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Im Banne der Wartburg

Pucki knipste die Taschenlampe an. Sie blickte verängstigt zum Bett des kleinen Moritz hinüber, der mit ihr das Zimmer teilte. Er durfte von dem Lichtschein nicht erwachen, denn sonst meldete er morgen früh dem Großvater, daß das Fräulein mitten in der Nacht Licht gebrannt hätte. Es würde wieder eine Strafpredigt setzen, und das ertrug sie nicht. So wurde nur die Taschenlampe benutzt, bei deren Schein Pucki zu später Abendstunde hastig einige Eintragungen in ihr Tagebuch machen wollte.

»Heute habe ich wieder ganz heimlich geweint, weil ich nichts recht machen kann. Der Großpapa ...«

Pucki hielt im Schreiben inne. Ihr Blick war auf die vorhergehende Seite gefallen. Da stand zu lesen: »Heute habe ich furchtbar geweint, weil ich dem Großpapa nichts recht machen konnte.«

Wieder schlug sie eine Seite zurück. »Heimlich habe ich heute Tränen vergossen, weil der Großvater ...«

Energisch strich das junge Mädchen die für heute bestimmte Eintragung durch und begann von neuem: »Es ist furchtbar schwer, in einer Stellung bei drei unartigen Kindern auszuhalten. – Ob die Niepelschen Buben auch so unartig waren? Den Großvater kann ich gar nicht leiden! Aber ich tröste mich mit dem Wort:

Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
An seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.«

Nun saß sie selbst beim Schein der Taschenlampe im Bett und bildete sich ein, daß dieser Vers für sie geschrieben wäre.

»Ich sitze auch in meinem Bett«, murmelten die Lippen, »esse mein Brot mit Tränen und – und – –«

Pucki schluckte jämmerlich. In dem Kinderbettchen regte sich Moritz. Pucki knipste die Lampe sofort aus. Der Bengel durfte unter keinen Umständen erwachen, sonst lärmte er, weckte die anderen Kinder, und dann geschah es wieder wie vor acht Tagen, daß der Großvater im Schlafrock in ihrem Zimmer erschien und ärgerlich fragte, warum es mitten in der Nacht solchen Lärm gäbe.

Wenn sie sich sonst abends zu Bett legte, drehte sie sich auf die Seite und schlief schnell ein, selbst dann, wenn sie nicht so viel gearbeitet hatte wie in diesem Hause. Hier lag sie meist noch lange wach. Unter der Bettdecke befühlte Pucki ihre Hände. Zeige- und Mittelfinger waren stark zerstochen, der Daumen der linken Hand schmerzte. Den hatte ihr neulich beim Ringen Christa ein wenig verknaxt. Die Zehen des linken Fußes taten heute noch weh. Der Großvater war sehr böse geworden und hatte einen Stuhl energisch auf die Erde gestellt; leider nicht auf die Erde, sondern auf Puckis Fuß. Alles das wäre zu ertragen gewesen; aber daß ihr gar keine freie Zeit blieb, um einmal ausführlich an die Freundinnen zu schreiben, daß sie bald hier, bald da von der Arbeit gerufen wurde und gar nicht zur Besinnung kam, empfand sie recht schwer. – Das schlimmste aber war, daß sie, trotz aller Mühe, die sie sich gab, kaum etwas recht machte!

Pucki ließ die Gedanken zurückschweifen. In den ersten acht Tagen ihres Hierseins versengte sie zwei Hemden beim Plätten. Beim Ausbessern eines Kleides schnitt sie versehentlich in den Stoff. Das Strümpfestopfen wollte nicht recht von der Hand gehen. Ach, es war sehr schlimm! Der gräßliche Flickkorb wollte kein Ende nehmen, obwohl sie täglich davor saß und emsig arbeitete. Bei manchen Stücken wußte sie sich keinen Rat und ging verschüchtert zu Frau Wallner, um zu fragen, wie sie es machen sollte. Wohl bekam sie eine Auskunft, doch immer nur kurz und ein wenig spöttisch.

Pucki stieß einen unterdrückten Seufzer aus. Sie wollte durchhalten, wollte ein volles Jahr hier in Eisenach bei Wallners bleiben. Sie ließ sich nicht auslachen! Daheim sollte man nicht recht behalten, wenn behauptet worden war, daß sie in ihrer Stellung nicht lange bleiben würde. O nein, sie blieb, auch wenn der Wäschekorb niemals leer würde. Ein Jahr ging auch vorüber, ein Jahr mit seinen dreihundertfünfundsechzig Tagen mußte einmal ein Ende nehmen.

Dreihundertfünfundsechzig Tage! – Dreiunddreißig sind schon vorüber, bleiben noch dreihundertzweiunddreißig Tage. – Lieber Himmel, ist das noch lange!

Aber noch etwas anderes bedrückte Puckis Herz. Sie hatte zwar wenig Zeit, ausführliche Briefe an die Eltern zu schreiben, aber die Karten, die ins Elternhaus oder an die Freundinnen und Freunde wanderten, berichteten, daß es ihr gut ginge. Nur nicht schreiben, wie wenig nett sie hier behandelt wurde und was sie hier litt! Das törichte Mädchen bildete sich ein, in den Augen ihrer Bekannten zu sinken, wenn sie von der vielen Arbeit erfuhren, die es hier für sie zu leisten galt. Manchmal hätte Pucki freilich gern eine Klage eingeflochten, doch ließ das ihr falscher Stolz nicht zu. Hans Rogaten, der Schulfreund, wurde sogar richtig beschwindelt.

»Ich habe es wundervoll getroffen«, schrieb sie ihm, »ich lerne die vielen Schönheiten Eisenachs kennen. Wenn ich dir so selten schreibe, liegt es daran, daß ich zu stark in Anspruch genommen bin. Ich habe ein Leben wie im Himmelreich!«

Hans Rogaten weilte aber nun seit einigen Wochen ganz in Puckis Nähe. Seine praktischen Jahre in der Apotheke zu Rotenburg waren beendet, nun studierte er in Jena. Ein heftiger Schreck war Pucki in die Glieder gefahren, als sie vor wenigen Tagen seinen Brief in Händen hielt, in dem er ihr meldete, an einem der nächsten Sonntage einmal nach Eisenach zu kommen, um mit ihr einen ganzen Tag lang spazieren zu gehen.

»Da Frau Wallner eine so nette Dame ist, wird sie dich gern für einen Tag beurlauben«, hatte er geschrieben.

Nun bebte Pucki vor jedem Sonntag. Wie sollte sie vor Hans Rogaten bestehen, wenn er sie inmitten der vielen Arbeit fand? Sie bekam am Sonntag höchstens zwei Stunden Urlaub.

»Warum schwindle ich eigentlich?« fragte sie sich. »In meinem langen Leben habe ich es doch mehrmals erfahren, daß Lügen kurze Beine haben. Immer ging es schlimm aus, wenn ich Unrechtes tat, und es wird auch dieses Mal nicht anders sein.«

Dennoch schrieb Pucki in ihrer Herzensangst eine neue Unwahrheit. »Lieber Hans! Nächsten Sonntag darfst du nicht kommen, denn da sind wir alle zu einer Gesellschaft geladen. Am übernächsten Sonntag mache ich mit Wallners eine Autofahrt. Ich gebe dir Bescheid, wenn ich frei bin.«

Für die nächsten vierzehn Tage war die Gefahr damit abgewandt. Aber ob es möglich war, Hans Rogaten ein ganzes Jahr von Eisenach fernzuhalten?

Im Himmelskästchen lagen mehrere Silbermünzen. Es war der Anfang für die Italienreise. Wenn Pucki daran dachte, gab es wieder einen Grund, aus tiefstem Herzen aufzuseufzen. Zehn Mark waren ihr am ersten Mai ausgehändigt worden. Wenige Tage später sagte der Großvater, indem er auf ihre Schuhe wies: »Mit schiefen Absätzen läuft kein junges Mädchen herum. Sie tragen die Schuhe heute noch zum Schuhmacher. Durch solch liederliches Aussehen geben Sie den Kindern ein schlechtes Beispiel.«

Zwei Tage später feierte Christa ihren neunten Geburtstag. Auch hier hatte der Großvater erklärt, es sei wohl angebracht, daß Fräulein Sandler dem Kind eine Kleinigkeit schenke. Und ehe sich Pucki dazu entschloß, brachte er ihr einen Federkasten mit, für den er fünfundachtzig Pfennige von ihr verlangte. – So waren die beiden Fünfmarkstücke recht beträchtlich zusammengeschrumpft, und dabei war es erst Mitte Mai.

Noch etwas anderes vermißte das junge Mädchen schmerzlich. Als man sie zum ersten Male »Fräulein« Sandler nannte, fühlte sie sich sehr stolz und gehoben. Jetzt war ihr diese Anrede geradezu verhaßt. »Fräulein Sandler« oder gar nur »Fräulein« klang es aus allen Räumen. Nicht zärtlich und nicht herzlich, nein, befehlend oder ärgerlich! Ach, wenn sie nur ein einziges Mal in jeder Woche Pucki gerufen würde, wenn dieser Kosename nur ein einziges Mal von irgendwelchen Lippen käme! Aber hier, in diesem Hause mit der vielen Arbeit war und blieb sie Fräulein Sandler.

Noch dreihundertzweiunddreißig Tage! Mit diesem Gedanken schlief Pucki am heutigen Abend ein.

Am nächsten Sonntag fiel in Puckis Herzensdunkel ein heller Schein.

»Christa ist ein vernünftiges Mädchen«, begann Frau Wallner beim Frühstück. »Sie werden heute nachmittag mit den Kindern einen Spaziergang zur Wartburg machen. Gegen eine flüchtige Besichtigung der Burg habe ich nichts einzuwenden. Den drei Kindern ist das nichts Neues, doch Sie kennen die schöne Burg ja noch nicht. – Ich lege Ihnen die Kleinen ans Herz.«

Zur Wartburg! – Puckis Augen strahlten wie zwei Sterne. Endlich erfüllte sich ihr heißer Wunsch! Zur Wartburg! – In ihrem Reisehandbuch stand so viel über diese historische Burg geschrieben. Wie oft hatte sie darin studiert!

»Willst du wirklich das Fräulein mit den Kindern nach der Burg schicken?« meckerte der Großvater. »Ist es nicht gewagt?«

»Wieso, Vater?«

»Die Kinder bleiben sich selbst überlassen. Ich glaube, Fräulein Sandler wird nicht viel Sinn für ihre Pflichten haben, sie wird lieber die Burg ansehen.«

»Ich kenne meine Pflichten«, sagte Pucki und warf den Kopf stolz in den Nacken.

»Wir essen schon um zwölf Uhr, weil wir eine Autofahrt machen, und sind gegen sieben Uhr zurück. Sie kommen mit den Kindern gegen sechs Uhr heim. Die Kleinen können im ›Gasthaus für fröhliche Leute‹, das dicht bei der Wartburg liegt, Kaffee trinken. Ich gebe Christa Geld mit.«

Pucki biß sich auf die Lippen. Sie würde nicht Kaffee trinken, wenn man ihn ihr nicht bezahlte. Sie durfte die Aussichten auf die Italienreise unmöglich noch verringern. Oh, es ging auch ohne Nachmittagskaffee! Sie würde keinen Hunger und keinen Durst fühlen, wenn sie in der schönen, ehrwürdigen Burg den Sängersaal, die Elisabeth-Kemenate, den Festsaal, die Rüstkammer, den neuen großen Saal, das Eseltreiberstübchen und alles andere betrachtete. Vergessen war der große Flickkorb, der ständig nörgelnde Großpapa. Es winkte ihr ein Ausflug zur Wartburg!

Beim Mittagessen war Pucki so aufgeregt, daß sie kaum die Speisen herunterbringen konnte. Was würde ihr der heutige Tag Schönes bringen?

»Ich kenne den Weg zur Burg«, sagte Christa, »ich führe euch.«

Pucki war mit allem einverstanden. Nur recht schnell fort, hinauf zu der herrlichen Burg!

Sie begrüßte es hocherfreut, daß die drei Kinder voranschritten und mit sich genug zu tun hatten. So konnte sie ihren eigenen Gedanken nachhängen und von Zeit zu Zeit einen Blick in ihren Wartburgführer werfen. Jetzt ging es steil bergan. Pucki fragte einige Spaziergänger nach der Villa, in der Fritz Reuter einst lebte und die man ihr bereitwilligst zeigte. Bald gelangte man in den Wald, kam zur Wartburgchaussee, dann ging es auf schmalem Fußweg zur Burg hinan.

Pucki blieb stehen. Der herrliche Bau überwältigte sie! Die Kinder riefen nach ihr, sie mußte weiter, doch ihre Augen ließen die ehrwürdige Burg nicht mehr los. Dort die Zugbrücke, der Torturm, das Ritterhaus und dann das große Schloß! Pucki war glücklich und froh! Wieviel hatte sie über das alte Bauwerk gehört und gelernt! Nun wurde ihr das große Glück zuteil, die Wartburg zu sehen.

»Wart Berg, du sollst mir eine Burg werden!« So hatte Ludwig der Bärtige einst gesprochen und die Burg bauen lassen. Auf dem Wartburgfelsen wurde das wundervolle Bauwerk gegen Mitte des 11. Jahrhunderts errichtet.

»Wir wollen Kaffee trinken«, drängelte Christa, »wir wollen die Burg nicht sehen. Wir waren schon so oft hier!«

»Liebe Kinder«, begann Pucki und legte alle Zärtlichkeit in ihre Worte, »wollt ihr mir eine große Freude machen und erst mit mir durch die Burg gehen? Wir laufen ganz rasch durch die Räume, dann bekommt ihr Kaffee.«

»Wir wollen nicht«, klang es dreistimmig zurück.

»Nur eine halbe Stunde, bitte, bitte!«

»Was schenkst du mir, wenn ich mitgehe?« fragte Christa.

Einige Sekunden dachte Pucki an die Italienreise, dann sagte sie kleinlaut: »Du darfst nachher noch ein Stückchen Kuchen essen, das kaufe ich dir.«

»Ich will auch Kuchen«, rief Max.

»Und ich Schokolade!«

»Ich will auch Schokolade«, rief Christa, »Schokolade und Kuchen.«

»Man darf nicht so unbescheiden sein. Ihr bekommt jeder ein Stück Kuchen. So, nun wollen wir in die Burg gehen.«

»Nein, ich will Schokolade und Kuchen«, sagte Christa. »Erst mußt du uns Schokolade kaufen, sonst gehen wir nicht mit dir in die Burg.«

Mit einer Tafel Schokolade waren die Kinder jedoch nicht zufrieden. Jedes wollte eine Tafel haben, und mit Entsetzen stellte Pucki fest, daß es in diesem Gasthaus nur Tafeln zu fünfzig Pfennig gab.

»Fahr' wohl, Gondelfahrt auf dem Canale Grande in Venedig, fahre ewig wohl! Doch ich muß die Wartburg sehen.«

Jedes Kind erhielt eine ganze Tafel Schokolade. Dann schlossen sie sich einer Führung an, die eben angetreten wurde. Schon als man über die Zugbrücke schritt, war es Pucki, als wehe hier eine andere Luft. Sie stand ja auf historischem Boden.

Zuerst betraten sie die herrliche Kapelle mit der alten Kanzel und den kostbaren Malereien der Fenster. Weiter ging es durch die Elisabethen-Galerie zum großen Sängersaal. Hier hatte einst Tannhäuser gestanden, hier war der Sängerwettstreit ausgefochten worden. Das große Bild an der Wand rief alles einst Gelernte in Puckis Gedächtnis zurück. An der Nordwand war die Sängerlaube, in der die Minnesänger gesessen haben sollten. Pucki vergaß, daß neben ihr sechs ungeduldige Kinderfüße trippelten. Sie hätte die Weiterschreitenden zurückhalten mögen. Nur nicht eilen! In diesem Sängersaal gab es doch so viel zu sehen. Aber sie mußte den anderen folgen, hin zum Landgrafensaal mit seinen herrlichen Wandgemälden: »Landgraf, werde hart!« Und hier, an der Südwand die große Inschrift: »Wart Berg, du sollst mir eine Burg werden!«

Über die Wendeltreppe ging es in den Festsaal. Pucki wußte aus der Geschichtsstunde, daß dieser Raum in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit unerhörtem Aufwand an Kunst und Pracht neu hergerichtet worden war. Noch nie hatte sie etwas so künstlerisch Vollendetes gesehen. Die Schnitzereien, die Balustraden, die Kamine, vor allem die Gemälde wirkten geradezu überwältigend. Wieder ging man weiter. Da war die Rüstkammer, die Lutherstube, der Raum, in dem Martin Luther zehn Monate weilen mußte. Und nun betrat sie die kleine Elisabethkemenate, ein Prunkgemach, ganz mit Glasmosaik ausgelegt. Alles, was Pucki hier sah, entzückte sie. Man mußte sie anrufen, weil sie versonnen stehen blieb. Bald hierhin, bald dorthin schweiften ihre Blicke. Stundenlang hätte sie verweilen mögen.

Plötzlich sah sie sich allein. Sie erwachte wie aus tiefem Traum. Nun rasch hinaus! Die Kinder waren wohl mit den anderen Besuchern weitergegangen. Die Gruppe der Besucher stand unten im Burghof. Dort fand sie auch ihre drei Kinder. Aber wie sah Moritz aus? Sein Gesicht war mit Schokolade beschmutzt, und auf dem Anzug zeigten sich deutlich Spuren seiner unsauberen Finger. Christa und Max lachten laut. Pucki blieb nichts anderes übrig, als mit dem kleinen Knaben in die Gastwirtschaft zu gehen und ihn zu säubern. Dort mußte sie natürlich Kaffee trinken; so ging wieder etwas von dem Geld der Italienreise verloren.

Noch immer weilten Puckis Gedanken in der Wartburg. Gar zu gern wäre sie noch einmal hineingegangen. Sie hatte viel zu flüchtig all das Schöne ansehen müssen. Außerdem waren die Tore und der kleine Bau an der Westmauer noch nicht besichtigt worden. Es gab noch so viel zu sehen.

»Ihr seid gewiß recht müde. Wollt ihr hier noch ein Weilchen artig sitzen bleiben? Ich möchte rasch noch einmal hinüber zur Zugbrücke gehen.«

»Dort drüben ist Onkel Wildermann«, rief Christa, und schon eilte sie auf einen Tisch zu, an dem eine größere Familie saß. Die beiden Knaben stürmten hinterher. Pucki hörte, wie der ältliche Herr für die Kinder je ein Glas Zitronenlimonade bestellte.

»Der Himmel schickte mir diesen Onkel«, dachte Pucki erleichtert. »Die Kinder sind in bester Hut. Nun rasch noch einmal zurück in den Sängersaal! Rasch noch einmal stehen und staunen! Ich will mich ganz in die Vergangenheit versenken. – Dich teure Halle grüß' ich wieder, froh grüß' ich dich, geliebter Raum!«

Sie bezahlte mit schwerem Herzen den Kaffee, dann eilte sie davon. Sie hatte Glück, denn abermals konnte sie sich einer Führung anschließen. Sie wollte sich im Sängersaal länger aufhalten; sie brauchte ja nur hinter einer der Säulen stehen zu bleiben. Stehen und staunen!

Hier vergaß sie in ihrer himmelstürmenden Begeisterung alles um sich her, bis sie einer der Wartburgwächter mahnte, daß der Saal nun geschlossen würde. Aber auch jetzt ging Pucki noch nicht. Hundert Fragen brannten ihr auf dem Herzen, und bereitwilligst gab der alte, weißhaarige Aufseher Auskunft. Er öffnete ihr sogar mit dem großen Schlüsselbund noch einige Nebenräume, die sonst bei der kleinen Führung nicht gezeigt wurden. Das Glück, das aus den Augen des jungen Mädchens strahlte, machten dem alten Manne Freude. So verging wieder ein halbes Stündchen.

Im Hof der Vorburg stand man lange vor dem Wartburgbrunnen. Der Wächter zeigte Pucki noch die in Efeu gehüllte Lutherlaube.

»Haben Sie abends schon einmal die Beleuchtung der Burg gesehen?« fragte er freundlich. »Am nächsten Sonntag findet sie wieder statt.«

»Wie schön, wie wunderschön ist alles! Ach, nur glückliche Menschen können hier gelebt haben.«

»Na, na«, lachte der Alte, »wenn ich Ihnen das Turmverlies zeige, in dem der Wiedertäufer Fritz Erbe acht Jahre lang schmachtete, würden Sie anderer Meinung sein. Wenn Sie Lust haben, Fräulein, zeige ich Ihnen noch, wie Sie auf dem Tugendpfade zum Minnegärtchen kommen können.«

Tugendpfad? Was hatte der Großpapa beim Fortgehen gesagt? »Bei den vielen Untugenden, die Fräulein Sandler hat, wird sie uns auch die Kinder nicht ordnungsmäßig zurückbringen.«

»Nein, danke, ich muß fort!«

»Wollen Sie nicht zum Tugendpfade gehen?«

»Nein«, sagte Pucki erblassend, »das ist nichts für mich, ich muß rasch fort.«

Klapperte der Alte absichtlich so sehr mit dem Schlüsselbund? Gab man einem Führer nicht stets ein Trinkgeld?

Schüchtern reichte sie dem alten Manne fünfzig Pfennig. Wieder war etwas von ihrem Gelde dahin! Dann wandte sie sich nach rückwärts und lief hinein in den Vorhof.

»Nein, Fräulein, die Burg ist schon geschlossen.«

»Ich möchte doch zum ›Gasthaus für fröhliche Leute‹.«

»Hierherum geht der Weg.«

Atemlos kam Pucki auf dem Platz an. Es saßen noch einige Leute dort, doch der Tisch, an dem Onkel Wildermann gesessen hatte, war jetzt von anderen Leuten besetzt.

»Die Kinder, wo sind die Kinder?« Pucki rief eine der Kellnerinnen an. Die wußte nichts. Eine andere gab Auskunft, daß der ganze Tisch schon vor einer guten Viertelstunde aufgebrochen sei. »Mit den drei Kindern?« fragte Pucki.

»Jawohl.«

»Wo sind sie gegangen?«

»Wie kann ich das wissen«, klang es kurz zurück.

Pucki stand ratlos da. Vier Wege führten von der Wartburg hinab nach Eisenach. Das wußte sie aus dem Reisebuch. Welchen Weg waren die Kinder gegangen? Wahrscheinlich denselben, den sie hinaufgekommen waren, den kürzesten und steilsten. – Ob die dicke Dame, die neben Herrn Wildermann gesessen hatte, diesen beschwerlichen Weg gewählt hatte? – Sicherlich nicht! Verängstigt fragte Pucki, welcher Weg der bequemste wäre, den alte Herrschaften am meisten benutzten. Ein freundlicher Herr wies sie zurecht. Pucki setzte sich in Laufschritt. Etwa fünf Minuten von der Burg entfernt rief sie laut Christas Namen.

»Juhu – juhu!« tönte es aus dem Wald zurück.

Sie stürmte weiter. Bald hatte sie einen Trupp Spaziergänger eingeholt. Leider war es nicht jener Herr mit den Wallnerschen Kindern.

Ihre Aufregung vergrößerte sich von Minute zu Minute.

»Haben Sie keine älteren Leute mit drei kleinen Kindern gesehen?« klang es ängstlich.

»Nein.«

Vielleicht waren sie die breite Fahrstraße gegangen. Also rasch wieder hinauf und im Laufschritt hinüber zur Fahrstraße. Sie überholte einen Trupp Spaziergänger nach dem anderen, doch die Gesuchten fand sie nicht. Das Herz schlug wie ein Hammer in ihrer Brust. Der Fahrweg führte in großem Bogen um den Burgberg herum: über eine halbe Stunde mußte sie laufen, um hinunter nach Eisenach zu kommen. Wallners waren gewiß längst von ihrem Ausflug zurückgekehrt. Ihre Armbanduhr zeigte dreißig Minuten nach sechs.

»Ach, warum ließ ich mich verführen, den Sängersaal noch einmal zu besehen? Was werde ich nun anhören müssen? Dabei haben sie recht, wenn sie mich schelten, denn ich bin eine pflichtvergessene Person!«

Atemlos vom raschen Lauf erreichte Hedi Sandler das Haus des Kunsttischlers. Als sie klingelte, öffnete der Großpapa.

»Na, Sie pflichtvergessenes Mädchen!«

Am liebsten wäre Pucki in die Erde gesunken, denn heute hatte der alte Herr recht. Sie war schuldig!

»Entschuldigen Sie«, stammelte Pucki niedergeschlagen, »aber die Wartburg war so schön. – Sind die Kinder hier?«

»Kommen Sie erst mal herein! Meine Schwiegertochter wartet auf Sie.«

Pucki hörte das Lärmen der Kinder. Das erleichterte ihr Herz. Trotzdem zitterte sie vor Bangen, als sie vom Großvater ins Wohnzimmer geschoben wurde, in dem Frau Wallner mit den Kindern weilte.

»Hier bringe ich dir das Fräulein. Die Wartburg war so schön, daß sie auf die Kinder nicht achtgeben konnte. Ich habe es dir schon gleich gesagt, Berta: Mit dem Fräulein kannst du die Kinder nicht fortschicken.«

»Entschuldigen Sie«, stammelte Pucki abermals.

Frau Wallner ließ das junge Mädchen nicht zu Worte kommen. Die bittersten Vorwürfe hagelten auf Pucki hernieder. Endlich schloß die erregte Mutter mit den Worten: »Ich hatte geglaubt, ein zuverlässiges junges Mädchen ins Haus zu nehmen; aber Sie haben mich bisher nach jeder Richtung hin enttäuscht, Fräulein Sandler. Ich wollte Ihnen mit dem Besuch der Wartburg eine Freude machen, doch Sie haben meine Güte schlecht gelohnt. Wenn Sie sich in Zukunft nicht bessern, wenn Sie auch weiterhin den Ihnen anvertrauten Kleinen nicht die nötige Sorgfalt widmen, müssen wir uns trennen.«

»So etwas können wir nicht brauchen«, setzte der Großvater hinzu.

Man ließ Pucki gehen. Es war der erste Abend, an dem man ihr die Kinder nicht überließ. Zu anderen Zeiten wäre sie vielleicht recht froh darüber gewesen. Heute aber saß sie in ihrem Zimmer und fühlte sich todunglücklich.

»Müssen wir uns trennen.« Diese Worte stachen Pucki ins Herz. Ein ganzes Jahr wollte sie hier aushalten! Ein Jahr mußte sie aushalten!

Ins Tagebuch machte sie drei schwarze Kreuze.


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