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Zum zweiten Male legte sich Pucki in der neuen Stellung schlafen. Sie zog die Decke bis zu den Ohren hinauf, drehte das Licht aus und starrte ins Dunkel. Morgen mußte sie endlich einen Brief ins Elternhaus schicken und von der Veränderung in ihrem Leben berichten. Noch wußte sie nicht, was sie über ihre neue Stellung bei Prells schreiben sollte. Alles, was sich hier abspielte, erregte ihre Verwunderung, ja oft Bestürzung. Tristan und Florestan schienen zwei gutherzige Knaben zu sein, die wie wilde Rosen heranwuchsen. Sie waren beide begabt, aber faul. Frau Prell bekümmerte sich nicht darum und meinte, es wären schon oft aus faulen Schülern tüchtige Männer geworden.
»Wenn sie gar zu faul sind, meine beiden, gebe ich ihnen mal einen Schwinderling und ermahne sie. Wenn auch das nichts fruchtet, kann ich's eben nicht ändern.«
Der heutige Tag hatte Pucki wieder viel Neues und Schönes gebracht. Kurt Prell, der Sänger, übte im Musikzimmer. Sie wußte, daß kurz vor Schluß der Theatersaison »Lohengrin« aufgeführt werden würde. Prell sang die Titelrolle. Begeistert lauschte Pucki seiner schönen Stimme, und erschrocken zog sie sich zurück, als sie dabei von Frau Prell ertappt wurde.
»Hallo, Pucki, haben Sie Freude am Gesang?«
»Ach, gnädige Frau, es ist wunderschön!«
»So gehen Sie nur hinein ins Musikzimmer; mein Mann ist für begeisterte Zuhörer dankbar.«
»Tri und Flo toben umher, sie könnten stören. Ich wollte mich mit ihnen beschäftigen.«
»Sie können nachher mit ihnen einen Spaziergang machen.«
Pucki durfte wirklich ins Musikzimmer gehen. Verzückt lauschte sie dem Gesang Prells, der von Va begleitet wurde. Plötzlich erscholl aus dem Flur lautes Lärmen. Die beiden Knaben hatten beim Raufen den Schirmständer umgeworfen.
Kurt Prell fuhr wütend auf. »Wozu habe ich ein Kinderfräulein?«
Da floh Pucki aus dem Zimmer, um sich der Knaben anzunehmen. Sie fürchtete, das Wohlwollen des Künstlers für immer verscherzt zu haben, doch schon beim Mittagessen lachte der Tenor sie freundlich an und sagte:
»Schwärmen Sie für ›Lohengrin‹?«
»Ich habe die Oper noch nicht gesehen.«
»So bringe ich Ihnen für Donnerstag eine Eintrittskarte mit.«
Pucki vermochte vor freudigem Schreck nichts zu erwidern. Sie hatte mit dieser Stellung doch wirklich in den Glückstopf gegriffen.
Am Nachmittag gab es eine heftige Auseinandersetzung zwischen den Eheleuten, die Pucki bebend mit anhören mußte. Prell warf seiner Gattin vor, daß sie tagaus, tagein am Schreibtisch säße, sich um die Kinder nicht kümmerte und das Hauswesen mehr und mehr vernachlässigte.
»Wenn du wirklich eine gute Schriftstellerin wärest, würde ich nichts dagegen haben, aber du schmierst Seite um Seite voll, bildest dir womöglich ein, etwas zu leisten, und weißt genau, daß du nichts kannst.«
»Du bist doch auch berühmt und – –«
»Darum willst du ebenfalls einen Namen haben. Es ist lächerlich, Edda, ich habe eine Hausfrau geheiratet, keine Schriftstellerin. Seit dich die fixe Idee beherrscht, mit einem großen Roman an die Öffentlichkeit zu kommen, ist im Hause weder Frieden noch Ordnung!«
»Mein Roman wird ein Kunstwerk.«
»Und ich wiederhole dir, daß du nicht fähig bist, einen großen Roman zu schreiben. Ich habe dazu geschwiegen, als du vor Jahren dein Talent zu entdecken glaubtest. Man hat dir deine Kindergeschichten und deine kleinen Skizzen gern abgenommen. Das hat dir den Kopf verdreht. Hättest du dich mit deinen bescheidenen Erfolgen begnügt, wäre nichts dagegen zu sagen gewesen, obwohl du damals schon anfingst, die Kinder zu vernachlässigen. Und dabei sind unsere Jungen wirkliche Prachtkerle.«
»Mache mich nicht ungeduldig, mein Freund, das alles hast du mir schon hundertmal gesagt. Ich werde dir durch meinen großen Roman den Beweis erbringen, daß mein Name bald in aller Welt genannt wird.«
Der Tenor griff sich mit beiden Händen in die Haare. »Dieser Roman, dieser Roman! – Er ist der Nagel zu meinem Sarg! Hast du dich im vorigen Jahr nicht schon einmal an einem Roman versucht? Haben dir die Verleger nicht gesagt, daß sie ihn nicht brauchen können!«
»Darum schreibe ich ja den neuen Roman: ›Das Mutterherz‹.«
Prell lachte spöttisch. »Was du da schon schreiben wirst! Du hast ja kaum noch ein Herz für deine Kinder! Dir geht der Federhalter vor. Ich bitte dich nochmals, die Romanschreiberei zu unterlassen und dich mehr um das Hauswesen und um die Kinder zu kümmern. Wenn es nicht anders wird, verlasse ich das Haus!«
Frau Edda warf den Kopf in den Nacken und verließ das Zimmer.
An alles das dachte das junge Mädchen in dieser Abendstunde.
»Ich will mich hier nützlich machen, ich will mich bemühen, die beiden Knaben zum Lernen anzuhalten, damit sie den Eltern Freude machen. Vielleicht kann ich auch Frau Prell manche Ausgabe ersparen. Es ist unnötig, daß die kleinste Näherei fortgegeben wird. Bei Wallners habe ich den ganzen Tag über flicken und stopfen müssen. Dabei lernte ich allerlei. Ich will mich nützlich machen, sonst wirft man mich eines Tages auch wieder hinaus, und ich bin in den Augen der Eltern und Bekannten für immer unfähig, mich selbst durchs Leben zu bringen.«
Mit diesem guten Vorsatz wandte sich Pucki auf die andere Seite und sank gar bald in festen Schlaf. Durch heftiges Pochen an der Tür wurde sie plötzlich spät abends geweckt.
»Kommen Sie doch noch ein wenig zu uns herüber, Pucki.«
»Himmel – was ist geschehen?« Pucki rieb sich die Augen.
»Es sind einige nette Kollegen und Kolleginnen gekommen. Es ist sehr gemütlich. Kommen Sie.«
»Ich – liege schon – im Bett.«
Frau Prell lachte belustigt auf. »Um elf Uhr schon im Bett, Kindchen? Sie kleine Schlafmütze! – Machen Sie sich rasch fertig. Wir erwarten Sie.«
Pucki drehte das elektrische Licht wieder an. Sie war müde und angeschlafen, daher hatte sie im Augenblick nicht das geringste Verlangen, hinüberzugehen. An sich wäre es für sie eine interessante Abwechslung gewesen, in Gesellschaft von Künstlern zu weilen. Jetzt aber hätte sie lieber weiter geschlafen. Sie durfte jedoch die Wünsche Frau Eddas nicht unberücksichtigt lassen, und so kleidete sie sich rasch wieder an.
Beim Betreten des Flures schlug ihr lautes Lachen ans Ohr. Vier Herren und vier Damen saßen bei Prells, und auch Va war anwesend. Pucki konnte kaum Genaueres sehen, die Luft war dick mit Tabaksqualm angefüllt. Weingläser klangen aneinander, alles schien in bester Laune zu sein.
Frau Prell machte Pucki mit den Anwesenden bekannt. Einen der Gäste hatte sie bei ihrem Antritt in diesem Hause bereits gesehen. Es war Rico Wengen, jener Herr im weißen Anzug. Er trug ihn auch heute wieder. Er ging auf Pucki zu und wollte seinen Arm um sie legen.
»Wir sind ja uralte Bekannte, nicht wahr, kleine Pucki?«
Das junge Mädchen fühlte sich beklommen. Man reichte ihr ein Glas mit Wein und stieß mit ihr an. Doch Pucki blieb zurückhaltend und mäßig. Sie erinnerte sich deutlich an einen Ausflug, den sie mit Carmen und Anna nach der Waggerburg gemacht hatte. Auch dort war Wein getrunken worden. Mit schwerem Kopf waren alle drei nach Rotenburg zurückgekehrt. Nein, es war nicht schön, zu viel Wein zu trinken.
»Trinkt, Kinder, trinkt«, sagte Frau Prell heiter. »Ihr braucht euch keine Gewissensbisse zu machen, der Wein ist bezahlt. Wir haben gerade viel Geld.«
Obwohl Pucki von jeher für Künstler reges Interesse hatte, fühlte sie sich in diesem lustigen Kreise bedrückt und unfrei. Sie mußte ständig Vergleiche anstellen zwischen hier und dem Elternhaus, der Schmanz, der Oberförsterei und dem Niepelschen Gutshause. Gewiß, die Menschen waren alle freundlich und gut zu ihr. Aber Pucki besaß nun einmal kein leichtes Künstlerblut und war zu wenig schlagfertig, um auf die sprühende Lustigkeit eingehen zu können. Außerdem biß sie der Rauch in die Augen, und müde war sie auch. An der allgemeinen Unterhaltung, die sich hauptsächlich ums Theater drehte, vermochte sie sich auch nicht zu beteiligen. So schaute sie oftmals sehnsüchtig hinüber nach der Standuhr. Als von dort her vier Schläge erklangen, verschwand Pucki leise, um sich in ihr Zimmer zurückzuziehen und völlig erschöpft in tiefen Schlaf zu sinken.
Am anderen Morgen war es fast neun Uhr, als sie erwachte. Heißer Schreck durchfuhr sie. Die Schule begann um acht, die Knaben würden ihretwegen einen Tadel erhalten.
So schnell wie heute hatte sich Pucki in ihrem ganzen Leben noch nicht angekleidet. In der Küche herrschte tiefste Ruhe. Pucki ging ins Zimmer der Knaben. Es war leer. Ratlos schaute sie sich um. Verstreut lagen Kleidungsstücke auf der Erde, die Schranktüren waren weit geöffnet. Auf dem Fußboden war eine große Pfütze; es sah aus, als habe einer der Knaben das Waschwasser ausgegossen.
»Meine Aufgabe ist es, die Kinder zu betreuen, und ich liege im Bett und schlafe. – Ja, ich bin ein pflichtvergessener Mensch!«
Dann räumte Pucki das Zimmer auf. Die Knaben waren sicherlich heute früh in großer Eile fortgegangen. – Ob sie wohl Frühstück bekommen hatten?
Pucki ging zurück in die Küche. Sie sah keine benutzten Tassen, nur ein Topf, in dem noch ein Rest Milch war, stand auf dem Fensterbrett. Als sie daran roch, stellte sie fest, daß diese Milch angesäuert war.
»Nirgends sehe ich Brötchen. Ob Flo und Tri aus diesem Topf getrunken haben?« ging es ihr durch den Kopf. In die Mädchenwangen stieg ein dunkles Rot. Was hatte der Vater einst zu ihr gesagt? »Wenn man Pflichten übernimmt, muß man sie peinlich genau erfüllen.«
Wie faßte sie ihre Pflichten auf! Die Knaben waren ihr anvertraut, aber sie mußten sich durch den Wecker wecken lassen. Sie gingen früh, ohne ein liebevolles Wort, ohne eine sorgende Hand zu spüren, in die Schule. Wie wäre das daheim jemals möglich gewesen! Stets sorgte die gute Mutter dafür, daß morgens für die Kinder alles bereit war. Niemals wäre sie im Bett geblieben, immer war sie als erste zur Stelle, immer stand das Frühstück fertig auf dem Tisch. – Und hier?
Pucki legte die Hände an die heißen Wangen. Wie gut, daß die Mutter das nicht sehen konnte, sie hätte den Kopf über ihre Tochter geschüttelt, die unzuverlässig und selbstsüchtig war.
»Ich schäme mich sehr, liebe Mutti. Es soll ein zweites Mal nicht wieder vorkommen. Du hast einst von einer heiligen Aufgabe gesprochen, die ich zu erfüllen habe. Ich glaube, ich kann in diesem verrückten Haus segensvolle Arbeit leisten, wenn ich mich zusammennehme, wenn ich mich bemühe, den rechten Weg zu gehen.«
Erst nach zehn Uhr kam Va in die Küche. Scheu fragte Pucki, wie es eigentlich mit den beiden Knaben gehalten würde. »Wo frühstücken sie?«
»Die wissen sich zu helfen, Pucki. Hier, sehen Sie, die Milch haben sie fast ausgetrunken.«
»Die Milch ist ja sauer.«
»Das schadet ihnen nichts. Saure Milch ist gesund.«
»Bekommen die Knaben denn kein Frühstück mit? Und was essen sie früh?«
»Wenn ich wach bin, bekommen sie Butterbrötchen, wenn ich nicht hier bin, suchen sie sich etwas Eßbares.«
»Dabei können sie doch nicht gesund bleiben und groß und kräftig werden.«
»Sie sind es nicht anders gewöhnt.«
Pucki nahm sich in dieser Stunde fest vor, den beiden Knaben von nun an jeden Morgen ein ordentliches Frühstück herzurichten, damit sie nicht wieder nüchtern zur Schule gehen oder sich mit angesäuerter Milch begnügen mußten.
Noch ein anderes erschreckte sie, als sie im Kinderzimmer mit Ordnungmachen fortfuhr. Die beiden Knaben entwickelten eine geradezu großartige Fähigkeit, kleine Mängel an ihren Kleidungsstücken zu beheben. Knöpfe waren von links mit Sicherheitsnadeln angesteckt, Löcher in zerrissenen Taschen mit Bindfaden umwickelt und Risse in den Blusen mit Heftpflaster geschickt verklebt.
»Ihr armen, armen Kinder«, dachte Pucki, und wieder kamen ihr Vergleiche mit dem Elternhaus in den Sinn. Sorgsam schaute die Mutter jedes Kleidungsstück an; sofort wurden schadhafte Stellen ausgebessert. So war es auch bei Wallners gewesen, und so mußte es sein, wenn Kinder zur Ordnung angehalten werden sollten.
Suchend schaute sich Pucki nach Nähzeug um. Schließlich ging sie zu Va.
»Ich habe mit dem Mittagessen zu tun, Pucki«, klang es auf ihre Frage zurück. »In Frau Eddas Schlafzimmer steht ein Nähtisch. Sehen Sie dort nach.«
»Wann steht sie eigentlich auf?«
»Das weiß ich nicht, das ist täglich anders. Wenn sie des Abends lange am Schreibtisch sitzt, schläft sie morgens lange. Mitunter steht sie mitten in der Nacht auf. Sie meint, sie hätte nachts die besten Einfälle.«
Pucki hätte gar zu gern eine Tasse Kaffee getrunken, doch wagte sie nicht, Va darum zu bitten. Die Stütze würde von selbst den Kaffee bereiten und sie rufen. So war es auch gestern gewesen.
So ging sie wieder hinüber ins Kinderzimmer. Die Sachen, an denen etwas zu nähen war, trug sie in ihr Zimmer. Sie besaß ja eigenes Nähzeug, das die Mutter kurz vor ihrer Abreise sorgsam ergänzt hatte.
»Ein junges Mädchen darf niemals ohne Nähzeug sein«, so sagte sie, »das ist notwendiger als Seife und Schwamm.«
Der Morgenkaffee war schließlich getrunken. Pucki saß über den Sachen der Knaben, um sie zu nähen. Sie empfand Freude darüber, daß sie die kleinen Schäden selbst beheben konnte. – Ob es die Knaben merkten? Es wäre freilich auch mancherlei daran zu flicken gewesen, doch Va konnte ihr nicht sagen, wo Stoffreste zu finden wären.
»Vielleicht oben in der Bodenkammer. Wenn Sie mal hinaufgehen wollen; hier ist der Schlüssel.«
Pucki war sofort bereit. Sie war von dem brennenden Wunsch erfüllt, für die Knaben alles in peinlichste Ordnung zu bringen. Die armen Kinder, die ohne ein ordentliches Frühstück zur Schule gehen mußten, die abgerissene Knöpfe mit Nadeln an die Kleider stecken mußten, sie sollten von nun an etwas anderes kennenlernen! Sie sollten ihre Fürsorge empfinden und dadurch glücklich werden.
Beim Betreten der Bodenkammer stieß das junge Mädchen einen leisen Schrei aus. Selbst beim Schmanzbauern sah die Rumpelkammer nicht so aus wie dieser Raum! Da lag alles durcheinander. Ein hochelegantes Schleppkleid aus rosa Seide war über eine Kiste mit Stroh geworfen worden. Daneben lagen alte Stiefel, noch voll Straßenschmutz. Hier stand zerbrochenes Spielzeug, dort ein Stuhl mit nur drei Beinen, und daneben lagen Pappkästen, Knabenanzüge, Hüte; kurzum ein wildes Durcheinander.
Wie sollte sie hier etwas finden? Wie sollte hier Ordnung gemacht werden?
Erst gestern jammerte Frau Prell, daß ein neuer Fußabtreter gekauft werden müsse, da der alte verbraucht sei. Und hier, vergraben unter altem Trödel, lagen zwei fast neue Kokosmatten.
Pucki begann zu kramen. Da in der Bodenkammer mehrere Schränke standen, nur zum Teil mit Sachen angefüllt, hing sie die umherliegenden Kleider hinein. Dabei stellte sie fest, daß zwei der Knabenanzüge hier weit besser waren als jene, die Flo und Tri zur Zeit trugen. Sie beschloß, die Anzüge mit hinunterzunehmen, aufzubügeln und die fehlenden Knöpfe anzunähen. Auch die beiden Kokosmatten wurden mitgenommen und die schlechte gegen eine gute ausgetauscht. Nach längerem Suchen fand Pucki in einer Kiste auch allerhand Stoffreste. Nun konnte sie an die Arbeit gehen! Weder Tri noch Flo durften jemals wieder mit zerrissenen Hosenböden die Schule besuchen.
Ihr Gesicht strahlte, als sie in ihrem Zimmer bei der Arbeit saß und ein Stück nach dem anderen ausbesserte. Es waren mitunter nur wenige Stiche zu machen. An anderen Anzügen mußten freilich ganze Teile eingesetzt werden. Pucki arbeitete mit glühenden Wangen. Heiße Freude überkam sie, wenn sie daran dachte, daß sie hier Gutes und Zweckmäßiges leisten konnte.
»Was machen Sie denn da?« Frau Edda Prell trat ins Zimmer. Sie war in einen schleppenden Morgenrock gehüllt und sah noch recht verschlafen aus.
»Sehen Sie, Frau Edda, alles das ist schon fertig ausgebessert. Ich sehe die Sachen der Knaben durch. Es macht mir viel Freude!«
»Ach, Kindchen, ich sagte Ihnen doch schon: der ganze Trödel kommt von Zeit zu Zeit zur Flickfrau.«
»Das ist gar nicht nötig. Ich kann es allein machen.«
»Sie können nähen?«
»Ein wenig, für solche kleinen Schaden reicht es aus.«
»Goldkind – herrlich ist das! Ich zersteche mir dabei die Finger. Nun lasse ich das Nähen lieber bleiben. Ein Fingerhut ist ein gräßliches Gerät, und ohne ihn geht es nicht gut. Ich muß Ihnen ein wenig zusehen, Pucki.«
»Ich war oben in der Bodenkammer und fand diese beiden Anzüge. Sie sind tadellos – –«
»Sie sind Tri zu klein geworden. Man hätte sie längst verschenken können.«
»So werden sie Flo passen.«
»Richtig! – Daran habe ich gar nicht gedacht. Herrlich! Ich habe nämlich augenblicklich kein Geld über, und doch müßte Flo einen neuen Anzug haben. Pucki, Sie sind ein prachtvolles Geschöpf!«
»Ach nein, Frau Edda, die Knaben gingen heute früh zur Schule, und ich habe noch geschlafen. Sie bekamen keinen Kaffee, keiner strich ihnen die Brötchen. Ich habe meine Pflichten arg vernachlässigt.«
Helles Lachen kam aus Frau Eddas Munde. »Die verhungern nicht, die wissen sich allein zu helfen. Wenn sie Hunger haben, futtern sie die Vorratskammer leer.«
»Es würde ihnen gewiß lieber sein, wenn sie sich früh an den gedeckten Tisch setzen könnten.«
Frau Edda zog die Stirn kraus. »Soll ich vielleicht wegen der Kinder meine Nachtruhe opfern?«
»O nein«, sagte Pucki hastig, »dazu bin ich doch da. Ich werde es in Zukunft tun. Bitte, lassen Sie mir die Freude. Es ist ja auch meine Pflicht.«
»Pucki, machen Sie nicht so viel mit den Jungen her. Doch das bleibt Ihnen überlassen. – Nein, wie rasch Sie nähen können. Ich finde das großartig! Doch nun will ich frühstücken.«
Frau Edda ging wieder davon. Pucki atmete schwer. »Wie glücklich kann ich sein, eine Mutter zu haben, die in unendlicher Liebe für mich sorgt. Es ist gut, wenn man Kindern viel Liebes und Schönes antut. Ich will es hier nun auch so machen, wie es unsere Mutti hält. So wird es richtig sein.«
Kurz nach ein Uhr kamen die beiden Knaben aus der Schule. Ihr erster Weg war in die Küche, von dort in die Speisekammer.
»Eine Schnitte, Va, ich sterbe vor Hunger«, rief Tri.
»Und mir ist ganz schlecht! Gib mir mal ein Stück Wurst, Tri!«
»Es gibt in einer halben Stunde Mittagessen«, zürnte Va.
»Bis dahin bin ich tot«, rief Tristan.
Va ließ es schweigend geschehen, daß die Knaben von der Wurst ein ansehnliches Stück abschnitten, in die Hände nahmen und kauend in ihr Zimmer gingen.
Pucki hatte die Kinder gehört. Sie rief nach ihnen. »Dir, Göttin der Liebe, soll mein Lied ertönen«, schmetterte ihr Tri entgegen. »Was willst du von uns?«
»Erzählt mir, wie es euch in der Schule ergangen ist! Wer hat etwas gewußt?«
»Ich nicht«, klang es zur gleichen Zeit aus beider Mund.
»So wollen wir von heute an gemeinsam die Schularbeiten machen und so lange lernen, bis ihr etwas wißt. Das macht nämlich viel Spaß.«
»Hast du 'ne Ahnung«, lachte Flo, »das macht uns gar keinen Spaß.«
»Ich brauche nichts zu lernen«, schrie Tri. »Ich werde mal ein berühmter Sänger wie der Vater. Damit ist es gut. – Du, Pucki, heute sollte ich eine ganze Stunde nachsitzen. Schließlich schenkte sie mir der Lehrer.«
»Was hast du denn angestellt, Tri?«
»Der Studienrat hat mich immerfort gefragt. Da habe ich nichts zu antworten gewußt.«
»Das ist aber schlimm!«
»Hast du denn in der Schule gelernt? Warst du fleißig?«
»Nicht immer«, gestand Pucki kleinlaut.
Die beiden Knaben lachten.
»Aber später habe ich gut gelernt. Mir hat einmal eine alte Leierkastenfrau erzählt, daß man durch Faulheit sein ganzes Leben verpfuschen kann. Das machte tiefen Eindruck auf mich. Ich war immer ein recht unnützes Mädchen und habe manchen dummen Streich ausgeführt.«
»Erzähle mal!« riefen die Knaben wie aus einem Munde. »Aber recht was Dolles! Irgendwas zum Lachen.«
»Ach, da könnte ich euch allerlei erzählen. Und da ihr einen berühmten Vater habt, der sicher auch oft angeschwärmt wird, – –«
»Ja, hinter meinem Vater laufen viele Mädchen her.«
»Das hab' ich auch mal gemacht. In unseren Ort kam einmal ein berühmter Rennfahrer; er hieß Ikonda.«
»Von dem habe ich schon gehört! Kennst du den?«
»So ein bißchen. Er kam also in unsere Stadt und wohnte im Hotel. Die ganze Klasse hatte sich vor das Hotel gestellt. Damit er uns nicht entwischen konnte, wurden alle Ausgänge besetzt. Dann bin ich zu ihm ins Zimmer gegangen und habe ihn gebeten, mir ein paar Worte aufzuschreiben. Ich sammle nämlich Unterschriften von berühmten Leuten.«
»Hat er dich 'rausgeschmissen?«
»Rausgeworfen hat er mich gerade nicht, aber freundlich war er auch nicht. Er hat mir sogar einen Vers auf einen Zettel geschrieben, der mich mächtig ärgerte.«
»Was hat er geschrieben?« wollte Flo wissen.
Pucki schlug sich mit der flachen Hand auf den Mund. Diesen Vers durfte sie unter keinen Umständen den Knaben sagen. Es war töricht gewesen, überhaupt von dieser dummen Angelegenheit zu erzählen. Sie lenkte daher schnell ab.
»Ein anderes Mal bin ich in einer Konditorei gewesen und konnte nicht bezahlen, da bin ich im Galopp hinausgelaufen. Und einmal bin ich in einer Konditorei ausgeglitscht und lang hingeschlagen.«
Die Knaben schrien vor Lachen. »Das möchte ich sehen!«
»Es war scheußlich, Tri.«
Die Knaben rückten jetzt ganz dicht an sie heran. »Nun erzähle noch mehr. Was hast du sonst noch ausgefressen?«
»Mittagessen«, scholl es vom Flur her.
Pucki legte die Arbeit zusammen und wollte sich erheben. Doch die Knaben drückten sie wieder nieder. »Erzähle erst mal, wie du 'runtergefallen bist, aber ganz genau«, drängten sie.
»Wir sollen zum Essen kommen, Kinder.«
»Das hat keine Eile, Va kann es warm stellen.«
»Nein, Tri, das geht nicht. Ordnung muß sein! Um Ordnung zu halten, bin ich hergekommen. Nach dem Essen erzähle ich alles ganz genau.«
»Ach, lieber jetzt«, bat Flo stürmisch. »Das Essen läuft nicht davon. Der Vater läßt es auch oft warm stellen.«
»Du bist aber nicht der Vater, Flo. – So, nun kommt! Jetzt gehen wir hinüber ins Eßzimmer. Ihr habt doch sicherlich großen Hunger?«
»Fürchterlichen Hunger haben wir. – Erzählst du uns auch wirklich und wahrhaftig nach Tisch weiter? Oder willst du uns nur los sein, wie es die Mutter immer macht?«
Pucki legte zärtlich die Arme um die Knaben. »Ich erzähle wirklich und wahrhaftig weiter. Wenn ihr hübsch artig seid, erzähle ich euch jeden Tag etwas. Ich habe nämlich schon furchtbar viel erlebt.«
»Au, fein!« klang es begeistert zurück.
Rechts hakte sich Tristan, links Florestan in Puckis Arm. So betraten die drei das Eßzimmer. –
Wie die Knaben hungrig das Essen hinunterschlangen! Natürlich, wenn sie morgens nur ein wenig saure Milch tranken, hatten sie quälenden Hunger. Doch von morgen an sollte es anders werden, morgen gab es außer dem Frühstück noch belegte Brote mit zur Schule. Dafür wollte Pucki Sorge tragen. Da sie Zutritt zu den Vorräten hatte, machte es keine Schwierigkeiten, die Knaben gut zu versorgen.
»Na, fertig mit der Näherei?« fragte Frau Edda freundlich. Sie wandte sich zu ihrem Mann: »Staune einmal unsere Pucki an. Sie sitzt im Zimmer und flickt den Knaben die Sachen. Sie fand in der Bodenkammer auch noch zwei brauchbare Anzüge für Flo. Willst du sie dafür nicht loben?«
Puckis Gesicht färbte sich dunkelrot.
»Nähen können Sie?« fragte der Sänger bewundernd. »Können Sie mir vielleicht diesen Knopf annähen? Er hängt nur noch an einem Faden, das macht mich nervös. Ich muß ständig auf das Ding sehen.«
»Aber gern!«
»Nee, Vater, heute nachmittag darf sie nicht nähen. Da muß sie uns was erzählen«, riefen die Knaben.
»Ich nähe und erzähle dabei«, begütigte Pucki.
»Vater, Pucki hat in ihrem Leben schon furchtbar viel erlebt. Das will sie uns erzählen.«
Herr Prell blickte in das Gesicht des jungen Mädchens und lachte. »Nun ja, Fräulein Pucki, erzählen Sie den beiden Kröten nur ruhig lustige Streiche. Aber«, seine Stimme wurde böse, »ich bitte mir aus, daß ihr heute nachmittag die Schnäbel haltet. Ich habe zu lernen. Wenn ihr Krach macht, dann gibt's was!«
»Was erzählst du uns noch?« flüsterte Flo.
Pucki überlegte einige Augenblicke. »Vom Himmelskästchen, von der alten Schmanzgroßmutter, von unserem einsamen Forsthause inmitten des schönen Waldes, von Mucki und Pucki, und wie ich Schneeschuh lief und verunglückte. Und noch von einem Auto, in dem ich als ganz kleines Mädchen fuhr und schließlich in der Garage eingeschlossen wurde. Das war besonders schrecklich!«
Die Knaben warteten darauf, daß Pucki mit dem Essen fertig war. Als sie den letzten Bissen in den Mund steckte, erhoben sich beide Knaben.
»So, nun komm!«
»Aber Kinder«, sagte Pucki leise, »ihr müßt doch am Tisch sitzen bleiben, bis Vati und Mutti sich erheben.«
»Warum müssen wir sitzen bleiben?«
»Wenn Sie wollen, liebe Pucki, gehen Sie ruhig mit den Kindern los«, sagte Frau Prell freundlich. »Ich bin noch lange nicht fertig.«
Der Sänger war aufgestanden, zog die Jacke aus und reichte sie Pucki. »Denken Sie an den Knopf?«
»Ja, gern – –«
»Wollen Sie nicht noch eine Zigarette mit uns rauchen, Pucki?«
»Ach nein, komm mit uns«, rief Flo. »Du sollst uns doch von deinen Streichen erzählen. – So komm doch endlich!«
Von beiden Knaben wurde sie aus dem Eßzimmer gezogen.
Und nun saß sie wieder in ihrem Zimmer, die Knaben ihr zu Füßen. Puckis Finger hielten die Nähnadel. Mit größter Sorgfalt untersuchte sie alle Knöpfe des Jacketts und nähte sie fest. Dabei erzählte sie unablässig von ihren Erlebnissen im Schiller-Gymnasium. Von Zeit zu Zeit wurde ihr Bericht durch herzliches Lachen unterbrochen.
»Hier, Tri, des Vaters Jacke ist fertig. Lauf und trage sie ihm hinüber.«
Tri nahm das Kleidungsstück, öffnete die Tür und schleuderte die Jacke in den Flur hinaus. Dabei rief er laut: »Vater, sie ist fertig!« Dann flog die Tür wieder zu und schon hockte er erneut zu Puckis Füßen. »So, nun erzähle was anderes.«
»Nein, mein lieber Junge, jetzt holst du die Jacke und bringst sie dem Vater hinüber ins Eßzimmer.«
Tristan schlug seine großen, sprechenden Augen treuherzig zu Pucki auf. »Warum denn? Er findet sie schon.«
»Nein, mein Junge, so geht es nicht. Du bringst sie ihm hinüber.«
»Na, meinetwegen, weil du uns so hübsch erzählt hast. Doch fang nicht eher wieder an, als bis ich wieder da bin.«
Tristan kam sehr schnell zurück. Dann baten die Knaben erneut um eine Geschichte, und Pucki erzählte den gespannt lauschenden Knaben von dem Himmelskästchen mit den schwarzen und weißen Bohnen. Als sie endlich geendet hatte, sagte sie herzlich: »So, nun geht an die Schularbeiten.«
Wieder fragte Tristan: »Warum denn?«
»Weil ich möchte, daß ihr zwei tüchtige Menschen werdet.«
Es dauerte aber noch ein ganzes Weilchen, ehe die Buben bereit waren, mit den Schularbeiten anzufangen. Sie kamen damit in Puckis Zimmer.
»Wenn du schon willst, daß wir arbeiten sollen, dann bei dir, denn hier ist es hübscher als drüben.«