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Der herzoglich weimarische Konzertmeister Krantz, seit einigen Tagen in Rom auf Urlaub, saß neben Goethen in Tischbeins Studio. Er hatte vorgestern abend angeklopft; da war Seine Exzellenz in San Paolo fuori gewesen. Er hatte sodann, im Seidengewand, gestern mittags seine Aufwartung gemacht; da befand sich Seine Exzellenz in der Villa Madama. Hierauf hatte der Herr Konzertmeister noch am späten Abend submissest anfragen lassen, ob und wann er vom Herrn Staatsminister von Goethe, – dem er übrigens Briefe zu überbringen habe – angenommen werden würde. Und nun saß er da. Auf einer Kiste. Gewiß: auch er, der Herr Kapellmeister Krantz, fühlte sich in Rom anders, denn in Weimar. Aber, um Gotteswillen, was war mit dem Manne geschehen, der auf dem Drehsessel vor der Staffelei hockte und wütend an einem Landschaftchen pinselte? Das Gesicht braun wie das eines Bauernjungen aus der Campagna. Die Lippen geradezu schadenfroh lüstern geöffnet. Das Auge Ausbund von Übermut. Die Gestalt in sorgloser Lässigkeit gelöst. Die Kleider, gewiß peinlich wie immer gebürstet, aber . . .
»Ich meine nämlich, sozusagen,« wagte Herr Krantz endlich auszufallen, – brach aber auch schon wieder ab. Durfte er überhaupt anfangen, oder durfte er nicht anfangen? Als jedoch, nach einer ewigen Pause, Herr von Goethe, den Blick gierig auf der halbuntermalten Landschaft, mit gütigem Mund sagte: »Nun?«, wollte Herr Krantz sich – einmal mußte es ja sein! – nicht mehr halten lassen. Im Ton des gewissenhaften Berichterstatters begann er denn eine Chronik aller Weimarer Ereignisse, politischer, höfischer, gesellschaftlicher zu geben, die seit Seiner Exzellenz Abreise nach Italien vorgefallen waren. Hatte aber kaum ordentlich Atem dazu genommen, als die grelle Fassade eines Palastes, die durch die festverschlossenen Fenster hereinstach, die wohlabgemessene Rede ganz einfach erstach. Ja, das ist ein römischer Palast, sagte sich Herr Krantz und hob die Linke vom Degengriff an die Schläfenlöckchen. Ich bin in Rom. Wohl! Versuchte daraufhin, mit einem Ruck, den er der Kiste gab, die mißlungene Rede in Klatsch umzubiegen. »Der zweite Stock Fürstenhaus verträgt sich mit dem ersten noch immer so so. Und Wieland . . . ..«
Da prasselte von der Straße empor ein so ohrenbetäubendes Geschrei aus so viel hunderttausend römischen Kehlen, daß auch diese zweite Rede ohne weiteres erstarb.
»Bleiben Sie nur!« lachte Goethe gemütlich, weil Herr Krantz entsetzt aufgefahren war. »Es sind ihrer höchstens acht bis zehn. Sie haben einen Ziegendieb erwischt oder einen bajocco im Pflaster gefunden.«
Wirr setzte sich Herr Krantz auf die Kiste zurück. Du bist in Rom! mahnte er sich zum zweitenmal. Ein fremdes Volk lebt sich zu deinen Füßen aus. Das Vergnügen, zu dem du herabkamst, scheint also eher zur Aufgabe zu werden? Und unbehaglich ward ihm. »Jawohl: Wieland, sagt man, trinke seit Neustem. Schnaps sogar! Und Herders Karoline, – nein! Zuerst das Skandälchen von den zwei Kammerfräuleins und . . .«
»Wem?«
Ah! Befriedigt hob sich Herrn Krantzens Gesicht. »Herders Karoline scheint ein Kind zu kriegen. Von der Gräfin Werthern-Bäuchlingen – Bäuchlingen! – erzählt man sich, . . . . Ja! Und Herr Hofrat Schiller! Herr Hofrat Schiller strebt auf Weimar zu! Mit Elan! Haben Exzellenz von seinem »Dom Carlos« schon gehört? Man sagt . . .«
»Was sagt man?«
Hilflos legte Herr Krantz sein Gesicht, das weder beschränkt noch leicht zu verblüffen war, nach rechts ins Jabot hinab. Und antwortete mit der dritten Rede. Seine Durchlaucht, der Herr Herzog, habe sich, nachdem Ihre Durchlaucht, die Frau Herzogin, ins Sommerbad gereist waren, zum Ausschußtage nach Eisenach begeben; sich dabei aber derart ennuyiert, wenn nicht gar empört, daß Er, wie es nachher ruchbar geworden, in einem Briefe an den Grafen Goertz . . .
»Lebt der auch noch immer?«
Jetzt wußte sich Herr Krantz nicht mehr zu helfen. »Exzellenz werden begreifen,« stammelte er, ausgeblasen von diesem unbegreiflichen Maler, der in sträflicher Heiterkeit weiterpinselte, »daß ein Mann, der sozusagen unmittelbar aus Deutschland nach Rom kommt, . . .«
»Allerdings!« Kühn strich Goethe das Joch einer Brücke, das verzeichnet war, mit einem trüben Sepiaton an. »Sogar sehr gut verstehe ich das!«
»Ich trage daher noch Weimarer Erde an den Sohlen und Weimarer Dunst im Auge. Also lieber gleich mit der Tür ins Haus, Exzellenz!« Und tollkühn begannen die Äuglein zu blitzen. »Ist es wahr, was sich Weimar erzählt? Daß Exzellenz nicht mehr zurückkehren wollen?«
Als ob er nicht gehört hätte, strich Goethe zwei Bäume mit einer düstergrünen Tinte an. Eindringlich. Ein Tropfen Farbe spritzte daneben, in den Himmel hinein. Sogleich nahm er das Löschblatt, trocknete die Überfläche ab, setzte den Finger darauf, wischte die schönste Weile lang mit dem Ballen den Fleck.
Endlich sagte er: »Sagen Sie mir, Krantz: wieviele Geliebte habe ich hier in Rom? In Weimar nämlich.«
Steif wurde Herr Krantz.
»Fortgegangen aus Weimar bin ich natürlich nur deshalb,« – nun kam das Wasser unter der Brücke dran – »weil ich silberne Löffel gestohlen habe? Nicht?«
»Ich mußte fortgehen, weil ich in meinem Größenwahn mich Ihrer Durchlaucht, der Herzogin, zu nähern versucht habe? Nicht?«
»Ich habe« – urvergnügt, weil Krantzens Gesicht alle Farben bekam, ward der Himmel mit einem glanzlosen Ultramarin gestrichen – »ich habe eine haarsträubende Unordnung in meinen Geschäften zurückgelassen, und es ist eine meiner zahlreichen Gaunereien, daß ich hier in Müßiggang und Wollust mein Gehalt weiterbeziehe, indes sich die Herren Kammerräte in Weimar für mich den Schweiß aus den Knochen schinden? Nicht?«
»Exzellenz!« Wie von einer Pfanne voll feuriger Kohlen sprang Krantz auf. »Es ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen . . . .«
»Kräntzchen!« Geradezu gerührt klang's. »Und hier in Rom fröne ich Lappalien, bin frère et cochon mit schmierigen Bohemiens und verliere die Ideale, die mir Weimar eingetrichtert hat? Nicht? So genieren Sie sich doch nicht und schießen Sie doch endlich los, Mensch!«
Aber der aus allen Konzepten gerissene Mensch trat nur an die Staffelei heran und sagte mit der Miene eines Predigers, der das verlorene Schäfchen zurückzuholen begehrt: »Ganz Weimar, jeder Mensch in Weimar, vom Grafen Goertz unten angefangen bis herauf zu Ihrer Durchlaucht, der Frau Herzogin Mutter,« – mit tränenerstickter Stimme sagte er es –: »der Herr Herzog, die Frau Herzogin, Herr Herder, Frau Herder, Herr von Knebel, der Prinz von Gotha, die Herren Professoren in Jena, der Herr Geheimerat Voigt, Herr von Einsiedel, – alle, Exzellenz, ich kann nur sagen: alle, es ist eine einzige Stimme in ganz Weimar . . .«
»Was für eine Stimme?«
Nein, sagte sich der Herr Konzertmeister, als ihm dies fast rohe Lachen in die Rippen fuhr, ich verstehe nichts von Malerei, ich bin ein Musikante. Aber dieses Bildchen heißt nichts! Es könnte geradesogut die Brücke im Park über die Ilm darstellen, wenn diese Brücke nicht ein Holzsteg, sondern eine Steinbrücke wäre. Und wäre auch dann miserabel. »Der kleine Herr Baron, zum Beispiel . . .«
»Was für ein Baron?«
»Ich wollte nur andeuten . . .« Aber im Augenblick darauf wollte Herr Krantz nichts mehr andeuten. Ohnmächtig floh sein Auge in die Dinge des Raumes. Ja! Wenn man sich in diesem Chaos nur zurechtfinden, aus diesem Chaos dasjenige Ding nur herausfinden könnte, das die gegenwärtige Seele des Herrn von Goethe deutlich offenbarte! Ich bin in Rom! sagte sich Herr Krantz zum drittenmal vor. Bei Goethe in Rom! Kraut sich nicht seit einem Jahre ganz Weimar die Ohren über den Sinn dieser drei magischen Worte: Goethe in Rom? Also: pack zu! Greife ihn an! Enthülle ihn! »Ich meinte nur,« begann er daher nach ungeheurer innerer Anstrengung von neuem, – aber auch diesmal ward ihm der Mut fortzufahren einfach geköpft. Dieser Mann malt jetzt ja Landschaften. Hat mit Herrn Hackert, kaum zurück aus Sizilien, vierzehn Tage lang irgendwo da draußen gezeichnet. Zeichnet allabendlich bei Herrn Verschaffelt. Redet allmorgendlich mit Herrn Trippel vom Zeichnen. Läuft mit Frau Kaufmann zum hundertstenmal in die Galerien, um dem Poussin seine Tricks abzugucken. Streitet mit Herrn Reiffenstein über die Farben. Hat neulich eine schlaflose Nacht wegen eines Kolorits zugebracht. »Ich habe Herrn Schütz,« sagte er nun, zum letzten Versuch entschlossen, »wie er sich mir gestern vorzustellen die Güte hatte, gar nicht glauben wollen, als er mir erzählte, Exzellenz seien von der Dichtkunst ganz und gar abgekommen und zur bildenden hinübergewandert.«
»Bin ich zur bildenden hinübergewandert?«
Ratlos rüttelte sich Herr Krantz. »Ich begreife, natürlich! In einem Lande, wo, wie ich ahne,« – nun lächelte er fast trunken – »dem Komponisten jeder Stein eine Melodie tönen, etwas zum Komponieren einflüstern wird, mag der Dichter vor allem überall nur Bilder sehen, Phantasien von Linien, Formen, Farben, . . . Visionen, Träume . . . . .« Nein! So ging es auch nicht! Als ob er sich zu Tode schämte, in eine Diktion verfallen zu sein, die zu seiner Simplizität nicht paßte, steckte er das Gesicht hinter den Fächer der linken Hand. Hob es, noch verlegener, gleich wieder daraus empor, reckte den rechten Arm nach dem schattenlos leuchtenden Gipskopf im Blauweiß der Wand hin und stotterte: »Wer ist das?«
»Zeus.«
»Und der da?«
»Hermes.«
»Und die da?«
Mit strömendem Glückston: »Hera. Weib. Meine Göttin!«
Verdonnert schüttelte Herr Krantz das Haupt. Er zählte im ganzen eilf Bildnisse. Sie sagten ihm nichts. Sie standen wie zufällig verstreute Gedanken einer Seele, zu der er nicht fand, ringsumher auf Böcken, die Kreide, Kohle, graues Papier, Weißholzrahmen, Lehmballen und Farbennäpfe trugen. Auf Postamentchen, die von Volkmanns, Winckelmanns und Mengsens Werken gebildet waren. Auf Tischchen, die mit Lappen, Reißstiften, Tuschefläschchen, Skizzenbüchern, Ölkrüglein, Lämpchen und Tonscherben über und über bedeckt waren. An den Wänden, in einer Reihenfolge, deren Gesetz Herrn Krantzens Auge nicht erriet, hingen an die dreißig Blätter mit orangeroten oder seideblauen oder ultravioletten Himmeln, flächigen Gebirgskulissen, aufgeregt blitzenden oder tafelglatt grauen oder purpurrot unwahren Meeren. Zwischen den Fenstern stand, in die Höhe wachsend, eine Rolle von Stichen, deren letzte Schicht sich vom festen Leib so losgerissen hatte, daß das Auge spannenlangen Einblick in ein Wirrsal von rein gerissenen Linien genoß. Auf der Erde, unweit von den Füßen des Drehsessels, lag ein großer Plan von Rom. Über ihm, auf einem Taburett, stand angelehnt an einen Teller mit hellgrünen Feigen ein gelbes Gipsviereck, das die scheußlichste Gorgo zeigte. »Lionardo« las Herr Krantz mit Anstrengung auf dem Rücken eines Folianten, der im Fensterbrett lag. Und als er den ermatteten Blick von dieser Sammlung unenträtselbarer Fremdheiten hob, erblickte er – das Ölbild eines nackten, wahrhaftig sehr nackten Weibes! »Sie wissen es wohl nicht, Herr Geheimerat,« stieß er nun hoffnungslos hervor, »und werden es aus allen Briefen, die von Weimar einlangen, nicht lesen können, wie man sich zu Hause den Kopf darüber zerfrägt: warum Sie gegangen sind, was Sie hier so lange treiben, und warum Sie nicht zurückkommen? Nicht nur encanailliert ist Weimar, seitdem Sie fort sind, sondern aus den Fugen geraten! Der Herzog: Fürstenbund, und nichts anderes mehr. Die Frau Herzogin hat ihn weniger, als je früher. Die Gesellschaft bei Hofe verblödet. Die Herzogin Mutter will nach Italien. Herder will nach Italien. Dalberg will nach Italien. Wer aber nicht reisen, Ihnen nachreisen kann, den treibt es in die Niederungen seines Temperaments zurück, weil dieses Temperament ohne Ihr Beispiel eben nicht hochbleiben kann. Ich habe erst neulich mit dem Herrn Baron Fritz von Stein gesprochen . . .«
»Fritz!« rief Goethe mit gewaltiger Stimme in die Tür hinter seinem Sessel hinein.
Herrn Krantz stockte der Atem. Was hieß das? »Seien Sie, bitte, Exzellenz, um Gotteswillen nicht böse darüber, daß ich es wage, hievon zu reden!« Die Arme, bettelnd, breitete Herr Krantz aus, armseliges Pathos hob seine Stimme. »Ich bringe Ihnen ja einen Strauß, einen Riesenstrauß von Grüßen! Eine Ladung von Fragen, Zweifeln, Besorgnissen, – Sehnsucht! Man hat gehofft, Sie würden, Sizilien durchreist, im Juni, spätestens im Juli . . .«
»Fritz!« rief Goethe zum zweitenmal, noch gewaltiger, in die Tür hinter seinem Sessel hinein.
Zum Flüsterton sank Krantzens Stimme. »Herr Fritz kam mir wie ein verlassenes Vögelchen vor. Selbst sein Anzug war nicht adrett. Er stammelte; brachte nichts Rechtes hervor. Als ich ihm sagte, ich reiste hieher, flammte sein Auge in einer Wehmut, in einer Trauer, . . . .« – jetzt hab ich ihn! fuhr es wie der Blitz durch Herrn Krantzens Hirn, waghalsig glitt die Hand an die Kiste, um sie näher an den Drehsessel heranzurücken – »in einer Passion, sage ich Ihnen, auf, – mein Gott! dachte ich mir: der Vater beschäftigt im Amte, die Mutter in Kochberg, – sie ist leidend, man sah sie im Winter fast niemals bei Hofe, Herr Herder, mir jüngst begegnend, hatte die Güte, mir anzuvertrauen, daß ein neuralgisches Leiden . . .«
»Die Arme! Noch immer?« Fast herausfordernd, mit trotzig voll offenem Blick, maß Goethe vom Bild weg den Redner. »Wie ich das beklage! Es ist mir so wohlbekannt, daß Frau von Stein wenige gesunde Tage im Jahr genießt. Das macht dieses elende Klima von Weimar. Die Leute da oben wissen ja gar nicht, daß es auf der Welt auch einen Platz gibt, auf dem man nicht ewig Zahnweh und Reißen hat. Sahen Sie etwa« – mit einem Satz war er vom Sessel herunten, im Nu folgte Krantz – »sahen Sie etwa jüngst Frau von Stein?«
Als ob der Boden unter ihm ins Schaukeln geraten wäre, antwortete Krantz mit völlig zerbrochener Stimme: »Einen Tag, ehe ich reiste. Bei Frau Herder.«
»Und? Wie sah sie aus?«
»Sehr verändert. Gealtert . . .« Entsetzt fuhr der Konzertmeister auf. Weiß ward sein Gesicht. »Das heißt, ich wollte sagen, . . .«
»Fritz!« rief Goethe mit unerträglich lauter Stimme und drückte blitzschnell die Klinke der Tür hinter seinem Sessel auf. »Fritz!«
»Mißverstehen Sie nicht, Exzellenz!« Die Hände rang Herr Krantz. »Ich wollte sagen: leidende Menschen, insbesondere leidende Frauen . . .« Da ließ er die Arme sinken. Ein Wirbelwind hatte die Tür aufgestoßen und wie eine lichterloh brennende Fackel stürzte ein Bursche herein. »Was rufen Sie denn mich? Wir rufen seit einer halben Stunde ja Sie! Das Fuhrwerk ist unten und alle schon droben! Schnell! Avanti! Prestissimo! Wir versäumen ja die prächtigste Stimmung!«
»Das ist Fritz!« stellte Goethe, den Arm um Bury geworfen, vor. »Ein grandioser Künstler, und noch grandioserer« – jäh, inbrünstig küßte er Bury – »Liebling.«
»Ich habe,« würgte Krantz, mitleidlos in die Türe zurückgedrängt, hervor, »diesen Bund Briefe da Euer Exzellenz abzuliefern. Der oberste von allen dürfte, mein' ich, von Frau von Stein . . . ..«
»Lieber Krantz!« Fröhlich nahm ihm Goethe die Briefe aus der Hand; fröhlich warf er sie auf das nächstbeste Tischchen. »Sie machen uns heut abend ein bißchen Musik? Was? Und wir kredenzen Ihnen dafür soviel vino da Castello, daß Ihnen ganz Deutschland in dieser Nacht wie ein Berg von der Seele fällt? Recht so?«
»Ganz Deutschland, Ihr alle, und alles;« schrieb Krantz eine Stunde später mit jammernder Feder von seiner Herberge an der Ripetta aus nach Norden, »ist ihm von der Seele gefallen! Er weiß nichts mehr! Hat alles vergessen! Ist uns völlig verloren!«
»Dieser Krantz,« sagte Goethe hingegen, als das Gefährte weit überm ponte Molle draußen in den Sonnenbrand des wolkenlosen Mittags hineinfuhr, »ist eine biedere Seele. Ihr müsset gut zu ihm sein! Wisset doch, wie uns Deutsche die panische Furcht anweht, sobald wir das Rathaus der Heimatstadt nicht mehr erblicken. Wir sind so.«
»Sie nämlich!« jauchzte Bury, die Hand verliebt in der Goethes. »Sie sind so!«
»Der Frechdachs!«
»Seien Sie Alkibiades und lassen Sokratem drei Monate lang in Sizilien bleiben! Jetzt, da ich Sie wieder habe,« – kein Kind konnte eigensinniger aufbegehren als Bury – »nicht einen Schritt mehr lasse ich Sie fort von mir!«
»Er ist besoffen von unlauterer Liebe, Herr Geheimerat,« knurrte Schütz und klopfte den Ranzen, den er sorglich zwischen den Knieen hielt. »Sollen wir ihm nicht mit einem Rebhuhn das Maul stopfen? Er wird sonst zu üppig.«
»Sorakte!« erklärte in seiner einsilbigen Weise Meyer; wies mit der Hand, als ob sie den Kontur gleich in der Luft nachreißen wollte, nach dem links nahekommenden Berge.
»Ist er eigentlich blau oder rot?« Mit halb zugekniffenem Auge, ängstlich, schaute Goethe. Der Berg hob sich als schräg ragendes Dreieck vor dem gleißenden Westhorizont in den Feuerregen des Himmels. In fleischfarbener, schneeloser Nacktheit starrte die Kahlheit der Felsen.
»Ich würde etwas Karmin mit Neutraltinte mischen,« meinte Meyer nach langer Prüfung.
»Und die schattenlosen Flanken?« höhnte Schütz.
»Und der Gegensatz zur umstreichelnden Luft?« stimmte Goethe lebhaft zu.
»Und Nausikaa?« platzte unverschämt Bury drein. »Das Nest, das schon gefunden ist?«
Schütz sah nur, wie der Mann neben ihm verzerrt aufzuckte. »Ganz richtig!« beteuerte er grimmig. »Der Sommer? Die Hitze? Das Flimmern? Die Betäubung? Das macht Hackert mit Neutraltinte und Karmin, und bekommt Leichname heraus!«
»Vielleicht – anstatt Neutraltinte Preußisch-Blau?« riet aufs Bedächtigste Meyer.
»Es ist zum Irrsinnigwerden!« Zappelig riß sich Goethe von Bury los. »Da glaubt man: jetzt hab ich's. Und hat es erst recht nicht! Wir machten das nur die Alten? Meyer!«
Aber Meyer, mit seiner ruhigsten Stimme, antwortete: »Da ist der Weg, den ich zu führen vorhabe. Ferma, Gigi!« Und da, als sie nun ausstiegen und in den Weg hineintraten, erblickte Goethe Moritzens Auge. Schnell nahm er ihn an die Seite. Aber aufgeregt begann nun Bury zu singen, zu tänzeln, zu fragen; tausend Fragen; immerfort an Goethes Ärmel. Hinten, ebensolang, als Bury dies Manöver, das Moritzen von Goethen wegbeißen sollte, fortsetzte, stritten Meyer und Schütz. Schütz, dem der Ranzen den Schweiß auspreßte, wollte, daß man sich niederlasse und endlich frühstücke. Meyer beharrte eisern: »Sobald das Motiv gefunden ist!« – »Welches Motiv, zum Teufel?« – »Das Motiv des Lebens anstatt des Lebens selber!« grinste Bury zurück. – »Ich pfeife auf Motive! Überall ist ein Motiv!« – »Aber man wählt das bedeutendste!« – »Vernunftkunst!« – Gleich darauf aber, unvermittelt, sprachen sie wieder wie Brüder. Wie Gleichgültige. Sanft, ohne Erregung. Ebenso plötzlich jedoch von neuem klang Stich gegen Hieb, Wut gegen Trotz. Geduldig lächelnd hörte Goethe. Gespannt aber behielt er Moritzens Miene dabei im Auge. Moritz hatte bis nun geschwiegen. Aber mit einem Schlag schwiegen auch die andern. Eine Kirchenglocke hatte aus der Ferne geläutet. Mit unheimlicher Plötzlichkeit, wie in Staub zerpulvert vom Hammer des siegenden Mittags, schwieg sie. Und nun schien es, als ob der grasige Weg mitten zwischen zwei sengenden Fernen liefe, traumundeutlich und schwankend. Zügellos begann sich die Tiefe des fast weißen Himmels über der zauberhaft verwandelten Landschaft aufzuspannen. Im Dampf der Glutwelle, die sich jäh emporwälzte, versanken die Sabinerberge, alle Existenzen zusammenschmelzend wogte die Flamme des Südens auf, wie ein erschreckend stiller Urwald von flimmernden Brandsäulen raste der Westen. Unwirklich aber wälzte sich der Tiber durch den Rausch dieser Orgie. Hügel, deren Bögen sich immer wieder auflösten, tauchten zu seiner Rechten auf; bald dämonisch nahe, bald phantastisch ferne die Riffe des Sorakte zu seiner Linken. Während die Weideteppiche, Altwässer, Eukalyptusgruppen, Hütten, Herden, Sandbänke der Erdflur in magischer Bewegung unter den Füßen der Verblüfften hinwegrollten und rollend mit der völligen Unbestimmbarkeit ihrer Farben und Formen ihre Augen behexten. »Moritz,« rief Goethe, wie aus dem Bewußtsein, Fieber über den Leib rieseln zu fühlen, »nun erzählen Sie uns von Demeter! Hier ist Raum für Demeter!«
»Nein!« stampfte Bury in den Boden – es war allen Wohltat, zu erkennen, daß ein Menschenfuß noch in den Boden stampfen konnte – »nicht von Demeter! Von Eros!«
»Triptolemos,« wollte Moritz gerade beginnen, – da erschien ein eigenartiges Glänzen auf seinem Gesichte. »Pan!« rief er durch die schnell gehöhlten Hände in den Hang der Steineichen hinauf, die mit wahnhaftem Atem zwischen schillernder Weide und flackerndem Himmel schaukelten. »Pan! Pan! Wo bist du?«
»Wo bist du?« kam schnippisch ein Echo zurück.
»Komm herab, Pan!« rief Moritz noch verwegener. »Zeige dich uns Verwirrten! Wir erwarten dich! Komm herab, Pan!«
»Komm herab, Pan!« spottete das Echo. Und als ob ein Blitz niedergefahren wäre, stoben die fünf Männer auseinander. Ein wildes Gebrülle, das die wellende Luft wie mit Peitschenschlägen zum Wüstenwind anwehte, stieß aus dem Schilfrohr vor ihnen. »Komm herab, Pan!« wiederholte wie aus auf ewig versunkenem Altertum das Echo, in tausend Rohren gebrochen kreischte das Schilf, mit tollem Beben ertönte die Erde; und, Glotzauge über den brennroten Dampfnüstern, sprang der Büffel aus der Fessel des Schlamms. »Weicht nach links aus!« rief Goethe, »Nimm deinen Knüppel, Bursche!« schrie Schütz Bury an, »und hau zu!«, der eine sprang rechts aus, der andere lief den Weg weiter, der dritte umklammerte in bewußtloser Drehung den nächstbesten Baum, – da: Trompetenstoß, und mit wütend geducktem Schädel, die Gabelhörner wie Säbel der Luft entgegengeschleudert, stürzte das Tier durch die letzten Schäfte, erreichte die Flur, schüttelte den Schlamm vom Riesenleib und brach in gestreckter Hatz nun talaus.
»Es war natürlich Pan!« lachte Schütz – befreit atmeten sie auf – und ließ sich, daß die Erde dröhnte, ins Gras niederfallen. »Aber auch wenn man mir jetzt die zehn Rappen des Prinzen Colonna vorspannt, ich bleibe da sitzen und frühstücke.«
Als ob sie aus einem Traum erwachten, wortlos, sahen sich die Vier an.
»Herr Geheimerat,« lockte Schütz tückisch aus der Tiefe, er löste bereits kunstfertig die Schnüre des Ränzleins, »vorerst ein leckeres Sardinchen aus Ostia? Oder von der Zunge des Rindviehs von Paestum?« Und mit wollüstig gekniffenem Auge blinzelte er: »Den Büffel können Sie ja doch nimmer zeichnen!«
Eigentümlich bleichen Gesichts und eckig trat Goethe von Bury weg und legte dem Gierigen die Hand auf die Schulter. »Steh auf! Oder frühstücke allein! Es ist noch nicht Zeit!«
»Wann – wird es denn Zeit sein?«
»Es ist noch nicht Zeit, sage ich!« wiederholte Goethe schnaubend. »Verstehst du?«
Mit einem Fluch schnellte Schütz empor; stürzte Meyern in den Weg, der beifallinnig Goethen eben folgen wollte. »Weil er wieder einen neuen Teufel im Leibe hat!« stieß er giftig hervor und drängte spielend den zarteren Schweizer zurück. »Was kehrt er denn um in Sizilien, wenn er noch immer nicht erfahren hat, wer er ist; was er will? Grundrisse reißen, Gemmen abpausen, Sphinxe nachzeichnen, Farben mischen, Rötel, Kohle, Bleistift probieren, Tusche, Sepia, Aquarell, Pastell, Tempera, Öl und Enkaustik, – er ist ja verrückt! Keinen Schritt mehr tun kann er, ohne ein »Bild« zu sehen und sich einzubilden, er müßte es zeichnen, malen, in Kupfer stechen!« Wild funkelten die weingetäuschten Äuglein aus dem schweißnassen Gesichte. »Früher hat er die Sachen angeschaut und ist zufrieden gewesen damit, daß er sie anschauen kann und ein Dichter ist, – und obendrein noch der Goethe! Und jetzt? Wie wir neulich vor der Transfiguration standen,« – die Arme ließ Schütz sinken, karikatursüchtig veränderte sich die derbe Gestalt – »was hat er getan? Bury, hat er affektiert gerufen, schnell! Halte das Blau von dem Tuch da fest, dieses Blau muß gemerkt werden! – Und wer ist die Schuld daran? Sie!« Und weil Meyer darauf nur noch verwirrender schwieg und Goethe vorn nur noch ungeduldiger dahinschritt, ward seine Stimme grob, seine Gestalt voll Drohung, empört kamen die roten aufgeblasenen Backen ins Zittern. »Jawohl! Sie! Schuster, bleib bei deinen Leisten, sollten Sie ihm jeden Tag tausendmal zurufen und, wenn's notwendig ist, handgreiflich werden und ihn von seinem Reißbrett zum »Egmont« zurückjagen und ihm die Augen« – den linken Zeigefinger prall auf der Stirn: »diese verblendeten Augen aufreißen und klar machen, daß es sinnlos, ja ein Verbrechen ist, Maler werden zu wollen, wenn man ein Dichter ist! Oder – haben Sie schon eine einzige richtige Zeichnung von ihm gesehn? Eine einzige vernünftige Farbe? Ich nicht. Er trifft's nicht. Er hat's nicht. Er schmiert nur!«
»Einen Menschen wie ihn« – ganz leicht machte Meyer seine Hände frei – »muß man wohl nach seiner Fasson selig werden lassen?«
»Ja, wenn es Fasson ist! Aber das ist gemeiner Dilettantismus!«
»Meyer!« rief da Goethe von vorne zurück.
Aber glücklicherweise hörte Meyer nicht. »Geben Sie zu, Exzellenz,« fragte also Moritz beherzt weiter, :»man sehnt sich am meisten immer darnach, was man, seiner Natur nach, nicht haben kann? Oder?«
Aber Goethe nickte nur. Hand in Hand mit Bury, der wie ein übervoll Liebender übervoll schwieg, ging er wortlos mit gesenktem Gesicht unentwegt weiter.
Fragend starrte Moritz in die Glut hinaus, die sich nur langsam, mit allen Qualen der Wiedereinfügung, aus dem Rausch in die Gesetze der unmerklich absteigenden Sonne zurückband. Warum, warum überkam ihn die Ahnung vom Tode gerade heute? Mußten seine Augen gerade heute so urklar erkennen, daß diese anderen, die da mit ihm wanderten, gesund waren, ohne Gedanken an Kranksein und Sterben, und er ein Gezeichneter? Und daß ein Heimweh in seiner gewaltsamen Seele drin klagte, das, klagend, nicht wußte, woher es kam, und jammernd nicht ahnte, wohin es zog? »Der Unkeusche,« sagte er plötzlich scheu, »sehnt sich nach Reinheit. Der Zusammengesetzte nach einem Bauerngemüte. Der Untätige nach Tätigsein. Der Rastlose nach Ruhe. Der Kranke nach Gesundheit. Je länger ich an meiner Götterlehre arbeite, um so klarer erfasse ich's: aus dieser Sehnsucht nach Gesundheit heraus warf ich mich in dies Feld. Nur deshalb.«
Aber wieder nur nickte Goethe.
»Wenn aber« – die ganze unselige Zwiespältigkeit seiner zerrissenen Seele erschien auf Moritzens leidendem Gesichte – »wenn aber die Antike gar nicht so war, wie wir uns weißmachen? Die Alten, zum Beispiel, selber sie gar nicht als gesund, einfach und natürlich empfanden? Vielleicht bilden wir uns nur ein, daß schön wäre, was wir von unserer Natur aus nicht haben können? Sagen Sie! Bitte, was meinen Sie?«
Aber Goethe sah nun scharf geradeaus und antwortete nicht. Vor ihm, als Abschluß des Tibertals, das sich in sonngebleichter, nur allmählich wiedererwachender Grüne weit empor dehnte, und eingefaßt von seinen keilförmig nach Süden ziehenden Flanken, stand die Reihe der nördlichen Bergzacken blau unterm tiefblau rückstrahlenden Himmel. Unter der erdnahsten Bläue dieses Himmels aber, auf einer Hügelwelle zwischen den zwei höchsten Hebungen, die Zinnenkrone einer mildroten Kastellstadt.
»Wenn aber wahr wäre, was ich vorhin sagte,« – noch einmal, gepeinigt, wagte sich Moritz hervor – »daß uns, nämlich, der Gegensatz anzieht, – warum lieben dann Sie die Alten so sehr, Exzellenz? Sie sind ja gesund?«
Aber Goethe, gerade weil er restlos erriet, was in dieser ewig gespalteten Brust drinnen vorging, mit einer unmißverständlichen Handbewegung lehnte er ab. Ausgetobt, in reichen Wellen, die von der Höhe des Himmels niederfluteten, von der geküßten Erde wieder aufstiegen, gelandet in der Mitte der unermeßlichen Kuppel nach allen Seiten hin wieder auseinanderflossen, bebte die Luft. Wie hinter Schleiern aus flüssigem Glase traten die Formen der Erde in die immer gefestigtere Fülle des Lichtes zurück. Die Nähe schien ins Unendliche hinausgerückte Ferne, die Ferne symbolische Wahrheit. Über alle Farben, die gierig wieder auferstanden zum Leben, goß sich von der schon gemilderten Herrschaft der Sonne herab der diamanthelle Strahl, der die Bläue entweltlichte, die Baumgruppen in sie hinein auflöste, die Fluren in unzählige Teile aller ihrer Farbenelemente zersetzte und zum vollkommensten Mosaik all dieser Elemente wieder zusammenband. Die rote Kastellstadt im Norden verlor unter dieser Zauberei des Lichts ihre Menschen, die trübe Woge des Tibers zwischen Schilf und sehnsüchtig ins Weite greifenden Hügeln die Last ihrer Historie. Eine papageigrüne Wiese, die sich zwischen den Steineichen des Wäldchens mit Schwung in den Azur des Ostens hinüberbog, schimmerte in zerfließender Lust, das Glimmen ihr gegenüber in den Niederungen des Westens, darüber die Lohe des Lichts wie rinnendes Silber träufelte, seufzte in träumender Sichaufgabe. Während das Auge des Menschen erschrak vor der Majestät dieser Wandlung, sich verschloß vor dem Geheimnis der Schönheit, das immer unlösbarer, unfaßbarer, uneinfangbarer sich verhüllte.
»Meyer!« rief Goethe wie um Rettung noch einmal.
»Was wäre es mit der Mühle da drüben, Herr Geheimerat?« antwortete rasch die ergebene Stimme.
Ohne zu überlegen griff der Untröstliche zu. Die Mühle, nichts mehr als eine Hüttenwand mit zwei darangelehnten marmornen Mahlsteinen, über denen eine Hecke schreigelben Ginsters hing, stand hundert Schritte vor dem Tiberufer. Hier war seit Jahren nicht mehr gemahlen worden. Wie mit Pfeilen schoß die Sonne in die vielscheckige Goldleuchte der Wand ohne Nebenwände und Dach. Der Geruch von heißgestrahltem Stein, die Wolke von Ginsterduft und der Atem eines Sinns, der sich nur ahnen, nicht erfühlen ließ, umnebelte wie mit Tarrennetzen die Antlitze der Mahlräder, der Blüten und der Blätter. Der Schatten, der nur in schmalen Strichen unter den Formen saß, war ohne Wesen und Klarheit, konnte nur noch vorgeben, daß hier Dinge standen, die dem Tag, dem Leben, der Welt angehörten. Denn die Allmacht des Lichts, die aus den Dingen rann und um die Dinge herum wie fließende Zeit und wie strömender Raum rollte, entkleidete sie aller Körperhaftigkeit und Gewißheit. »Es geht nicht, Meyer!« seufzte Goethe nach einer Stunde süchtigster Arbeit. »Es wird nichts!« Geduldig beugte sich Meyer über den heißgebrannten Rücken. »Doch!« sagte er bestimmt, »die Zeichnung ist rein, die Abmessungen stimmen. Nur hier vielleicht, wo der Stein mit den helleren Hintergründen zusammentritt, . . .« – und schon zog er die mißratene Linie ins Gemäße. »Ja! Jetzt!« Böse begehrte Goethe auf. »Wenn Sie das Maßgebende machen und nicht ich! Gib her, Fritz, und zeige!« Und im Augenblick ward sein Gesicht verzerrt; unglücklich. Frech, gleichgültig, einer viel herztieferen Sorge als seinem Blatt hingegeben, lächelte Burys glühendes Gesicht neben der verzweifelten Miene. In unbekümmertem Zug, mit zehn, zwölf Pinselstrichen hatte er die Mühle aufs Papier gesetzt; damit aber nicht die Mühle malen gewollt, sondern die rote Kastellstadt, wie sie unter dem tiefblauen Himmelsbogen mit sanft brennender Zinne über der kaum angedeuteten Masse der lichtbesessenen Mühlräder glomm. »Das heißt, um das Thema herumgehen!« tadelte Meyer sogleich. »Denn das Thema war: den Charakter dieser Landschaft in dieser Mühle hier aufzeigen, peinlich an diese Mühle sich haltend . . .«
»Mühle!« klang's da verächtlich von der Seite herüber. Schütz saß pinselnd auf einem Raine, mitten im Scharlach des Mohns. »Mühlen malt man in Deutschland. Kommen Sie hieher, Herr Geheimerat, und machen Sie sich an diese Bäume!«
»Nicht um die Welt, Herr Geheimerat!« befahl Meyer bestimmt; rasch hatte die schweizerische Ruhe sein Gesicht verlassen. »Es heißt: ringen mit dem Engel des Herrn. So schnell ergibt er sich nicht.« Und im Nu schob er ein neues Blatt auf das Brettchen. »Ging's zum erstenmal nicht, geht's zum zweitenmal. Mutig!«
Aber es ging auch zum zweitenmal nicht! Die Hände an den Schläfen, außer sich, sprang Goethe auf. »Sie segnet mich eben nicht! Sie mag nicht!« Und mit einem Satze war er hinter Schütz. »Dieser Meyer,« murmelte Schütz im Malen zufrieden vor sich hin, »nimmt die Angelegenheit zu ernst. Da stehen diese Bäume: graublaugrüne, von der Sonne goldversilberte – was lachen Sie? finden Sie einen besseren Ausdruck? – goldversilberte Rüstern mit zerklobenen Stämmen, in deren Höhlen Räuber Platz haben und Eulengeschlechter. Dahinter und davor dehnt sich die Weide, buckelauf, muldenab, auch goldversilbert, um die Bäume herum aber mystisch-schattig, – so etwa? Durch die Zweige hingegen und über den Kronen und rings um ihre Bögen flittert und flattert diese verdammte« – kokett bog er den Unterarm senkrecht gegen den Oberarm und schmierte ein unbestimmtes Glanzblau über das schon Gemalte – ». . . vermaledeite, unmalbare, römische Luft. Was?« Und mit Genießerblick zog er den Neidischen näher. »Einfach probiert ist's. Nicht lang nachdenken, ob rund oder halbrund oder spitzig oder eckig, sondern hinein in die Farbe und drauf losgepinselt! Wird's was, so wird's was; und wird's nichts, ist's auch kein Malheur. Nur Bewußtsein, und – Freiheit!«
»Freiheit,« sagte Meyer trocken, »ist Schwindel beim Malen!«
»An der Linie kleben,« erwiderte Schütz schlagfertig, »Pedanterie!«
»Pedanterie aber« predigte Bury voll Salbung – er nahm eben den Sorakte von hinten – »ist Gewissenhaftigkeit. Seien Sie nur recht gewissenhaft, Herr Geheimerat!«
»Moritzchen,« flüsterte Schütz, dieweil Goethe bereits in neuer Mühsal stumm-starrköpfig vor dem zuschauenden Meyer schwitzte, »Professorchen, sind Sie nicht durstig?« Ein schlaues Siegerlächeln stand um seinen Mund. Gewandt war er vom Mohnscharlach des Rains in die tiefere Lust violettblauen Klees niedergerollt., mitsamt seinem Ranzen. »Moritzchen?' lockte er noch einmal. Und wahrhaftig: auf allen Vieren, endlich, kroch Moritz ihm nahe. Er hatte den Rock abgetan; wie ein Affe sah er nun aus. Großknochig, schmalstirnig, mit Augen, die wie immer nicht wußten: sollten sie lüstern sein oder asketisch? »Jawohl,« – der Ranzen war offen – »jawohl,« rief Schütz gänzlich sorglos den Arbeitern hinüber, »es ist so und nicht anders! Die Natur ist die Natur, und bändigt man sie durch die Kunst, . . .«
Da hörte das Schweigen ringsum, wie aus der fest angesetzten Flasche der Castellowein Schützens Gurgel hinabrann.
» . . . und hat Glück dabei,« setzte er wonneschmunzelnd fort, »dann ist sie eben – wieder Natur.«
»Schütz!« Wie von der Tarantel gestochen, fuhr Goethe von seinem Blatt zurück. Das Blatt blähte sich, er glühte von plötzlicher Flamme entzündet. »Schütz! Woher, wie, was war das?«
»Der rechte Baum steht schief, Exzellenz!« erklärte Meyer, das Blatt zurückbiegend.
»Schütz!« wiederholte Goethe unablenkbar, Blitz in den hungrigen Augen. »Noch einmal! Sag er das nocheinmal!«
Aber Schütz wußte es nicht mehr. Beim besten Willen nicht mehr. Kraftlos langte er ein Brot mit Veronesersalami hervor, setzte nochmals den Fiasco an, und leerte ihn. Dann aß er bedächtig das Brot, sah stille zu, wie Goethe in bittersten Zweifeln sich über das Blatt zurückbeugte, hörte Meyern noch sagen: »in der Schattengegend kräftigeren Strich! Von links oben nach rechts unten! Und die Kronenbögen runder!«, setzte den zweiten Fiasco an, und ließ sich nun, als wäre alle Pflicht getan, der Tag erfüllt und nur noch fromm ergeben auf den morgigen zu warten, der Länge nach in den Klee fallen.
Als er erwachte, sah er die vier anderen beim Mahle sitzen. Schweigsam. Mit den großen Augen dieses bedrückten Schweigens blickten sie ihn an. Verwundert, mit Mühe Besinnung suchend, stützte er den weinschweren Kopf in die Hände. »Wo – sind wir?«
Aber keiner antwortete. Im Himmel über ihnen stand noch immer keine Wolke. Aber über die ganze Weite und Tiefe des Himmels, der das ungeheuer stumm gemachte Land in Wollust ohne Ende umarmt hielt, zog der Flügel des zittrigen Flimmerns, die Hummeln summten unsichtbar mit dem Flirren dieses Flügels, ein selig fürchtendes Rascheln trieb Halm an Halm, im Schilfe stöhnte klirrend das Rohr, die Goldsilberblätter der Rüstern zuckten verhalten, die Masse des Sorakte ragte in fahlem Blau gegen die Dämonie des weißen Südglastes, und die Kastellstadt im Norden lohte in der tiefblauen Zone ihres scheinbar verschonteren Himmels wie Sage.
»Hast du etwas gesagt, Fritzel?«
»Nein. Moritz hat etwas sagen gewollt.«
Moritz aber, mit bewußtloser Hand griff er ins Gras, das brannte und unter dem Griff zerfiel, und hob den Blick unter den mächtigen Brauenbüscheln empor. Ja! Was lockte so, drängte so, rief so unwiderstehlich aus der Ferne? Der Ferne? In prallem Atemzug bäumte die Brust sich. Den ganzen Leib schüttelte Schauder. Endlich, wie im Blitz einer Offenbarung, legte er sich platt in die Erde nieder, wühlte den Kopf in die Dürre der Hitze, riß mit tollen Fingern Büschel auf Büschel Gras aus: Wald war's, der lockte! Der rief! Wald, ach, der Heimat! Vor genau einem Jahr war das gewesen! Eine kleine Stunde über dem Städtchen. Die Dächer und Türme des Städtchens, die Marken und Zäune des grünen Lands darum glänzten in unschuldigem Morgen. Er aber und sie, Himmel und Hölle der Liebe vereint in den glücksbangen Busen, stiegen aus dem Glanz in das Dunkel des Waldes. Ungeheuer fest und wahr das Aufrechte der Tannen. Die Dickichte unerschöpflich voll von den Wundern der Verstrickung, Verbergung, die der einschießende Sonnenstrahl wechselnd für Sekunden aufzündete, so, daß die Netze der Spinnen erblinkten, die goldenen Reisigstäbe, das Sternmoos und das Dreiblatt. Was aber duftete so paradiesisch wie Garten? Und wie barg dies umspannbare Kreischen von Boden, das die Zweige ohne Wort rahmten, dem ein Stück Himmel wie Auge herabsah, die ganze Welt ihrer Seelen, – aller, aller Gemüter? »Diesen Weg waldauf« – ein kaum erkennbarer Weg führte steil durch die Finsternis lichtempor – »will ich gehen,« hatte er plötzlich gesagt. »Er lockt mich. Du willst nicht?« – »Glaubst du,« hatte das Weib geantwortet, – o dies strahlende Lächeln im Stolze der Einheit! – »daß ein Weg, der dich lockt, nicht schon deshalb mich lockt, weil er dich lockt?« Und da sah er die Wolke des Abschieds sich niedersenken aus dem Auge des Himmels. Letzter Weg, dieser, durchs Geheimnis der Liebe des Waldes an der Brust der Geliebten! Und dreifach erhaben in der Wonne ihres Unberührtseins von den Krämpfen der menschlichen Seele, träufelten die aufrechten Bäume nun die Reinheit ihrer verschwiegen-erfahrenen Sinne. Öffnete sich die Seele des Taus auf den Leibern der Gräser mit allen Demuten der Nacht und allen Hoffnungen des Erwachens. Brachen gerne unterm zögernden Schritte die Reiser und entschwebte verstehend die Stille hoch waldauf in die geborgene Mulde der Wildblätter, die neben dem Gemurmel unsichtbarer Quelle brennend der Strahl überfloß. Und da, jäh nach dem ersten Tappen in Duft und in Dunkel, schlang er das Weib an sich. Ganz. Mit dem vollen Wissen der Vermählung. »Bin ich nicht gerade so groß,« flüsterte das Weib in der unlöslichen Kette seiner Arme und ihrer Arme, »daß ich wie eine Ranke . . .?« – »Sieh,« hatte er, furchtbar klopfenden Herzens erwidert, ihr Gesicht mit den schwarzen Haaren tiefst zwischen Wange und Schulter, »heute muß ich von dir gehen. Denke morgen, denke an jedem Morgen daran, was ich heute dir sage. Ich habe mich zerlitten am Heimweh nach dir; einmal, dachte ich, müßtest du nimmer dich lösen können von meiner Brust, alles hinwerfen und jubelnd entschlossen zu Schande, Armut und Tod dich an mich hängen, – mit diesem Lächeln im Stolze der Einheit! – um mit mir zu wandern, nicht mehr trennbar, durch die Wunder der Waldnacht in eine Mulde von Licht in der Höhe. Denn siehst du: zwei Wesen sind in der Brust des Mannes, und nur eine solche Tat des Weibs, das er liebt, vermag sie zu einen . . . . . .«
»So oft diese verflixte Stunde des Nachmittags kommt in diesem römischen Lande,« sagte da Schütz heiser, denn ihm würgte die Kehle der gleiche Zwang, »überfällt mich das Heimweh!« Scharf blickte er Bury an, der geschlossener Augen zärtlich an Goethen lehnte; Meyern, der unbewegt Goethens letztes Blatt prüfte und zufrieden nickend für halbwegs geraten befand; fordernd wie Gegner den Gegner nun Goethen, der versiegelt aus der Umarmung des Jünglings in die unenträtselbaren Zauber der Stunde hinaufstarrte. »Jetzt in einem schwanken Boote den Main hinabfahren,« fuhr er noch heiserer fort, armselig stritt sein Gesicht gegen Tränen, »bei fächelndem Gegenwind an alten Barken mit Kohlrabi und Petersilie vorbei, die Türme im Auge, und die Glocken im Ohr, und die Hand tief drunten in der strömenden Flut! Und an den Rhein dabei denken, der uns besser kennt als wir wissen, – auf einmal aber ans Ufer! Wo es hauslos und waldnah ist. Das Boot heraufgezogen, angebunden, und jetzt – Tannen! Moritzchen!« Kindhaft erschrocken schüttelte er den Mann, der da platt auf der Erde lag. »Ja, was ist denn? Du weinst ja?«
»Hm,« machte Goethe vernehmlich; trotzig ward sein Gesicht, absichtlich hingebender legte er sich in die Umarmung des Jünglings.
»Tannen! Was, Moritz?« Schamlos sehnsüchtig und aufreizend klang nun die heisere Stimme. »Moos, das nach Quelle riecht! Quelle, die nach tiefer, schwarzer Erde riecht! Farnkraut, das vom blauen Himmel blinkt, – und nun: Tannen, die rauschen im Winde!« Wild fuhr er auf, mit Dolchblick durchbohrte er Goethes dunkelbleiche Miene. »Eigentlich – sind wir Verräter am Vaterlande! Jawohl!«
Meyer, als ob plötzlich die blaue Tafel des Züricher Sees vor seinen Augen erschiene, blinzelte und ließ Goethens Blatt sinken. Moritzens Leib im Boden, gepreßt von der Angst vor jeder weiteren Erinnerung, rührte sich nicht mehr, obwohl jeder Blutstropfen »Du!« schrie, »du, verratene Heimat!« Bury hingegen, in den Armen, die immer werbender, stachelnder umschlangen, – wie ein helles Schiff, das in froher Fahrt auf hoher See all seine Träume von Leben erfüllt sieht, weil die ewig bringende Woge um seinen Leib rauscht und die Winde aller Welt um seine Masten spielen, glänzte in der Vollust der erfüllten Sehnsucht. »Mein Vaterland,« stieß er überlaut wie ein ungebetener Bekenner heraus, »ist dort, wo ich mein Herz unterbringe. Denn die Seele braucht Speise. Ja Speise! Viel Speise! Immer neue Bilder, neue Plätze, neue Lüfte! Reich will sie sein, ganz tief atmen können und jeden Abend wissen dürfen: morgen ist noch ein Wunder zu holen. Höhepunkte! Abgrundtiefen! Das Leben ist nicht die tägliche Ration. Ich hungere mit Wollust im bangsten Heimweh, um mich morgen wieder in die Gipfel der Freude hineinzuspielen. Ihr seid Philister!«