Albert Trentini
Goethe
Albert Trentini

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Als er am Morgen nach dieser Nacht, ziellos wandernd, in den rivo Morea kam, eine osthin offene Gasse, in der Wasser und Steine die frühlinghaft grellste Sonne trugen, war sein Auge umflort. Girrte vor seinen Ohren Melodie um Melodie. Erzeugte sich im Gehirn ununterbrochen Bild auf Bild. Kam die Seele in heftigen Wallungen der ungeheuren Fülle nicht nach, die aus der Welt auf sie einstürmte. War die Schleuse denn so plötzlich gesunken? Das Leben der letzten Jahre wahrhaftig so blind und so taub gewesen? Nirgends in dieser Gasse war etwas anderes als Licht, volle Weite des Lichts. Nicht ein Splitterchen Schatten. Links aus dem Wasser, das weit rückwärts – wie auf ferner Bühne – von einem Brückchen überspannt wurde, stieg die endelose, nackt lichtstrotzende Mauer eines Gefängnisses oder eines Spitals. Rechts, diesem Brückchen am nächsten, ragte der rasige Vorplatz einer kleinen Kirche in die fondamenta hinaus. Die Kirche selbst war bis auf die zwei rotmarmornen Pilaster des Portals verdeckt von der schmalen Wand des hochengbrüstigen Hauses, das die Ecke der Gasse im Vordergrund bildete. Das zitternde Riesenlicht, das auf dieser Wand saß, in alle ihre ladenlosen Fenster hineinbrannte, die allüberall angeklebten Altane und Söller aus zimtbraun gebranntem Schiefholz ausmergelte, schoß wie eine Weißglutflamme von den teernassen Booten, die vor dem Tormaul zum Kalfatern bereit lagen, in den orgastisch blauen Himmel hinauf.

Was ist Wahn? Was ist Wahrheit?

Zögernd, Schritt für Schritt nahte Goethe dem Hause. Ein alter, hoher Mann mit weißem Knebelbart im roten Gesicht, oberhalb des Schurzes nur mit dem Hemde bekleidet, stand mitten zwischen den Booten. Über ihm der Teerbottich. Hinter ihm ein schlank prasselndes Erdfeuer. Von den Altangalerien herab schwang und sang eine ganze Ausstellung von Hadern, Lumpen und Fetzen in allen Farben. Vom Hause heraus ein Konzert wirrer Stimmen. Jetzt kamen sie alle auf einmal aus dem obersten Stockwerk. Nun rannten sie, eine nach der anderen, über halsbrecherische Treppen in den Flur nieder; rasend. Ein Knall! Sie stoben auseinander. Kinder schienen nun in einer ganz engen Kammer zu wimmern. Ein altes Weib keifte vom Herd im Erdgeschoß aus durch den Kamin hinauf in den Schlafkotter. Eine Matrone, schlagfertig, antwortete. Wieder Treppengepolter. »Mamma!« rief leicht übertönend eine ganz junge Stimme. »Mamma!« Und im Nu, als ob ihn eine Zauberhand berührt hätte, wandte der Alte sich um. Im gleichen Augenblick war die ganze Familie auf der Szene. Die Großmutter auf dem obersten Söller, die Padrona im Altan überm Tor, die Kinder und das Mädel, das »Mamma« gerufen hatte, hinter ihnen.

Wie einem Ruf gehorchend, trat Goethe in den Kalfaterplatz und setzte sich unter all diesen Augen auf einen Holzblock im Rasen. Den alten Mann hatte plötzlich ein Brand umlodert, wie seines Alters beraubt, im Streit von Flammen, bodenlos zwischen den Kindern neben ihm und den zwei Weibern in der Höhe, stand er ohne Hilfe. Die Kinder waren schmutzig. Die Padrona, unter dem aufgeregt herabgeschickten Blick, wackelte mit üppigen Formen hinter einem blitzgrünen Schlafrock. Das Haar der Großmutter, gelbweiß über der pergamentenen Stirn und um die papierdünnen Ohren, troff von Öl. Flackernd strich ihr Auge den Mann ab und das Mädel. Dieses war schön. Der Reiz aufgeknospter achtzehn Jahre wiegte ihre Glieder. Auf schlanken, braunen Beinen, die bis ans Knie nackt waren, schritt sie. Goldfarben stieg der Hals aus dem schmiegsamen Bau zwischen den goldfarbenen Armen empor. Im Gesichte, das dieser Hals trug, standen: Unschuld und Weh.

»Vei! La collazion', Francesco!« kreischte die Großmutter.

»Presto! Finalmente! Vei!« rief die Padrona ihr nach. Weil das nicht half, schlichen die Kinder an den Mann heran, zupften ihn an den Hosen. Er verharrte wie im Traum. Noch einmal, drängender, zugleich, riefen die zwei Weiber. Frech reckten die Kinder die schmierigen Hände aus und fuhren dem Alten in den Bart. Er schüttelte nur den Kopf. Da legte ihm das Mädel die Hand auf die Schulter. Und sogleich bekam er die Wirklichkeit wieder, wischte sich die Hände im Schurz ab, schaute erwacht klar rundum, und ging.

Als er wieder kam, stand Goethe ohneweiters vom Holzblock auf, trat auf ihn zu und redete ihn an. Aus was für einem Holze würden diese Barken gebaut?

Der Alte tat nicht im geringsten erstaunt. Nahm die Meerschaumpfeife aus dem Mund mit der tiefen schweren Unterlippe, sah den Fremden unverhohlen als Fremden an und sagte prompt: »Aus istrianischem.«

»So?« Und wie lange eine solche Barke laufen dürfe, ohne wieder geflickt und kalfatert werden zu müssen?

Das hänge davon ab, auf welchem Wasser sie laufe.

Und wieviele Tage man zum Kalfatern eines Bootes brauche?

Der Alte lachte verächtlich; die blanken Polentazähne blitzten in der Sonne. Das hänge davon ab, ob es das Teeren sehr notwendig oder weniger notwendig habe, und wie groß es sei.

Und den Teer bekäme er auch aus Istrien?

Nein. Aus dem Friaulischen.

Guten?

Sehr schlechten. Man müsse sechsmal, auch siebenmal streichen.

»Ich stelle mir vor«, sagte Goethe, er setzte den rechten Fuß auf das teertropfende Boot, »daß ein Kalfaterer auch Bootbauer sein müsse? Nicht?«

So dumm, wie ich meinte, ist er doch nicht! schien der Alte zu schmunzeln. Seine Miene ward eindeutig. »Natürlich! Es laufen von mir gute einhundertsechzig Kisten auf der Adria!«

Also sei sein Geschäft auch nicht langweilig? »Man baut heute ein Schiff, kalfatert morgen ein Boot . . . .«

»Und ist übermorgen Taucher!« Die Brust warf der Alte heraus. Jawohl! Vor vier Jahren habe er aus einer Fregatte, die vor Punta San Nicolò gesunken war, ganze siebenhundertvierundachtzig Goldzechinen »und sieben Ballons Zypernwein heraufgeholt! Per l'amor' di Dio!« Als ob die Teufel ihre Pratzen von ihm absetzten, wurde er sicher und frei. »Sie meinen, ich sei reich geworden? Santa Pazienza! Die Signoria ist schmutzig wie eine Hurenmutter. Aber« – mit wuchtigen Beinen stieg er in den Bootsboden hinein und kniete darin nieder – »den Wein habe ich ausgesoffen!«

»In zwei Jahren?«

»In genau neun Tagen.«

»Ich gratuliere.«

»Ja! Es war mein erster und letzter Rausch. Aber ein ganzer! Ich erinnere mich mit . . . . . . Ja, mit Wollust daran!«

»Die Signora Margherita aber wohl mit Schaudern?«

Blitzschnell hob der Alte den Kopf von der gleißenden Teernässe; er war puterrot, weil ihm das Bücken das Blut all emporgetrieben hatte; wie in einer heimlichen Hatz, lauernd, rollten die Pupillen in das blendweiße Runde zurück. Woher wisse der Herr, daß die Padrona Margherita heiße?

Goethes Auge war jetzt nicht mehr umflort. Anstatt des Chaos von Melodien zitterte nur noch ein einziger, hartnäckig bestimmter Ton ihm im Ohre. Das Gehirn folgte sparsam gemessen den Sinnen. Die Seele, obwohl ohne Grenze geweitet, gab nur diesem Eindrucke Raum. Gewiß war es köstlich, daß die Schleuse so urplötzlich weltaufreißend gesunken, die volle Unerschöpflichkeit des Lebens dem gierig dürstenden Geiste so unfaßbar lebendig emporgetaucht war, und in jedem Stein menschliches Schicksal pulste. Aber grundfalsch, darum frevelhaft wäre es, die hungrige Seele wahllos überschwemmen zu lassen von den Fluten dieser Vollheit. Nur das Auge, ja, das Auge muß arbeiten! Wenn dies Auge aus seiner Stumpfheit ganz wieder erwacht und schleierlos sieht, das Ohr truglos vernimmt, der Gaumen sicherer schmeckt und die Hand leibhaft fühlend ergreift, – dann, aber auch nur dann wächst der Seele die Kraft an, das Wirkliche in das Allgemeine hinaus zu empfinden, im Menschen das Leben, im Schicksal die Welt, und von jedem Fleck Erde aus den Kosmos zu umarmen.

»Heraus mit der Sprache!« fuhr der Alte bös auf; »woher wissen Sie, daß die Padrona Margherita heißt?«

Heiter kehrte Goethes Blick von der Brücke zurück; gemütlich setzte er das Bein vom Boot herab. Es war ihm, als ob beide Füße nun, anstatt auf der Erde zu ruhen, auf einem Seil zwischen zwei Kirchtürmen gingen, aber, weil sein Auge dabei nichts zu sehen und zu messen versäumte, sicher gingen wie auf ebener Erde. »Und die alte Frau«, fügte er waghalsig lächelnd hinzu, »die vorhin vom obersten Söller herabgerufen hat, ist wohl die Mutter der Signora Margherita?«

Wütend: »Sissignore!«

»Und das junge Mädchen eure Tochter und heißt, sagen wir einmal, Marietta?«

»Nein, Maria!«

»Aber Ihr nennt sie Marietta?«

Wild, zur vollen Gestalt auf erhob sich der Alte aus dem Boot. Er hatte keinen Hut auf dem Kopfe. Dennoch fuhr ihm der rechte Arm in reißendem Zwang an den Kopf, als wollte er den Hut ziehen. Als die Hand leer zurückkehrte, schwenkte er sie schamhaft tief unters Kinn hinab, ließ den entsetzten Schädel in die Brust fallen, und sagte leise: »Capisco! Sie sind von der Fischerinnung und bringen Nachricht vom Matteo! Er ist also – hin?«

»Ihr meint den Bräutigam Eurer Tochter?«

»Er ist Dienstag abends mit den Marsili und Perotti ausgefahren, sollte vorgestern abend da sein, – in der Nacht vorher aber war Sturm!« Und kreideweiß auf einmal und schlotternder Knie, mit klappernden Kiefern bettelte er stöhnend: »Lieber schnell, Herr! Sagen Sie: ist er hin?«

Als ob er vom Seil auf die Erde zurückstiege, wirr, blickte Goethe rundum. Also so nahe ist das menschliche Schicksal? »Ich weiß nichts.« Ganz leise sprach er. »Gar nichts! Ich kam nur durch Zufall vorbei da. Sah euch, Eure Leute, Euer Haus; wirklich, ich weiß nichts! Aber« – und als ob ihn Fieber jäh überfiele, reckte er sich auf – »hättet Ihr's am Ende lieber, daß er – nicht wiederkommt?«

Der Alte, die Pfanne mit dem Teer in der Hand, erstarrte zu Stein. Schnell darauf, so, wie wenn der Sturm mit wilder Tatze eine Hütte aus dem Boden reißt und in seinen Fingern zu Krach und Splitter zermalmt, tanzten alle Glieder an seinem Leibe. Endlich, zähneknirschend, schlug er die Arme um die Brust, als ob er die brechende Hütte im letzten Augenblick noch retten wollte, und stieß speiend ein einziges Wort heraus: »Tagdieb!«

»Ich möchte tauchen lernen!« rief Goethe, als ob er nicht gehörte hätte, unwillkürlich; seine Füße gingen wieder auf dem Drahtseil. »Ja, tauchen!«

Mit Anstrengung, die ihm den Schweiß aus der Stirne riß, brachte es der Alte dazu, sich in das Boot zurückzuknieen. Rutschend strebte er nach der Ruderbank hin. Aber die Ruderbank war schon kalfatert. Wie ein angeschossenes Tier, gewunden, kroch er zum Bug hinüber.

Schließlich kratzte er eine Handvoll Morschholz aus dem Bug.

»Habt Ihr gehört: tauchen möchte ich lernen?«

Jetzt war es dem Alten gelungen, die entblößte Seele wieder zu verhüllen; die Teerpfanne hatte er zurück in die Hand geholt. »Schwindler!« sagte er kalt.

»Ich bin bis vor kurzem ein armer getretener Hund gewesen!«

»Die Schauspieler verdienen's nicht anders.«

»Ich bin kein Schauspieler!«

»Improvisatore?«

»Auch nicht!«

»Indovinatore?«

»Ein Dichter, sagt man.«

»Und die Dichter lügen, sagt man!«

»Wie die Kalfaterer. Sie streichen ein Leck mit Pech zu, ohne Holz darunter genagelt zu haben. Die beste Barke geht flöten.«

»Allora« – dieser Zickzackzug von Humor im entgeisterten Gesicht war zum Fürchten! – »siamo fratelli?«

»Wenn ich Euch sagen könnte«, antwortete Goethe geistesgegenwärtig rasch, von neuem setzte er das rechte Bein auf das Boot, »Matteo treibt gesund von Nordosten herab, oder er treibt nicht von Nordosten herab, sondern auf dem Grunde des Meeres, – kurz: so oder so, aber wenn ich Euch damit helfen, Euch den Berg von der Brust wälzen könnte, – dann redete ich ohnedies anders! Denn es ist bitter, jemanden leiden zu sehen, dem man nur sagen kann: ich möchte tauchen lernen, tauchen hinab in die allertiefste Tiefe, und: ich bin ein Dichter. Da komme ich vom Norden herab vor dies Haus, das ich hunderttausendmal im Traum schon gesehen habe, und erkenne es im ersten Augenblick wieder, und schaue und schaue und schaue, und je deutlicher ich es wiedererkenne . . . .«

Er brach ab: aus dem Tor kam das Mädel gelaufen. Es trug ein Schaff mit Wäsche vor dem Leibe, strebte, getrieben von der Last, der Stufe zu, die vom Ufer in den rivo hinabstieg, und rief, am Alten vorbei: »Babbo, xè il Sior Enrico. Vol parlarghe. Subit'!«

Genau so schnell wie früher verwandelte sich der Alte. Als ob das Ungeheuer, das in seinem Blut drinnen raste, zerspalten verreckte, hob er erlöst den Kopf, ließ die Augen, die gezwungen dem Mädchen folgten, ganz sanft werden und traurig, tat einen Seufzer, trat aus dem Boot und ging.

Ohne vom Mädchen gesehen zu werden, mit unerbittlich scharf forschendem Blick, setzte sich Goethe in den Holzblock zurück. Das Mädchen hatte die Stufe erreicht, das Schaff in das Ufer gesetzt, sich in die Stufe hinabgekniet. Nun nahm es Stück für Stück aus dem Schaffe, befestigte jedes, die Arme weit übers Wasser reckend, an Holzklappen, die der Reihe nach an einem Seil rivoaufwärts saßen, und legte die Stücke so über den Steinrand, daß sie bis zum Saum im Wasser trieben. Als dies vollendet war, hob sie vom Pfahl im Rücken das Waschbrett, richtete dieses quer vor ihrem Schoße in das Fließende hinaus, holte das Hemde, das ihr am nächsten trieb, heran und begann es, tief darübergebeugt, mit aller Gewalt einzuseifen. Ohne Mühsal bewegte sich der Körper. Leicht traten die Linien und Formen aus dem Rhythmus der Arbeit. Vom lockigen Ansatz des Blondhaars zog der Nacken flaumig hinüber zu den Schultern. Geschmeidig gewölbt schwang der Rücken zu beiden Seiten der Wirbelsäulebuchtung hinab nach den Hüften; hinab nach der fehlerlosen Rundung. Frei gebildet wuchsen die Arme, den Brüsten eng nahe, von den Achseln hinaus in die Hände. Diese, wie die Füße, die mit festen Zehen den Takt des Sichbeugens und Wiederaufrichtens in den Sand hinein spielten, lebten am kräftigsten. Nicht nur die Begierde nach unausgesetzter Regung sprach aus den Gelenken, von denen die Fächer der Finger sich knapp abhoben. Noch eine andere, vom Auge, vom Munde, vom Busen herniederfließende, antreibende Unrast sang aus ihnen; niemals, zum Beispiel, verschwand der goldene Reif, den die Linke trug, unter Seife, Wäsche, Arbeit und Wasser.

»Nicht wahr«, sagte Goethe plötzlich laut vor sich hin, die volle Gewißheit neuen Werdens triumphierte im geretteten Auge, »wir Männer machen uns gar keine Gedanken über das, was euch zarte junge Geschöpfchen von früh bis spät plagt? Über euer Tagewerk nicht, und über das, was in eueren verschwiegenen Herzlein vorgeht, noch weniger? Nicht wahr?«

Das Mädel hob die Arme vom Brett auf. Reckte das Köpfchen schräg aufwärts zu ihm; hatte wirklich dieser Fremde geredet?

»Es gibt natürlich Stunden«, fuhr er, ohne ihr Zeit zu lassen, fort, »da ihr glaubt, daß wir euch ganz verstehen: die Stunden der Liebe! Denn wir müssen euch liebhaben, und wer will nicht das Unverständlichste zu verstehen vorgeben, damit er geliebt werde von euch? Aber selbst dann, . . . glaubst du, wir wissen selbst in diesen Stunden ganz, was ihr seid, was ihr gebt? Wie viel weniger also erst vorher und nachher!«

Kopfschüttelnd, ohne Wort, ohne Gegenblick, beugte sich das Mädel zur Arbeit zurück.

In Goethes Wangen stieg Blut. Seine Hände, als hätten sie ein Stück Wachs vor sich, regten sich, den unbarmherzigen Sehwillen eines Tauchers bekamen seine Augen, dem das Herz in Angst braust vor den wartenden Schrecken und Wundern. »Ein Mann ist eben immer ein Mann. Er will nach der Welt. Ihr aber, . . euere Welt, die ist er! Oder nicht?«

Zum zweitenmal, weil es sich gegen den Zwang nicht zu wehren vermochte, hob sich das Köpfchen. »Non intendo,« lispelte es endlich kaum hörbar.

»Es gibt natürlich Ausnahmen!« versuchte er schnell, listig. »Männer, die nichts anderes im Sinn tragen als das Gesichtlein der Fidanzata?«

Im Nu feuerrot geworden, grub das Mädel die Hände in die Wäsche zurück. Schlug die Wäsche so grausam, daß es wie Peitschenknall von der Wand des Gefängnisses widerhallte.

»Aber selbst diese Ausnahmen . . . .« – da entschloß er sich. Verließ den Holzblock und setzte sich knapp neben das Mädel in das Ufer hinab. »Nehmen wir an: ein junges, schönes, braves Mädel hat sich einem jungen, schönen, ehrlichen Jäger vergeben. Eines Morgens geht der Jäger auf die Jagd in den Urwald, der ebenso wimmelt von Finsternis, Löchern, wilden Tieren und Mooren, – wie das Meer von Klippen, Orkanen und Haifischen. Nun ist dieser Jäger, obwohl er schon am Abend zurückgekehrt sein sollte, nach drei, vier, fünf Tagen noch nicht wieder daheim. Das Mädel in seiner Hütte wartet, wartet und wartet . . . .«

Wie vom Blitz mitten hinein in sein Herz getroffen, riß sich das Mädel vom Brett zurück, drehte sich um; sah ihm mit schauderndem Gesicht in die Augen.

»Glaubst du nun, wenn der Jäger heimkehrt, – denn er kehrt natürlich heim! – glaubst du, er wird sich auch nur die Zeit dazu nehmen, um auszudenken, was sein Mädel in diesen furchtbaren Tagen und Nächten gelitten hat? An seine Brust nimmt er es, lachend, denn er hat Löwen erlegt und wird ihre Felle verkaufen, und küßt es wie der Sieger, der Sieger! Aber die Qual ihres Herzens . . . mit diesem Kuß ist sie, für ihn, ewig begraben!«

Mit einem Schrei, einem einzigen fassungslos wilden Erbeben, brach das Mädel in Tränen aus.

»Und dennoch,« – mit aller Gewalt zwang er dem Auge das Wort ab – »sie wird, ohne auch nur ein Wort zu sagen, nur ein einziges Schmerzchen aus ihrem Schmerz zu verraten, lächeln wie er! Nur noch glücklich darüber: daß sie so leiden durfte, um ihn wieder zu haben!«

»Er kommt aber nicht mehr zurück!« Die Hände vom Gesicht herabgerissen, mit verzweifelten Lippen, schrie sie heraus.

»Niemals wieder! Nie wieder!«

»Er kommt gewiß zurück!«

»Seit drei Tagen schon sollte er da sein!« Überschwemmt von den Tränen, an allen Gliedern zuckend und blutend aus unzähligen Wunden, rang der Leib sich, der ganze jäh aufgerüttelte Mensch sich ihm näher. »Sie wollten nur über Torcello hinaus in die obere Lagune. Von dort müßten sie lang schon zurück sein! Und es war Sturm in der vorgestrigen Nacht! Der Doddo vom Hafen erzählte, sechs Barken von Chioggia seien bei Ancona – vor Ancona! – gesunken.« Jede Nacht seit der zweiten habe sie mit den Nachbarinnen draußen auf den fondamenta verbracht, um ihm entgegenzusingen. Diese furchtbaren Stunden! Wenn man schon meint, nun ist es er, endlich und wirklich er, der zurücksingt, das Herz steht einem still, man macht die Stimme mit aller Macht groß und stark, sie muß das Wunder aus dem Himmel herabreißen, – und einen Augenblick darauf ist es wieder nichts! Ist es wieder nicht er! »O, wie schön war's, wie schön, als ich das alles nicht kannte!«

»Was: Alles?«

Sie schluchzte nur, das Gesicht in den Händen verborgen, unerbarmt vor sich hin.

Seufzend steckte Goethe sein Wissen um dies »Alles« ein. »Er ist sehr gut zu dir?«

Es kam ihr gar nicht mehr in den Sinn, zu fragen, wieso dieser plötzliche Fremde in das Meer ihrer Peinen hinabtauchen konnte. Das Gesicht, wie von einer Riesenfaust niedergepreßt, sank tiefer, stöhnend bäumte sich die Brust gegen das dreieckige Tuch, kein Tropfen Friede mehr rann im gemarterten Leibe. »Man braucht nur zu sehen, wie er mit seiner Mutter ist. Im ganzen Viertel heißt sie die Hexe!«

»Wann sollte die Hochzeit sein?«

»Zu Weihnacht.«

»Hast alles schon hergerichtet?«

»Alles!«

»Die Marsili und die Perotti sind aber auch noch nicht zurückgekommen?«

»Niemand! Nein!«

»Darum sag' ich dir eben: er wird gewiß wiederkommen! Gewiß! Ganz gewiß!«

Zitternd, bewußtlos, Finger für Finger, löste sie die Hände vom Gesicht. Es kam das Köpfchen eines Engels hervor, der sich vom Paradies auf die Erde herab verirrt hat und nach endlos vergeblichem Suchen nun zum erstenmal wieder den Schimmer des Tors sieht.

»Gewiß kommt er wieder! Ich sage es dir!« Und weil sie im panischen Kampf zwischen Glauben und Zweifeln zu stammeln schien: »Wie wollen Sie das wissen?« setzte er noch bestimmter hinzu: »Gerade der Fremde kann das fühlen! Sieh!« Und heiß, jede Fiber der Seele in gespannter Erregung, rückte er ihr näher. »Gewiß: die Rückkehr ist verzögert worden. Aber durch Ungunst? Warum nicht durch Gunst? Matteo ist ein tapferer, verwegener Bursche, er wollte, sagen wir, bis Triest kommen . . . . .«

»Bis Triest fahren sie niemals!«

»Oder sie landeten, und zogen bis Aquileja, um Holz mitzunehmen, oder sie legten an einer der Inseln an, um die gefangenen Fische zu verkaufen und im Heimweg neue zu fangen!«

»Nein! Unmöglich!«

»Nichts ist unmöglich! Alles ist möglich! Du wirst sehen, wie wenig Mögliches du gelten ließest, sobald er dir das Unmögliche erzählt hat. Denn ich sage dir: er steht jetzt lustig singend in der Barke überm Wasser, hat ein lockeres Kännchen Wein neben sich – der Wind weht von Osten – und beeilt sich gar nicht, nach Hause zu kommen, weil ihn, nach Männerart, dieses prachtvolle Abenteuer sündhaft erfreut!«

»Wenn er aber« – wie ein Dolch durchfuhr dieser Blick seine Brust – »wenn er trotzdem nicht wiederkommt?«

Als ob in diesem Augenblick sich seine Füße unwiderstehlich von der festen Erde auf das schwanke Drahtseil wiederhöben, irr, blickte er von ihr weg. Den rivo aufwärts und den rivo abwärts. Nach dem Hause zurück. In den Himmel empor. Unheimlich ineinander, in das quellende Blut dieser zauberhaften Stunde flossen alle Zeiten, alle Länder, alle Schicksale der Menschen!

»Ich kannte einmal ein Mädchen«, begann er endlich, ohne Stimme, »es war so jung, so unschuldig und so schön wie du. An einem Sommermorgen sah ich's zum erstenmal. Von diesem Blick an liebt' ich es. Als ob ich zweiundzwanzig wilde Jahre lang auf dieses Opfer wild gewartet hätte, und keines– keines mehr! – je später käme, das ich noch heißer lieben müßte! Und sie, die von der Liebe nichts noch, nichts! erfahren, – sie lernte mich wieder lieben. Ganz auf nahm mich das unverdorbne Herz. Trank kindlich gläubig jedes süße Wort, das niemals müde ward zu schwören und zu singen, wie ich liebte. Ich meint' es treu! Weiß Gott, ich meint' es treu! Ich liebte eben, liebte, – liebte! Anmutigeres als dies Geschöpf, das unter meiner Wonne täglich sonniger erblühte, hatt' ich nie gesehn. Mein Drang und Hang, ein heimliches Gemüt zu wissen, in das ich wahllos alles gießen dürfte, was wirr und unbeholfen in mir trieb und kämpfte, – ein inniglich bereiteres konnten sie nicht finden. Gott, war das Leben nun zu zweien schön! Nie mehr allein sein! Stündlich neu Vermählung! Der Tag begann mit Lächeln an den Zweiten! Im Lächeln an den Zweiten ging er hin! Mit einem Lächeln an den Zweiten schloß er!«

Reglos, ein Kind, das Märchen hört, das holde Mündchen atemfroh weit offen, hing jetzt das Mädel heiß an seinen Lippen.

»So wuchsen wir«, fuhr er schweratmend fort, »im Kreislauf eines Jahres tief zusammen. Hätt'st du mich damals je gefragt: was träumst du dir, was sehnst du von der Zukunft? – ich hätte fest beteuert: Margarethe! Und Margarethe? Sie? Um mir zu dienen, – nach Rußland, bettelarm, in Lumpen und durch Räuber, wohin ich wollte, wäre sie gewandert! Nur um zu lieben! Nur um mich zu lieben!«

»Da, eines Tages – war ich weg! Ganz einfach weg! Nicht ohne Abschied! Nein! Ich sprach es deutlich aus: die Zeit, die ich uns beiden zugemessen, von Anfang an, ist nun vorbei. Das Leben, ob ich auch die Tränen sah, – sie. weinte, o wie bitterlich sie weinte! – das Leben, sagt' ich, reißt mich fort von dir. Es wartet, und ich will es nicht versäumen. Und ließ sie krank, zerbrochen und vertan, zertretnes Herz, der Hölle ihres Todes, – und ritt vergnügt in meine neue Welt . . .«

» . . . und kehrte niemals, niemals, – niemals wieder!«

»Wenn dein Matteo nicht kommt«, – als ob ihm die tobende Brust keine Silbe mehr gönnte, die ohne Tränen aus ihr aufstieg, sein Auge keinen Funken Lichts mehr sehen dürfte, ohne geblendet zu werden zur ewigen Strafe, sprang er auf und ins Ufer zurück – »wenn dein Matteo nicht wiederkommt, Marietta, – dann denk an Margarethe, die gejauchzt hätte, wenn ihr der Liebste nur gestorben wär'!«

Und wie ein Schatten vor dem Aug, das ihm entgeistert nachlief, flog er weg.

»Piero«, befahl er, heimgekehrt, ohne jedes Zögern, »packe meine Siebensachen. Heut Nacht mit dem Kurierschiff reise ich.«

O, er war darauf gerüstet, daß der Alte verständnislos den Mund aufreißen und, wenn er entschlossene Augen auf sich gerichtet sah, erst in Entsetzen, dann in welsches Weinen ausbrechen würde. »Ich komme wieder, guter Junge!« sagte er drum schnell drauf, mit tief verhülltem Antlitz. Tat eine weite Handbewegung – wie über den Schmerz des starren Alten hin – und ging. Zur Carità noch einmal. Fuhr dann zum Redentore über. Auch der Rialto sah ihn; später abends. Die Dämmerung aber fand ihn draußen zwischen den fondamenta der Medicanti und Burano, zusammengekauert in einer finsteren Barke, die der greise Greco lenkte. Die Lagune still. Die Luft erfroren. In seinen welschen Mantel eingehüllt, saß er wie Statuenleib, den Blick ins tiefste Innere stumm versenkt. Sah nicht nach vorn, wo überm Buckelgang des Wassers der letzte Schimmer dieses letzten Abends auslosch, und nicht zurück in die erblichne Stadt, die mit gerecktem Arm die vielgestuften Dunkelheiten ihrer Steine zu einem einzigen blauen knapp zusammenschloß und diesen scharf losrang vom Himmelbleich und vom erblaßten Westen. Kein Denken störte den entschlossenen Geist, das dem, was außer ihm war, gelten sollte. Nicht eine Regung im versammelten Gemüt, die andres traf als ihn allein. Er fühlte, lauschte, sann und sah nur sich. Das Vollempfinden ungebrochnen Reichtums, das ihm der Morgen weckend eingegossen, erfüllte ganz, mit Andacht, seine Seele. Fremd allem ringsumher, entrückt der Möglichkeit, daß auch Vertrauteste ihn fänden, und doch dem Zittern jedes Zufalls offen, der gut und bös ihn überrumpeln konnte, genoß er staunend die Gewalt des Seins. Was er sich jemals für sich selbst gewünscht, wovor ihm jemals, für sich selbst, gebangt: Wunsch, Wille, Furcht und Bangnis waren tot. Lebendig nur noch, in ganz sicherer Freiheit, das volle Wissen: Schale bin ich, Werkzeug. Was jetzt geschah, von dieser Stunde an, die ganz erwiesen, wie er sich besaß, – es konnte mehren, mindern, oder töten. Doch eines nicht mehr: ihn sich selbst entfernen! Vergangenheit, der lähmende Begriff von Zeit, die falsch gelebt, umsonst gelebt, wie giftiger Wurm am Mark des Heute saugte, von Zeit, die schön gelebt, doch, weil sie schon vorbei, nur Schwäche, Wehmut, Leid, ja Ekel nachließ, – seit diesem Morgen war dies Wort dahin. Ein einziger Blick, getan ins Urverhüllte, ein einziger Herzschlag, rein gewirkt im Blute, das über Recht und Frevel ferner Jahre auch heut noch warm in seinem Menschen floß, – und was er je gestrebt, gelitten und gesündigt, zu reiner Gegenwart geläutert war's gerichtet. Gar jede Freude hatte recht gehabt. Gar jeder Kummer hatte recht gehabt. So war er frei! Zum erstenmale frei! Auf festem Grund, den keine falsche Reue mehr benagte, nur noch das Grün der Dankbarkeit umwuchs, schwang frei der Raum der unbegrenzten Höhe, in den er bauen sollte, was der Ruf ihn hieß. »Nur noch der Tempel bin ich, der die Strahlen sammelt, die rund und hell in seine Fenster fallen, – und sie mit Aufwärtsblick, der Kuppel zu, zu neuem Lebenssinn nach oben wandelt. Leicht winkt die Erde mir, der klare Himmel leicht . . . .«

Als ob ein Tau, das Stadt und Weite knüpfte, in raschem Riß erzitterte und schwänge, durchschnitt ein Laut – ein Schrei? – ein Lied? – die Luft, und eilte fragend, flehend durch sie weiter.

»Die Weiber, die ihren Männern entgegensingen!« lachte kühl der Greco.

»Pst!« hob Goethe streng den Finger.

Und wahrlich – horch! – ganz ferne, ferne, sang die Antwort.

Sanft, ohne Echo, wie verweht, erstarb sie.

Nun Stille!

Jetzt aber: – laut stand Goethe auf, die Barke kam ins Schaukeln – aus vier, fünf, sechs von neuem wachen Stimmen, die fordernd uferher herüberklangen, hob sich dem Ohr, das sie gespannt ergriff, wie Schwesterstimme auch Mariettas Stimme.

»Come al lume farfalla ei si rivolse« sang's von ihr her.
»Allo splendor della beltà divina« schnell vom Meere her.
»E rimira d'appresso i lumi volse« neu hinüber.
»Che dolcemente atto modesto inchina!« hell herüber.

Und jetzt, als ob der Rhythmus nun erst richtig rollte und Tassos Vers mit Flut und Ebbe wallte, spann Vers an Vers sich zur vertrauten Rede, die klar mit Frag und Antwort Meer und Land verwebte. Das Aug', dem Ohr gewichen, sah die Weiber nicht, die weltentrückt, mit hochgereckten Leibern, die Arme in die Hüften eingestemmt, der Luft dahingebeugt, die schmalen Ufer traten; die Männer nicht in den noch fernen Barken, mit dunklen Knieen tief in Fischen watend. Oft starb der Vers im Feuer der Begierde, heranzuzerren, was so schleppend nahte. Dann kam die Antwort wie gemacher Trost: »Ja, ja! wir sind es schon; habt nur Geduld!« Schnell drauf, im Gegensang, begeistert: »Gerne!« Oft aber trieb der Wind nichts als ein Echo her, und dies nur unverständlich, zweifelhaft, verschwommen; kam's südenher? kam's ostenher? Woher? Dann war's, als ob der Heldenmut der Weiber schrill zerbräche, der Tränen Furiengriff die Stimmen würgte, – und trieb der Wind dies Spiel noch einmal, zweimal, dann schrie Verzweiflung aus den halben Worten. Oft aber – kam auch nichts vom Meere her! Kein Stoß, kein Ruck, kein Wogensang, kein Säuseln. Erlogen lachte, was so klar versprochen. Die See lag tot. Im Himmel schwarze Sterne. Die Stadt verwirkt –

Und plötzlich, allum, Schweigen.

Bis eine Stimme jäh es neu zerhieb, die andern aufzwang, aufriß, unerbittlich. »Marietta ist's! Ja! Wieder ist's Marietta!« Die Barke unterm Mann erschrak. Doch – auch Marietta mochte rufen, singen, – nur mehr der Dichter war's, der, lange schon vermodert, durch diesen Mund, der kaum sein Wort verstand, aus weiter Ewigkeit herüberlebte. Jerusalem, bezwungen oder frei, – Torquato Tasso sang jetzt überm Wasser! Die Weiber schliefen, an ein Schiff gelehnt, Marietta sang, weil ihr das Herz nicht schlief, – doch nur Torquato Tasso war jetzt überm Wasser! Er ganz allein, der Fern und Nah verband, dem Mann, der fiebernd in der Barke stand, mit tiefstem Sinn ins wilde Innere sang. Nicht mehr war Nacht, Venedig, Ufer, Meer, gehetzte Qual zerriebner Weiberseelen. Torquato Tasso nur, vom Staub befreit, der Erde und des Irrtums ganz entbunden, zog lächelnd durch den Doppelsaal der Welt, und zwang sie leicht, weil er sie überwunden. Und an sein schwarzes schlankes Wams gelehnt, hielt er Marietta, die ihn bettelnd pries, – »per dio! Mostro!«

Die Barke hatte einen Sprung getan.

»Diabolo! Beatissima vergine!« fluchte der Greis, aus dem Stand geschleudert, den Gast im Boden und das Wasser drüber. »Porco maledetto! Bestia! Canaglia!« Und riß das schaukelnde Holz mit Todeseile in Gegenwasser. Aber Goethe war schon aus dem Strudel gesprungen, auf die Bank geschnellt. Mit der Stimme eines bärenhaften Steuermanns schrie er durchs Rohr der frierenden Hände zur Barke hinüber, die rauschend vorüberfuhr: »Matteo!« Der Barke folgte eine zweite, der zweiten eine dritte, der dritten die vierte, dieser die fünfte. »Matteo!« schrie er brausend in jede, während dem Schiffer der Schweiß der Wut in den Bart hinabrann. »Matteo!« Und als die Barken mit hochaufschäumenden Kielschwänzen, in deren Wirbeln jeder Ruf ertrank, schon vorübertosten, »Matteo!« Und immer wieder gezielter, gespannter, gebannter: »Matteo!« Bis ihm – Blitz, Donner oder Schlag? – die Stimme ausging und er steil wie ein Mastbaum in die Höhe emporwuchs. »Marietta hat ihn! Hat ihn! Ja! Sie hat ihn!« Und wahrlich: Brandung drüben, am Ufer, – und die Wasser begannen zu wallen wie von neuen Quellen des Lebens, die Stadt sich zurückzuschmiegen mit Kuppel, Turm, Zinne und Leben in die Feier des Himmels, und von Torquatos Brust weg, selig schneidend, sang sich Marietta jauchzend: Sieg und Hochzeit.

»Kehr um!« befahl Goethe heiser und ließ sich nieder. Müde, todmüde. Wie ein betäubendes Gift streckte ihn die Entspannung zu Boden. Es fröstelte ihn. Schleier, so sehr er sich dagegen wehrte, überfielen immer dichter die erschöpften Sinne. »Ich muß schlafen!« stöhnte er. Aber ehe das Haupt das harte Holz fand, fiel ihm ein: Das Kurierschiff geht um Mitternacht! »Eil' dich! 's ist höchste Zeit!« rief er, rasch aufgerafft, dem Alten zu und stieß ihn tückisch in die Seite. Das half. Wie hungriger Hai schoß die Barke durchs Wasser. Rauschen. Gleiten. Strömen. Plötzlich, als ob sie krachend an etwas Hartes anführe, machte sie Halt. »Was ist?« wollte er, wachgerüttelt, noch fragen; da fühlte er sich ergriffen. Von rückwärts; mitten aus der Schar neidisch gelber Gesichter, die vom Ufer aus grinsend den Griff der Schergen hinter seinem Rücken verfolgten, starrten ihn, eng nebeneinander lodernd, die Augen des Herzogs, Herders und Charlottens an. Des Herzogs Miene war wie Gewitterhimmel. »Also deshalb bist Du mir durchgegangen?« Wie ein Messer stach Herders spotttriefender Blick: »Um Romanzen zu erleben?« Charlotte aber, – die Empörung der weltausgespieenen Kreatur flammte in ihren Pupillen. »Wer ist mehr Margarethe,« schrie sie ihn tobsüchtig an, »ich oder sie?« Er tat einen Schrei, verlor den Hut, – im nächsten Augenblick, von blitzschnell Herangeruderten den Häschern entrissen, saß er gefesselt zwischen zwei Vermummten. In einer Gondel. Die Gondel flog, von zornigen Schreien verfolgt, lächelnd dahin. Landete genau an der Piazzetta. Die Vermummten stiegen aus, zogen ihn ans Land. Führten ihn durch die Porta della carta, über die Scala dei giganti unmittelbar bis vor die Gemächer des Dogen. Vor einer ungeheueren schwarzen Tür, die mit eisigem Marmor eingefaßt war, übergaben sie ihn zwei Hellebardieren. Die lösten ihm die Fesseln. Dann schlug eine der Hellebarden in den spiegelglatten Marmorterrazzo, die Flügel der Türe flogen auf, drei scharlachrote Männer traten hervor: die Staatsinquisitoren. »Ich verlange, daß ich unverzüglich freigelassen werde!« begehrte Goethe mit ungebändigter Stimme auf. »Mein Schiff geht um Mitternacht, ich habe keine Minute zu verlieren!« Aber noch während er redete, nahmen ihn die Scharlachroten in ihre lautlose Mitte, führten ihn durch eine dichte, stumm würdeduftende Gasse von Purpurroten und Violetten in das zauberhaft schnell aufgerissene Gemach des Dogen. »Da ist er!« riefen sie, unter dem tausendflammigen Lüster angelangt, dem Dogen zu, der zwischen zwei maurischen Fenstern klein und hutzelig auf einem Löwenfell kauerte; ließen die Hände von Goethe und verschwanden. »Eure Herrlichkeit«, begann Goethe, ohne eine Sekunde zu verlieren, furchtlos näherte er sich dem Dogen, »es drängen mich Gründe, die zu erklären zu weit führen möchte, unverzüglich nach Rom abzureisen. Mein Schiff geht um Mitternacht. Ich stelle an Eure Herrlichkeit die Bitte . . .« Da stand der Doge bereits vor ihm. Genau unter dem königlichen Lüster, der seine Strahlen gleichmäßig auf die Arabesken des Bodens, die Gobelins an den Wänden, die Spiegel an den Ecken, die Fresken der Decke und die verstreuten Truhen, Tische, Bänke und Sitze aus Ebenholz warf, stand er vor ihm im goldenen Talar, bedeckt mit der goldenen phrygischen Mütze. »Die Signoria hat erfahren«, begann er heiser, »daß Sie unter falschem Namen in Venedig weilen. Warum?« – In fließender Rede erklärte Goethe. – »Die Signoria hat ferner erfahren,« setzte der Doge fort, und nun vermochte Goethe jeden Zug im pergamentenen zahnlosen Gesichtchen unterm weißen Käppchen zu erkennen, »daß Sie in – sagen wir, mysteriöser Weise heute abend das Schicksal einer Familie gelenkt, – besser: verrenkt haben! Denn der heimgekehrte Matteo fiel, als er an Strand trat, unter dem Messer eines eigentümlichen Rivalen: des Vaters der Braut. Er ist tot!« – Goethe taumelte. »Das ist nicht möglich!« – »Trotzdem,« hob der Doge zum drittenmal an, »will ich mich für Ihre Freiheit einsetzen, wenn Sie zum letzten Punkt der Anklage befriedigende Aufklärung zu geben vermögen. Die Signoria hat nämlich drittens erfahren« – und nun verwandelte sich der Doge. Sein Auge, bisher der Macht bewußt und völlig geschäftskalt, ward plötzlich bange und lichtlos. Wie um sich Mut zu machen, kroch es die hohe Wand empor und tastete nach dem Markuslöwen, der marmorn das Gesimse der schwarzen Tür besetzt hielt. »Die Signoria hat nämlich drittens erfahren« – zitternd kehrte das Auge zurück, in Stößen atmete die Greisenbrust – »daß Sie sich über die Republik Gedanken machen, die . . .«

»Gedanken sind zollfrei!«

»Nicht in Venedig!« Fein lächelte der Doge. Aber schnell starb das Lächeln. »Ich bin Paolo Renier. Man hat mir vergangenen Sommer, als mir das Mißgeschick begegnete, – Sie wissen doch?«

»Nichts weiß ich.«

Wie im Schüttelfrost: »Der Ring, den ich am Himmelfahrtstag nach alter Sitte ins Meer warf, wurde vom Meer nicht angenommen; er schwamm wie Holz auf dem Wasser. Man prophezeite mir darum, nur noch ein Doge werde nach mir kommen . . .«

Einen todverachtenden Schritt näher tat er. »Sie sind ein Nordländer, also unvoreingenommen. Sie sind Minister eines Staates; also in den Bedürfnissen und Zuständen eines Staates wohlbewandert. Und treiben sich seit fast drei Wochen offenen Auges in Venedig herum. Ich – stehe am Rand meines Grabes. Es ist nichts begreiflicher, als daß ich« – mit wachsbleicher Zitterhand berührte er Goethes Brust – »als daß ich mit Grauen sterben müßte, wenn vorher, in Tat oder Gedanken, etwas geschähe, was mir den ungeschwächten Glauben an die Kraft meines Staates zerbräche. Wir sind ein Gemeinwesen, das mit folgestarrer, rücksichtsloser Despotie nur Weniger den ungeheuren Bannkreis unserer Untertanen, unserer erkriegten und erworbenen Länder, der angehäuften Schätze an Gold, Geld, Gut und Kunst – und unseren Weltruhm in Gehorsam zwingt. Venedigs Macht fürchtet die gesamte Nachbarschaft. Unsere Schiffe beherrschen die Meere des Handels. Unser Handel die Begierden Europas. Was wir an Schönheit von überallher zusammengerafft haben, die Sehnsucht jedes Strebenden. Dies alles nun, ohne jede Ausnahme, sehe ich noch fest dastehen, jeder Zukunft trotzen, – bis auf . . .« Plötzlichen Schweiß auf der Stirne, haschte er Goethes Hand in seine zuckenden Finger und preßte sie beschwörend; »bis auf gewisse Träume, die mich hie und da – zur Verzweiflung treiben!« Zurückschnellend, stolz, daß der Ruck den gebrechlichen Bau seines Leibes wie ein Erdbeben durchriß, raffte er sich auf. »Sagen nun Sie mir – schonungslos! –: welchen Eindruck macht Ihnen Venedig?«

»Es ist das Menschlich Interessanteste, was mir jemals unter die Augen kam,« antwortete Goethe ohne Besinnen.

»Das meine ich nicht!« Wie ein enttäuschtes Kind stampfte der Doge den Boden. »Ich meine . . .«

»Venedig unterliegt der Zeit, wie alles, was ein erscheinendes Leben hat.«

»Zeit, Zeit, Zeit! Die Zeit ist lang!«

»Wenn sie nicht schon vorbei ist, für Venedig?«

»Das ist erlogen!«

»Ich sehe die Signoria erstarrt in Formeln und Artikeln.«

»Das ist Verleumdung!«

»Die Länder, die am üppigsten speisten, sind dahin. Die Schätze aufgezehrt. Die Quellen, aus denen sie flossen, versiegt. Der Ruhm – nur noch natürlicher Abglanz einer großen Vergangenheit. Die Feste, die Sie feiern, nur noch Erinnerungen. Und das Volk . . .«

»Das Volk?« Drohend wie ein goldener Schatten trat ihm der Doge an den Leib. »Das Volk?«

»Das Volk, auch wenn es zu lachen scheint, zu scherzen und zu tanzen, es lacht doch nur auf der Bühne eines Friedhofs. Tanzt doch nur, genau so wie die Signoria in Maske und Pomp, den Tanz seines Todes. – Venedig stirbt, Euere Herrlichkeit!«

Wie ein Geist wankte der Doge zurück. »Führt ihn hinab!« zischte er aschfahl die Männer an, die eingefallen waren. »Hinab!« Und wahrlich, bevor er noch einen Laut auszustoßen, mit der Wimper zu zucken vermochte, ergriffen die Maskierten Goethen und stießen ihn hinaus. Wie erstarrten Leichnam fühlte er sich. Die Augen sahen, die Ohren hörten, das Fleisch empfand die Püffe der Männer, die modrige Nässe, kalte Glätte der Wände, zwischen deren grabschwarzer Finsternis er durch unzählige Tore, ewige Hallen und Gänge über immer noch engere und zerfressenere Treppen in die Tiefe des Palastes hinabgezerrt wurde; und konnte sich dennoch nicht regen. Als ihn die Vermummten endlich verließen, fand er sich auf pfütziger Erde in undurchdringlichem Dunkel. Von Fiebern geschüttelt, schlief er in Betäubung hinüber. Zehnmal pochte es an der Wand, die seinem Haupte gegenüber starrte, ehe er es vernahm. Beim elften Schlag erwachte er. Erhob sich. Stieß das Haupt an der Decke blutig. »Was ist?« stammelte er zurückgesunken. Ein Schrei, der ihm Mark und Bein durchfuhr, antwortete. Draufhin: silbernes Lachen. Daraufhin: ein Axthieb! Nun – Stille. Wie ein Maulwurf, der plötzlich den Zentner Erde über seiner Blindheit erfühlt, griff er, den Schlamm auf den Knien durchrutschend, mit verzweifelten Händen in die bröckelnde Quader und rüttelte. Auf einmal – er mußte stundenlang gerüttelt haben – sang Wasser! Zitternd reckte er das Ohr. Wasser strömt herein! Im Nu wachsend, gurgelte es schon um seine Füße! Kein Zweifel, er hatte die Mauer, die in den Kanal hinaus ging, aufgerissen. Nun ertrank er! Klappernd vor Todesangst, mit aller Gewalt der Glieder sich zum pfeilschnellen Fisch zusammenklappend, schoß er heraus aus dem Sprudel, hinein in den Strom –, und kam prustend empor. Schwamm unterm Bogen der Seufzerbrücke im Kanal.

Eine Stunde später trieb er vor der Giudecca draußen, in der Richtung Ferrara. Am späten Abend landete er, nackt und halberfroren, an der Küste von Ferrara. Ein Bauer zog ihn in einer Schilffuhre in die Stadt. Der Herzog ließ ihn laben und kleiden. Nach Cento durchgekommen, fand er Guercinos Haus offen. Freundlich reichte ihm Guercino fünf Dukaten auf die Reise. Er war nun mager wie ein Windhund. Um den erblichenen Mund die Höhlen der Entbehrung. Dennoch: unermüdet von früh bis nachts zog er die Straße. Die Kleider zerrissen wieder. Das Geld ging aus. In mancher Herberge fand er statt geschenktem Essen und erlaubtem Lager Schimpf und Schläge. Dennoch: unermüdet von früh bis nachts zog er die Straße. »Lotte«, träumte er wohl oft im Wege vor sich hin, »wenn du jetzt deinen Liebsten sähest! Wie er mit brennenden Füßen, Hunger, Angst und Durst, und ohne Wissen, ob in Rom ein Dach sich findet, der Sehnsucht nachrennt.« Denn diese Sehnsucht machte immer heißer rennen. Hinter Foligno erzählte er einem Banditen, der ein Stück Weges mitging, es habe ihn in Venedig einfach nimmer geduldet. Als er dort angekommen, sei er noch ein Stein gewesen; als er fortging, vor acht Tagen, – ein Mensch. »Ich mußte erst, mein Lieber, das Menschenherz in diesen Rippen wiederfinden, eh' ich den heiligen Weg herab da wagen durfte. Nun freilich« – siegreicher lachte er auf – »kann mich kein Engel mehr, bei Zeus, erschlagen!« Da schlug der Engel ihn. Knapp hart vor Terni. Von einem scheugewordenen Reitroß überritten, brach er das rechte Bein. Sieben volle Stunden müht' er sich noch weiter. Dann blieb er liegen. Zwölf Vetturini, während der zwei Tage, fuhren frech an ihm vorüber. Der Berg dort unten, blaue Dreieckzacke, hieß Soracte! Nocheinmal, trotzwild, zwang er sich, zu humpeln. Umsonst. Zum zweitenmale sank er hin. Verzweifelt raste er: »Ich muß nach Rom!« Im Morgengrauen nach dieser grauenvollen Nacht nahm ihn ein Karren mit; zurück. Drei Nonnen saßen drin, die wollten ins Hospiz nach Orte. Er hatte sich mit Leibeskräften gegen sie gewehrt. Umsonst! Der Karren knarrte fühllos: heimwärts! »Hört!« wimmerte er von Meilenstein zu Meilenstein erbarmungswürdiger die Nonnen an, »ich muß nach Rom! Lebendig oder sterbend! Bringt mich in ein Asyl nach Rom! Ich laß mich gern bekehren!« Sie zogen blinzelnd ihre Rosenkränze, plapperten kreuzschlagend, – da, wie ein Blitz, die Eilpost saust vorbei! Ein einziger Gast sitzt drin!»O, nehmt mich mit! Bei Eurer Seligkeit!« rief er, von Tränen überströmt, trotz allem Schmerz weit aus dem Weidenkorb herausgebeugt, zum Fremden hin, »erbarmt Euch meiner! Gott wird's lohnen!« – »Wohl!« rief der Fremde, riß den Schlag auf. »Hurtig!« – Ha! Wie er niedersprang vom Schinderpfuhl! Ein Bein schon hebt er glücklich! Nun das kranke, – »zum Teufel!« Fluch! Das Gaulpaar zieht besessen an, der Wagen jagt, – »Rennt nach! Flink! Vorwärts!« rief der Fremde. – »Ja! Gleich! Ich komm schon!« Und nun hinkt er, dampft er, stöhnt er, keucht er, es muß, es muß, es muß gelingen! Nur noch dies kleine Stücklein lauf! Aushalten! Beiß die Zähne aufeinander! Fest wollen mußt du! Noch sechs tapfere Schrittlein, dann –

Ratsch! reißt ein Riß durch die geborstne Wunde! Er schwindelt, sinkt, der Wagen ist dahin . . .

»Ecco Signore, – Roma!« rief da sein Vetturin, gemach zurückgebeugt, und wies mit froher Geißel weit nach vorne.

Als ob er aus dem Grab aufstiege, mit tollen Händen sich die Last der Erde von den Schultern wälzen müßte, fuhr Goethe aus dem höllischen Traum. Da vorne, weit, weit vorne . . .

An allen Gliedern zitternd hob er sich empor. Sah, strahlend, Himmel in den Augen: da auf dem Kissen grüngewellten Lands, hochaufgebaut ins grenzenlose Weite, saß blau und wahr die Kuppel von Sankt Peter!


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