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Klein und unscheinbar erschien der Fremde, wie er, unter der erhabenen Höhe, neben der Jungfrau heranschritt. Einherschritt, den Blick wie gezogen durch die offenen Fenster auf die rauschende Ferne des Meeres gerichtet. »Hm«, machte in der Nische der Hausherr – er hatte die Hand im Barte – endlich, weil dies abwesende Schreiten nicht endete. Da kehrte der Blick des Fremden entschlossen zurück. »Ich habe,« sagte er langsam, würdevoll, nachdem er die zögernd gereichte Hand der Matrone ehrfürchtig geküßt hatte, »eigennützig, wie ich auf dieser Reise bin, die Gunst herausgefordert, in dieses erste Haus von Girgenti den Fuß setzen zu dürfen. Ich habe eine Mutter zu Hause, die jeden Gast, den ihr Sohn auf der Gasse aufliest, heiter empfängt. Nehmen Sie, bitte, den Gast, der dieser Sohn selber ist, gnädig auf – im Gedenken an seine Mutter!«
»Hm«, machte der Hausherr in der Nische, »das war gut gesprochen!«
»Ein Sohn muß niemals fürchten, abgewiesen zu werden,« antwortete mit raschem Lächeln die Hausfrau, »wenn er zu einer Mutter kommt im Gedenken an seine Mutter! Sieh nach, Maria,« – ihre Stirn war nun hell, im Gemüt keine Angst mehr – »ob Don Carlo etwa schon gekommen ist?«
»Es ist das Lieblichste,« lächelte der Fremde und sah dabei unverhüllt zärtlich der Jungfrau nach, »auf einer Reise durch fremde Länder, die weit wegführt von allem Ererbten, Erworbenen und Angewöhnten und anzeigt, wie ohne Grenzen groß die Welt ist und wie sie Platz hat für jede Wahrheit und jeden Irrtum, immer wieder das feste Haus zu finden, das sichere Nest, von dem aus allein sie besessen und genossen werden kann!« Freudevoll lief der Blick über die freudig Getroffenen hin durch den Raum. »In einem Lande, das so weit entfernt ist von meinem Gestade, – allen Gestaden meiner bisherigen Fahrt – ein Haus der maßvollsten Schönheit zu finden, umgeben von Gärten und Sichten, die sich nicht wiederholen auf Erden, und darinnen ein würdiges Paar, eine seltene Tochter . . .«
»Maria ist ein gutes Kind!« sagte der Hausherr, aufrecht im Dunkel nun und mit großem Ton.
»Sie kam Ihnen entgegen,« lächelte errötend die Mutter, »wie einem Bekannten?«
»Sie kennt mich.«
Als ob der Blitz eingeschlagen hätte, fuhren die Alten empor. »Wieso? Seit wann? Wo – geschah es?«
»Hinter Palermo. Vor etwa zwei Wochen.« Ja! Nur nieder, nur nieder ohne Versäumnis mit der heimlichen Mauer, die das Mädchen zwischen ihm und den Eltern aufgebaut hatte! »Unterhalb von Miracolo. Am Flüßchen Oreto.«
»Sie hat uns,« flüsterten, nach ewiger Pause, mit einer einzigen todbangen Stimme die Alten, »kein Wort davon gesagt!«
»Und es war abgemacht,« fragte nach dem zweiten, noch bangeren Schweigen mühsam gebändigt der Hausherr, »daß Sie hier . . .«
»Ich schwor, daß ich, nach Girgenti gekommen, am Hause ihres Vaters anpochen würde.«
»Sie ist noch ein Kind!« seufzte die Mutter; mit beherrschtem Schritt ging der Vater zwischen den Säulen auf und nieder. »Rasch und unerfahren.«
»Und uns ferne!« setzte heiser der Schreitende hinzu.
»Es ist das schwerste Los der Eltern,« begann ohne Scheu der Fremde und sah bittend zu beiden empor, »erst zu ahnen, und dann zu wissen: daß die Kinder ihre Geheimnisse haben. Aber das Recht der Kinder, diese Geheimnisse zu bewahren! Zürnen Sie doch dem Mädchen nicht, das mir gerade in der Sekunde, da ich zum erstenmal die Küste der Heimat aufdämmern sah aus den Nebeln der Irrfahrt, wie das Symbol dieser Küste erschienen ist! Sie hat mir wohlgetan! Unsäglich Gutes getan! Ist das Unrecht?«
»Kinder hegen in ihren Geheimnissen gefährliche Träume!« fuhr der Hausherr rauh auf; es war nicht mehr zu verhindern, daß er das tiefste Geheimnis dieses Hauses vor dem Fremden enthüllte. »Und junge Männer, auch wenn sie mit der Frucht dieser Träume nichts zu schaffen haben wollen,– sie widerstehen doch nur selten der Verlockung, der Sinn dieser Träume zu sein!«
»Und wenn ich auch widerstünde!« Hell stand der Fremde auf; wahrhaft strahlte sein Blick. »Wird ihr Traum, ihr Geheimnis darum schwinden? O, ich begreife! Verstehe Sie gut! Nur zu gut! Aber –« Tapfer trat er vor, furchtsam abwehrend wichen die Bangen zurück. »Einmal lebt jede Kreatur ihren Traum! Ihr Geheimnis! Ob die Nächsten es wollen und wissen, oder nicht! Ohne je Flamme gewesen zu sein, die ausbricht und, ausgebrochen, brennt, bis sie ausgebrannt niedersinkt in den Rest dieses Brands, in den Rauch der Erfahrung, geht kein Leben zu Grabe! Wissen die Eltern das nicht?« Hart trat er den Zitternden unter die Augen. »Und wenn Sie es wissen: warum nicht den selbstsüchtig kleinlichen Willen entschlossen töten, der – gesehen vom Ende aus – doch nur vergeblich aufzuckt gegen die heiligste Begierde des Kindes, sich selbst zu erleben? Und ihm, weise, erlauben, lieber seinen ersten Traum zu vollenden, als den letzten? Denn, so gewiß, wie daß ich da stehe, ist das Eine: stirbt es am ersten, – dann, ebenso unabwendbar, nur mit der Folter der unzählig getöteten früheren, wäre es gestorben am letzten!«
»Ja, so redet, wer nicht mitstirbt!« kam es erstickt aus der immer dämonischer umsponnenen Brust des Vaters. »Wer davongeht! Verschwindet!«
»Und wenn ich verschwände?« Mit unerbittlicher Gewalt legte der Fremde beide Hände auf die Schultern des Vaters. »Was ist Glanz gegen Licht? Was, einmal erfahren zu haben: einem Zweiten verhalf ich zum Leben, gegen die Brosamenweisheit: neunzig Jahre werde ich rüstig vollenden, weil ich mich niemals bedingungslos hingab?« Und zum zweitenmal, weit, streckte er die Hände aus und noch voller von jauchzendem Mitgefühl für alle Kräfte des Wirkens klang seine Stimme. »Wenn sie entdeckt, – was sie nie sonst entdeckte! – daß dem Menschen kein Meer und keine fremde Zunge den Menschen versperrt, dem er – wie früher nur die Götter – zu helfen vermag? Die Wonne des Bewußtseins erfährt: daß da einer Jahrzehnt um Jahrzehnt ruhlos auslauerte nach dem Nest, das ihn zwingen soll, endlich zu werden, was er sein kann, und daß sie, sie allein ihm die himmlische Stunde des Findens verkörpert?«
»Also – hat er schon gefunden?«
»Aber, daß er gefunden hat, will er bewiesen sehen!«
»Ich – versteh nicht!«
Lächelnd mit dem reinsten Gesichte wandte der Fremde sich vom Mann weg zur reglosen Frau. »Lesen Sie nicht in den Gesichtern der Menschen? Und im Buche des Lebens? Können auch Sie nicht glauben, vertrauen, hoffen, – und verzichten, zu wissen, was nicht zu wissen ist?«
Ohnmächtig, als ob ihnen das Buch des Lebens vor den Augen strotzte, darin sie niemals gelesen, schwiegen die Frau und der Mann.
Und dennoch: was sie beschwiegen, war noch nicht das ganze Unheimliche, was, seitdem dieser Fremde da zwischen Tag und Nacht plötzlich zu reden begonnen, von den Wänden herab ihnen zufunkelte, aus den Schimmern des Terrazzo empor zumahnte und vom rauschenden Meer herauf zuflüsterte! Als ob ein Sturm sie aufrisse, tat sich die Tür auf. Und groß, wie sie bisher nicht gewachsen gewesen, in den Augen den vollen Wink des Schicksals, das ihr in einer einzigen Stunde die Herrschaft über dieses Haus verliehen hatte, kam die Tochter zurück. »Don Carlo kommt erst in einer Stunde, ließ er melden!« sagte sie, als ob die zwei Männer, die ihr demütig folgten, nicht auf der Welt wären. »Wir können zu Tisch gehen.« Auf fuhren die Eltern: was hieß das? Trotzdem: wirklich, zum erstenmal in diesem Hause, schritt man auf Geheiß der Tochter zu Tische. »Nein!« befahl sie unwiderstehlich – der Ältere von den zwei Mitgekommenen wollte an ihrer Seite Platz nehmen – »dieser Platz gehört unserem Gaste!« – »Ich warte,« fiel dieser schnell ein, ihn rührte das Entsetzen der Eltern, »auf den Befehl der Hausfrau.« Aber die Hausfrau vermochte nur mit halbgeöffnetem Munde ein halbverständliches Wort zu stammeln; hier war nichts mehr zu verbessern! Denn die Tochter, – diese Tochter sah, hörte und wußte von Vater und Mutter nichts mehr! Vom Hause nichts mehr, von seinen Freunden nichts mehr, von der strengen Gefügtheit der Sitte nichts mehr, die sie von Kindheit an wie ein Panzer geschnürt hatte. Es war ganz umsonst, daß Vater und Mutter immer errötender Blick auf Blick der Mahnung, der Bitte, des Tadels auf sie warfen; mit geflissentlich überfreundlichem Gespräche die zwei starren Freier zu täuschen trachteten. Sie sah, hörte und wußte nur noch den Fremden! »Maria,« brach endlich der Hausherr los, die Angst würgte ihm die Kehle, »Herr Prandini hat dich etwas gefragt!« Und in diesem Augenblick war das Unheimliche ganz da! Der Fremde, ehrerbietig, neigte sich der Matrone zu, lächelte unlesbar und sagte: »Herr Prandini und Herr Castro verdienen wahrlich die Freundschaft dieses Hauses! Ich suchte im Süden vergeblich solche Biederkeit männlicher Miene!« Aber die Verblüffung hierüber ward Schrecken, als er gleichmäßig fortfuhr: »Wie herrlich die Vielseitigkeit dieser Erde! Sie treibt Menschen hervor, die alle moralische Mühe dareinsetzen, die Begierde ihrer Person im Zaume zu halten, und solche, denen es wie nirgendwo anders so zum Recht wird, ihre volle Natur wie ihre größte Tugend frei auszuwirken!«
Aber bevor noch die rund aufgerissenen Augen der Freier die ratlosen der Eltern um Hilfe anglotzten, hob schon die Tochter ihren Blick, der erstrahlte wie Morgen im ersten Pfeil Sonne, ergriff den Kelch mit dem Weine, näherte ihn, als ob keine andere Nähe mehr zwänge, dem Kelche des Fremden und rief: »Auf glückliche Heimkehr!« – »Auf die Geister dieses Hauses!« fügte der Fremde das Wort um; stand auf, stieß den Kelch an den Kelch der Matrone, des Hausherrn, – nun an den der Tochter, und trank ihn in einem Zug leer jetzt. Und nichts mehr in diesem Hause war fest nun! Alles Ererbte, Erworbene, Angewöhnte, wie unter der Axt eines unaufhaltsamen Arms stürzte es ein! »Er ist – ein Mann!« stieß der Vater wie betäubt zur Mutter hervor. »Er ist der erste Mann, den ich sehe!« nickte, gegen allen heftigen Willen, der bleischwere Kopf der Mutter. »Nein!« wollte der Vater noch einmal, krampfhaft, widersprechen; im selben Augenblick flüsterte seine gebissene Lippe bebend: »Er ist der Mann, den ich meiner Tochter geben möchte!« Und nun wußten sie's beide: er verzaubert auch uns!
»Reiche, Maria, dem Herrn Commissario von den Datteln!« befahl der Vater verzweifelt; er wollte nicht nachgeben. Sogleich, mit spielender Hand, schob die Tochter einen Berg Datteln auf den Teller des grinsenden Kahlkopfs. Nun, damit auch er grinsen könne, einen Berg gedörrter Trauben auf den des Buchhalters mit dem roten Ziegenbarte. »Ist's genug?« Und gelähmt saßen die Eltern! Denn wie die Köpfe von Affen, von krampfhaft Allüre haltenden, mit aller Mühe ihre Begierde nach dem Mädchenfleisch und den Zechinen des Vaters bändigenden Tieren, stachen auf einmal die Schädel der Freier neben dem Antlitze des Fremden in die webende Kerzenleuchte auf. Wovon redete der Fremde? Von den Weizenbehältern, die er erst heute entdeckt habe. Von der Art, wie hier Puffbohnen gesetzt werden. Vom Feldbau um Sciacca. »Was heißt das?« riß der Magistratskommissär den wulstlippigen Mund mit den gelben Zähnen auf. »Ich habe den dreifachen Raubmörder Tolomei gefangen, heute!« – »Und ich,« hob der Buchhalter sofort die rothaarige Feuchthand an den Bart, grell flackerte das Auge, das schielte, »im Conto über den Seidenexport unseres Phalaris in Taormina, Signor Cavaliere, einen Fehler von, sag und schreibe: siebenundzwanzig Paoli entdeckt, heute!« Da hieb der Commissar die Faust in den Tisch. »Sie wissen wohl nicht,« griff er den Fremden an, dessen Miene immer heiterer ward, »daß in dieser Stadt Empedokles geherrscht hat?« – »Der in den Ätna gesprungen ist!« setzte protzig der Buchhalter dazu. – »Ich weiß nur,« lächelte der Fremde, inbrünstig beugte er sich dem dämmerblauen Strom zu, der vom rauschenden Meere heraufwallte, »daß ich Gott und Götter preise, diesen Abend erlebt zu haben!«
»Das glaub ich!« Einen Rippenstoß unterm Damasttuch hatte der Commissar dem Buchhalter gegeben; gerüstet holte dieser aus: »Wenn man von Deutschland herabkommt!« – »Denn in Deutschland,« fiel der Commissar gewandt ein, »gibt es nur Schnee, Holzhäuser, Unwissenheit . . .« – »Und was es in Sizilien nicht gibt,« unterbrach ihn, daß die Wände widerhallten, der Terrazzo Musik gab und die Throne aufsangen, die Jungfrau: »Menschen!« Und riß mit blitzender Hand die roteste Rose aus der Vase in der Mitte der Tafel und steckte sie sich an den Busen.
Schauer durch die Leiber der Eltern! Aber – warum schwoll dem Vater die Zornader nicht? Und lächelte stolz fast die Mutter? »Sie bleiben wohl noch einige Zeit hier im Lande?« neigte sich plötzlich der Hausherr – er zitterte – zum Fremden. –»Es wird notwendig, Signor Cavaliere,« warf sich der Buchhalter sofort dazwischen, »daß wir in den nächsten Tagen nach Taormina hinüberschauen. Die heutigen Briefe beweisen, was ich lange schon ankündigte: die Niederlage drüben ist faul!« – »Oder sind Sie zu eiliger Rückkehr gezwungen?« beugte sich der Hausherr – »ist er taub geworden?« fluchte der Buchhalter – zum zweitenmal hinüber zum Fremden. – »Nicht gezwungen,« gab dieser lächelnd zur Antwort. »Aber zugelassen! Glauben Sie mir: käme es auf meinen Wunsch allein an, . . . .« – da, wie das Feuer ohne Scham, ohne Reu aus der Glut bricht, lohte das Auge der Jungfrau vermessen empor. »In Phäa,« rief sie, riß die zweite Rose aus der Vase und steckte sie sich an den Busen, »waltet das Schicksal, wie die Götter es senden!«
»Taormina aber,« begann wie träumend, mitten drin noch im ratlosen Schweigen, der Hausherr, »sollten Sie doch sehen?«
»Ich habe,« fuhr er, weil das Schweigen hartnäckig weiterschaukelte, noch verlegener fort, »in Taormina ein kleines Casino. Gehe ich nun, um Herrn Castro zu folgen, Anfang Mai etwa hinüber . . . . . .«
In einem Blitz von Blick, Flamme, trafen sich Fremdling und Jungfrau.
»Nicht Anfang Mai!« schoß der Buchhalter wütend auf; er hatte den Blitz erhascht. »Morgen oder übermorgen muß es sein, soll es Sinn haben!«
»Wenn ich also etwa zu Anfang Mai hinübergehe,« beharrte wie Stein der Hausherr, »werden Sie dann noch auf der Insel weilen, Herr . . . . Herr . . .?«
»Wir wissen nämlich noch immer nicht,« hob die Hausfrau lächelnd ihr Haupt, »wie wir Sie nennen dürfen?«
Der Fremde, als ob ihn ein Schlag getroffen hätte, senkte den Blick. Aber ehe er ihn wieder aufrichten konnte, rauschte es von der Tür her, und mit einem Sprung war die Jungfrau vom Sessel. »Don Carlo!« jauchzte sie und es jauchzte das Meer mit, der Raum mit, das Licht und die rosenduftzitternde Luft mit. »Don Carlo! Benedetto, che viene!«
Hoch, im langen, schwarzseidenen Priestermantel, der wie von Winden geweht den feurigen Schritt umflog, trat der Gekommene an ihre Seite unter die Aufgestandenen. Ehrfürchtig, aber mit der Vertrautheit, die Blutsverwandtschaft einmischt, begrüßten ihn die Eltern. Mit Bücklingen, die kriechende Abhängigkeit biegt, die Freier. Aber das Auge Don Carlos, umso funkelnder über der Adlernase, je silberner das Haar unter dem Käppchen quoll, übersah die einen wie die anderen. Als ob unsichere Erinnerung mehr, als geheimes Gefallen das scharfgeschnittene Gesicht anlockte, fragte es über die bekannten Mienen hin unerbittlich die unbekannte, die ihm reglos entgegenblickte, und lächelte immer gieriger, je länger es fragte.
»Ein Herr aus Deutschland,« stellte endlich der Vater vor, »der auf seiner Reise durch Sizilien unserem Hause die Ehre gab.«
»Eigentümlich!« Und noch nackter prüfte das herausgeforderte Auge. »Es ist mir, als sähe ich dies Gesicht nicht zum erstenmal. Kommen Sie aus Preußen, Sachsen, Bayern oder Schwaben?«
»Er wird nicht gefragt, befehle ich!« stampfte der Jungfrau Stöckelchen in den Terrazzo; des Fremdlings zweites Zusammenzucken war ihr nicht entgangen. »Der hochwürdige Oheim wird uns jetzt erzählen,« – und ohne sich im geringsten um sein Lächeln zu kümmern, faßte sie ihn am Mantelsaum und zog ihn ihr nach – »von Syrakus, von der Welt und seinen Erlebnissen, und seinen Sorbet dabei schlürfen!«
»Mein Schwager ist nämlich viele Jahre dem Nuntius in Dresden zugeteilt gewesen,« flüsterte der Hausherr, während die Tafel sich zu den Thronsesseln an der Querwand verzog, dem Fremdling hinüber.
»Haben Sie mir nicht ein Amulettchen der heiligen Lucia mitgebracht?« fragte die Hausfrau, schwesterlich stolz beide Hände auf dem Ärmel der Soutane.
»Heiß mag es gewesen sein drüben?« fiel heiser der Diskant des Buchhalters ein.
»Und dann stinkt es in Syrakus!« gab der Commissar ebenso heiser dazu; auch er hatte Furcht vor dem Jesuiten.
»Waren Sie schon in Syrakus?« fragte Don Carlo den Fremden, ohne die Fragen beantwortet zu haben.
»Nein, ich komme von Palermo.«
»Und?« Er vermochte die Begierde, diesem deutschen Gesicht auf sein Geheimnis zu kommen, nicht mehr zu verstecken; »wie weiter?«
»Wie die Götter es schicken!« erklärte ohne Pause die Jungfrau.
»Oho?«
»Was?« Zur gleichen Zeit beide schnellten sie von ihren Sitzen auf, der Buchhalter und der Commissar. »Den ganzen Abend, heute, redet die Signorina von den Göttern!«
»Es ist aber nicht jeder Abend wie dieser?« beugte sich beschwichtigend die Mutter noch näher zum Priester vor. »Nicht wahr, Tommasso?«
»Fürwahr!« Unsicher lachte der Vater, zwiespältig schillerte sein Blick. »Ein außerordentlicher, – quasi seltsamer Abend!«
»Also – quasi: Odysseus auf Scheria?« lachte noch kürzer Don Carlo. Aber kaum ausgesprochen das Wort, stutzte er: waren nicht das Mädchen, der Vater und der Fremde bei diesem Wort aufgefahren, als hätte ein Nadelstich ihren verborgensten Nerv berührt? »Es gibt nichts Schöneres im Leben,« sagte er mit welterfahren zurückflutender Stimme, »als: Überraschungen. Obwohl sie ebenso natürlich sind wie das Allernatürlichste. Ich möchte Ihnen raten,« blitzte er den Fremden mit grimmigem Blick an, »die Städte in diesem Lande zu lassen. Sie sind Ruinen, aus denen niemals mehr neues Leben springen wird. Traurige Zeichen davon, daß das Gewordene nicht überall Fortsetzung findet. Der Geist, der vor alters hier lebendig war, ist lange schon in eine andere Welt geflohen!«
»Ich will« fiel der Fremde gewandt ein – dieses Gespräch behagte ihm nicht – »von hier aus mitten durch die Insel nach Catania.«
»Gut! Sehr gut! Und von Catania bald wieder nordöstlich hinaus! Denn: Natur, – ja, die ist hier! Aber Geist ist im Norden! Ja, bei Gott Vater!« Und mit leidenschaftlicher Gebärde rückte er den Thronsessel mit den metallbeschlagenen Armstangen, riß das Käppchen vom Haupte und reckte das nun doppelt leidenschaftliche Haupt. »Dieses Syrakus zum Beispiel! Dieser Erzbischof in seinem steinverschlagenen Hause! Die Glut dieser Landschaft – oder Seeschaft – und die Agonie der Gehirne und Seelen in den dahindämmernden Menschen! Ich begreife es,« – wie ein Sänger war er nun anzusehen, der, die Leier vor der Brust, dieser Brust Überdrang wie seinen wildesten Glauben heraussang – »wie man im Norden oben bis zur Verzweiflung sich sehnen muß nach der Sonne, nach einem Orangenbaum, einer Handvoll Glanzhimmel. Aber noch besser verstehe ich, wie die nordische Seele unter diesem Übermaß von Natur zurücklechzen muß nach der Heimat! Nach dem Hauch jenes Geistes, der im Norden die Welt, wie sie ist und nicht ist, den begierigen Köpfen – ich kann es nicht anders sagen! – vor die Füße wirft. Was ist sie mir denn, diese Welt, wenn ich sie nicht sehen, nicht hören, nicht fühlen, nicht wissen, – nicht beherrschen kann? Griechischer Geist, hier? Schaut Euch die Tempel an, wie sie von Greisen oder Kindern begafft werden, die das A nicht vom O unterscheiden können! Die Wucher der Ernte, die in der Verlotterung des Südens, – ja!« Jäh beugte er sich dem Vater, der Mutter, den gestachelt kauernden Philistern entgegen. »Der Süden trübt die Sinne! Gefressen, unter der Wut dieses Klimas, wird die Ernte; aber verdaut nicht! Und heißt: Rasse haben, etwa soviel als: begehren bis zum Haß, hassen bis zum Mord, in dieser Sekunde noch lächeln wie der agnus dei, und in der nächsten – das Messer? Oder heißt es vielmehr: die Wunder der Welt, wie sie von Anfang an wurde, in fruchtbaren Bildern im Gemüte drin sammeln, im Geiste erobern und an ihre Plätze stellen, damit sich so in der verständigen Kreatur der Sockel aufbaue, auf dem sich die neuen der Zukunft erheben? Augenblicke sieht man hier, – Zeiten dort! Orte hier, – Erdteile dort! Ich war verpflichtet, sehr oft ein kleines Herzogtum im mittleren Deutschland zu bereisen; es war da ein Mann, mit dem ich wichtig zu tun hatte. Ein Herzogtümchen . . .«
Ohne ihn nur für ein Wimperzucken aus der Gewalt seines fanatischen Auges zu lassen, zwang er den Fremden, ob er sich auch schon drehte und wand, unbarmherzig in die Zange seiner teuflischen Rede. »Herzogtümchen voll von armseligen Städtchen, Märkten, Dörfern; besser gesagt: Hütten, Bauernhöfen und lächerlich kleinen, unschönen Schatullen, die sie Schlösser nennen. Der Himmel drüber – brr! Die Rosen blühen im Juli, und werden so hoch!« Fast um stieß er den arabischen Kaffeetisch. »Gerste, Roggen, Rübe, Hafer auf den elenden Feldern. Nichts, was entzückte; die Sinne, die Phantasie riefe! Alltag, wie ihn die sizilianische Hölle sich nicht trostloser vorstellt. Das Wort hart, ohne Klang. Die Manieren schroff; ohne Grazie. Lieder? Ich habe keines gehört. Die Mienen verschlossen, die Bewegungen eckig . . . O!« Mit einem erschrockenen Ruck beugte er sich weit vor zum Fremdling, der plötzlich sein Gesicht in den Händen verborgen hatte. »Ich tue Ihnen weh? Ich verletze Sie?«
»Nein, nein!« stöhnte, ohne das Gesicht zu befreien, der Fremde.
»Die Kirchen wie Vereinshäuser. Die Zimmer kalt. Die Frauen ohne Reiz. Mit einem Wort . . .«
Er setzte aus: das Mädchen, mit einem einzigen Schritt, war hinter den Sessel des Fremden getreten und hatte seine Hand auf die zitternde Schulter gelegt.
»Mit einem Wort,« fuhr er, nur doppelt wollüstig im Bann fort, der sich über die Augen der vier Blinden geworfen hatte, :»ein Land, das der Herrgott im Zorn geschaffen hat. Aber« – und wie Liebkosung legte sich der Blick auf die Hand auf der bebenden Schulter – »der Geist eines einzigen Mannes hat genügt, um die barbarische Finsternis dieser Wildnis schöner zu erhellen als tausend sizilianische Sonnen! Ich habe den Mann nie gesehen; nur ein paar Schattenrisse von ihm wurden mir gezeigt. Er heißt Goethe.« Mit herausfordernder Stimme, wie an eine Eisentür pochend, rief er den Fremden an: »Sie müßten ihn wohl kennen?«
Aber, obwohl ihm der Ruf durch die Hülle der Hände in das glühende Antlitz hinein fuhr und hinab in die kochende Grube des Herzens, schüttelte der Fremde nur noch verhüllter das Haupt.
»Ein Bürgersohn ist er. Da glänzt kein Palast. Erscheint keine Fee. Rollt nicht das Blut erlauchter Ahnen. Denn da oben« – begeistert riß der Priester den Mantel von den Knieen und ließ ihn flattern – »steht der Geist auch hinter der Nadel des Schneiders! Hat, was auf zwei Beinen läuft, nur einen einzigen Drang: nach Mühsal im Geiste; Kampf mit dem Geiste! Wird er in Glas aufbewahrt etwa? In Seide getragen und mit Palmwedeln gefächelt?« Als ginge ihm der Atem aus in der ahnungslosen Enge dieses dumpfen Kreises, erhob er sich rauschend, ließ sich rauschend gleich wieder nieder. »Wie ein – Magistratskommissär in einer größeren Stadt etwa wird er behandelt! Obwohl er schon lange berühmt ist, wie kaum je einer vor ihm gewesen. Durch eine Indiskrete, der ich bis an mein Lebensende die Hände küssen will, ist mir ein Werk von ihm unter die Augen geraten . . . .«
Lauernd wie ein Jäger, für eine Sekunde, unterbrach er zum zweitenmal; in die Erde hinein versunken, am liebsten, wäre der Fremde!
»Was sein Volk war, vom Anfang an war, und was es werden kann bis in die letzte Stunde der Ewigkeit, werden sie sagen, daß darinnen steht, in dem Werke. Aber es steht nicht mehr und nicht minder darinnen, als: alles, was ein Mensch – jeder Mensch! – sein und werden kann! Von Adam bis zum Jüngsten Gerichte! Er aber hält es noch verborgen! Dichtet seit Jahren überhaupt fast nichts mehr! Sein Ruhm ist im Verblassen! Man spricht kaum mehr von ihm. Denn er hat Größeres zu tun. Sein fürstlicher Herr nämlich braucht ihn. Zu allem, wozu ein Hof und ein Herzogtum ein Genie mißbrauchen können, brauchen sie ihn! Es geht kein Gras in dem Lande auf, dem er nicht bei der Geburt helfen und das er nicht wieder höchstselber niedermähen muß! Busenfreund und Minister heißt er; das Mädchen für alles ist er! Und« – wie eine Rute fuhr der Blick nieder auf das immer verborgener verhüllte Haupt, das in den stählernen Fingern immer steinerner starr werden wollte – »er läßt es sich gefallen! Schurigelt und beglückt das Ländchen, als ob das ganz gemäß wäre, schon seit Jahren in Akten! Wacht mit Argusaugen darüber, daß die Jagdhunde seines Herrn zu fressen, die Hofdamen ihre Fußbäder und die Preußen genug Soldaten kriegen. Läßt sich von einer Stallmeisterin tyrannisieren . . .«
»Sehen Sie denn nicht,« rief ihm, gefoltert von allen Foltern, die der Fremde erlitt, das Mädchen ins unbarmherzig grabende Auge, »daß Sie schweigen sollen?«
Aber das Auge lächelte nur, ohne Gnade niederbrennend mit diesem Lächeln das Mädchen, den Vater, die Mutter und die zwei Krämer, die alle mit keinem Hauche von Ahnung witterten, welcher Flügel von Geheimnis über ihren Häuptern schwebte. »Und läßt sich den Ekel dieses Lakaienlebens bis in den Hals hinaufwachsen, – und schweigt! Und das ist groß von ihm. Aber noch größer: daß die, die an ihn glauben, das dulden! Er sehnt sich hinaus aus dem Joch; sie lassen ihn ruhig sich sehnen. Seine Seele, die der Schönheit, sein Geist, der der Welt gehört, schreien wie gefangene Löwen nach Erleben und Weite; seelenruhig lassen sie ihn toben. Und: erwarten ihn dennoch, wie ihr eigenes Heil! Alle! Und das ist Deutschland: wissen, daß der Geist nicht zugrunde geht, auch wenn er gegen Gitter brüllt; ja, daß er ins Riesenstarke hinaufwächst gerade, wenn er hungert und dürstet! Und diese grausamste Not selbst dem Genie nicht ersparen, aber geduldig vertrauen: einmal wird es den Käfig sprengen und frei sein, und evangelisch darauf warten, weil man es mehr braucht als das tägliche Brot, – das ist Deutschland! Ist Geistland! Man sagte mir: er sei jetzt geflohen. Wandere jetzt in Italien. Suche sich jetzt. Bedenket, was das heißt: ein ganzes Vaterland, während er bei uns da sich suchen geht, wartet zu Hause auf ihn!« Und wie den Ertappten der Häscher jetzt, blitzschnell, rüttelte er den Fremdling aus der schaudernden Verhüllung. »Lügen Sie nicht! Und verleugnen Sie ihn nicht! Sie müssen ja doch wenigstens gehört haben von ihm!«
»Oder« – rauh ließ er ihn aus, Totenstille war, Funken lohte sein Auge – »oder sind Sie er selber?«
»Ja! Ich bin Goethe.«
»Vater!« rief im selben Augenblick brennend die Jungfrau. »Es brennt!« Und hob die Hand von der felsernen Schulter des Fremdlings, riß eine der zwei blutroten Rosen vom Busen und steckte sie ihm an die Brust.
»Um Gotteswillen! Was – ist?« Aufgefahren waren sie, der Hausherr, die Hausfrau, die Freier. Nun, mit Gliedern und Stimmen, die wie in den Netzen der Wunder umherirrten, ratlos jagten und fragten nach dem Sinn dieser Stunde, dem Rot dieser Rose, der starren Stummheit des Fremden, umringten sie das Paar und den Priester, drehten scheu wieder um, drängten von neuem vor, liefen an die Fenster, an die Türen, an die Wände, – kehrten plötzlich wie ein einziges bangdunkles Staunen zurück.
»Als ob das nicht ein Jeder könnte,« stieß, während sich ganz Sizilien um ihn herum drehte, der Buchhalter hervor, »behaupten: er sei . . . er!«
Wie eine Fledermaus, mit einem Zipfel des Mantels, scheuchte ihn Don Carlo vom Sessel. »Tommaso,« weckte er fordernd den Hausherrn, das Schwarz der Soutane aus Taffet und der Alabaster seines Antlitzes überstrahlten sieghaft die getrennten Sinnbilder im Bilde. »Deinem Hause ist Heil widerfahren! Verstehst du?« Da trat der Diener Gioachino von der blinkenden Schwelle herüber und meldete: »Signor Cavaliere, es brennt bei den Sagittari!« Hob den Fuß, um wieder zu gehen, – und es erklangen die Glocken vom Dome. Wie von Messern durchschnitten im Nu, sauste die samtblaue Luft vor den Fenstern. Strom des Überirdischen rieselte durch die Mauern des Gemaches. Schnell wie der Blitz folgte ihm der Schein, womit das Widerlicht des Feuers in den sehnsüchtigen Marmor der Wände hinein schnellte. Rufe. Stille. Wilde Rückkehr verzehnfachter Rufe. Schreie nun. Die Gasse voll plötzlich von Angstlaufen. Geheul und Wirbel des Staubs schien in den Saal herein zu stürzen. »Deinem Hause ist Heil widerfahren, Tommaso!« rief noch fordernder der Priester, während das Entsetzen Feuer, Glocken, Schrei, Rosen und Rauschen zu einem Strauße aus Wunder und Wahrheit zusammenwob; »denn er ist es!«
Hilflos, weil er die Tochter wie eine Göttin aufwachsen sah im Unergründlichen neben dem reglosen Fremdling, beugte sich des Vaters Haupt nieder zur Mutter. Wie ehren? Wie lobpreisen nun, feiern und danksagen? schienen sich beide in süßer Ohnmacht zu fragen. Während die Köpfe der Freier wie die Grimassen ruhmlos Gestorbener in die furchtbare Mischung von Wahrheit und Wunder emporgrinsten, Don Carlo aber, herablächelnd aus der Tiefe seiner Ahnung, den Genius und die Jungfrau in ihrer verschwiegenen Zwiesprache segnete. Denn alle, ach, alle Leiden, von denen niemand wußte, daß er sie gelitten und leiden geheißen hatte, in Scharen schwebten sie, Engel und Teufel, vor dem unfragbaren Auge des Fremdlings hernieder; alle Fehler, Irrtümer und Sünden wider den Geist seiner Sendung, alle Verbrechen an den Seelen, die nicht wußten, daß sie nur vorüberziehende Diener dieser Sendung sein durften, und alle alleinausgefochtenen Kämpfe, Krämpfe und Niederlagen. Aber alle sie, all ihr Hemmendes, Tötendes, Schwarzes, Bemakelndes nahm, ohne einen Finger zu rühren, nun die Jungfrau von ihm, die immer glorreicher lächelte, je empfangender ihre Arme sich beugten; auf einmal so himmlisch lächelte, daß er die Augen aufschlug, aufsprang und erblickte: nieder von ihren demütigen Schultern floß als jauchzender Morgen die abgenommene Nacht. »Du!« flüsterte er in zitternder Bangnis, »muß ich auch das noch tragen: daß du mich erlösest, aber sterben wirst mit dem einzigen Glück: mich erlöst zu haben?« Da stand der Vater vor ihm. »Exzellenz,« begann er, schaukelnd zwischen Wunder und Wahrheit, während die Glocken vergessen das vergessene Feuer umrauschten, »wir sind einfache Menschen, die der schwingende Flügel des Genius noch niemals gestreift hat. Was wir zu sagen vermöchten in dieser rätselhaften Stunde, drückte nicht aus, was wir zwiefach empfinden. Aber mehr, als wenn wir nur sagten: halten Sie unser Haus für das Ihrige, mag es sein, wenn wir sagen . . .«
Die feuerscheinübergossene Stufe trat die Jungfrau herab; ergriff die Hand des Vaters und legte sie voll in die Hand des Fremden.
» . . . wenn wir sagen: Nehmen Sie aus unserem Dasein heraus und mit Ihnen davon, was Sie zur Erhöhung des Ihrigen . . . . .«
»Zur Befreiung des Ihrigen gebrauchen müssen!« vollendete strenge Don Carlo.
»Ich bin,« flüsterte der Fremdling, ihm bebte schaudernd die Hand und die Stimme, »nur Odysseus! Der Pilger, der die Besiegelung seiner Heimkehr in diesem Hause gefunden hat!«
»Und den ein ganzes Vaterland zu Hause erwartet!« vollendete strenge Don Carlo.
»Und draußen,« stürzte der Buchhalter gallgelb empor, »verbrennen die Armen!«
»Während man hier,« fluchte der Magistratscommissar, es rasten die Glocken, prasselten die Flammen und brüllte das Volk, »den zweiten Cagliostro beräuchert!«
»Gehet retten, ihr!« höhnte strafend die Jungfrau und reckte den Arm gegen beide.
»Ja! Tuet Heldentaten, ihr!« rief ihnen beißend Don Carlo nach, »und kommt sie dann zeigen! Presto! Coraggio!«
»Ich weiß wohl,« lächelte geisterhaft bleich der Fremde; er stand, Vater und Mutter an den Händen, zwischen Priester und Jungfrau, die Freier, zaudernd zwischen befohlenem Mut und rückhaltender Wut, zappelten gespannt auf der Schwelle; »ich weiß, daß nun wird gefordert von Odysseus! ›Fremder Vater,‹ so heißt es,« blitzte er ohne Zorn den Freiern hinüber,
»›. . . auch du mußt dich in den Kämpfen versuchen, |
»Aber . . .« Wie? Kam eine Wolke herab jetzt und umhüllte ihn? »Er ist ein Mann!« bekannte der Vater und griff entsetzt, als ob sie schon entschwebte, nach der fliehenden Hand. »Er ist der erste Mann, den ich sehe!« die Mutter und zwang flehentlich, als ob es schon enteilte, das scheidende Auge.
»Dieses also weiß ich wohl. Aber . . .«
Mit einem Schrei flohen die Freier. Er stand in der Schwelle. Glänzend zuckte die Träne in der Wimper. Glänzend rollte die zweite hernieder von dem furchtlosen Auge der Jungfrau. »Aber auch wenn ich tausendmal siegte in diesem Wettkampf, – mein Los bliebe doch immer: Geißel zu sein an den Menschen, die mich erlösen, wie Ihr! Wunden zu schlagen, auch wo ich anbete, staune und kniee, – wie hier!«
»Ist er fort?« sprang der Vater jäh auf und an die erdunkelte Schwelle.
»Ist er fort?« die Mutter ihm nach durch den Taumel der Glocken und Flammen.
»Still!« befahl Don Carlo. Den Finger an den Lippen – wo weilte die Jungfrau? – stand er vor der Schwelle und bannte.
Spiegelglatt breites, abschwebendes Fließen der Treppe. Schritt, warum jagst du so? Herz, warum eilst du so? Plötzlich – wild stockte der Fuß – fuhr die Hand in die Brust. »Nausikaa! Ich hab – meine Rose verloren!«
»Sie ist verbrannt zu Girgenti!« lächelte Nausikaa; strahlend flog sie die Treppe hernieder, riß die zweite vom Busen. »Nimm diese!«
»Die – letzte!«
Süß, ohne Scham, nur Gewißheit der Liebe, schmiegte sie sich seinem Arm. »Du wirst wiederkommen!«
»Ich bin Odysseus, Nausikaa!« riß sich verzweifelt die Träne aus der zuckenden Wimper.
»Und wenn du es tausendmal wärest, du wirst wiederkommen!«
»Ich werde nicht wiederkommen!«
Daß er den Schlag ihres Glaubens erfühle, legte sie kindlich ihr Herz an das seine. »Du weißt es nur nicht! Ich aber weiß es!«
»Ich bin nur ein Pilger, Nausikaa! Odysseus!«
»Aber ich deine Heimat!«
»Wenn mich ein Blitz jetzt träfe,« sagte Goethe am Morgen darauf vom Maultier zu Kniepen hinüber, – sie ritten den Weg nach Caltanisetta – »und für immer zerschmetterte: es wäre kein Wort zu sagen gegen die Güte dieses Strahls, der erst fällte, nachdem ich geboren war!«
Kniep aber, – er hatte zwar ein paar prächtige Zeichnungen geleistet in den drei Tagen; aber auch manche verbotene Stunde gelebt in den drei Nächten. Das Gewissen tat weh, wenn er an Lydia dachte, die in Neapel sich unterdes sehnend im Eisenbett neben dem leeren geduldet hatte. »Es ist eine verdammte Sache;« stieß er endlich grimmig heraus, »der Mann in uns wird immer wieder zum Lumpen!« Der Mann neben ihm, Einsamer im Umundum der Weizensaatfelder, die türkisblau, seefahl und meergrün wie hochhügeliges Wellenmeer von Talsaum zu Talsaum wogten, lächelte unberührt. »Zum Lumpen?« – »Also: untreu!« – »Was ist untreu?« – »Wenn man kein Weib ungereizt anschauen kann, das einen richtigen Busen hat!« Ha! Der Mann neben ihm, freilich, der hatte von solchem Stachel des Menschseins keine Ahnung! Der dachte: Kunst, Lernen, Zunehmen im Geiste. Während ihm, dem verschlampten Pinsler, jede Schürze die zeichnenden Finger verrenkte! »Es gibt zweierlei Menschen für jedes Geschlecht,« sagte Goethe gleichmütig, »solche, – aha! jetzt hört die Zwergpalme auf, kommt das Bergland der Kornkammer! – solche, die man sich selber erschafft, und solche, denen man immer wieder begegnet. Den ersten wird man nur untreu, wenn man sich selber untreu wird; den zweiten gehe man aus dem Wege, um sich die Kraft, Menschen zu schaffen, nicht zu zerstören!« – »König der Begriffsmacht,« schäumte innen der Kleinere, »und Frosch in den Hitzen des Blutes! – Diese dicke, dralle Maria in den Nudeln . . .«
»Ma – ria?«
»Marietta!« Das Maultier, unterm Stachel, bockte wiehernd gegen die türkisblaue, seefahle und meergrüne Weizenflut. »Luder sind die Weiber! Wo sie eine Hose sehen . . .«
»Frucht!« riß Goethe herrisch den Satz ab. »Seh Er doch: Frucht, nichts als Frucht!« Die Sonne riß lohende Kreise von Gold aus dem hügelauf und talab rinnenden Meergrün und Seefahl und Lichtblau, wenn die langsam segelnden, dickweißen Wolken unter ihr wichen. Wogig umrauschte den Pfad dann der Duft dieser Hochzeit. Und der Himmel, wie er sich gleich sehkräftig ausspannte über schon Geborenem und Totem, wie über erst Werdendem und Sterbendem, flüsterte nur noch Eines hernieder aus seiner prangenden Höhe: ich muß erzeugen! Und die Erde, obwohl sie die Unzahl der einander mordenden Tiere trug, die unzähligen Steine, die einander Hindernis bauten in jedes Entwicklung, die unzähligen Pflanzen, deren einer rücksichtsloses Wachsen knickte die gleich wilde Werdegier der anderen, flüsterte aus ihrer kreisenden Tiefe empor: ich muß gebären! Von den zackigen Gebirgen nieder, die, immer wieder Tor schaffend und gleich darauf wieder Tor schließend, die reifende Flur immer zwingender hineinschoben in das Mitteherz des Landes, glomm der ältere Kalk mit dem hellen, fast blitzenden Gipse. Von ihren Säumen herüber, die sich weichend der Lockerheit des gesegneten Fruchtbodens hingaben, der gelbliche neue. Aus den Furchen der ährenüberfluteten Äcker empor und aus den Breiten der ungepflügten Felder das satte Violett der Fruchtbarkeit, die in der Vermählung dieser zwei Elemente sich feierte und, Überfluß, Überfluß, Überfluß, alle Blumenwiesen, Hecken, Gräben, Kämme, Geschiebe und Buckel ringsum überwellte. Und all dieses, alles, was da geheimbewegt zog, bebte, wallte und dampfte, flüsterte pochend im ungeheuren Schweigen nur: werde! Mit diesem allem aber aus der Ferne herüber Nausikaa: »Nun habe ich dir gezeigt, daß du dein Nest schon gefunden hast! Zeige nun du, daß es schon zeugt und gebiert!« Und sogleich, während sein Haupt kindhaft hinaufwuchs in die glänzenden Häuche des Werdens, der Reife, der Ernte, – wie aus dem Schaume des Meers Anadyoneme, stieg aus dem Allgesumme des Flüsterns die süße Allmacht des Künstlers! »Gott, oder Götter,« antwortete er, – flüsternd, weil ja den Mann ihm zur Seite der Stachel des Fleisches noch biß, – »verzeiht, was ich bisher, in dumpfer Dummheit, in frevelhafter Trägheit, in feigem Zögern vor dem Mut, den Euer Ruf fordert, gefehlt! Tilget, was wuchs in mir, ohne daß es unmöglich war, daß es nicht wuchs! Und bauet nun kräftig, mit meinen eigenen Händen, . . .« Den Halfter ließ er sinken. Wie? Baute dieser Tempel sich schon? Rissen die gerüsteten Hände schon aus Dichtung und Wahrheit die tragenden Blöcke? Rollten die Bilder schon, webend, vor dem begnadeten Auge, und sprang in der entbundenen Brust schon der Vers?»O du! Nausikaa!« flüsterte er begeisterten Augs vor sich hin; flüsternd nur, daß ihm der springende Quell nicht den Andern erschrecke. »Schenkende, Treibende! Besieglerin du meiner endlichen Heimfahrt! Hast mich zur Ernte gerufen! Nun, siehe: sie schießt in die Halme!«
»Da haben wir's!«
»Was?« fuhr er hoch aus dem zaubernden Schleier.
Die Hand streckte Kniep aus. »Es regnet!«