packte die Scheine zusammen und steckte sie in ihre Handtasche. »Nun lauft und kauft euch eine Tafel Schokolade. – Hier ist Geld.« Frau Edda kramte ein Markstück hervor. – »Sage mal, hast du das Geld wirklich in der Lotterie gewonnen oder hat es der Vater geschickt? Vielleicht beschwindelst du mich, Tri!«
»Ich habe das Geld in der Lotterie gewonnen.«
»Dann ist es gut. – So, und nun lauft! Morgen erzähle ich euch von den schönen Bergen und was ich dort unternommen habe.«
Frau Edda verließ das Wohnzimmer. Sie fühlte sich ein wenig erleichtert. Das Geld konnte sie im Augenblick gut gebrauchen nach der argen Enttäuschung, die sie erlitten hatte. Der Roman, von dem sie sich soviel versprach, war vom Verleger kurzweg abgelehnt worden. Ziemlich deutlich hatte er ihr zu verstehen gegeben, daß die Arbeit unwahr und talentlos sei. Frau Edda war darüber außer sich. Sollte sie etwas Neues schreiben? Noch war sie mit sich darüber nicht im klaren. Im Augenblick freute sie sich über das Geld, das sie gedankenlos von den Kindern nahm. Keinen Augenblick dachte sie daran, daß sie mit ihrem Verhalten den Knaben tief ins Herz traf. Wie oft hatte sich Tri die große Freude der Mutter vorgestellt, die sie beim Anblick des vielen Geldes haben würde. – Und was war nun?
Pucki, die Frau Edda beim Auskleiden half, wagte nicht nach dem Geld zu fragen. Sie merkte, daß Frau Prell schlechter Laune war. Sie war froh, als sie bald entlassen wurde. Sie ging ins Kinderzimmer. Von den beiden Knaben aber war nichts zu sehen. Sie lief durch die anderen Räume; auch hier fand sie keinen. Endlich sah sie Tri und Flo in der Küche. Flo hielt den Bruder in seinen Armen und wischte ihm die Tränen ab.
»Nimm es ihr wieder weg und gib es Pucki, dann ist alles gut. Die freut sich darüber.«
Pucki brauchte nicht erst zu fragen, sie kannte den Kummer des Knaben. Eine so große Enttäuschung wie heute hatte Tri noch nie erlitten. Heftiger Zorn gegen die unbegreifliche Mutter stieg in dem jungen Mädchen auf. Konnte sich Frau Edda nicht in die Seelen ihrer Kinder versetzen? Ahnte sie nicht, wie sich Tri auf diesen Augenblick gefreut hatte? Was war das für eine sonderbare Frau? Sie wollte einen Roman »Das Mutterherz« schreiben und verstand sich so wenig auf ihre eigenen Kinder.
»Tri, mein lieber Junge!« sagte Pucki.
Aber Tristan schüttelte traurig den Kopf und streckte abwehrend die Hände gegen Pucki aus.
»Tri, mein lieber Junge, die Mutter freut sich doch sehr über das Geld – das hat sie mir eben gesagt. Sie hat so heftige Kopfschmerzen, daß sie ihre Freude jetzt nicht zeigen kann. Sie ist sehr glücklich. Morgen, sagte sie, wird sie dir herzlich dafür danken. Du sollst dich gedulden.«
Tri hob das tränenüberströmte Gesicht zu Pucki empor. »Nein, sie freut sich nicht!«
»Ja, Tri, sie freut sich sehr. Sie war ganz starr über das viele Geld. Sie kann es noch gar nicht begreifen, daß ihr das Geld gehören soll. Solch gute Jungen wie sie hätte keine andere Mutter auf der ganzen Welt, sagte sie. Als du ihr deinen Lotteriegewinn gabst, hat sich ihr vor Staunen fast das Herz umgedreht, und – und – – dann hat sie später vor Freude geweint.«
»Sie freut sich?«
»Immerfort hat sie meine Hand festgehalten und mich gedrückt. Alles vor Freude! Sie war so starr, daß sie gar nichts sagen konnte.«
»Wirklich – –?«
»Ja, mein lieber Junge. Morgen ist die Mutter wieder ruhiger, dann wird sie kommen, und alle werden glücklich sein. Du brauchst wirklich nicht zu weinen, Tri. Du hast die Mutter sehr glücklich gemacht.«
»Sie hat doch gar nichts gesagt.«
Es dauerte noch ein ganzes Weilchen, bis Pucki die beiden Knaben felsenfest davon überzeugte, daß Frau Edda vor Freude sprachlos gewesen sei.
Die Unwahrheiten fielen Pucki natürlich schwer aufs Herz, wenn sie an morgen dachte. Jetzt warteten die Knaben darauf, daß morgen der große Freudenausbruch erfolgen solle. Sie würden darauf warten.
»Ich muß es ihr sagen, wenn sie es selbst nicht weiß«, überlegte Pucki. »Ich will ihr erzählen, wie sich Tristan darauf freute. Wie kann eine Mutter so lieblos sein!«
Als Pucki am Abend Frau Edda das Essen ans Bett brachte, hoffte sie, ein Gespräch dazu beginnen zu können. Doch Frau Edda lag mit geschlossenen Augen in den Kissen und sagte kein Wort. So verließ Pucki schweigend wieder das Zimmer. Morgen vormittag, wenn die Knaben in der Schule waren, wollte sie ihr Herz ausschütten.
Am anderen Morgen saß Pucki mit den Knaben am Frühstückstisch. »Ob sie vor Freude gut geschlafen hat?« fragte Tri. »Ob sie heute sehr glücklich ist?«
»Ganz gewiß, mein Kleiner.« Pucki war froh, als die Knaben endlich das Haus verließen. Nun konnte sie ungestört mit Frau Edda reden.
Es war elf Uhr, als die Mutter der Kinder aus ihrem Schlafzimmer kam. Pucki stand längst in der Küche und bereitete das Mittagessen vor.
»Guten Morgen, liebe Pucki! Ich bin soeben durch die Räume gegangen und habe festgestellt, daß alles in tadellosem Zustand ist. Verdanke ich Ihnen diese Ordnung?«
»Es machte mir Freude.«
»So ordentlich hat es bei uns noch niemals ausgesehen. Wir sind Ihnen von ganzem Herzen dankbar, Pucki. Wenn mein Mann heimkommt, müssen Sie einen Wunsch äußern, den wir Ihnen gern erfüllen werden. Und nun erzählen Sie mir von Flos Krankheit und was sich sonst ereignet hat.«
»Einen Wunsch habe ich heute schon«, begann Pucki, »doch erst will ich alles andere erzählen.«
Während Frau Edda frühstückte, berichtete Pucki über die kleinen, unwichtigen Erlebnisse. Sie lobte die Knaben und sprach mit leuchtenden Augen von den gutherzigen Kindern, die ihr nur Freude bereitet hätten. Dann begann sie von dem Lotterielos zu erzählen und von Tris Gewinn.
»Sie haben recht, Pucki. Tri ist ein guter Junge. Er hätte das Geld auch für sich ausgeben können. Merkwürdig, daß er es mir gab. Ich habe nicht gewußt, daß er so an mir hängt.«
Pucki drückte die Fingernägel in die Handflächen. Jetzt war die Stunde da, in der sie an das Herz einer Mutter pochen mußte.
»Sie sagten mir, ich solle mir etwas wünschen, Frau Edda.«
»Eilt es damit so sehr?«
»Ja«, erwiderte Pucki, »heute noch muß ich es Ihnen sagen.«
Frau Edda lachte. »So ist es immer. Kaum hat ein Mensch dem andern eine Gefälligkeit erwiesen, so will er den Lohn haben. – Schießen Sie also los.«
Pucki schloß die Augen. Sie wollte nicht in das gleichgültige Frauengesicht sehen, sie wollte ohne jede Schönfärberei sprechen. Entweder rührte sie das Herz dieser Mutter oder – man warf sie heute noch auf die Straße. Doch das war ihr jetzt gleichgültig! Die Kinder gingen ihr vor. Sie sprach von dem Gewinn, von der Freude, die Tri darüber empfand, von seinem Kummer, daß die Mutter oft kein Geld hätte. Sie schilderte, wie die Kinder unter den häuslichen Sorgen litten, daß Tri mit den tausend Mark all den Ärger aus dem Elternhaus bannen wollte. Pucki redete sich mehr und mehr in Eifer hinein. Sie malte die Freude und das Glück des Knaben aus, wenn er daran dachte, daß die Mutter beim Anblick des vielen Geldes in hellen Jubel ausbrechen würde. Sie schilderte, wie Tri an jedem Tage von der Stunde der Heimkehr gesprochen hätte, in der die Mutter, sprachlos vor Glück, ihren Knaben an sich drücken würde.
»Und was ist gewesen? – Nichts, gar nichts! Tri hat bitterlich geweint. Nun habe ich ihm vorgetäuscht, daß Sie, Frau Edda, sprachlos vor Glück waren, und daß Sie heute, erst heute, die Knaben dankbar an sich drücken würden. Ein Sohn sehnt sich danach, seiner Mutter eine Freude zu bereiten. Sie haben das Geld gleichgültig angenommen. Das hat ein Kinderherz tief verwundet. Ich bin keine Mutter, aber das fühle ich.«
»Pucki, was fällt Ihnen ein!«
»Wenn man Kinder hat«, fuhr das junge Mädchen fort, »wenn einem das höchste Glück auf Erden geschenkt worden ist, hat man auch die heilige Verpflichtung, die Seelen seiner Kinder nicht verkümmern zu lassen. Kinder brauchen Sonnenschein und Elternliebe. Es ist traurig in diesem Hause – –«
»Sind Sie nun fertig?«
»Nein, Frau Edda, noch nicht! Ich habe die Knaben herzlich lieb gewonnen; doch die Knaben hungern nach Elternliebe. In unserem Hause war es anders. Ach, wie glücklich waren wir, weil wir mit unseren Sorgen zu jeder Stunde zu Vater und Mutter kommen durften! Hier aber ist alles anders, und darum kann das Glück auch nicht unter diesem Dache wohnen.«
Frau Edda stand auf, ging ans Fenster und trommelte mit den Fingern nervös gegen die Scheiben. Pucki aber fuhr leidenschaftlich fort:
»Sie schreiben an einem großen Roman: ›Das Mutterherz‹. Sie erzählten mir gestern, die Arbeit sei vom Verleger abgelehnt worden, denn sie sei nicht echt empfunden. Oh, das kann ich mir denken! Sie wissen ja gar nicht, wie eine Mutter sein muß, denn Sie sind keine rechte Mutter. Mir tun die Knaben in der Seele leid. Zu fremden Menschen müssen sie gehen, um getröstet zu werden. Sie denken nur an Ihre Kunst und vergessen darüber ihre Kinder. Ich weiß, was Mutterliebe bedeutet, ich weiß, daß Kinder geborgen und behütet sind, wenn Vater und Mutter schützend die Hände über sie halten. Wenn Ihre Kinder einmal gar nichts mehr von Ihnen wissen wollen, haben Sie die Schuld. In mir wird bis zum letzten Atemzuge die Sehnsucht nach den Eltern sein, denn ich habe ihre Liebe gespürt. In allen Stürmen, die mich umbrausen, sehe ich auf die Mutter; so kann mir nichts geschehen. Aber Ihre Kinder tappen umher und haben keinen Menschen. Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen das alles in meiner Erregung um Ihrer Kinder willen sage.«
Es kam keine Antwort. Jetzt erst kam Pucki wieder zum ruhigen Denken. Ihr wurde klar, daß sie sich hatte hinreißen lassen. Wie durfte sie, als Angestellte des Hauses, es wagen, in solch leidenschaftlicher, anklagender Art und Weise zu Frau Edda zu reden. Sie hätte ihre Worte anders wählen müssen! Aber Mäßigung war in solchen Dingen nicht Puckis Art. Wenn ihr etwas auf dem Herzen brannte, so sprudelte sie es heraus, ohne nachzudenken, was daraus entstehen konnte.
Was hatte sie eigentlich gesagt? Sie war ungezogen gewesen, hatte einer Mutter Vorwürfe gemacht und wußte doch selber so wenig von Kindererziehung. All ihr Mut sank zusammen. Sie schämte sich der Worte, die eben gefallen waren. Frau Edda war eine reife Frau und sie achtzehn Jahre.
»Ich – – ich wollte nicht – – entschuldigen Sie, aber – – Ich dachte nur – an die Knaben. – Ich – ich –«
Pucki stotterte an den Worten herum.
Frau Edda sagte noch immer kein Wort. Sie machte nur eine Bewegung mit der Hand, die andeutete, daß Pucki das Zimmer verlassen möchte.
»Bitte, entschuldigen Sie, ich meinte es gut. – – Tri weinte gestern so bitterlich. Die Knaben warten auf ein liebes Wort. Ich will nichts anderes, nur – bitte, sagen Sie Tri, wenn er aus der Schule kommt, daß Sie sich über das Geld freuen. Wenn Sie meinen, daß ich ungezogen war, können Sie mir kündigen. Aber – ich habe die Kinder doch so herzlich lieb – –«
»Gehen Sie – –«
Nun weinte nicht Tri, jetzt weinte Pucki bitterlich. Sie saß in ihrem Zimmer und bereute ihre temperamentvolle Strafpredigt. Sie hätte es geschickter beginnen müssen! – Vielleicht war nun alles verdorben.
Sorgenvoll sah sie der Rückkehr der Knaben aus der Schule entgegen. Als sie kamen, ging Pucki in die Küche und schloß die Tür fest hinter sich. Sie wollte nichts sehen und nichts hören, wollte vor allem nicht Zeuge jener Szene sein, die sich jetzt zwischen Mutter und Kind abspielen würde. Sie war so erregt, daß ihr eine Schüssel auf die Erde fiel.
Frau Edda hörte die Kinder kommen. Sie blickte sich nach Pucki um, und als sie das Klappern der Teller aus der Küche hörte, ging sie ins Kinderzimmer. Was in ihrem Innern bei den erregten Worten Puckis vorgegangen war, erfuhr Pucki niemals.
Die Knaben blickten die Mutter gespannt an. Wortlos breitete Frau Prell die Arme aus. Die Knaben schmiegten sich hinein.
»Ich danke euch, ich danke euch herzlich«, flüsterte sie scheu. Fest und immer fester zog sie die Knaben an sich.
»Mutter – freust du dich wirklich so sehr, daß du gestern nichts sagen konntest?«
Wie ihr die Worte ihres Kindes ins Herz schnitten! Sie sah in die blauen Augen, in denen das Glück stand.
»Ich wollte dir eine mächtige Freude machen, Mutter«, sagte Tri.
»Ja, ja, mein lieber Junge!« Frau Edda konnte sich keine Rechenschaft darüber geben, daß auch ihr plötzlich Tränen über die Wangen liefen. »Ich freue mich, freue mich sehr«, stammelte sie.
Da stieß Tri einen schmetternden Ruf aus und begann zu singen: »O Tag des Glückes, o Tag der Wonne, wie leuchtest du herrlich – ...«
Die Küchentür wurde heftig aufgerissen, Tri riß Pucki fast um. »Sie freut sich, – du! Sie freut sich!«
Das verstand Tristan nun freilich nicht, daß sich Pucki jetzt auch die Augen wischte, Tristan herumschwenkte und rief: »Ich bin ja so glücklich, so glücklich!«
Beim Mittagessen fehlte Frau Edda. Sie bat Tri, er möge ihr das Essen ins Zimmer bringen, sie sei zu angegriffen. Pucki ahnte, daß Frau Edda sie nicht sehen wollte.
Am nächsten Tage kam Va zurück. Sie bestaunte die Knaben und die Ordnung, die überall zu sehen war.
»Ich erkenne den Haushalt kaum wieder. Was sind Sie für ein seltenes Exemplar, Pucki.«
Im gleichen Sinne äußerte sich Va auch zu Frau Edda. »Pucki flickt und näht, sie hält die Knaben in Ordnung, räumt die Zimmer auf und wird von den Kindern leidenschaftlich geliebt. – Sogar mir gegenüber sind die Bengels nicht mehr so frech wie früher. – Was ist denn geschehen?«
Wieder schwieg Frau Edda zu diesen Worten. Sie war in den nächsten Tagen viel auswärts. Wenn sie mit Pucki zusammen traf, hatte sie nur einen flüchtigen Gruß, aber die Knaben rief sie von nun an öfters zu sich. Wenn sie ihnen von ihrer Reise erzählte, brachten die Kinder immer das Gespräch auf Pucki.
»Ihr scheint Pucki viel lieber zu haben als mich.«
»Sie ist sehr gut zu uns.«
»Sie hat immerfort an meinem Bett gesessen, als ich krank war, und hat mich gepflegt.«
»Sie hat auch das Geld nicht haben wollen, als das Los 'rauskam, das ich ihr schenkte.«
»Ich kann mir sogar selber Knöpfe an den Anzug nähen«, rief Tri mit strahlenden Augen. »Als Flo krank war, habe ich die Stuben ausgekehrt, Kartoffeln gekocht und gebraten. Pucki hatte soviel zu tun.« »Pucki ist die liebste Frau auf der ganzen Erde.«
»Pucki hat uns sehr gern, sie hat sogar ihre Armbanduhr für uns ins Leihamt getragen«, rief Tri.
»Pucki hat nicht geschlafen, als ich krank war.«
So klang es von den Kinderlippen. Dazu schüttelte Frau Edda gerührt den Kopf. Beständig klang es an ihre Ohren: »Pucki, – Pucki, – Pucki!« Wie war es möglich, daß das junge Mädchen die Herzen der beiden Knaben so schnell erobert hatte?
»Ihr möchtet also lieber bei Pucki sein als bei eurer Mutter?« fragte sie endlich.
Flo schmiegte sich ein wenig verlegen an die Mutter. »Wir haben dich auch gern, du bist unsere Mutter!« sagte er.
»Ja«, sagte Frau Edda, »ich bin eure liebe Mutter.« Ihr war das Herz schwer. – –
Wenige Tage später kam Herr Prell heim. Er war in strahlender Laune. Durch Vermittlung von Freunden waren ihm für die kommenden Winter glänzende Anträge gemacht worden. Er sollte an ersten Bühnen gastieren und hatte vorzügliche Engagementsabschlüsse in der Tasche.
»Brauchst nicht mehr Geld zu verdienen«, sagte er lachend zu seiner Frau und umfaßte sie. »Wirf die Schreiberei in den Papierkorb. Oder bist du deinen Roman los geworden?«
Frau Edda wandte sich beschämt ab. »Ich habe keine Lust mehr, zu arbeiten.«
»Das wäre herrlich, Edda! Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als daß es wieder wird wie im Anfang unserer Ehe. Daß du dich in Zukunft mehr um Haus und Kinder kümmerst und nicht in einen stillen Erdenwinkel fährst, um Romane zu schreiben.«
»Ach, Vater, die Mutter kann ruhig fortgehen«, warf Flo ein, »Pucki sorgt sehr gut für uns. Es war sehr schön.«
»Richtig, Pucki! Ich muß unsere Pucki auch begrüßen. – Wo steckt sie?«
Der Sänger merkte schon in der ersten Viertelstunde, daß hier etwas nicht stimmte. Als er seine Frau befragte, wich sie ihm aus. So rief er Pucki zu sich und bat sie, ihm zu berichten, was sich während seines Fortseins zugetragen hatte.
Aber auch Pucki war still. Nicht zum zweiten Male wollte sie ihrem Temperament die Zügel schießen lassen.
»Hier stimmt etwas nicht! Haben Sie kein Vertrauen mehr zu uns? Was ist vorgefallen?«
Keiner erzählte etwas Zusammenhängendes, und doch erfuhr Herr Prell alles. Tri sprach von dem Gewinn und von der Freude, die die Mutter am nächsten Tage gehabt hätte. Er sah, wie das Benehmen seiner Frau den Kindern gegenüber plötzlich völlig anders war. Pucki entschuldigte sich schließlich bei ihm wegen der häßlichen Worte, die sie zu Frau Edda gesagt hatte. Der Künstler faßte beide Hände Puckis. »Ich will mit meiner Frau reden. Ich vermute, kleine Pucki, Sie haben meinem Hause einen großen Dienst erwiesen. Nun glaube ich, genau wie Tri, daß Sie uns direkt vom Himmel geschickt wurden.«
Am Nachmittag hörte Pucki manches laute Wort aus dem Musikzimmer. Dort hatte Kurt Prell mit seiner Frau eine lange Aussprache. Pucki fühlte sich recht bedrückt. Immer ängstlicher wurde ihr ums Herz, als sie Frau Prell schließlich weinen hörte. Sie zuckte zusammen, als Flo ins Zimmer kam, und sagte, der Vater lasse sie ins Musikzimmer bitten.
Herr Prell war allein, als sie eintrat. Er ging wieder mit ausgestreckten Händen auf sie zu. »Ich danke Ihnen, Pucki. Sie leiden darunter, daß Sie neulich bei der Aussprache nicht die rechten Worte zu finden vermeinten. Sie haben sie gefunden. Sie haben uns endlich die Augen geöffnet und uns die Kinder neu geschenkt. Haben Sie vielen Dank dafür!«
An diesem Abend war man wieder in alter Fröhlichkeit beieinander. Wohl klang zunächst noch leichte Verlegenheit durch die Worte, die Pucki an Frau Edda richtete, doch die fröhliche Stimmung der Knaben sorgte dafür, daß auch dieser Druck bald verschwand.
Von Tag zu Tag wurde es im Hause des Sängers anders. Frau Edda ging mit den Knaben spazieren, rief sie zu sich ins Zimmer und erzählte ihnen mancherlei. Tri und Flo berichteten Pucki öfters, daß die Mutter jetzt sehr gut sei, und wenn Frau Edda abends nochmals an die Betten der Kinder kam, wenn sie den Knaben den Gutenachtkuß gab, schlangen sie oftmals die Arme um ihren Hals und flüsterten glücklich: »Jetzt ist es so schön bei uns. Jetzt hast du uns lieb, ebenso lieb, wie uns Pucki hat.«
An einem der nächsten Tage saß Frau Edda lange in ihrem Zimmer und schaute mit brennenden Augen auf die Blätter ihres Romans. Draußen vernahm sie die Stimmen ihrer Knaben.
»Ja, jetzt ist es wirklich fein bei uns. Die Mutti ist sehr lieb.«
Noch ein letzter, kurzer Kampf, – dann öffnete Frau Edda den Ofen, warf die Blätter des Romans hinein und zündete sie an.
»Kleine, liebe Pucki, was habe ich dir nicht alles zu danken. Aus ist es mit der Schriftstellerei! Es gibt für mich einen besseren Platz als den am Schreibtisch. Wie glücklich war ich, als die Knaben geboren wurden! – Warum bin ich einem falschen Glück nachgelaufen?«
Im Ofen brannten hell die Blätter. Da rief Frau Prell nach Pucki. Sie kam.
»Dort, sehen Sie einmal in den Ofen, dort brennt meine zwecklose Arbeit. Es wird nicht mehr geschrieben, Pucki! Jetzt wird Ordnung im Hause geschafft. Das alles habe ich Ihnen zu danken! – Pucki, lassen Sie uns Freundinnen sein und bleiben.«
Frau Prell umschlang Pucki. Die Augen des jungen Mädchens leuchteten hell auf.