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Wahrhaftig, ein seltsames Heim hatte sich Don Enrique, der Aleman, geschaffen. Es war die Höhle eines nackten Felsens, die er sich zum Aufenthalt gewählt hatte, und diese Höhle war nur auf einem steilen, schwer passierbaren Pfad erreichbar. Dennoch war sie weniger unwirtlich, als General d'Urquiza heimlich befürchtet hatte. Felle von Hirschen, Rehen und Jaguaren boten behagliche Ruhelager. Ponchos, Sättel, Zaumzeug und anderes, was zum Leben in der Pampa gehört, waren reichlich vorhanden. Ein aus Steinen errichteter Herd trug Kochgeschirre aus Eisen und Blech; verschiedene Büchsen, Fäßchen und Packen, die geordnet aufgespeichert lagen, zeigten an, daß auch Nahrungsmittel vorhanden waren, die die Wildnis selber nicht bot. Waffen, Gewehre, Pistolen und ein schwerer Säbel fanden sich vor und waren als Schmuck an der Felswand befestigt. Der großartige Fernblick gab der sonderbaren Wohnstätte einen besonderen Reiz. Der Zugang zur Höhle befand sich über einer schroffen Felswand; von hier aus ging der Blick ungehindert über bewaldete Höhen und fruchtbare Täler hinweg bis in die Weite der Pampa.
»Dies ist mein Haus, General«, sagte der Deutsche, als die beiden Flüchtlinge angekommen waren, »Ihr seid herzlich willkommen darin.«
D'Urquiza blickte sich um. »Es ist besser und behaglicher, als ich mir vorgestellt hatte«, sagte er. »Seid Ihr auch ein Einsiedler, so offenbar doch kein Asket, der sich von Heuschrecken nährt.«
Don Enrique lächelte leicht. »Nein«, versetzte er, »ich denke, ich werde Euch ganz leidlich ernähren können. Dort ist Tabak und Maispapier; vielleicht sind Euch Cigarritos gefällig. Ich werde inzwischen für unseren Mittagstisch sorgen.«
»Wie ich aus Euren Vorräten sehe, steht Ihr in laufender Verbindung mit der Zivilisation?«
»Doch, ja«, antwortete der Deutsche, »ich bin zwar so etwas wie ein freiwilliger Robinson, aber ich habe mich nicht ganz mittellos in die Wildnis zurückgezogen. Zudem bin ich ein ziemlich fleißiger und nicht ganz erfolgloser Jäger; die Jaguarfelle bringen mir einen ganz hübschen Ertrag. Von Zeit zu Zeit reite ich nach Rosario am Tercero, verkaufe meine Beute und kaufe ein, was ich brauche.«
»So kennt man dort Euer Asyl?«
»Nein, das kennt man nicht. Die Leute vermuten zwar, daß der seltsame Aleman irgendwo in den Bergen haust, aber das ist auch alles. Zudem wohnen am Fuße des Gebirges, nach Osten hin, mehrere Deutsche. Ich hause ganz einsam hier, und kein Mensch kann gegen meinen Willen meine Zitadelle betreten. Bei einer Belagerung könnte mich nur der Hunger aus meiner Festung treiben, zu erobern ist sie nicht.«
»Ich habe es zu meiner Freude bemerkt«, sagte der General.
»Außerdem führt ein allerdings etwas gefährlicher Pfad über die Felsen ins Gebirge«, fuhr Don Enrique fort. »Für den Fall also, daß man mir einmal zuleibe wollte, steht mir immer noch ein Schlupfloch offen. Doch ich werde schwerlich einmal belagert werden. Ich fühle mich glücklich im Umgang mit der Natur und beneide keinen Menschen.«
»Das ist es eben, was mich befremdet«, sagte d'Urquiza. »Ein Mann in Euren Jahren – – wie alt seid Ihr eigentlich?«
»Ich wurde unlängst dreißig.«
»Erstaunlich!« sagte der General. »Ein Mann in Euren Jahren vergräbt sich in die Einsamkeit. Es muß ein böses Schicksal sein, das Euch dazu trieb.«
»Ich habe Schiffbruch im Leben erlitten«, versetzte der Deutsche. »Und ich habe die Menschen verachten gelernt. Aber sprechen wir nicht davon; es ist gut, wie es ist. Sprechen wir lieber von Euch. Rechnet Ihr noch mit weiterer Verfolgung?«
»Die Dinge liegen nicht ganz einfach«, sagte d'Urquiza. »Ich will versuchen, Euch die Zusammenhänge zu erklären. Der Gobernador von Cordoba, Ortega, ist mein alter Freund und Waffengenosse; er ist wohl auch gleicher Gesinnung wie ich; ich werde ihn jedenfalls um Schutz bitten. Kann er mir nicht helfen, und das ist, wie die Dinge liegen, natürlich möglich, dann muß ich meinen Weg nach Corrientes nehmen, wo ich Freunde habe. Finde ich auch dort keine Zuflucht, werde ich versuchen, mich nach Paraguay oder Brasilien zu retten.«
»Nun, das hat wohl Zeit«, versetzte Don Enrique. »Zunächst erholt Euch von Euren Strapazen und sammelt neue Kräfte.«
»Es ist leider nötig«, entgegnete der General, »ich fühle mich matt und fiebrig, es war ein bißchen viel.« Sie aßen, plauderten rauchend noch ein Weilchen, alsdann legte der General sich zur Ruhe nieder. Don Enrique aber stieg den engen, gewundenen Felspfad hinab und suchte das versteckte Tal auf, in dem seine Maultiere weideten. Gras und Wasser waren hier reichlich vorhanden; die Tiere waren kräftig und wohlgenährt. Hier hatte er auch sein Maultier und das erbeutete Pferd untergebracht. Er freute sich, nach längerer Abwesenheit alles in guter Ordnung zu finden und machte sich auf den Rückweg. Da er lange Zeit in völliger Einsamkeit hier gelebt hatte, war er innerlich so sicher geworden, daß er seiner Umgebung keine übertriebene Aufmerksamkeit schenkte. Und so entging ihm etwas, was ihm gewiß nicht entgangen wäre, wenn er sich in fremder Umgebung befunden hätte.
Zwei Augen verfolgten ihn. Ihr Besitzer stand hinter einem Busch und betrachtete staunend den ruhig und sicher dahinschreitenden Mann. Als dieser verschwunden war, trat ein noch junger, schmächtiger Bursche hinter dem Buschwerk hervor, in dessen stechenden Augen es unheimlich funkelte. »Caramba!« murmelte der Bursche. »Auch diese Einöde bevölkert? Es war der Aleman, der Jaguartöter, den ich in Rosario gesehen habe. Wollen doch feststellen, was der hier zu suchen hat.« Der Unbekannte kroch durch das Gras nach dem Felsen hin, aufmerksam den Boden prüfend. Er hielt plötzlich inne und sah alsdann genauer zu. »Es waren zwei«, flüsterte er. »Wo ist der Aleman nur hergekommen?« Er bewegte sich vorsichtig auf die Stelle zu, wo er Don Enrique hatte auftauchen sehen, drang mit leichter Mühe durch das Gebüsch, das zwischen Felsenwänden das Tal absperrte und gewahrte gleich darauf die Maultiere und das Pferd. Er stieß einen Jubelschrei aus. »Sogar Sattel, Zaumzeug und Lasso sind da«, staunte er. Tatsächlich hatte Enrique die Ausrüstung des Pferdes unten gelassen, da das Tier bald wieder gebraucht werden sollte.
»Wunderbar!« sagte der Bursche, »genau das, was ich brauche. Nun sollen sie mich jagen, die Cochinos! Das Pferd wirst du mir lassen, Aleman. Es ist ohnehin nur eine kleine Entschädigung dafür, wie deine Landsleute mich behandelt haben. Aber sie sollen noch an mich denken, die Halunken!«
Er ergriff den Lasso, fing mit leichter Mühe das Pferd ein und sattelte es schnell. Er trieb das Tier durch das deckende Gebüsch und dann eine Strecke auf der grasbedeckten Talsohle hinauf; gleich darauf war er zwischen den bewaldeten Hügeln verschwunden.
Als sich Don Enrique am anderen Tag nach seinem Korral begab, war er höchst erstaunt, das Pferd nicht vorzufinden. Im ersten Augenblick dachte er, es sei entlaufen, aber bald belehrte ihn das Fehlen des Sattelzeuges, daß es gestohlen sein mußte. Zu der Überraschung gesellte sich nun ernste Besorgnis. Nie hatte er während seines ganzen Aufenthaltes hier einen Menschen gewahrt; die kahlen Felsen und die engen Täler lockten nicht einmal einen Jäger an. Wer hatte das Pferd geraubt? Schließlich sagte er sich, daß der Zufall einen Flüchtling hierhergeführt haben müsse, der die sich unvermutet bietende Gelegenheit nützte, sich beritten zu machen. Denn hätte es einen Diebstahl gegolten, so wären ja die Maultiere viel wertvollere Objekte gewesen. Dem General sagte er einstweilen nichts von seiner Entdeckung, um ihn nicht zu beunruhigen. Er selbst aber war von jetzt an sehr wachsam. In den nächsten Tagen durchstreifte er wiederholt die ganze Umgebung und musterte von geeigneten Punkten aus die Pampa, ohne freilich das mindeste Verdächtige zu entdecken.
Eines Abends, als sie im Schein der letzten Sonne rauchend vor der Höhle saßen, sagte der General nach einem längeren Schweigen: »Ich will mich gewiß nicht in Euer Vertrauen drängen, Don Enrique, aber es ist doch nun so, daß ich Euch viel, ja alles verdanke. Euer Schicksal beschäftigt mich. Sind Eure Erlebnisse, die Euch in die Einöde führten, derart, daß sie sich nicht erzählen lassen?«
»Es gibt da kein Geheimnis«, sagte der Deutsche, »nur lohnt es eigentlich der Mühe nicht, darüber zu reden. In meinem Lande sind immer wieder Menschen durch politische Engstirnigkeit der Heimat entfremdet und hinausgejagt worden; es ist auch mir so gegangen. Ich kam mit dem Rest meiner Habe in Euer schönes Land, und ich kam in Gesellschaft eines anderen, eines Mannes, der mir nach dem Tode meiner Eltern am nächsten stand. Die Freundschaft hat in meiner Heimat einen besonderen Rang, und wir waren Freunde. Ich vertraute ihm, wie ich mir selber vertraute. Und er betrog mich in der schamlosesten, in einer beinahe nicht glaublichen Weise. Mir stieg die Galle ins Blut, mir brach eine ganze Welt zusammen; ich ging in die Einsamkeit.«
Er schwieg und sah finster vor sich hin. Nach einer Weile sagte der General: »Vertrauensbruch ist schlimm, ich fühle das nach. Wo der Mensch nicht mehr vertrauen kann, ist er schlimmer daran als ein gehetztes Wild. Gleichwohl – –«; er suchte nach Worten.
»Ich will Euch den Vorgang erzählen«, sagte der Deutsche. »Mit dem Geld, das ich herübergebracht hatte – mein Freund besaß nichts – kaufte ich Land, in Entre Rios, am Parana. Wir begannen gemeinsam zu wirtschaften und kamen gut vorwärts. Ich aber war ruhelos damals. Mir fehlte die Heimat; es gab Wunden zu verschmerzen. Ich brauchte eine andere, mich innerlich berührende Beschäftigung. Ich begann, mich um meine engeren Landsleute zu kümmern, deren viele im Land lebten. Zu diesem Zweck hatte ich oft weite Ritte zu unternehmen. Die Rechtszustände im Land – Ihr wißt das am besten – waren nicht ganz sicher. Eines Tages, bevor ich zu einer Reise nach Santa Fé und Corrientes aufbrach, die mich monatelang fernhalten mußte, verschrieb ich meinem Freunde mein gesamtes unbewegliches Eigentum und übergab ihm mein bares Vermögen. Er sollte frei und ungehindert wirtschaften und meine Interessen wie seine eigenen wahrnehmen können.
Meine Bestrebungen um einen engeren Zusammenschluß meiner Landsleute wurden schließlich von der Regierung mißtrauisch betrachtet, und ich bekam den deutlichen Wink, sie einzustellen. Ich machte mich einigermaßen niedergedrückt auf den Heimweg. In La Paz angekommen – meine Estancia lag da in der Nähe – wurde ich verhaftet und verschiedenen Verhören unterworfen. Schließlich wurde mir bedeutet, daß ich als heimatloser Vagabund das Land zu verlassen habe. Ich berief mich auf meine Rechte als Grundbesitzer und Bürger des Staates; man lachte mich aus. Als ich nachdrücklicher aufbegehrte, führte man mich auf meine Estancia und stellte mich meinem Freund gegenüber. Mit kalter Ruhe erklärte der, ich hätte nicht das geringste Eigentumsrecht an dem Grund und Boden, der sein eigen wäre, und zeigte meine Verschreibung vor. Ich war so entsetzt und fassungslos, daß ich überhaupt nichts zu erwidern wußte. Schließlich sagte ich, zitternd vor Erregung: "Wenn du mein Eigentumsrecht leugnest, werde ich des Landes verwiesen." Er zuckte die Achseln. In mir drehte sich alles, ich begriff das nicht. "So gib mir wenigsten mein bares Geld", sagte ich endlich, "ich bin ja völlig mittellos." Er wandte sich an die mich begleitenden Beamten und sagte: "Der Herr phantasiert, Señores!" Damit kehrte er mir den Rücken zu. Die Beamten lachten und blinzelten ihm verständnisvoll zu. Ich wußte nicht, was das alles bedeuten sollte, ich war beinahe wahnsinnig. "Kommen Sie zum Frühstück, Señores", sagte mein Freund zu den Männern, wandte sich ab und ließ mich stehen. Einer der Beamten drohte mir noch, daß ich in die Strafkolonie geschickt würde, wenn man mich nach drei Tagen noch in Entre Rios erwischte.«
Don Enrique schwieg wieder einen Augenblick; er fuhr sich mit müder Bewegung über die Stirn. »Ich war damals nahe am Verzweifeln«, sagte er, »ich bin tagelang umhergeirrt und schließlich in die Wildnis geflohen.« Er lächelte bitter. »Das ist nun alles vorbei«, sagte er, »und es ist gut so.«
»Es ist unbegreiflich und nicht zu fassen«, sagte Don José nach einer Weile drückenden Schweigens. »Trotzdem: ich würde die Gesamtheit nicht entgelten lassen, was ein einzelner verbrach.« Der Deutsche antwortete nicht. Er saß noch einige Zeit, dann erhob er sich, griff nach der Büchse und betrat die Höhle. D'Urquiza blieb nachdenklich zurück.
Am nächsten Tag früh, die Sonne hatte sich eben erst über den Horizont erhoben, drangen Begrüßungsrufe von unten herauf. Enrique erkannte an der Stimme Aurelio. »Willkommen, mein Junge!« rief er herunter, »bring dein Pferd in den Korral und komm herauf.«
Während er Feuer anzündete und den Kessel zur Matebereitung aufsetzte, erschienen im Eingang zur Höhle Aurelio und Juan Perez.
»Oh, Vater und Sohn!« rief der Deutsche erfreut, »doppelt willkommen in meiner Einsiedelei!« Die Begrüßung war allerseits herzlich, doch schien der Gaucho durch die Anwesenheit des Generals d'Urquiza etwas befremdet.
»Ich dachte, Ihr wäret längst fort, Señor«, sagte er, indem er dem Verfolgten die Hand reichte. Der Deutsche schaltete sich ein und erklärte, daß Erschöpfung, Schwäche und Fieber den General bisher zurückgehalten hätten. »Ich werde Don Enrique nicht lange mehr lästig fallen«, sagte der nicht ohne Bitterkeit.
Aber es achtete im Augenblick niemand auf ihn. Don Enrique freute sich herzlich, Aurelio wieder einmal bei sich zu sehen, und er gab seiner Freude auch unverhohlen Ausdruck. Man setzte sich fröhlich zum Frühstück, zu dem Aurelio einige Kaninchen beisteuerte, die er unterwegs geschossen hatte. »Ich hoffe, wir werden einige Hirsche und Jaguare vor die Büchse bekommen«, sagte er. Der Deutsche lachte zustimmend. Er erschien Aurelio heiterer und aufgeschlossener, als er ihn bisher erlebt hatte. Im Verlaufe des Gesprächs erzählte er nun auch, daß man ihm vor einigen Tagen ein Pferd samt Sattel- und Zaumzeug aus dem Korral gestohlen habe.
»Ein Pferd gestohlen? Aus Eurem Korral?« fuhr Juan auf.
»Es ist nicht zu bezweifeln.«
»Woher wißt Ihr, daß es gestohlen wurde? Kann es nicht entlaufen sein?«
»Schwerlich«, lachte der Deutsche. »Es war weder gesattelt noch aufgezäumt.«
»Wie lange ist das jetzt her?«
»Heut ist der dritte Tag.«
Juan erhob sich. »Ich will nach den Spuren sehen«, sagte er.
»Jetzt noch, am dritten Tag?« fragte Don Enrique verwundert.
»Es hat nicht geregnet.«
»Und mein Vater ist der beste Pfadfinder der ganzen Pampa«, setzte Aurelio hinzu.
»Gut.« Der Deutsche erhob sich. »Kommt, Don Juan«, sagte er. Er nahm die Büchse und folgte dem Gaucho. Aurelio, gleichfalls seine Büchse ergreifend, schloß sich an. Unten ging Don Juan auf den Korral zu, bat die anderen zurückzubleiben und richtete das Auge scharf auf den Boden. Zum großen Erstaunen Enriques fand er schnell die Hufeindrücke des vermißten Tieres zwischen denen der Pferde, die er und Aurelio geritten hatten, heraus. Er verfolgte sie bis zu der Stelle, wo der Dieb sich in den Sattel geschwungen hatte, dies alles mit der Sicherheit, mit der ein guter Jagdhund der frischen Spur eines Wildes folgt.
»Hier ist der Mann aufgestiegen«, sagte er. »Wir wollen später zusehen, wohin er geritten ist.«
Der Deutsche, der langsam hinterhergegangen war, vermochte auf dem Boden überhaupt nichts zu bemerken, was nach Pferde- oder Menschenspuren aussah, obgleich er doch als Jäger nicht eben ungeübt war. Er sah deshalb ziemlich ungläubig drein. Aurelio lächelte ihm zu. »Ihr dürft es ruhig glauben, amigo«, sagte er, »Vater sieht ihn aufsteigen.«
Der Gaucho ging zum Eingang des Korrals zurück. »Wir wollen nun sehen, woher der Bursche gekommen ist und was er für ein Mann war«, sagte er. Er durchforschte mit großer Aufmerksamkeit den Boden, betrachtete nachdenklich einen wilden Orangenbusch, trat heran und ging um ihn herum. Enrique und Aurelio folgten ihm.
»Hier«, sagte der Gaucho nach einer Weile, »hier hat der Mann gelegen. Es ist ein magerer, ziemlich langer Kerl, der außer seinem Messer sicherlich keine Waffe bei sich führte. Er muß Euch, Señor, gesehen haben, wie Ihr in den Korral gingt und wieder herauskamt. Er hat sich aufgerichtet und Euch beobachtet.«
»Ich verstehe kein Wort«, sagte Don Enrique trocken. Der Gaucho lächelte. »Es ist weiter kein Geheimnis dabei«, versicherte er, »nur ein bißchen Übung, die man sich im Laufe der Jahre erwirbt. Der Mensch hinterläßt überall, wo er sich bewegt, ziemlich deutliche Spuren, man muß sie nur sehen. Die Körper, Größen- und Gewichtsverhältnisse des Diebes gehen ziemlich klar aus den Eindrücken hervor, die er hier hinterlassen hat. Auch Waffen würden Eindrücke hinterlassen, so er welche gehabt hätte. Wenn man gebückt hinter einem Busch steht und nach jemand auslugt, liegt es nahe, daß man sich irgendwo festhält, und auch das hinterläßt Spuren am Gesträuch. Übrigens, der Mann war noch ziemlich jung. Ich habe mir vorhin sehr genau die Stelle betrachtet, wo er aufs Pferd gestiegen ist. Ich verstehe was von Pferden und weiß, wie sie sich benehmen; bei älteren Leuten tritt das Pferd mehr hin und her, weil sie begreiflicherweise nicht mehr so leicht in den Sattel kommen. Seht Euch einmal die Spuren an und beobachtet den Unterschied; Ihr werdet sofort feststellen, wo Aurelio aufstieg und wo ich aufgestiegen bin.«
»Ganz schöne Erklärungen«, sagte der Deutsche. »Mir kommt die Sache nichtsdestoweniger unheimlich vor. Aber mein Respekt vor Euch wächst, Don Juan, und er war schon immer nicht gering.«
Der Gaucho lachte. »Wir wollen uns nun ansehen, woher der Dieb kam und wohin er ging«, sagte er. »Hole die Pferde, mein Junge.«
Während Aurelio sich zum Korral begab, ging er an den Büschen entlang, kreuzte die Spur, die das gestohlene Pferd bei dem Abritt hinterlassen hatte, ging noch ein Stückchen weiter und erklärte dann: »Der Mann kam von Norden, verfolgt wahrscheinlich, denn freiwillig kommt niemand zu Fuß in die Pampa oder in diese Schluchten.«
Aurelio brachte die Pferde, und er und Don Juan verfolgten die Hufspur nun weiter. Don Enrique blieb zurück, um den General nicht so lange allein zu lassen. Nach einer Stunde etwa waren die Reiter wieder da. »Der Bursche ist nach Osten entwischt«, sagte der Gaucho, »ich habe seine Spur meilenweit mit dem Auge verfolgt.«
»Meilenweit, mit dem Auge?« lächelte Enrique.
»Das ist nun weiter gar keine Besonderheit«, versetzte der Gaucho. »Jeder Pampasbewohner vermag die Spur eines flüchtigen Pferdes durch das unberührte Steppengras auf viele Leguas hin mit dem bloßen Auge zu verfolgen. Übrigens scheint der Kerl halbverhungert gewesen zu sein; er hat sich einen Pampashasen eingefangen und zum Teil roh verzehrt. Vermutlich handelt es sich um einen flüchtigen Verbrecher, der von Alguacils verfolgt wurde. Ein anständiger Mensch hätte, nachdem er den Korral entdeckte, nach dem Eigentümer geforscht und seine Gastfreundschaft erbeten, die ja nie verweigert wird. Von dem Kerl ist übrigens sicher nichts weiter zu befürchten; der ist froh, ein Pferd zwischen den Knien zu haben und nach Osten entkommen zu können.«
Der Deutsche sah auf. »Fürchtet Ihr denn überhaupt etwas?«
»In diesen unruhigen Zeiten ist allerlei möglich«, antwortete der Gaucho. Er wandte sich dem Jungen zu. »Geh in die Höhle und brate die Kaninchen, Aurelio«, sagte er. »Ich habe offen gestanden einen guten Appetit von dem Morgenritt mitgebracht.«
»Ich wollte einiges mit Euch besprechen«, fuhr er fort, nachdem der Junge in der Höhle verschwunden war. »Ich habe Euch Aurelio nicht ohne Absicht jetzt hierher gebracht; ich befürchte Unruhen für die nächste Zeit.«
»Unruhen?« Der Deutsche horchte auf. »In welcher Beziehung?«
»Ihr habt mir ja selbst von Eurem Zusammentreffen mit den Puelchen erzählt.«
»Und wegen dieser drei Indios glaubt Ihr – –?«
»Ich kenne die Puelchen besser als Ihr«, sagte der Gaucho. »Ich habe meine Erfahrungen mit ihnen. Nun, die Grenze ist gewarnt; unvorbereitet träfen sie uns diesmal nicht, wie damals vor sieben Jahren. Aber etwas anderes beunruhigt mich. Damals habe ich den Jungen tiefer ins Land hineingeschickt, das geht diesmal nicht. Und deshalb sähe ich ihn gern für die nächste Zeit in Eurer Obhut. Ich weiß. Ihr seid ihm zugetan und werdet ebenso für ihn sorgen wie ich.«
»Das werde ich ganz gewiß, und ich tue es gern; es ist mir eine Freude«, warf der Deutsche ein, »aber ich verstehe nicht – –«
»Kommen die Puelchen, gibt es einen harten Kampf«, fuhr Don Juan fort. »Und ich bin ein sterblicher Mensch. Aurelio aber wäre ohne mich nirgendwo sicher. Auch nicht auf meiner Estancia. Auch dort drohen ihm Gefahren, gegen die ihn mein guter Pati nicht schützen kann, obgleich er gewiß sein Leben für ihn hergäbe. Ich schätze Euch, Estrangero, ich habe Euch kennengelernt, und heute möchte ich Euch verpflichten. Sollte ich im Kampf gegen die Puelchen fallen, oder sollte mir sonst etwas zustoßen, wollt Ihr dann etwas für den Jungen tun?«
»Ich werde für ihn tun, was irgend in meinen Kräften steht«, sagte der Estrangero einigermaßen bestürzt, »aber ich verstehe wahrhaftig nicht den Grund Eurer Besorgnis.«
»Hört zu«, sagte der Gaucho. »Aurelio ist ein vater- und mutterloses Kind.«
»Wie? Er ist nicht Euer Sohn?«
»Nein, er ist nicht mein Sohn, obgleich ich ihn den Sohn meines Herzens genannt habe. Er ist von edlem Blut, als Wickelkind in das Elend hinausgeschleudert worden und mir vom Zufall in die Arme getrieben. Oder vom Schicksal. Der junge Bursche hat mächtige Feinde, obgleich er in seinem jungen Leben noch keinem Menschen ein Leid zugefügt hat; er ist von schamlosen Verbrechern um sein Erbe betrogen worden. Und nicht nur um sein Erbe, sondern auch um seinen Namen. Wird irgendwo bekannt, wer er ist, hat er mit unbarmherziger Verfolgung und Vernichtung zu rechnen. Pati kennt die Zusammenhänge, aber, wie gesagt, er kann ihn nicht schützen. Pati hat, solange ich mit ihm zusammen bin, immer nur mit meinen Gedanken gedacht; er stände, geschieht irgend etwas, den Ereignissen völlig hilflos gegenüber. Und weil das nun so ist und weil ich sonst keinen Menschen weiß, dem ich bedingungslos vertrauen möchte, darum wende ich mich an Euch und frage noch einmal: Wollt Ihr etwas für Aurelio tun?«
»Alles, was ich vermag«, versetzte noch einmal Don Enrique. »Und Ihr könnt Euch nicht denken, was Euer Vertrauen mir bedeutet.«
»Hört zu«, sagte der Gaucho. »Erreicht Euch die Nachricht von meinem Tode, so sucht zunächst Pati auf; er wird Euch über alles unterrichten, was Ihr über Aurelios Herkunft und Verhältnisse wissen müßt. Der Pater Hyazinth, Cura an der Dreifaltigkeitskapelle in Buenos Aires, hat alles, was die Abstammung Aurelios beweist, in seinem Besitz, an ihn müßt Ihr Euch dann wenden. Der Junge selbst darf erst im letzten Augenblick von seiner Abstammung und seinen rechtlichen Ansprüchen erfahren. Ich möchte unter keinen Umständen, daß er ohne zwingenden Grund seine Unbefangenheit verliert.«
»Ihr könnt Euch in jeder Beziehung auf mich verlassen«, sagte der Deutsche. »Ich werde jeden Eurer Wünsche peinlich erfüllen.«
»Aurelio muß seinem Vater außerordentlich ähnlich sein«, fuhr der Gaucho fort, »denn dem Alguacil, der hinter d'Urquiza her war, ist er aufgefallen, und d'Urquiza selbst nicht weniger. Diese Ähnlichkeit allein könnte möglicherweise hinreichen, um ihn zu gefährden, ja seinen Untergang herbeizuführen, wenn er in die Hand seiner Feinde fiele.«
»Darf ich wissen, wer diese Feinde sind?« fragte Don Enrique. »Ich frage nicht aus Neugier.«
»Vor allem einer der mächtigsten Männer dieses Landes, der Gobernador von Santa Fé, Don Francisco de Salis, dem, als einem der fanatischsten Anhänger Rosas, auch dessen Machtfülle zu Gebote steht.«
»Das sind allerdings gefährliche Feinde«, sagte tief beeindruckt der Deutsche.
»Ihr habt nun den Grund, warum ich Aurelio nicht in die dichter besiedelten Landesteile senden kann«, fuhr der Gaucho fort. »Bei der verblüffenden Ähnlichkeit mit seinem Vater, der ein im ganzen Lande wohlbekannter Mann war, ist das schlechthin unmöglich.«
Der Gaucho schwieg, und auch sein Begleiter war tief in Gedanken versunken. Welch wunderliches Schicksal! dachte er. Und zum erstenmal seit Jahren kam ihm der Gedanke, daß es neben dem eigenen, sein ganzes Leben umgestaltenden Erlebnis auch noch andere bittere Erfahrungen gäbe, über die nachzudenken sich lohnen möchte.
Während sie so schweigsam nebeneinander dahinschritten, hob der Deutsche schließlich den Kopf und sagte: »Die Anwesenheit d'Urquizas hier schien Euch nicht angenehm zu überraschen.«
»Offen gestanden, nein«, antwortete der Gaucho. »Es ist das eine zwiespältige Sache. Ich weiß, daß der General ein Ehrenmann ist, ich weiß, daß Habsucht und Niedertracht ihn von Haus und Hof gejagt haben. Ich habe selbst unter ihm gedient. Aber dieser jetzt zum äußersten getriebene Mann bedeutet gegenwärtig den Bürgerkrieg. Und ich gehöre zu der Gauchoreiterei der Regierung. Ich erschrak, als ich ihn noch bei Euch sah, weil seine Anwesenheit Aurelio Gefahr bringen kann, denn ich bin überzeugt, Rosas läßt nicht ab, den General zu verfolgen. Übrigens habe ich über dem Pferdediebstahl ganz vergessen, Euch zu fragen, ob Ihr ihn ungefährdet hierher gebracht habt.«
Enrique berichtete von dem Zusammentreffen mit den Häschern.
»Seht Ihr!« sagte der Gaucho sehr besorgt.
»Ihr überschätzt die Gefahr, Don Juan«, versicherte der Deutsche. »Das Gebirge ist ausgedehnt, und niemand weiß, wo ich hause. Auch wird man auf Seiten der Verfolger schwerlich annehmen, daß d'Urquiza noch hier ist, wo ihm nach allen Seiten die Flucht offenstand. Meine Felsenburg ist uneinnehmbar, und der über die Felsen führende Pfad sichert uns für den äußersten Fall immer einen Fluchtweg. Ich kenne jede Windung, jede Höhle in diesem Felsengewirr. Und außerdem wird d'Urquiza morgen weiterflüchten.«
Diese Mitteilung beruhigte den Gaucho außerordentlich. Sie erreichten den Fels, Perez trieb seine Pferde auf den Platz, der als Korral diente, nahm aber vorsichtig Sattel und Zaumzeug mit nach oben. Bald duftete ihnen der Braten entgegen, und Aurelio rief, als die beiden Männer im Eingang des Wohnraumes erschienen: »Du wirst mit meiner Kochkunst zufrieden sein, Vater.«
Der General trat auf den Gaucho zu und sagte: »Ich weiß jetzt erst, wer du bist, Kamerad. Im Feldzug gegen Uruguay führtest du bei Indio muerte die Gauchoreiterei auf dem linken Flügel.«
»Allerdings, General.«
»Vor wenigen Tagen hast du zu meiner Rettung beigetragen. Gestatte, daß ich dir danke.« Er reichte dem Gaucho impulsiv die Hand. »Ich bin auf der Flucht«, sagte er, »gehetzt wie ein Wolf. Wie meine Zukunft sich gestalten wird, wie ich enden werde, ich weiß es nicht. Aber ich werde bis zum letzten Atemzug für Glück und Wohlfahrt unseres schönen Landes arbeiten und, wenn es sein muß, kämpfen. Solange ich lebe, werde ich dir dankbar verbunden sein, Juan Perez.«
»Gott füge alles zum besten, General«, sagte der Gaucho und drückte die Hand des Verfolgten.
Aurelio sagte: »Denke dir, Vater, der General findet in meinen Zügen eine große Ähnlichkeit mit einem seiner Jugendfreunde.«
»Ja, Don Juan«, schaltete d'Urquiza sich ein, »die Ähnlichkeit deines Sohnes mit Fernando de Salis, einem der edelsten und besten Männer des Landes und dem teuersten meiner Freunde, ist verblüffend.«
»So darf sich Aurelio Glück wünschen, einem so vornehmen Caballero zu gleichen, ich meinerseits sehe die Züge seiner längst verstorbenen Mutter in ihm«, sagte Perez ruhig.
Sie sprachen während des Essens von gleichgültigen Dingen, ohne die Politik des Landes zu berühren, denn General d'Urquiza wußte, daß Perez als Gauchoreiter auf der Seite seiner Verfolger stehen mußte und wollte seine Gefühle nicht verletzen. Er sprach seinen Entschluß aus, am nächsten Tage aufzubrechen, da er sich wieder kräftig fühle. Juan, der dies mit Befriedigung vernahm, erklärte, daß er selbst noch am Abend reiten wolle.
»Ich hoffte, Ihr würdet uns einige Tage schenken«, sagte der Deutsche. »Und außerdem, bei Nacht? Wie wollt Ihr bei Nacht durch die Pampa finden?«
»Der Gaucho und die Pampa sind eins, Don Enrique«, lachte Don Juan. »Die Sterne weisen mir den Weg, der Wind, die Gräser, die Sümpfe, die Wasserläufe. Aber alles dessen wird es gar nicht bedürfen, denn ich bin überzeugt, daß mein Pferd, das ich ebenso wie Aurelios Cid selbst gezüchtet habe, seinen Weg ganz allein findet. Bleiben kann ich leider nicht. Ich wollte Euch nur Euren jungen Gast bringen. Aurelio weiß, daß ich einer Versammlung der Gauchohäuptlinge beiwohnen muß, auf der unsere Angelegenheiten besprochen werden.«
Sie saßen nachher lange schweigend vor der Höhle und blickten auf das großartige Landschaftsbild, das die südlichen, romantisch gestalteten Ausläufer der Cordobaberge mit der gleich einem Ozean sich ausbreitenden Pampa dahinter dem Auge bieten. Als die Sonne sich zu neigen begann, erklärte Juan, daß er abreiten wolle, und Aurelio sprang hinab, um das Pferd zu satteln. Der Gaucho verneigte sich vor dem General und sagte: »Ich wünsche, Don José, daß Eure ferneren Wege von dem Glück begleitet sein mögen, das zugleich das Glück des Vaterlandes ist.« D'Urquiza drückte ihm warm die Hand.
Don Juan ging von Enrique begleitet hinab und fand von Aurelio gehalten sein gesatteltes Pferd. Der Deutsche, der wußte, wie sehr Perez den Jungen liebte, und wie tief er sich um ihn sorgte, war verblüfft ob der stoischen Ruhe, mit der sich der Abschied vollzog. Don Juan strich leicht über Aurelios dunkle Locken und sagte, ohne daß seine Stimme irgendein Gefühl verraten hätte: »Gehab dich wohl, mein Junge, handhabe fleißig die Büchse. Hasta luego!« Dem Deutschen drückte er stumm die Hand. Mit einem kurzen »Hasta luego!« sprengte er gleich darauf auf seinem Braunen davon, von Aurelios Blicken gefolgt.
Die Nacht brach schnell herein, und nach kurzer Zeit suchten die Zurückgebliebenen das Lager auf.
Ohne sein Zutun, unbewußt fast, war der einsame Deutsche in das Leben der Menschen zurückgerissen und mit Verantwortung für andere belastet worden. Er kannte genug von Argentiniens Vergangenheit, um zu wissen, daß er in der Person des Generals d'Urquiza einen Mann beherberge, von dem möglicherweise die Zukunft des Staates abhing. Nun war ihm auch noch Aurelio anvertraut. Das seltsame Schicksal des Jungen erhöhte die Teilnahme des Einsiedlers. Der Gedanke lag nahe, Aurelio sei der Sohn jenes Fernando de Salis, des Jugendfreundes d'Urquizas, dem er so ganz ähnlich sah. Verhielt es sich so, dann durfte er in dem wieder zur Macht gekommenen General einen Bürgen der hoffnungsvollen Zukunft des Jünglings erblicken. Die Besorgnis um die Sicherheit der ihm anvertrauten Menschen, das Mißtrauen, das durch die Erscheinung des Pferdediebes zusammen mit Don Juans Äußerungen in ihm erweckt worden war, scheuchte ihn im Verlaufe der Nacht mehrmals vom Lager auf und ließ ihn auf verdächtige Geräusche horchen. Doch störte kein fremder Laut die feierliche Stille.
Bald nach Sonnenaufgang waren alle munter. Da der General erklärte, er wünsche erst gegen Mittag abzureiten, schlug Don Enrique, dem im hellen Tageslicht alle Besorgnisse geschwunden waren, Aurelio vor, einen Hirsch zu schießen, dessen Standort in einer der benachbarten Bergwaldungen ihm bekannt war.
Das Glück begünstigte die Jäger, sie kamen an den Hirsch heran, und Aurelio vermochte ihn mit einem wohlgezielten Schuß zu erlegen. Enrique weidete das Tier aus, und beide schafften die Beute nach der Stelle, wo ihre Reittiere standen. Sie wurde dem Muli des Deutschen aufgeladen, und in guter Stimmung über den glücklichen Jagdverlauf traten sie gleich darauf den Rückweg an.
Sie mochten etwa noch eine halbe Legua von der Höhle entfernt sein, als der Junge, während sie einen schmalen Sandstreifen durchquerten, plötzlich stutzend seinen Schimmel anhielt und aufmerksam zu Boden starrte.
»Was gibt's, Aurelio?« fragte der Estrangero.
»Das gestohlene Pferd«, sagte der Junge leise und deutete auf die Erde.
»Wie? Was heißt das?«
»Der Dieb ist zurückgekehrt, er ist vor kurzer Zeit ins Tal geritten.«
Enrique betrachtete nun auch prüfend den Boden und bemerkte jetzt freilich die unverkennbare Hufspur. Verblüfft sah er auf. »Du willst mir doch nicht sagen wollen, daß du in dieser Spur die des gestohlenen Pferdes erkennst?« spottete er.
Aurelio blieb ernst. »Ein Gaucho irrt sich nicht in einer Pferdespur, die er einmal gesehen hat«, sagte er. »Der Dieb oder wenigstens das gestohlene Pferd sind vor uns.«
»Ich werde noch wundergläubig«, sagte der Deutsche, doch steckte der Ernst des Jungen ihn unwillkürlich an. Sie griffen ihre Waffen fester und ritten weiter, der Spur nach, die auf die Höhle zuführte.
Schon nach kurzer Zeit zeigte sich, daß eine Schar Reiter, nach Aurelios Schätzung dreißig bis vierzig Mann stark, von Osten kommend, sich mit dem einzelnen Reiter vereinigt hatte. Auf der Flucht vor ihnen war der Einzelne nicht, denn sowohl sein Pferd als das der anderen waren Schritt gegangen.
»Bei meinem Leben!« rief Don Enrique, »das gilt dem General. Der Spitzbube hat die Reiter hergeführt. In den Wald, Aurelio«, setzte er gleich darauf kurz entschlossen hinzu, »ich kenne hier Weg und Steg. Hier draußen würden wir der Übermacht erliegen, ohne d'Urquiza nützen zu können.« Er trieb sein Maultier rasch in die Büsche, und Aurelio folgte ihm. An geeigneter Stelle banden sie die Tiere an. Enrique eilte mit großen Schritten vorwärts. Der nur ans Reiten gewöhnte Jüngling vermochte ihm nur mit Mühe zu folgen.
Nach einer halben Stunde befanden sie sich der Höhle gegenüber, durch dichtes Gebüsch gegen Sicht gedeckt. Vorsichtig bog der Deutsche die Zweige eines Erlenbusches auseinander und erschrak, als er ganz nahe mehr als dreißig mit Lanzen bewaffnete Reiter erblickte, von denen viele die Uniform der Lanceros trugen. Die Anführer, die in einer kleinen Gruppe abseits hielten, schienen zu beraten. Er erkannte unter ihnen deutlich den Führer des Trupps, der ihn am Rio Quinto angegriffen hatte. Auch Aurelio erkannte den Alguacil wieder.
Der zerlumpte Bursche, der neben den Offizieren hielt und das gestohlene Pferd unter sich hatte, deutete mehrmals auf den Korral und nach der Stelle, wo der Felspfad nach oben führte.
»Der Bursche hat hier spioniert und uns verraten«, sagte Enrique. »Mach dich schußfertig.«
Auf einen Befehl hin stieg die Hälfte der Leute von den Pferden. Einige gingen nach dem Korral hinüber, während andere, die Karabiner in der Hand, auf die Mündung des Felspfades zuschritten. Das war der entscheidende Augenblick, der sofortiges energisches Eingreifen erforderte. Gelangten einige Lanceros auch nur so weit nach oben, daß der Fels sie deckte, war der General verloren.
»Jetzt gilt's!« murmelte der Deutsche, und während Aurelio voll inneren Grauens zögerte, die todbringende Waffe auf Menschen zu richten, ließ der kampfgewohnte Estrangero seine Büchse zweimal sprechen. Die beiden vordersten Lanceros stürzten tödlich getroffen nieder, während die Felsen vom Knall der Waffe widerhallten.
Die Wirkung der überraschenden Schüsse war gewaltig. Unter Entsetzensrufen sprangen die übrigen zurück zu ihren Pferden, schwangen sich auf und jagten davon. Auch die anderen, die dem Eingang des Korrals nahegekommen waren, folgten in größter Eile ihren Gefährten. Im Nu waren alle hinter den nächsten Baumgruppen verschwunden.
»Das sind Helden!« rief Enrique. »Wir müssen die Gelegenheit benützen, um zur Höhle hinüber zu wechseln. Was fehlt dir, Aurelio? Warum blickst du so trübe?«
»Es ist das erstemal, daß ich Menschenblut vergießen sah«, sagte der Jüngling leise.
»Denke ja nicht, daß ich es gern tue«, versetzte der Deutsche. »Es gibt Situationen im Leben, da bleibt keine Wahl. Sei überzeugt, wir verteidigen hier nicht nur den General d'Urquiza, einen würdigen Mann, sondern auch unser eigenes nacktes Leben. Ich weiß, mit wem wir es zu tun haben. Komm schnell, laß uns hinüberschleichen.«
»Mein Cid –«
»Die Tiere dürfen wir jetzt nicht beachten. Bleibe an meiner Linken. Ich denke, die Schüsse werden den General aufgeschreckt haben.«
Die Lanceros waren nach Norden entflohen, und Enrique wollte den ihm anvertrauten Jungen gegen etwaige Schüsse von dorther mit seinem Körper decken. Er nützte Büsche und Felsgestein aus, und sie gelangten rasch an den Fuß des Felsens. Die beiden Männer, die unter den Kugeln des Estrangeros gefallen waren, lagen leblos da. Enrique nahm die ihnen entfallenen Karabiner an sich, hieß Aurelio vorangehen und eilte nach. Fast oben angelangt, rief er: »Ruhe, Excellenza! Wir sind es.«
»Kommt!« klang es von oben herab. Die Vorsicht des Deutschen war nicht unnötig gewesen, denn die Schüsse hatten d'Urquiza aufgeschreckt. Sie sahen ihn, als sie die Höhle betraten, mit geladenem Karabiner vor sich stehen, bereit, sein Leben teuer zu verkaufen. »Was war das?« fragte er.
Don Enrique gab ihm einen kurzen Bericht über das Vorgefallene und erzählte ihm nun auch von dem Pferdediebstahl und von den Feststellungen Juan Perez'.
»Also Rosas Häscher sind am Werk!« sagte der General. »Ein sonderbarer Zufall muß sie hierhergeführt haben. Denn ein Spion war der Pferdedieb sicherlich nicht. Spione haben Pferde und Waffen. Aber was nun?«
»Wir können hier jeder Belagerung trotzen«, sagte Enrique. »Und notfalls bleibt uns immer noch der Rückzug über die Felsen. Übrigens haben die Kerle einen solchen Respekt vor meiner Büchse, daß sie sich schwerlich in deren Nähe wagen werden.«
»Täuscht Euch nicht«, sagte d'Urquiza, »unter den Lanceros gibt es verwegene Leute.«
»Wir sind auch nicht von Pappe!« knurrte der Deutsche. »Außerdem wollen wir vorsichtig sein. Aurelio, behalte du den Pfad nach unten im Auge. Einige Steinblöcke genügen, um jeden Angriff abzuschlagen. Zu ersteigen ist der Fels von keiner Seite. Wenn wir uns zurückziehen, müssen wir uns schließlich an Lassos herablassen.«
»Man kann an Lassos auch nach oben klettern«, sagte der General.
Das machte den Deutschen stutzig. »Gut«, sagte er schließlich, »vielleicht. Dann ist den Kletterern der Weg leicht zu verlegen. Ich will indes einmal Umschau halten.«
Er ging hinaus und stieg an dem Felsen, der die Höhle deckte, in die Höhe. Oben angekommen, legte er sich nieder und prüfte aufmerksam die Umgebung. Zu seiner Überraschung bemerkte er, daß die Lanceros, von denen einige gesehen haben mochten, wie er mit Aurelio den Wald verließ, sich ringsum verteilt hatten, und daß selbst der waldige Berg, zu dem die Belagerten im Notfall ihren Rückzug nehmen mußten, besetzt war. Das deutete darauf hin, daß die Leute die ersehnte Beute nicht entkommen lassen wollten. Enrique wurde durch die Beobachtung nachdenklich gestimmt, denn er war sich der hohen Verantwortung bewußt, die er, besonders Aurelio gegenüber, auf sich genommen hatte. In die Höhle zurückgekehrt, machte er dem General Mitteilung von dem, was er gesehen hatte.
»Am Tage scheint kaum Gefahr«, sagte d'Urquiza, »aber vermutlich werden sie in der Nacht versuchen, uns zu überraschen. Ich begreife vollkommen, wieviel den Señores de Rosas und de Salis daran liegt, mich in ihre Gewalt zu bekommen.«
Tatsächlich ging der Tag ruhig vorüber. Wiederholtes Beobachten überzeugte den Deutschen, daß die Belagerer in ihren Stellungen geblieben waren. Zu seinem Leidwesen sah er seine schönen Maultiere und auch Aurelios Cid in ihrem Besitz.
Die Nacht war sternenklar. Nachdem sie hereingebrochen war, übertrug Don Enrique Aurelio wieder die Wache am Felspfad. Er wälzte einige mächtige Felsbrocken neben ihn hin und sagte: »Du hast ein feines Ohr, mein Junge; bei dem geringsten verdächtigen Geräusch von unten laß die Steine hinabrollen. Sollte es nur blinder Alarm gewesen sein, so schadet es auch nichts.«
»Verlaßt Euch darauf, ich werde wachen«, versicherte Aurelio.
»Ich selbst will hinauf auf den Fels«, sagte der Deutsche. »Der General hat mich besorgt gemacht. Naht dringende Gefahr, dann gib einen Schuß ab; Gewehre sind genug da. Don José wird dir Beistand leisten, und ich bin auch selbst bald wieder zurück.«
Indessen, die Nacht ging hin, ohne daß die Ruhe im geringsten gestört worden wäre. Die prachtvollen Sternbilder der südlichen Halbkugel zogen am Himmel vorüber, der Wind rauschte leise in den Bäumen, Fledermäuse huschten gespenstisch durch die Luft, dann und wann ließ sich eine ferne Tierstimme vernehmen, aber kein verdächtiger Laut drang zu den Felsen hinauf.
Schon begannen die Sterne im Osten zu erbleichen, als Aurelio lauschend sein Ohr nach unten neigte. Unheimlich war der Laut langsam heraufschleichender, weich umhüllter Füße, aber des Jünglings scharfes Gehör vernahm ihn doch. Er hatte die Büchse und einen der Karabiner, die den Toten gehört hatten, neben sich liegen, vor sich die zum Hinabrollen bestimmten Felsblöcke. Noch lauschte er angestrengt; da der Pfad mehrere Windungen machte, hätte er die Gegner nicht sehen können, auch wenn die Nacht weniger dunkel gewesen wäre.
Plötzlich ertönte von oben der scharfe Knall von Enriques Doppelbüchse. Da schleuderte Aurelio rasch drei der Felsstücke hinab und griff zur Büchse. Aus der Höhle eilte mit schußfertigem Karabiner der General und stieg unter Lebensgefahr den Felsen hinan, um den Deutschen zu unterstützen, falls er angegriffen würde. Von dem nach unten führenden Felspfad scholl Schmerzgebrüll herauf. Die mit mächtiger Gewalt zur Tiefe stürzenden Steine schienen ihre beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt zu haben. Oben erschien General d'Urquiza eben zur rechten Zeit; Enrique hatte seine beiden Läufe abgeschossen. Einer der auf ihn eindringenden Lanceros, die tatsächlich, wie d'Urquiza es vermutet hatte, mit Hilfe von Lassos die Felsen erklettert hatten, war von seiner Kugel gefallen, den zweiten hatte er in der Dunkelheit gefehlt, und der dritte war eben im Begriff, mit der Lanze auf ihn einzudringen, als der General den Karabiner an die Wange riß und feuerte. Der Mann stürzte schwer hintenüber, und zwei andere, die schattenhaft im Hintergrund auftauchten, wichen, einen neuen Gegner vor sich sehend, eilig zurück. Schon hatte Enrique die Doppelbüchse wieder geladen und eilte den Weichenden nach. Als er sie erblickte, eilig nach unten kletternd, schoß er, und ein dumpfer Aufschrei belehrte ihn, daß er getroffen hatte. Die Gegner waren verschwunden, der Überfall abgeschlagen. Als er sich, rasch wieder ladend, umwandte, hörte er die Stimme des durch d'Urquiza niedergestreckten Mannes: »Misericordia por totos santos, Señor!«
»Bist du verwundet?« fragte der Deutsche.
»Schwer, Señor, mein Bein ist getroffen.«
Enrique machte sich erst wieder schußfertig, bevor er sich dem Manne näherte. Er warf einen Blick nach unten, doch nichts war zu erkennen, was auf eine Wiederholung des Angriffes hätte schließen lassen. Dann trat er zu dem Mann, und auch der General kam heran. In der Dämmerung war der Verwundete bereits gut zu erkennen.
»Die Waffen fort!« schrie Enrique ihm zu.
Der Mann schob stöhnend die Lanze von sich und warf das Messer weg. »Tötet mich nicht, Señores!« sagte er.
»Wir sind keine Mörder. Wer bist du?«
»Ein Lancero des Gobernadors von Santa Fé.«
»Was wolltest du hier?«
»Wir haben Befehl, den General d'Urquiza zu verhaften.«
»Wie kommt ihr dazu, ihn hier zu suchen?«
»Wir waren in Cordoba beim dortigen Gobernador, damit er uns helfe, den General zu fangen, doch er erklärte, daß er keinen Mann zur Verfügung habe, und so mußten wir unverrichteter Dinge wieder fort. Als wir durch die Pampa nach Süden ritten, fingen wir auf dem Pferd eines Kameraden, den ein Aleman jüngst erschossen, einen Burschen ein, der in seiner Angst gestand, wo er das Pferd gefunden und daß er auch den Aleman gesehen habe. Er hat uns hierhergeführt.«
»Wie stark seid ihr?« setzte Don Enrique das Examen fort.
»Wir waren fünfunddreißig Mann, als wir ins Tal ritten. Wieviel jetzt noch leben, weiß ich nicht.«
»Was vermutest du? Werden deine Kameraden einen neuen Angriff versuchen? Sage die Wahrheit, und ich will dich verbinden, im anderen Fall jage ich dir eine Kugel durch den Kopf, sobald ich merke, daß du gelogen hast.«
»Einen neuen Angriff wird man schwerlich wagen«, sagte der Mann. »Die Felsen sind schwer zu erklimmen. Ihr seid jetzt gewarnt, und die Männer fürchten Eure Büchse. Aber weichen? Ich glaube es nicht. Auf den Kopf des Generals ist ein hoher Preis gesetzt.«
»Aber wenn der General nun gar nicht hier wäre?«
»Unser Anführer glaubt, daß er noch hier ist, Señor.«
»Nun, mag er bei seinem Glauben bleiben«, sagte Don Enrique trocken, »ich werde jetzt Verbandzeug holen, um Eure Wunde zu verbinden.« Er ging und sagte leise zu d'Urquiza: »Danke Euch für den Schuß, General. Er kam zur rechten Zeit. Mit einer Lanze hätte ich es aufgenommen, ich bin ein ganz guter Bajonettfechter, aber nicht mit dreien.« Er half dem General den steilen Weg hinab und fand dort, wo der Pfad mündete, Aurelio mit der gespannten Büchse in der Hand. »Nun?« fragte er.
»Die Steine müssen Wunder gewirkt haben«, sagte der Junge, »ich hörte unten schreien, habe aber keinen Gegner gesehen.«
Als der Deutsche mit dem Verbandszeug und einem Instrument, die Kugel aus der Wunde zu entfernen, auf dem Felsen erschien, stieg gerade der Sonnenball über dem Horizont empor. Er sah jetzt, daß er in dem Verwundeten einen jungen, verwegen aussehenden Burschen vor sich hatte, der bleich am Boden saß und wimmerte. Enrique untersuchte die Wunde, fand, daß es sich um einen glatten Durchschuß handelte, verband den Mann und gab ihm zu trinken. In etwa vierzehn Tagen werde er geheilt sein, verhieß er. Der Lancero stammelte einen Dank, und der Deutsche, der ihn jetzt nicht in die Höhle hinabschaffen wollte, bettete ihn im Schatten eines Felsstückes auf dem üppig sprießenden Gras. Die Sonne strahlte nun bereits vom hellen Himmel hernieder, und Enrique benützte sein Glas, um die Umgebung zu durchsuchen. Er stellte sogleich fest, daß sie nach wie vor von den Lanceros eingeschlossen waren. Allerdings befanden die Belagerer sich außerhalb des Schußbereiches seiner Büchse. So mußte man sich eben gedulden und die fernere Entwicklung der Dinge abwarten.
Er stellte nun den General an den Felsweg, sandte Aurelio hinauf, um oben Wache zu halten und machte sich selbst an die Bereitung eines Frühstücks. Während er noch damit beschäftigt war, vernahm er den hellen Ruf Aurelios. Er ergriff die Büchse und eilte nach oben.
»Seht, Don Enrique, was bedeutet das?« Der Junge wies in das Tal hinab, in das der Felspfad mündete.
Zu seinem Erstaunen sah der Deutsche, daß ihre sämtlichen Gegner in einem Haufen hielten und nach Nord ausschauten. Plötzlich ertönte, aus vielen Kehlen gerufen, ein schallendes »Adelante!«, und um eine Baumgruppe herum sprengte eine Reiterschar mit eingelegten Lanzen auf die Lanceros zu. Die warteten aber die Entwicklung des Angriffs erst gar nicht ab, sondern machten auf der Stelle kehrt und jagten auf schnaubenden Rossen davon, als sitze ihnen der Teufel im Nacken. Mit finsterem Grimm sah Aurelio den zerlumpten Burschen, der die Lanceros hergeführt hatte, auf dem Rücken seines Cid hinterherjagen. Er legte den Finger an den Mund und pfiff dem Tier, das von Jugend auf an diesen Lockruf seines jungen Herrn gewöhnt war. Cid bäumte sich wild bei dem vertrauten Laut und warf sich herum. Ehe der Reiter ihn wieder in seiner Gewalt hatte, flog diesem ein Lasso über den Kopf und riß ihn aus dem Sattel.
Die plötzlich aufgetauchte Reiterschar brauste vorüber. Enrique sah ihr in maßloser Verblüffung nach. Aurelio, glücklich, seinen Cid wiederzubekommen, eilte hinab, an dem erstaunten General vorüber, der offensichtlich auch noch nicht wußte, was er von der Sache halten sollte. Vom Fels kam jetzt der sehr erregte Enrique herab. Ehe der General noch eine Frage an ihn richten konnte, rief von unten eine dröhnende Stimme in deutscher Sprache herauf:
»Heda, Landsmann! Steckt Ihr da oben?«
»Hier!« antwortete fassungslos der Estrangero.
Man vernahm Schritte auf dem Felspfad, ein hochgewachsener Mann mit blondem Vollbart erschien, hinter diesem ein geschmeidiger Vaquero.
»Ein hübsches Adlernest habt Ihr Euch hier gebaut, Landsmann«, sagte der mit der dröhnenden Stimme, »mir scheint, ich bin gerade noch zurechtgekommen, um Euch das Ungeziefer zu verscheuchen?« Enrique, unfähig ein Wort zu sagen, drückte dem Blondbärtigen stumm die Hand.
Der Vaquero, ein Mann mit einem klugen Gesicht, hatte den General ins Auge gefaßt und war mit der leisen Frage an ihn herangetreten: »General d'Urquiza?« Als der General bejahte, zog der Vaquero ihn beiseite und verwickelte ihn in eine leise geführte Unterhaltung.
»Wie, um alles in der Welt, kommt Ihr hierher, Landsmann?« fragte Enrique, der sich mittlerweile gefaßt hatte, den Blondbärtigen.
»Das ist bald gesagt«, antwortete der. »Ihr wißt ja, daß am Tercero und am Bergabhang von Cordoba zahllose Deutsche wohnen, die engen Kontakt miteinander halten. Der Bursche, den sie da unten eben gefangen haben, ein elendes Subjekt, hatte einen Freund von mir, Klaus Hansen, ermordet und beraubt. Nun, da sind wir, unserer dreißig zusammen, zu Pferde gestiegen und haben, von zwei Vaqueros geführt, die Verfolgung aufgenommen. Wir hatten uns eben in Bewegung gesetzt, da kam jener Mann dort« – er deutete auf den Vaquero, der mit dem General d'Urquiza sprach – »und teilte uns mit, daß hier im Süden des Gebirges ein Deutscher in Gefahr sei, von den Soldknechten des Diktators in Buenos Aires umgebracht zu werden. Ich kannte den Mann, der durchaus kein Vaquero, sondern ein Senator aus Cordoba ist, die rechte Hand des Gobernadors, und wußte also gleich, daß mehr dahinterstecke. Nun sind wir Deutsche alle dem Gobernador ergeben, der ein ehrenwerter, uns wohlgesinnter Mann ist, und deshalb beschlossen wir, die Gelegenheit zu nützen und hier einzuschreiten. Wir stießen auf die Spur des Banditen, folgten ihr, hörten, während wir lagerten, Eure Schüsse, brachen auf, jagten die Lanceros des Herrn de Salis zum Teufel, und da sind wir also. Das ist die ganze Geschichte.«
»Es ist eine großartige Sache!« versicherte Don Enrique und drückte dem Blondbärtigen die Hand.
»Wer ist der Señor, mit dem der Senator spricht?« fragte er und deutete heimlich auf d'Urquiza.
»Ein Mann, den ich vor Herrn de Salis' Söldnern gerettet habe«, antwortete Enrique.
»Also unser Freund!« stellte der andere fest. »Aber nun kommt mit hinunter und begrüßt Eure Landsleute«, fuhr er fort. Enrique folgte ihm und sah sich, unten angekommen, von einigen zwanzig Männern umringt, die trotz der Ponchos, mit denen sie bekleidet waren, sogleich als Estrangeros erkennbar waren. Sie standen in Gruppen umher und plauderten. Als Enrique mit seinem Begleiter herankam, richteten sich aller Augen auf ihn. Plötzlich stieß einer der Männer einen Überraschungsruf aus und kam schnellen Schrittes heran. »Aber das ist doch Erich Stormar«, rief er; Freude und Erstaunen malten sich gleicherweise auf seinem Gesicht.
»Stormar, seid Ihr's oder seid ihr's nicht?« »Natürlich ist er es!« rief ein anderer, der herangekommen war. »Wo habt Ihr denn um alles in der Welt gesteckt? Wir dachten, Ihr wäret längst nicht mehr im Lande.«
Don Enrique stand schweigend auf und sah auf die Männer; er war blaß geworden, aber in seinen Augen zuckte es verdächtig. »Ja«, sagte er schließlich leise, demjenigen, der ihn zuerst angerufen hatte, die Hand reichend, »ich bin es. Was hilft das Leugnen, da ihr einmal da seid?« Es erwies sich nun gleich, daß noch mehrere alte Bekannte von ihm unter den Männern waren, die sich nun einer nach dem anderen herandrängten, um ihm die Hand zu schütteln. Er ließ das alles einigermaßen teilnahmslos und gewaltsam bemüht, seine Bewegung zu verbergen, über sich ergehen.
»Es hieß unlängst, Ihr seiet tot, der Tyrann habe Euch verschwinden lassen«, sagte einer. »Großartig, daß Ihr am Leben seid. Aber warum vergrabt ihr Euch so? Ihr müßt mit uns kommen, Land genug ist vorhanden.« Enrique antwortete nicht.
»Ich war vor einigen Monaten am Parana«, sagte ein anderer der Männer, »da sah ich Euren Freund Arno Thormäl. Ihr wart früher doch immer unzertrennlich. Ich fragte ihn nach Euch, aber er sagte, Ihr seiet verschollen und wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Thormäl ist mittlerweile ein großer Mann geworden, er hat eine Estancia, um die ihn ein Graf beneiden könnte. Wird der eine Freude haben, wenn er erfährt, daß wir Euch hier gesund und munter angetroffen haben.«
Das sehr blasse Gesicht Stormars hatte sich über diesen Worten zusehends verfinstert; er biß die Lippen zusammen und schwieg. »Was habt Ihr denn?« fragte der gesprächige Landsmann, aber Stormar winkte ab. »Später«, sagte er nur. Sein Blick fiel auf Aurelio, der, auf seinem wiedererlangten Cid sitzend, herangekommen war und staunend die stämmigen, durchweg blonden und ihn begreiflicherweise fremdartig anmutenden Gestalten der Reiter betrachtete. Er sah, daß Don Enrique von den Estrangeros jubelnd und freundschaftlich begrüßt wurde und schloß daraus und aus dem Äußeren der Männer sogleich, daß es sich um Landsleute seines Lebensretters handeln müsse. Als Stormar sich jetzt abwandte und der Junge den düsteren, fast zerquälten Ausdruck auf dem Gesicht des verehrten Mannes gewahrte, ritt er auf ihn zu und fragte: »Was ist das, Don Enrique? Freut Ihr Euch nicht, Landsleute getroffen zu haben? Es sind doch Landsleute von Euch?«
Stormar sah ihn an, und sein Gesicht hellte sich auf. »Doch, Aurelio«, sagte er, »ich freue mich sehr. Es kam da nur manches ein bißchen unerwartet. Auch Freude braucht Zeit, um zu wirken.«
Die deutschen Reiter hatten Feuer angezündet und bereiteten sich eine Mahlzeit. Nicht weit von ihnen lag der Bursche, der die Lanceros hergeführt hatte und von Cids Rücken mit dem Lasso heruntergeholt worden war, gebunden auf der Erde. In seinen zerrissenen Zügen malten sich Angst und Entsetzen; er wußte, daß er keine Gnade zu erwarten hatte.
Nach einiger Zeit kam auch der General in Begleitung des als Vaquero verkleideten Senators heran. Da sein Gastfreund ihm alle Vorräte der Höhle zur Verfügung gestellt hatte, trug er einen der dort vorhandenen Ponchos um die Schultern gehängt. Erich Stormar ging auf ihn zu. »Das war Hilfe in der Not, General«, sagte er; »es sind alles Landsleute von mir.«
»Ich hörte es«, antwortete d'Urquiza, »und ich kann dem Geschick nicht genug für diese Wendung danken, mit der schlechterdings niemand rechnen konnte. Der Zusammenhang der Dinge ist übrigens ganz einfach. De Salis hatte den Gobernador von Cordoba um Hilfe ersucht. Ortega ist aber ein alter Freund und Waffenbruder von mir. Selbst konnte er sich nicht bloßstellen, doch war er entschlossen, mich zu retten. Deshalb sandte er den Señor Dorrego aus« – er stellte den verkleideten Senator mit einer Handbewegung vor –, »und er vermochte es, Eure Landsleute, die gerade dabei waren, einen Spitzbuben zu jagen, für den Fall zu interessieren. Ich werde mich nun zunächst mit den Alemans nach Cordoba begeben, von dort aus werden wir weiter sehen. Wollt Ihr Euch nicht Eurer Einsamkeit entreißen und mit mir kommen?«
Stormar schüttelte den Kopf. »Erlaßt mir das jetzt, Don José«, sagte er, »Ihr könnt jederzeit auf mich zählen, und ich denke, eines Tages werde ich dabei sein, jetzt gehe es noch nicht.«
Die deutschen Reiter begannen sich fertig zu machen. Der noch auf der Felskuppe liegende Gefangene wurde mit Hilfe eines Lassos heruntergeschafft; er sollte ebenso wie der gebundene Mörder und Pferdedieb mitgenommen werden. Noch einmal wurde Stormar von den Männern bestürmt mitzukommen; er schüttelte den Kopf. »Ich werde zu Euch kommen«, sagte er, »später. Ich bin noch nicht soweit.«
Sie schüttelten ihm die Hände und schwangen sich auf die Pferde. Die Gefangenen nahmen sie in die Mitte. General d'Urquiza ging auf den neben seinem Cid stehenden Aurelio zu. »Leb wohl, mein junger Freund!« sagte er. »Bewahre José d'Urquiza ein gutes Andenken.« Er verabschiedete sich herzlich von dem zurückbleibenden Deutschen, schwang sich gleichfalls aufs Roß und ritt den anderen nach.
Erich Stormar, neben Aurelio stehend, sah hinter ihm her. »Dort reitet der Retter Argentiniens«, sagte er leise und wandte sich dann ab. Das Tal lag still und friedlich wie früher. Die Lanceros hatten immerhin Zeit gefunden, ihre Toten und Verwundeten mitzunehmen. Auch von denen, die Aurelio zweifellos mit den herabgeschleuderten Felsstücken getroffen hatte, war nichts mehr zu sehen.
Einige Tage vergingen den beiden in der Felseinsamkeit Zurückgebliebenen in vollkommener Ruhe. Sie ritten in die Bergwälder und in die Pampa und stellten den Hirschen nach; Erich. Stormars Wesen lockerte sich zusehends auf. In den Mußestunden erzählte er dem lauschenden Jungen von der fernen Heimat und von seinen Erlebnissen.
Eines Abends war Aurelio noch einmal auf den Felsvorsprung hinausgetreten, um die unvergleichliche Pracht des dunklen Sternenhimmels zu betrachten. Er war so in die Großartigkeit des Anblicks versunken, daß er auf nichts weiter achtete. Plötzlich glaubte er am südwestlichen Horizont ein Licht aufflackern zu sehen; das kam ihm sonderbar vor. Er ging zu Stormar in die Höhle und erbat sich sein Fernglas, um mit dessen Hilfe die auffällige Erscheinung zu prüfen. Er gewahrte in weiter Ferne deutlich drei rötliche Lichtpunkte. Stormar trat neben ihn und erstaunte, als er den Jüngling heftig zusammenzucken sah. »Was gibt es denn?« fragte er. Der sah ihn aus schreckenstarren Augen an. »Los Indios!« murmelte er.
»Indios? Wo?«
»Die Fanale am Rio Quinto leuchten«, stammelte Aurelio, »es ist gar kein Zweifel, die Puelchen sind da!« Nun schrak auch Stormar, der ja die Befürchtungen Don Juans kannte, zusammen. »Täuschst du dich auch nicht?« fragte er.
»Nein, Don Enrique«, sagte Aurelio. »Die Fanale warnen die Grenze vor den roten Räubern und rufen die Gauchos zusammen.« Er nahm die Büchse und sagte abschiednehmend: »Adio, amigo mio!«
»Was heißt das? Wohin willst du gehen?«
Aurelio sah ihn erstaunt an. »Wohin? Zu meinem Vater natürlich. Soll ich an seiner Seite fehlen, wenn der Puelche kommt?«
»Es wird dir nichts übrigbleiben, mein Junge«, sagte der Deutsche. »Denn ich kann dich nicht reiten lassen.«
In den Augen des Jünglings flammte es auf. »Was heißt das, amigo?« stieß er heraus. »Die Feuerzeichen rufen zum Kampf, mein Vater ist in Gefahr, und Ihr wollt mich zurückhalten?«
»Um dich vor dieser Gefahr zu schützen, hat dich dein Vater hierher gebracht«, sagte Stormar. »Ich bin ihm verantwortlich für deine Sicherheit.«
Das Antlitz des Jungen wurde fahl, seine Augen verschleierten sich. »Er liebt mich nicht«, stammelte er, »mein Vater liebt mich nicht. Sonst müßte er wissen, daß ich an der Schande sterben würde, wenn ich an seiner Seite im Kampfe fehlen müßte. Ich kann Euch nicht gehorchen, Señor«, sagte er, ruhiger werdend, aber mit unheimlicher Entschlossenheit. »Ich kann auch meinem Vater diesmal nicht gehorchen; Ihr würdet mich mit Gewalt zurückhalten müssen, und das werdet Ihr nicht tun. Gebt mir eine von Euren Lanzen, Don Enrique, ich werde sie brauchen.«
Er wartete die Antwort nicht ab. Er ergriff eine der an der Wand lehnenden Lanzen, flüsterte: »Hasta luego, amigo!« und eilte leichtfüßig davon.
Einen Augenblick nur stand der Deutsche verwirrt, dann eilte er dem Jungen nach. Aber Aurelio kam schon auf dem gesattelten Schimmel aus dem Korral geritten, die lange Lanze in der Hand.
»Ich reite mit dir«, sagte der Deutsche kurzentschlossen, »ich bin gleich bereit.«
Der Jüngling lächelte. »Teurer Freund«, sagte er, »Euer Maultier kann mit meinem Cid unmöglich Schritt halten. Fürchtet nichts! Gott ist über uns allen. Hasta luego!« Er gab dem Tier die Sporen und sprengte davon.
Schwer bedrückt blieb Erich Stormar zurück. Er wußte, es hatte keinen Sinn, dem Jüngling nachzureiten. Er kannte die heimlichen Zeichen nicht, die dem Gaucho den Weg durch die Pampa weisen, und außerdem hatte Aurelio selbstverständlich recht; sein bestes Maultier konnte mit dem Schimmel Cid nicht Schritt halten. Von den widerstreitendsten Empfindungen hin- und hergerissen, stieg er wieder zu seiner Höhle hinauf.