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Otto Ludwig.

(Leipzig 1859).

Kein Satz steht dem Ästhetiker so fest wie dieser, daß die Ideale unserer Zeit nur im Drama die vollendete künstlerische Gestaltung empfangen können. Und keine Tatsache steht dem Beobachter des Kunstlebens so fest wie diese, daß nicht das Drama, sondern der Roman sich heute der höchsten Volksgunst erfreut. Man mag diesen Widerspruch beklagen, und ich beklage ihn lebhaft – aber die ästhetische Empfänglichkeit eines Volkes läßt sich nicht meistern, sie gehorcht ebenso wenig wie die Gestaltungskraft der Künstler den Machtsprüchen der Theorie. Die Vorliebe der Zeitgenossen für den Roman entspringt zum Teil der Trägheit; denn das Drama mutet der Phantasie der Hörer eigene Tätigkeit zu, während der stoffliche Reiz des Romans auch den Stumpfsinn erregt. Doch zugleich sagt uns ein richtiges Gefühl, daß die eigentümlichsten Gedanken der Gegenwart bisher in dem Romane ein getreueres Abbild gefunden haben als im Drama, Die jüngste Epoche der deutschen Poesie läßt sich kurz bezeichnen als eine Zeit, welche nach dem Drama sucht, ohne es zu finden. Der lebensfähigen Dramen sind heute so wenige, daß man einigen Mutes bedarf, um ernstlich zu glauben, dies Suchen sei nicht bloß den Reminiszenzen der Weimarschen Tage, sondern einem ursprünglichen Drange der Gegenwart entsprungen. Recht als ein Vertreter dieser suchenden Zeit, als eine tragische Gestalt erscheint uns Otto Ludwig, ein Dichter, der mit allen Kräften eines starken Geistes dem Ideale des Dramas nachtrachtete und endlich doch erleben mußte, daß eine seiner Erzählungen den Zeitgenossen als das schönste seiner Werke galt.

Halb lächelnd halb beschämt gedenken wir heute des sonderbaren Streites der angeblichen Idealisten und Realisten, welcher in den fünfziger Jahren die Spalten so vieler Blätter mit gehässigem Zanke füllte. Als die Ausläufer der Romantik sich in phantastische Experimente verloren, bald die Kunst zum Gegenstande der Kunst machten, bald schattenhafte Märchengestalten erschufen, welche jeder menschlichen Wahrheit und darum der Schönheit entbehrten: – war es nicht natürlich, daß damals frische, mit gesunder Sinnlichkeit begabte Dichter, jenes schwächlichen Treibens müde, mit kecker Hand in die derbe Wirklichkeit des niederen Volkslebens griffen? Dieser aus der Lage der Dinge entsprossenen Richtung verdanken wir die allmähliche Rückkehr der erzählenden Dichtung zu kräftigen, lebenswahren Gestalten. Aber die Dorfgeschichte, die bei ihrem ersten Auftreten, in Immermanns Münchhausen, wie ihr gebührte, nur als eine Episode erschienen war, begann bald sich als die Herrscherin zu fühlen. Der prosaische Sinn der Zeit, froh der großen Triumphe der deutschen Arbeit, stellte dem Dichter die Zumutung, daß er das Schöne suche unter den Düften des Heues, beim Klappern des Webstuhls. Man verwechselte das Ideale und das Abstrakte, schalt über Unnatur, so oft ein Poet über die Schilderung des platt Alltäglichen hinausging. Die realistische Ästhetik bewunderte alles Ernstes den dürftigen Ruhm jenes alten Malers, dessen Trauben die Gier der Sperlinge reizten; sie lief Gefahr herabzusinken zu der Roheit des großen Haufens, dessen Kunstgenuß, nach Goethes klassischem Worte, nur darin besteht, daß er das Abbild mit dem Urbild vergleicht.

Ihr gegenüber scharte sich nach und nach eine seltsam gemischte Gesellschaft. Zarte musikalisch gestimmte Naturen, welche das lyrische Element in jenen realistischen Dichtungen mit Recht schmerzlich vermißten; sinnige Verehrer der Goethischen Muse, die sich aus der Enge der prosaischen Lebensverhältnisse zurücksehnten nach der freieren Luft und der reinen Formenschönheit der antiken Welt; vor allen aber talentlose Schriftsteller, die greisenhaften Epigonen, des »jungen Deutschlands«, denen die leibhaftige Wahrheit der Dorfgeschichten ihren eigenen Mangel an Gestaltungskraft klar machte – sie alle vereinigten sich zu dem Rufe, bei dem Streben nach dem Charakteristisch-wahren gehe die Schönheit verloren. Für das heutige Geschlecht bedarf es kaum noch der Versicherung, daß die hellen Köpfe der beiden streitenden Parteien im Grunde eines Sinnes waren. Darin liegt ja die Größe, der Tiefsinn der Poesie, daß sie, vielseitig, allumfassend, nicht wie die Skulptur den idealistischen, nicht wie die Malerei den charakteristischen Stil begünstigt, sondern beiden freien Spielraum gewährt. Jener zarte Sinn für die reine Form, welcher mit selbstvergessenem Entzücken selbst der abstrakten Schönheit der Linien zu folgen vermag, von den großartigen Umrissen eines Gebirges bis herab zu den lieblichen Wellenwindungen eines Frauenscheitels – er ist dem Dichter nicht minder unerläßlich, als der kecke Mut, der seine Lust hat an den mannigfachen Verzerrungen, in denen das Menschenleben die Idee des Schönen entstellt und gebrochen zur Erscheinung bringt. Erst die Vereinigung dieser Kräfte macht den Dichter. Nur ein Mehr oder Minder, ein Vorwiegen der einen oder der andern Richtung ist an einzelnen Künstlern wie an ganzen Zeiträumen wahrzunehmen. Und wenn wir die prosaischen Lebensformen unserer Tage, ihr unstreitbar mehr auf das Wahre denn auf das Schöne gerichtetes Gefühl befrachten, so läßt sich gar nicht leugnen: für einen modernen deutschen Dichter, der seiner Zeit ein offenes Herz entgegenbringt, ist die Hinneigung zur charakteristischen Darstellungsweise nicht Sache der freien Wahl, sondern Ergebnis geschichtlicher Notwendigkeit. – In dem heftigen literarischen Kampfe jener Zeit fanden so einfache Wahrheiten kein Gehör; jeder Künstler ward unbarmherzig hineingezerrt in den Parteihader des Tages. Otto Ludwig selbst hat sich von den kritischen Fehden vornehm zurückgehalten, er hat zur Welt nie anders gesprochen als durch seine poetischen Taten. Trotzdem erkor ihn die buntscheckige Menge der Gegner der charakteristischen Darstellungsweise zur Zielscheibe ihrer bittersten Anfeindungen; er sollte der wahre Bannerträger sein der Poesie des Tütendrehens. Wunderlicher Irrtum! Wie wahr ist es doch, daß die Lebenden einander nicht verstehen! Heute, da jener törichte Zank längst verstummt ist, da Otto Ludwig nicht mehr unter uns weilt, sei der Versuch gestattet, ein treues Bild des edlen Mannes zu zeichnen. –

Eine harte freudlose Jugend gewährte dem Dichter nur allzuoft einen Einblick in die Nachtseiten des Menschenherzens. Er war zu Eisfeld im Jahre des deutschen Freiheitskrieges geboren und wuchs heran in jenen müden Zeiten, da noch kaum ein Lichtstrahl eines öffentlichen Interesses die Gedanken der Menschen in einer thüringischen Kleinstadt hinweglenkte von den Sorgen und Kämpfen ihres engen häuslichen Daseins. Er erlebte frühzeitigen Liebeskummer, raschen unheilvollen Schicksalswechsel im Hause der Eltern, sah unter den Verwandten wilde Auftritte entfesselter Leidenschaft in gedrückten ärmlichen Verhältnissen, und da er eine Zeitlang hinter dem Ladentische stehen mußte, trat ihm das kleine Alltagstreiben der wunderlichen Käuze, die jene Zeit des ungestörten Philistertums erzeugte, dicht unter die Augen. Das Völkchen um ihn her begann bald zu ahnen, daß eine ungewöhnliche Kraft in der Seele dieses jungen Menschen arbeitete. Ein Augenzeuge erzählte mir einst, wie Thorwaldsen einmal im lebhaften Gespräche im Zimmer auf und ab ging, die Hände auf dem Rücken gefaltet und einen Tonklumpen zwischen den Fingern knetend; nach einer Weile holt er den Ton hervor und siehe da, er hat die edlen Umrisse eines schönen Kopfes geformt. Auch in der Phantasie des jungen Thüringers lag ein Zug von dieser unbewußten geheimnisvollen Schöpferkraft. Er lebte und webte in einer reichen Traumwelt; glänzende Gestalten tauchten auf vor seinem inneren Auge, traten ihm in den Weg, wo er ging und stand, in körperlicher Fülle, in beängstigender Nähe. Vielleicht ist kein deutscher Dichter seit Heinrich Kleist durch eine solche übermächtige Naturgewalt des Vorstellungsvermögens zugleich beglückt und gepeinigt worden. Doch der erlösende Ruf, der den harmonischen, glücklichen Genius früh auf ein bestimmtes Gebiet des Schaffens drängt, erklang diesem ringenden Geiste nicht. Seine Phantasie war ebenso unstet als vielseitig; sein Wesen gemahnt an jene Urzeit des Völkerlebens, da die Gattungen der Kunst noch ungeschieden durcheinander lagen und der Mensch mehr in Bildern und Tönen als in Begriffen dachte. Er hört entzückende Melodien in seinem Innern klingen und beginnt zu komponieren, er zeigt ein lebhaftes Gefühl für die bildende Kunst und sieht die Erscheinungen, die ihm aufsteigen, blendend vor sich in reicher Farbenpracht, so deutlich, daß er das leiseste Zucken ihrer Mundwinkel nachzeichnen könnte; er fühlt die ersten Regungen seiner Dichterkraft und spielt in einem Liebhabertheater zugleich den Dramaturgen und den Kapellmeister.

Als er endlich meint, seinen Beruf für die Musik erkannt zu haben, und die Güte eines Gönners dem Armen das Studium der Kunst ermöglicht, da führt ihn sein Unstern in das höfliche Sachsen. Dem derben Sohne der Thüringer Berge graut vor diesen glatten Städtern, vor »der erlogenen Jugend auf diesen Leipziger Gesichtern«. Er sehnt sich heim nach der alten Bastei in Eisfeld, wo er so oft mit schlichten, kernhaften Freunden geplaudert, zieht sich scheu vor den Menschen zurück. Noch in späteren Jahren, wenn er die hohen Gestalten der Bilder in der Dresdner Galerie betrachtete, erschien ihm das moderne Volk mit seiner Hast und seiner Leere oft nur wie ein Haufen »aufgepappter Nürnberger Männlein«. Er erwarb jetzt, während er eifrig seiner Kunst oblag, durch harte, aufreibende Arbeit eine allgemeine Bildung, die doch immer unfertig blieb, bis er endlich – man sagt, nach dem Anhören einer Beethovenschen Symphonie – sich traurig gestehen mußte, daß die Welt der Musik nicht die seine sei. Nun erwachte seine dramatische Kraft. In seinen dreißiger Jahren geht er noch tastend die Irrgänge des Schülers, mannigfach aufgeregt bald durch die reckenhafte Größe der altnordischen Sagenwelt, bald durch die Spukgestalten der neuen Romantik. Ich verdanke der Güte der Witwe Otto Ludwigs die Kenntnis zweier Dramen aus dieser Zeit, und ich vermag lebhaft nachzuempfinden, wie bald der strenge, rastlos aufstrebende Geist des Dichters, der sich nie genug tat, von so unreifen, chaotischen Werken sich abwenden mußte. »Das Fräulein von Scudery« ist eine wenig glückliche Bearbeitung der bekannten Schauergeschichte von Callot-Hoffmann; die phantastische Willkür der Erfindung, welche der Novellist durch den leichten Fluß seiner Erzählung, durch eine gewisse diabolische Grazie zu verstecken weiß, tritt in dem Drama grell, in widerwärtiger Klarheit hervor. Minder formlos, aber auch weniger eigentümlich ist das Trauerspiel »Die Rechte des Herzens«.

Es gereicht dem Scharfblick Eduard Devrients zur Ehre, daß er aus einzelnen mächtigen Klängen ursprünglicher Leidenschaft, welche in diesen unfertigen Dramen zuweilen aufbrausen, das Talent des Dichters erkannte und ihm die Schule der Dresdner Bühne eröffnete. Was wußte die Klatschsucht des ängstlichen Dresdner Philisters nicht zu erzählen von dem schweigsamen Sonderling, der zuweilen mit seiner langen Pfeife im Großen Garten erschien – eine hohe schlanke Gestalt, schöne, tiefe deutsche Augen, ein großes bleiches Gesicht von langem Haar und Bart umschattet. Ein Ton matter und platter Gemütlichkeit war aus der Dresdner Künstlerwelt niemals ganz verschwunden seit jener Zeit, da die Abendzeitung ihre Wasserkünste spielen ließ, bis herab zu diesen neueren Tagen, da der wackere Julius Hammer verständnisinnig um sich und in sich schaute. Doch alle mannhaften und tiefen Naturen aus diesen gefühlsseligen Kreisen suchten gern das stille Haus des Thüringers auf; und wer ihm irgend näher getreten, pries bewundernd die seltene Hoheit dieses Künstlergeistes, wie besonnen und verständig er im täglichen Leben schaltete, wie treu und wahrhaftig die Stimme der Empfindung aus seinem Herzen klang, und wie geistvoll er in seinem derben Thüringer Dialekte über die höchsten Probleme der Kunst zu reden wußte, wenn man nur anzuklopfen verstand. Eine glückliche Ehe und der günstige Bühnenerfolg zweier Tragödien schienen dem Dichter endlich, da er das vierzigste Jahr schon überschritten hatte, die Bahn eines wohlgeordneten ehrenvollen Lebens zu eröffnen; da warf ihn ein grausames Siechtum danieder, betrog ihn und uns um die Früchte seines Schaffens. Unermüdlich tätig, nie verlassen von seiner Seelenstärke, hat er noch viele Jahre hindurch der Krankheit widerstanden, bis er endlich, kaum zweiundfünfzigjährig, erlag.

Es muß ein harter Kampf gewesen sein, der den Dichter des »Fräuleins von Scudery« befreite von den allzu lange verfolgten romantischen Idealen. Genug, er brach mit dieser phantastischen Welt, endgültig nach seiner starken Art; er wollte fortan auf eigenen Füßen stehen, »Natur und Wahrheit geben, ja die Wirklichkeit selbst – so schrieb er – nicht die rohe, sondern die schöne«. In der Tat erschien das Trauerspiel »der Erbförster«, das in Dresden (1852) zum ersten Male über die Bretter ging, wie eine leidenschaftliche Kriegserklärung gegen alle romantische Verschwommenheit. Es ist kaum möglich, über die ungeheuerliche Fabel dieses seltsamen Dramas ein allzu hartes Urteil zu fällen. Das Thema von Kleists Kohlhaas, das Bild des wackeren Mannes, der durch gekränktes Rechtsgefühl ins Unrecht gestürzt wird – dieser alte schöne grunddeutsche Stoff erscheint hier sonderbar verzerrt. Ein leichter, ja komischer Streit zwischen dem wackeren Förster und seinem nicht minder wackeren Herrn wird durch allerlei äußere Umstände, durch eine verwickelte dramatische Maschinerie, die den Einfluß von Lessings Emilia Galotti nur allzu deutlich erkennen läßt, emporgeschraubt zu der Höhe eines tragischen Kampfes; zuletzt greift gar der gemeine Zufall ein und der Förster erschießt, indem er den Sohn des Feindes töten will, sein eigenes Kind.

Und doch, was war es, das damals die Hörer in gespannter Teilnahme auf den Bänken bannte? Warum regte sich kein Lächeln bei den widersinnigen Zumutungen, welche der Dichter an uns stellt? In leibhaftiger Wirklichkeit, mit überwältigender Wahrheit traten uns diese Menschen entgegen; während des Schauens zum mindesten vermochte der Zweifel nicht sich zu regen. Ein jeder fühlte: das ist tief innerlich empfunden, das ward geschrieben mit jener Sammlung des ganzen Wesens, welche in der heutigen Kunst – bei der Masse von Bildungsstoff, die auf den Künstler eindrängt und seine Teilnahme zerstreut – eine unendlich seltene Erscheinung ist. Diese Gestalten hatten von dem Blute des Lebens getrunken, sie sagten uns nicht, was der Dichter mit ihnen wollte, sie sagten, was sie selber wollten, und sie sprachen es aus, ohne es recht zu wissen. Eine feine und tiefe Unterscheidung, die den Nagel auf den Kopf trifft und von Otto Ludwig in seinen Selbstbekenntnissen oft betont wird; der kalte Verstand begreift sie kaum, das gesunde Gefühl empfindet sie augenblicklich. Gerade die gebildeten Hörer, befangen in der Reflexion, an stete Selbstbeobachtung gewöhnt, zeigen heute wenig Sinn für die rechte Objektivität des Dramatikers; sie sind befriedigt, wenn die Gestalten auf der Bühne nur nichts sagen, was ihrem Charakter widerspricht, und hören gern jene pikanten epigrammatischen Selbstbekenntnisse, welche doch lediglich den psychologischen Scharfsinn, den analytischen Verstand des Dichters, nicht seine Gestaltungskraft zeigen. Hier aber erschien ein echter Dramatiker, der völlig hinter seinem Werke verschwand. Der unglückliche Dichter, der mit seinem schwerflüssigen Talent, seinen unablässigen grübelnden Seelenkämpfen dem fruchtbaren, glückselig heiteren Genius Albrecht Dürers gegenübersteht wie die Nacht dem Tage, zeigt doch in der naiven Wahrheit, der knorrigen Eigenart seiner Charaktere eine Verwandtschaft mit dem alten Maler.

Und warum fanden sie so wenig Anklang, jene kritischen Stimmen, welche mit der naheliegenden Behauptung auftraten, hier sei die krasse Trivialität der Schicksalstragödien wieder auferstanden? Nein, hier ist nichts von jener leichtfertigen Frivolität, die des Menschen Tun und Denken an einen rohen Zufall knüpft. Ein alttestamentarischer Ernst schreitet durch das Stück; der Dichter scheint frivol, weil seine gewissenhafte Strenge zur Härte wird. »Unschuld und Verbrechen steh'n an den Enden des Menschlichen; aber den Unschuldigen und den Verbrecher trennt oft nur Ein schnellerer Puls« – das ist ein Ausspruch frevelhafter Schwäche, wenn er die Sünde entschuldigen soll. Aber Otto Ludwig versteht ihn im Sinne einer Anklage; er glaubt gerecht zu handeln, wenn er »einem raschen Worte, das unser Herr wird, weil wir uns nicht die Mühe geben sein Herr zu sein«, die furchtbarsten Schrecken folgen läßt. Eine freudlose, trostlose Lebensweisheit, eine arge Verirrung, gewiß, aber die Verirrung eines tiefen und starken Geistes!

Vielleicht noch peinlicher als den grausamen Schluß empfand der Hörer die schwüle beklommene Luft, die über dem gesamten Werke liegt. Diese starken wilden Leidenschaften im engsten Räume tobend – das macht den Eindruck eines Sturmes im Glase Wasser, dabei geht die Harmonie von Form und Inhalt verloren. Die Berechtigung des dörflichen und kleinbürgerlichen Lebens in der Tragödie bleibt schlechterdings eine sehr beschränkte. Worin besteht der poetische Reiz jener schlichten Lebenskreise? In der Einfachheit, der heimlichen Enge, dem traulichen Frieden eines der Natur noch nicht entfremdeten Daseins. Wie anders in dieser Tragödie! Von dem ästhetischen Reize des Wald- und Jägerlebens ist nicht die Rede; nur die Härte, die Unfreiheit der prosaischen Lebensverhältnisse tritt uns entgegen. Wo die Leidenschaft tobt, da erscheint sie in häßlicher Form: ausgehauen wird des Försters Sohn, und den ruchlosen Mordtaten muß sich die feige Waffe der Büchse als Mittel bieten. Fürwahr, das sind keine Äußerlichkeiten. Wenn der Dichter in der ersten Bearbeitung seinen Helden aufs Gericht gehen ließ, um für den Totschlag den Tod zu finden, wenn er später den juristischen Fehler durch einen psychologischen ersetzte und diesen starren Gläubigen durch Selbstmord enden ließ: – liegt darin nicht ein bedenklicher Fingerzeig, wie wenig diese harmlosen Lebenskreise sich für die Tragödie eignen? Die komische, die rührende Dichtkunst findet in solchen einfachen Zuständen ihr natürliches Element. Die Tragödie schreitet auf geweihtem Boden, sie verlangt den Kothurn, sie fordert eine reine, von dem Dunst und Staub des alltäglichen Lebens gesäuberte Luft, sie fordert große Verhältnisse, wenn die großen Leidenschaften, welche sie entfesselt, groß erscheinen, harmonisch wirken sollen, wenn ihr Eindruck nicht traurig statt tragisch, niederschlagend statt erschütternd sein soll. Oder wäre es ein Zufall, daß die große Familientragödie des Lear, das psychologische Drama des Tasso in der vornehmen Welt spielen? Wir sind weit entfernt, den niederen Ständen die tragische Hoffähigkeit kurzweg abzusprechen; aber es bedarf ungewöhnlichen Glückes, wenn der Dichter einer kleinbürgerlichen Tragödie die arge Klippe umschiffen will, daß die Leidenschaften in diesem engen Raume verkümmert, gebrochen erscheinen, und daß die rächenden Mächte des bürgerlichen Lebens, der Gendarm und das »Trillerhäusle« mit ihrer handgreiflichen Häßlichkeit den Kunstgenuß zerstören.

Noch mehr. Die Tragödie verlangt volle Zurechnung, individuelle Freiheit des Entschlusses der Handelnden, und auch darum sind die Höhen des Lebens ihr natürlicher Boden. Keine Spur davon in unserem Trauerspiele. Dieser Held bewegt sich in einer engen Welt fester Rechts- und Ehrbegriffe, welche nicht minder starr, aber weit minder ästhetisch sind, als die Satzungen spanischer Ritterlichkeit in den Dramen Calderons. Seine Ehre glaubt er geschändet, wenn sein Gutsherr ihn wegen einer Meinungsverschiedenheit aus dem Dienste entläßt, sein Ansehen denkt er zu wahren, wenn er mit der Furcht statt der Liebe Weib und Kind an sich fesselt. Auch Kleists Kohlhaas ist ein schlichter Mann aus dem Volke; doch hier zeigt sich die Überlegenheit dieses mit Ludwig verwandten und doch ungleich größeren Geistes. Kleist läßt seinen Helden klar und einfach denken, also daß wir alle, hoch und niedrig, sofort verstehen, warum er in seinem Rechte gekränkt zur Selbsthilfe greift. Dem Erbförster dagegen widerfährt zwar eine Unbill, doch kein Unrecht, er wird als ein widerspenstiger Diener von seinem Herrn entlassen. Der brave Mann empfindet nun dunkel – und wir mit ihm – daß das formelle Recht diesmal zur unsittlichen Härte führt; in ihm regt sich die uralte, die echt menschliche und doch ewig unerfüllbare Forderung, daß die Ordnung des Rechts und die Ordnung der Sittlichkeit sich decken sollen. Aber der Dichter verschmäht dies klare und wirksame Motiv zu benutzen; er leiht seinem Helden nicht die Beschränktheit der Leidenschaft, welche im Drama ein ewiges Recht behauptet, sondern die Beschränktheit der Unbildung, die der Hörer belächelt. Der unwissende Förster kann das sonnenklare Recht seines Dienstherrn nicht begreifen, und auf dieser Dummheit des Helden ruht am Ende der ganze tragische Konflikt! – »So sind meine Thüringer« – pflegte Ludwig zu antworten, wenn man ihm solche Bedenken einwarf; er gedachte dann aller der harten und beschränkten Naturen, die ihm droben auf dem Walde begegnet waren, er erzählte von jenem Manne in Eisfeld, der mit den Seinen dem Hungertyphus erlag, weil er es für eine Schande hielt, der Behörde seine Dürftigkeit zu bekennen. Aber sind solche Empfindungen, weil sie im Leben vorkommen, poetisch wahr? Ist der Hörer, der mit freieren menschlichen Ideen an das Wert herantritt, imstande, sie nachzuempfinden oder auch nur zu begreifen? Die enge kleine Welt, worin der Dichter aufwuchs – sonst ein Segen für den Künstler, denn sie schenkt ihm, was keine Bildung ersetzen kann, Vertrautheit mit der Natur, mit dem einfachen Ausdrucke starker Empfindungen – sie gereicht ihm zum Unsegen. Er vermag nicht, über das Reich der Erfahrung sich zu erheben, er zeichnet das Leben selbst, nicht ein künstlerisches Bild des Lebens. So hinterläßt dies Drama eines ernsten und strengen Künstlers doch einen ähnlichen Eindruck, wie die Werke zuchtloser, nach willkürlichen Effekten haschender Geister: erstaunt und befremdet verweilen wir, dieser Held ist ein unverständliches Original.

Zu diesem Fehler, der aus unfreier Bildung entspringt, gesellt sich ein anderer, der seinen Grund hat in der Überfülle der Kraft. Die sinnliche Wahrheit der bis zur Zudringlichkeit deutlichen Gestalten überschreitet oft die dem Dramatiker gesetzten Schranken, also daß der Schauspieler gepeinigt oder zum Automaten herabgewürdigt wird; über ihnen schwebt nicht jener geheimnisvolle Duft, der die Phantasie des Hörers zu eigener Tätigkeit erweckt. Wie peinlich der Dichter durch seine Traumgestalten bedrückt ward, das fühlen wir bei Ludwig wie bei Kleist am deutlichsten an den Szenen höchster Erregung: hier finden beide selten die Beredsamkeit der Leidenschaft, sie reden die stammelnden Laute der rohen Empfindung, sie scheinen zu kalt, weil sie zu heiß sind. Das alles hat Otto Ludwig selbst späterhin eingesehen, da er sich vorwarf: »wer den Sinn überzeugen will, lähmt die Phantasie.« Endlich – da einmal auch der begabteste Dichter seine Menschen teilweis sich zum Bilde schafft – so haben all diese Charaktere eine schwere, verschlossene, zurückhaltende Weise, die jede Situation übermäßig gespannt und ängstigend macht und dem Hörer zur Qual wird. – Wer die Stärke dieses Talents bewunderte, der mußte wünschen, ein freundlicher Stern möge die Phantasie des Dichters hinausführen aus der engen Welt, die seine Wiege umgab, damit er das Dürftige und Häßliche des Alltagslebens vergesse – und er möge sich befreien von der Schule Eduard Devrients, welcher er zwar die Bühnenkenntnis und die Sorgfalt in der Charakterzeichnung, aber auch die einseitige Vernachlässigung der idealen Elemente des Dramas verdankte.

Und Otto Ludwig erfüllte diese Hoffnung, als einige Zeit später »Die Makkabäer« erschienen. Der Stoff konnte nicht glücklicher gewählt sein; denn der lyrische Schwung, der in der Fabel selbst liegt, half freundlich einen Mangel in Ludwigs Talent verdecken, und nicht die sinnlich reizende Pracht, welche heute so viele blasierte Poeten an die orientalischen Stoffe fesselt, sondern der tiefreligiöse Ernst der jüdischen Welt, der dem Wesen Ludwigs vollkommen entspricht, hatte den Dichter angezogen. Das Drama gemahnt oft an den glaubensfreudigen Siegesjubel, der in den Klängen von Händels Samson redet. Wie Juda Makkabäus über die Leiche seines Oheims nach dem Götzenbilde schreitet und den Greuel in den Staub wirft – »o arme Beter, ärm'rer Gott!« – und wie den sterbenden Duldern zu Jerusalem aus den Augen des einziehenden Helden neue Kraft zum Leben zuströmt: diese Szenen stehen dem Besten unserer Dichtung zur Seite. Und es sind Kämpfe von ewiger Wahrheit, die der Dichter schildert: die Empörung des freien Heldenmuts gegen religiösen Fanatismus, der Kampf der Glaubenstreue mit dem Zwange weltlicher Tyrannei. Die beklemmende Düsterheit von Ludwigs Erstlingsdrama finden wir hier nicht mehr, wohl aber dieselbe Kraft und Gedrungenheit, denselben sittlichen Ernst. Dies letztere erscheint besonders erfreulich, wenn wir uns des gleichnamigen Stückes von Zacharias Werner, das sich mit Ludwigs Tragödie vielfach berührt, erinnern; denn an dieser Arbeit des Apostaten empört uns nicht sowohl das wüste Durcheinander der Szenen und der hohle Klingklang schlechter lyrischer Verse, als der gänzliche Mangel an Gewissen, die prahlerische Äußerlichkeit des religiösen Gefühls.

In der Zeichnung der Charaktere hat der Dichter hier nur wenig und in großen Zügen motiviert, und leider pflegen die Aufführungen der Makkabäer das Heinesche Witzwort, daß Schauspieler und Dichter in demselben kordialen Verhältnisse zu einander stehen, wie der Henker und der arme Sünder, in besonders schlagender Weise zu bewahrheiten. Es ist ein Vorzug großer historischer Stoffe, daß sie sparsames Motivieren ermöglichen: die erhabenen allgemein-menschlichen Empfindungen der Vaterlandsliebe, des Heldenmuts, der religiösen Begeisterung hat jede nicht ganz stumpfe Phantasie schon durchempfunden, der Dichter hat nicht nötig, durch Kleinmalerei sie uns näher zu bringen. Wer sollte ihn nicht verstehen, diesen königlichen Juda, »den Mann, der seine Tugenden verhüllt, daß unsere Armuth nicht vor ihm erröthe«, der bei der Feinde Drohen vor Lust bebt wie ein Baum im Regen? Und neben ihm »in ihrer Demuth Niedrigkeit« das Röslein von Saron, eine Gestalt, die nur wenige Zeilen spricht, aber von einer erträglich schönen und gefühlvollen Schauspielerin dargestellt, jeden Zuschauer kaum minder rühren muß, als den Juda selber. Auch der vielgeschmähte Charakter der Mutter der Makkabäer scheint uns durchaus wahr und treu. »Kein Weib war weiser, keine Mutter törichter«, dies Wort des Juda löst das Rätsel. Mit durchdringender Klarheit erkennt sie die Schmach ihres Volkes, sie glaubt mit einer die Grenzen des Weiblichen schon überschreitenden Leidenschaft an die Rückkehr der Juden zum alten Glanze, zum alten Gott; und in weiblicher Weise vermischen sich diese religiös-politischen Bestrebungen mit ihrem Familienstolze, ihrer blinden Mutterliebe: in jedem ihrer Söhne meint sie den Helden ihres Volkes zu schauen, und indem sie ihnen die Bahn zum Ruhme weist, zittert sie davor, sie zu verlieren. Es ist ein tiefsinniger Zug, daß diese entgegengesetzten Seiten ihres Wesens zuletzt, da sie selbst ihre Söhne zu Jehovas Ehren in den Tod treibt, miteinander in Kampf geraten.

Leider ist die Komposition sehr unfertig, auf Szenen voll Hoheit folgen oft matte, fast zwecklose Auftritte. Ludwig hat gleich Z. Werner zwei Fabeln verbunden, den Glaubenskampf des Juda und die rührende biblische Erzählung von dem Opfertode der sechs Knaben im Marterofen; aber ihm so wenig als Werner ist die Verschmelzung gelungen. Beide Stoffe sind durchaus dramatisch, es war möglich, sie mit derselben Idee zu durchdringen und in ähnlicher Weise wie die beiden Tragödien im Lear zu einer idealen Einheit zu verknüpfen. In der einsamen Größe des Juda, der sich losreißt von dem mütterlichen Boden der Gesittung seines Volkes, ruht ein tieftragischer Gehalt; der Held – das ist des Dichters eingestandene Absicht – soll zu seiner Beschämung erfahren, daß auch er nur ein Werkzeug ist in der Hand Jehovas, und daß Israel gerettet wird nicht durch den Mut des Heerführers, sondern durch die Glaubenstreue der Masse. Aber dann durfte der Glaubenseifer dieses Volkes nicht bloß durch den Mund des Fanatikers Jojakim zu uns reden; vor Augen mußten wir es sehen, wie die Juden sich mit den Waffen in der Hand erwürgen lassen, weil sie die Sabbatgesetze nicht brechen wollen; und vor allem: dann durfte in den wenigen Szenen, wo wir es schauen, das Volk nicht – in jener Shakespeareschen Weise, die für unsre Gesittung unbedingt ein Anachronismus ist – so gar niedrig und erbärmlich auftreten, denn auch die entsetzliche Starrheit des Glaubens hat das Recht einer großen Idee. Diesem elendesten der Völker gegenüber bemerken wir Judas Schuld kaum, er erscheint als ein makelloser, ein epischer Held; und wie schwer er leidet, wie tief sein stolzer Geist sich zerknirscht fühlt durch die Erkenntnis seiner Kleinheit, das hat der Dichter, wie plötzlich erlahmend, kaum angedeutet. – Noch unsicherer entwickelt sich die andere Fabel; sie gelangt erst in der prachtvollen Schlußszene, da die Makkabäerin um das Leben ihrer Kinder fleht, zur vollen dramatischen Wirkung. –

Wie ist eine so seltsame Ungleichheit des Schaffens zu erklären? Otto Ludwig selber gibt die Antwort in einem rückhaltlos ehrlichen Bekenntnis. Der Dichter gesteht, daß ihn in den Stunden des Empfangens zuerst eine musikalische Stimmung überkommt; sie wird ihm zur Farbe, und durchleuchtet von dieser Farbe treten ihm dann einzelne Gestalten der werdenden Dichtung vor Augen, in einer großen dramatischen Situation, die gewöhnlich nicht die Katastrophe ist. Erst nach diesen Gesichten hört er seine Menschen reden, und aus der Farbenpracht solcher Erscheinungen erwächst ihm nach und nach der Plan seines Werkes. Wer kann das lesen, ohne sofort befremdet zu rufen: das ist das Bekenntnis eines epischen Dichters! Dem Dramatiker muß die Entwicklung seiner Charaktere, ihr stürmisches Fortschreiten durch eine Welt der Taten und der Leiden, das Erste, das Wesentliche sein. Ein dramatischer Dichter, der also nur einzelne Szenen seines Gedichts in seiner Seele erlebt, wird unvermeidlich in der Komposition des Werkes und in den Szenen, die er erst nachträglich hinzugedacht hat, eine ermattete Kraft zeigen, zumal wenn ihm, wie diesem treuen Thüringer, die Gabe des Machers, der über seine Schwächen zu täuschen weiß, gänzlich versagt ist. Und doch ward Ludwig durch sein männliches tiefleidenschaftliches Wesen unwiderstehlich auf das Drama hingewiesen; von der milden, heiteren Beschaulichkeit des Epikers lag gar nichts in ihm. Durch solche verschwenderische Kargheit der Natur, die ihm einige herrliche Gaben des Dramatikers, einige Kräfte des Epikers, doch nicht die Harmonie des Genius schenkte, wird das tiefe Unglück dieses ringenden Dichtergeistes vollauf erklärt. – In der Sprache des Stückes endlich kämpfen zwei Stile: das erhabene, von großen Metaphern strotzende biblische Wort, das dem idealen Drama sich leicht einfügt, steht fremd neben der pointenreichen Redeweise des Lustspiels und des bürgerlichen Dramas.

Alle Freunde des Dichters fühlten: in dieser erhabenen Welt hatte das groß angelegte Talent des Dichters seinen natürlichen Tummelplatz gefunden. Aber Ludwig überraschte uns einige Jahre darauf durch seine Rückkehr zu dem Ausgangspunkte seiner Bildung; das Thüringer Kleinleben hatte ihm den Stoff geboten für die Erzählung »Zwischen Himmel und Erde«. Jene unselige Fertigkeit, uns selbst zu belügen, deren Keim auch in dem reinsten Menschen schlummert, deren Verirrungen in der Liebe dem Komiker einen so dankbaren Stoff bieten – hier ist sie als der Urgrund der Sünde aufgefaßt. Wie wir uns einspinnen in eine Welt erlogener Vorstellungen, wie uns der Wahn lieb wird und wir eine Furcht ebenso schwer aufgeben als eine Hoffnung, wie wir die Welt zu kennen meinen, derweil wir nur uns selbst kennen, wie endlich die Schuld uns dahin führt, in den Menschen zu hassen, was wir an ihnen getan – diese Nachtseiten des Herzens hat Ludwig mit wunderbarer Divination verstanden. Hier, bei Ludwigs reifstem Werke, dürfen wir auch die Frage auswerfen: was hat dieser Dichter gemein mit den Bestrebungen und Empfindungen seiner Zeit? Nicht als wollten wir in tendenziöser Weise das fabula docet aus den Gebilden des Künstlers ziehen – nicht als wollten wir im mindesten die Berechtigung jener, man darf sagen, zeitlosen lyrischen Dichter bezweifeln, welche, wie Eduard Mörike, eine kleine Welt einfacher Gefühle mit unverwüstlichem Humor verklären: allein gegenüber dem weit bewußteren Schaffen des Novellisten und des Dramatikers ist die Frage nach seinem Zusammenhange mit den Ideen seiner Zeit durchaus am Platze. Lange Jahre verleben unsere besten Männer im Kampfe mit falschen Götzen, mit einer verkehrten Genialität, mit sentimentalen Phrasen, die wir aus einer unklaren verschwommenen Zeit ererbt haben. Darum werden wir so mächtig berührt von der ungeschminkten Wahrhaftigkeit der Ludwigschen Gedichte; die schlichte Größe des Juda reißt uns hin, und selbst die pedantische Figur des Apollonius Nettenmair erweckt unsre Teilnahme, denn das tiefe Klarheitsbedürfnis dieses Mannes, sein Widerwille gegen jede Selbsttäuschung gemahnt uns an selbsterlebte schwere Stunden.

Wie in allen im Herzen des Künstlers empfangenen Gedichten hängen auch in dieser Erzählung Ludwigs die Fehler eng zusammen mit den Vorzügen. Er läßt uns die Stimmen hören, die sich in der Menschenbrust untereinander entschuldigen oder verklagen, doch er verirrt sich auch oft in eine Kleinmalerei, die dem lebhaften Geiste unerträglich wird. Wer wüßte nicht, wie selbst den edlen Menschen zuweilen an heiliger Stelle eine sinnlos widerwärtige Vorstellung überfällt? Welche Fülle widersprechender Bilder und Gedanken durchtobt uns in einem Augenblicke der Aufregung, und wie ganz vergeblich ist das Bemühen, jeden dieser Züge festzuhalten! Wie der Maler um seine Gestalten einen festen Rahmen zieht und dem Beschauer überläßt, diese schöne Welt der Träume noch ins Unendliche auszudehnen, so ist auch dem psychologischen Talent des Dichters eine Grenze gesetzt. Jede übertriebene Motivierung ist unschön, denn sie ermüdet; sie ist unwahr, denn ein vorübergehender Gedanke hinterläßt, in der Form der Darstellung fixiert, einen ganz anderen Eindruck als in seiner flüchtigen Erscheinung in der Wirklichkeit; noch mehr, die Überladung mit psychologischem Detail wirkt verwirrend, sie verdunkelt das Wesentliche, das Ergebnis des psychischen Prozesses.

Ludwig hat das thüringische Kleinleben vielleicht noch treuer, er hat es jedenfalls minder befangen von gebildeter Reflexion geschildert, als Auerbach die Zustände seiner Heimat. Doch gerade darum tritt das Unschöne dieser Verhältnisse in der Detailschilderung der Erzählung sogar noch auffälliger zu Tage, als in dem knappen dramatischen Bau des Erbförsters. Für die Kunst gibt es noch heute Banausen. Die Theorie soll sich nicht anmaßen, hier eine feste Grenze zu ziehen, welche der Mut eines schönheitssinnigen Künstlers jederzeit überspringen kann. Aber im bestimmten Falle läßt sich mit Sicherheit erkennen, ob des Dichters Helden zu klein, zu alltäglich sind für seine psychologischen Probleme – so hier in einer ganz herrlichen Szene. Als das geliebte Weib in warmem schwellendem Umfangen in Apollonius' Armen liegt, als die Versuchung in verlockender Schönheit an ihn herantritt, da faßt ihn »die dunkle Vorstellung, als stehe er wie an seinem Tische, und, bewege er sich, ehe er sich umgesehen, so könne er etwas wie ein Tintenfaß auf etwas wie Wäsche oder ein werthvolles Papier werfen.« Jawohl, solche Bilder mögen in solchem Augenblicke das Hirn eines wackeren Schieferdeckermeisters durchzucken, der an Leib und Seele die Sauberkeit und Ordnung selber ist. Aber welcher Leser von freier Bildung kann ein so kleinliches Bild bei so großem Anlaß ertragen? Die Kunst hat einen andern Maßstab als das praktische Leben. Nicht das wertvolle Gold, sondern die schöne Masse des Marmors ist dem Bildner der erwünschte Stoff; und wie der wilde Frevel des Mordes und der Liebe süße Sünden ästhetisch verzeihlicher sind, als leichtere kleinliche Vergehungen, so ist das Ehrenwerte als solches noch nicht berechtigt, den Tempel des Schönen zu betreten. Ludwig selbst hat das gefühlt, indem er mit glücklichem Takt seinem Helden ein Gewerbe gab, das mit seinem kecken Wagen immerhin noch einigen ästhetischen Reiz hat.

Auch der ethische Gehalt der Erzählung leidet unter der Enge dieser kleinstädtischen Welt. Um zu schweigen von der grenzenlosen Zurückhaltung, die wie ein Alp auf allen diesen Menschen lastet und den Ton der Erzählung noch viel gedrückter macht, als der furchtbar ernste Inhalt fordert: – die dargestellten Empfindungen sind nur teilweise rein menschlicher Art, wir steigen wieder hinab in eine Welt von konventionellen Begriffen beschränkter Naturen, denen die Sittlichkeit als mechanische Ordnung, die Vorsehung als eine finster nachtragende Macht erscheint, die zu unfrei denken, um die Idee der Schuld und der Zurechnung zu fassen. Wir wollen zur Not den kleinen Widerwillen überwinden, den uns die peinliche Ordnungsliebe dieses Apollonius, sein Federchenlesen und Möbelbürsten einflößt, wir wollen den freudigen Künstlerspruch überhören, der uns dabei mahnend ins Ohr klingt, Goethes schönes und sittliches Wort: »Süß ist jede Verschwendung!« Wenn wir dem Helden nur seine entscheidenden Entschlüsse nachempfinden könnten! Als Apollonius seine Vaterstadt gerettet und so sich vor seinen eigenen unerbittlichen Augen von jedem Scheine der Schuld gereinigt hat, da verschmäht er, die Witwe seines ruchlosen Bruders, die schändlich geraubte Geliebte seines Herzens heimzuführen, ihr und sich ein sittliches Dasein zu bereiten! Er ist dem Mordstoße seines Bruders ausgewichen, der Frevler ist dabei umgekommen, und – »hast du den Lohn der That, so hast du auch die That!« Welche Moral! Empfänden diese Menschen natürlich, so wäre die Versöhnung zwar in der Dichtung schwer zu schildern – denn so Großes wirkt im Leben nur eine Macht, welche selbst für die freieste der Künste kaum darstellbar ist, die Zeit – aber sittlich wäre sie möglich, ja notwendig. Einem unfreien Denken bleiben ethische Konflikte unlösbar. Wahrlich, nicht jener aristokratische Tic, der die Tiefen des Volkslebens nicht versteht, heißt uns so reden, sondern die Erkenntnis, daß die freie Bildung den Menschen zur Natur zurückführt! Verstimmt und unfähig, uns der trübseligen Resignation des Schlusses zu erfreuen, legen wir endlich das schöne Buch aus der Hand. –

Während blinde Bewunderer das epische Talent des Dichters priesen, gestand der strenge Mann sich unbarmherzig ein, daß seine Novelle nur aus einer Reihe dramatischer Szenen bestand. Für das Epos bleibt das Berichten der Begebenheiten immer das Wesentliche. Doch wo war hier der leichte Fluß der Erzählung, wo die behagliche Freude des Epikers an der Detailschilderung der Außenwelt? Gewiß, die Geschichte ist, wie man sagt, novellistisch »spannend«, aber nur, weil uns der dramatische Konflikt der Charaktere mächtig fesselt. Gewiß, das Buch ist reich an wunderschönen landschaftlichen Schilderungen, aber nur da, wo es gilt, die Stimmung der handelnden Personen in der Natur widerzuspiegeln. Laßt einen Charakter dieses großen Psychologen zwei Zeilen reden, und der ganze Mensch steht leibhaftig vor euch. Aber laßt Ludwig die Außenwelt um ihrer selbst willen schildern, und ihr empfangt einen verworrenen, unklaren Eindruck. Am allerseltsamsten spielt das epische und das dramatische Talent des Dichters durcheinander, wenn er die äußere Erscheinung seiner Helden zeichnet: er sieht sie vor sich, hell und bestimmt wie der Epiker, aber er schildert mit peinlicher Unbeholfenheit; wir fühlen die Verlegenheit des Dramatikers, der, gezwungen zu erzählen, sich verpflichtet meint, alles zu berichten, was der Schauspieler agiert.

Jedem Unbefangenen mußte jetzt die Befürchtung aufsteigen, die psychologische Meisterschaft des Dichters werde, wenn er bei der saloppen Form der Erzählung verharre, zu virtuoser Manier ausarten, und seine strenge Wahrheitsliebe werde zum Behagen an der Prosa des Alltagslebens herabsinken, wenn er in der kümmerlichen Umgebung seiner Thüringer Heimat befangen bliebe. Leider schien das letzte Werk, das Ludwig veröffentlichte – zwei Novellen unter dem Titel »Thüringer Naturen« – die schlimmsten Besorgnisse zu rechtfertigen. Es war die Zeit, da die neue realistische Richtung ihren Höhepunkt erreicht hatte. Als unsere Dichtkunst noch jugendlich unsicher nach ihren Stoffen umhertastete, da brauchte es einen Lessing, um die Marken zwischen der Poesie und den anderen Künsten zu zeichnen. Hundert Jahre darauf hätte ein Mann von feinem Schönheitssinne wohl nach einem anderen Lessing rufen können, der Poesie und Prosa scheiden sollte. Gebildete Männer schämten sich nicht, jedes wohlgeordnete wissenschaftliche Buch über Branntweinbrennerei und Drainage ein Kunstwerk zu nennen; die ästhetische Kritik rief ungestüm nach patriotischen Stoffen, nach Schilderungen aus dem deutschen Leben, auf daß der haushälterische Leser zu dem Luxus der Kunst nur ja ein wenig patriotische Erhebung, ein wenig ethnographische Belehrung mit in den Kauf nehmen könne. Die blasierte vornehme Welt, der Hetärennovellen und der Redwitzischen Süßlichkeit satt, stürzte sich, gleichwie Mörike in jenem lustigen Gedichte über einen herzhaften Rettich die weichliche Schwäche der Mondscheinpoesie vergißt, mit roher stofflicher Lust auf die derbe Hausmannskost der Dorfgeschichten und fand den Tolpatsch originell, den Brosi pikant, das Amreile allerliebst! Es war eine Mode wie andere auch. Aus allen dunklen Winkeln deutscher Erde, aus Kassubien und aus dem Ries beschworen die ideenlosen Nachtreter Berthold Auerbachs ein Geschlecht von Tölpeln und Rüpeln heraus, und je roher, je ungeschlachter diese Bauern es trieben, desto mehr waren sie »aus dem Leben gegriffen«, mit desto höherem »ethnographischen Interesse« betrachtete sie die Lesewelt.

Es schien in der Tat, als hätte auch das Talent des Thüringer Dichters sich dazu herabgewürdigt, der neuen Mode zu huldigen. Mit dem höchsten Aufwande von psychologischer und ethnographischer Treue erzählte er in seiner Novelle »die Heiterethei« eine dürftige Geschichte aus dem Volksleben seiner Heimat – den bloß scheinbaren Konflikt zwischen zwei wackeren Liebenden, die nur durch die Zwischenträgerei der »großen Weiber« ihres Städtchens eine Weile getrennt werden. Der denkende Leser aber fragte verzweifelnd: wozu so vielen Tiefsinn an einen kümmerlichen Stoff vergeuden? Uns ist, als stände eine jener Miniaturkapellen gotischen Stils vor uns, zu klein, um erhaben, zu anspruchsvoll, um niedlich zu erscheinen. Die Heiterethei und der Holdersfritz sind wieder zwei jener stolzen reinen Menschen, denen das Aussprechen zarter Empfindungen unmöglich ist; beide Gestalten und die Schilderung ihrer sittlichen Wiedergeburt würden jeden fühlenden Leser entzücken, erschienen nicht auch sie entstellt und unschön in der maßlosen Häßlichkeit ihrer Umgebung. Die Heiterethei hat etwas von einer Heroine – und sie wird mit dem zürnenden Engel im Paradiese verglichen, da sie – den klatschenden Weibern den Kaffee ins Feuer gießt und das Volk zur Tür hinausjagt!! Als der Holdersfritz das Prügeln in der Schenke verschworen hat, will er den Genossen seiner stürmischen Jugend zeigen, daß er die alte Kraft noch besitzt: ein schwerbeladener Schubkarren wird im Kot festgefahren, die Heiterethei und alle Männer versuchen ihre Kraft daran, bis endlich der Fritz die Adelsprobe besteht! Wir lesen das nicht mit jenem Lächeln durch Tränen, das der wahre Humor hervorruft, sondern mit der ratlosen Frage auf den Lippen: Ist das alles Scherz oder Ernst? Wo das Unschöne zurücktritt, da erreicht der Dichter statt ästhetischer Erhebung doch nur moralische Erbauung; so in der Schlußszene, als der Fritz endlich den Trotz seiner Braut gebrochen hat und glücklich rufen darf: »Sie ist raus, die alt' Heiterethei!« Und diese beiden Menschen stehen noch wie ideale Gestalten unter den übrigen. Im bittersten Ernste wird uns seitenlang eine Prügelei in der Schenke beschrieben. O ihr Grazien! Auf Schritt und Tritt begegnen wir der Schwäche aller Dorfgeschichten, jener unseligen Sprache, welche weder Dialekt noch Hochdeutsch, sondern ein unästhetisches und unnatürliches Gemisch von beiden ist. Und diese »großen Weiber«! Das freie leichte Spiel des Humors ist unserem ernsten Dichter versagt, in grotesken Zerrbildern erscheinen ihm seine komischen Gestalten, gespenstisch, peinlich für ihn selbst wie für den Leser. Diese Leute reden nicht, sondern der eine »hustet«, die andere »spinnt«; die »Baderin besteht bloß aus O und Ach, in ein ewiges Erröthen gewickelt«, eine andere »setzt ihr Zifferblatt auf den Kopf und nimmt ihr blaues Gehäuse um die Schultern«, ein dritter »schlägt die Vorderbeine über den Kopf zusammen«. Wahrlich, nur der tiefe ethische Gehalt in den inneren Kämpfen der beiden Liebenden vermag uns über so viel Unschönheit zu trösten.

Noch ärger verfehlt ist die letzte Novelle »Aus dem Regen in die Traufe«. Ein zwerghafter Schneider, fortwährend geprügelt, anfangs von seiner Mutter, dann von seiner Braut – diese Mutter selbst »das alt' Fegefeuer«, mit einem »polierten Nasenrücken«, der, wenn sie bekümmert ist, so zu strahlen pflegt, daß man von »glänzendem Herzeleid« reden kann, endlich jene Braut, »die Schwarze«, ein Scheusal an Leib und Seele, wo sie ihrer Natur freien Lauf lassen darf immer polternd und mit ihren kolossalen Gliedmaßen alles zerschlagend – dies die Helden! Das ist zuviel des Häßlichen, das erregt physischen Ekel und erinnert an die abscheuliche Erzählung Auerbachs von den zwei keifenden und raufenden alten Hexen Huzel und Pochel, welche freilich damals die Bewunderung einer verblendeten Kritik erregte. Immerhin erscheint auch in dieser unglücklichen Novelle eine Gestalt, in der wir die edlen Züge unseres Dichters wieder erkennen, die kleine Sannel. In diesem guten Kinde ist der wunderbare Reichtum weiblicher Liebe und Hingebung zu entzückend liebenswürdiger Erscheinung verkörpert; und – ein großes Verdienst in solcher Umgebung – sie ist hübsch, gottlob, sehr hübsch! Um dieser braven Dirne willen ließ sich manche ästhetische Sünde verzeihen.

Die Fanatiker des Realismus jubelten, jetzt endlich habe der Dichter die ursprüngliche Kraft des biderben Volkslebens ganz verstanden; die Gegner beklagten mit schlecht verhehlter Schadenfreude, so werde ein großes Talent zu Grunde gerichtet durch die Torheit der Mode. Wie wenig ahnten die Lobredner und die Tadler, was in diesem seltsamen Menschen vorging! Die Erzählungen, mit denen der Meister des Realismus sein letztes Wort gesprochen haben sollte, galten ihm selber nur als Beiwerke. Er hatte sie hingeschrieben ohne jede Rücksicht auf die Mode des Tages, lediglich um sich zu beruhigen, um unter den vertrauten Gestalten seiner Heimat einmal auszurasten; und soviel ich weiß, sind die »Thüringer Naturen«, die fast wie ein Zerrbild von »Zwischen Himmel und Erde« erschienen, früher entstanden als diese schöne Erzählung. Ludwigs beste Gedanken schweiften längst auf anderen, steileren Pfaden. Wieder wie vor Jahren, da er sich losriß von der Romantik, kam ein schwerer Kampf über seinen rastlosen Geist, er begann in der Stille seines Krankenzimmers seine eigenen Werke zweifelnd zu betrachten, und wie der bedeutende Künstler immer der beste Kritiker seiner Werke ist, so fand auch Ludwig, sicherer als das Urteil dritter vermochte, die Mangel seines Schaffens heraus: »der Gefahr des anatomischen Studiums muß ich erliegen, ich stehe vor einem Charakter, wie eine Ameise vor einem Hause.« Er fühlt, daß er mit seinen Makkabäern schon auf dem rechten Wege gewesen, daß das Ideal und die natürliche Wahrheit, statt einander auszuschließen, vielmehr für den rechten Künstler eines sind, daß die Illusion sich ganz von selber einstellt, wenn der Dichter nur das Schöne schafft: »es gilt jetzt nicht, in Opposition gegen allen Idealismus zu stehen, es gilt vielmehr, realistische Ideale darzustellen, d.h. Ideale unserer Zeit.« Er sucht das Drama hohen Stils, das in einer einfachen »schlanken« Handlung, in dem Ringen und Leiden großer, nicht allzu individueller Charaktere das allgemeine Menschenschicksal darstellen, das der Natur treu bleiben und doch nicht roh naturalistisch wirken soll: »die ruhigen Scenen durch rasches Gespräch belebt, die bewegteren künstlerisch gemäßigt. So werden beide Klippen vermieden, dort die zu geringe, hier die zu starke Illusion.«

Eine bunte Welt dramatischer Gestalten drängte sich jetzt vor sein Auge; der alte Fluch geistvoller Naturen, daß sie sich übernehmen in ihren Plänen, ging an dem Kranken grausam in Erfüllung. Ein Entwurf jagte den andern; der Anfang eines Schauspiels »Die Brüder von Imola«, einige herrliche Szenen aus einer Tragödie »Marino Falieri« wurden niedergeschrieben, noch auf dem Totenbette ein Drama »Tiberius Gracchus« begonnen. Auch die Heldengestalten des Siebenjährigen Krieges haben den Kranken beschäftigt; er schilderte in einem Vorspiele »Auf der Torgauer Haide« das fridericianische Heer mit einer derben, kernhaften Lebenswahrheit, die den wirksamsten Stellen des schönen Romans »Cabanis« von W. Alexis nichts nachgibt. Das Lieblingswerk dieser Jahre war ein Trauerspiel »Agnes Bernauerin«. Ludwig fühlte mit seinem Künstlertakt, daß dieser Engel von Augsburg in der historischen Überlieferung mehr eine rührende als eine tragische Gestalt ist; er versuchte sie zu einem schuldvollen tragischen Charakter zu erheben, lieh ihr einen dreisten vorwitzigen Zug und lief freilich Gefahr, das Mitleid für die Heldin zu ertöten. Aber die alte rätselhafte Unart seiner Phantasie, die nur fragmentarisch schaffen konnte, ließ sich nicht mehr bewältigen. In wundervoller Klarheit erschienen ihm einzelne Szenen, und was er von solchen Bruchstücken auf das Papier warf, wirkt hinreißend, bezaubernd auf den Leser. Er meinte wohl, jetzt, da er mit Bewußtsein schaffe, entwerfe er zuerst den Plan, dann erst erschienen ihm seine Gestalten; doch die unhemmbar vorwärtsschreitende Gestaltungslust des rechten Dramatikers, welche nicht ruhen kann, bis sie ihren Helden auf die Höhen der Leidenschaft emporgetrieben und dann herniedergestürzt hat – sie erwachte dem Kranken nie. Eine Lücke, die sich niemals füllen wollte, klaffte immer zwischen den einzelnen in höchster Pracht geschauten Bildern, der Ring des Kunstwerks schloß sich nicht. Nun packt er »die Stoffe, die er bebrütet«, aber und abermals an, wohl zwölfmal oder mehr wird die Bernauerin umgearbeitet – nie vollendet.

Er belauscht sich während des Schaffens, er fühlt seine Verwandtschaft mit Kleist und Hebbel, vergleicht seine Gestalten mit den ihrigen, er findet in Shakespeare den vollendeten Künstler und versucht aus dessen Werken die höchsten Gesetze der Kunst abzuleiten. Sein eigenes Selbstgefühl, seine Künstlerfreudigkeit fühlt sich erdrückt durch die Größe des Briten, sieben Jahre lang bis zu seinem Tode läßt ihn das Bild des fremden Dichters nicht los, er schreibt »Shakespearestudien« und tragt in diese Blatter, wie in ein Tagebuch, alles zusammen, was ihm Kopf und Herz bewegt: Selbstgeständnisse, ästhetische Regeln, Dramenentwürfe, Studien über Shakespearesche Charaktere, Besprechungen eigener und fremder Werke. Der Thüringer Natursohn spricht in Lob und Tadel mit einer unbefangenen Geradheit, die unserer verzärtelten rücksichtsvollen Zeit wie eine Stimme aus den cheruskischen Wäldern klingt, er berührt die feinsten und höchsten Rätsel der Kunst und des Seelenlebens, er erörtert Fragen, die nur ein reicher Künstlergeist auswerfen kann – als z. B.: »wie reich ein Stück Shakespeares an Handlung ist und wie wenig Scenen es doch hat und wie diese auch so viel poetische Ausmalung haben« – und gleich darauf befremdet er uns durch einen Erklärungsversuch, der eine fertige historisch-philologische Bildung verlangt, also der Intuition des Künstlers allein nicht gelingen kann – und dann folgt wieder ein Selbstbekenntnis von fast unheimlicher Klarheit. Auch in Ludwigs Seele wühlte jene krankhafte Neigung, sich selbst zu belauern, welche das Leben Heinrich Kleists verwüsten half. Aber während Kleist in der Kunst sich immer wieder zu frischer Schöpferlust ermannte und nur in seinem äußeren Leben ein unglücklicher Grübler blieb, verfloß Ludwigs Leben wohlgeordnet, in gleichmäßigem Wellenschläge, der krankhafte Trieb in ihm warf sich allein auf sein künstlerisches Schaffen. Schon ein Übermaß gelehrten Wissens lähmt oft den freien Flug des Dichtergeistes, doch noch verderblicher als die allzu schwere Bildung des Verstandes wirkt auf den Künstler jene vorzeitige Kritik, die ihm die Freude stört an seinen halbvollendeten Gestalten. Mir ward unsäglich traurig zu Mute, als ich einst in einigen Heften aus Ludwigs Nachlaß blättern durfte. Welch ein ungeheurer Fleiß in diesen eng beschriebenen Bogen; nur selten einmal hat die zitternde Hand des Kranken am Rande bemerkt, er habe heute seinen Kindern zulieb' zeitig Schicht gemacht. Große tiefsinnige Entwürfe, prächtige Verse, glänzender, schwungvoller als die schönsten Stellen der Makkabäer, dann wieder einzelne aufgebauschte geschraubte Bilder, und schließlich doch kein Ganzes – eine Phantasie, die uns zugleich durch ihren Reichtum und durch ihre Unfruchtbarkeit in Erstaunen setzt.

Ganz gewiß hat auch die Krankheit und die Sorge um des Lebens Notdurft den Aufschwung dieser Dichterkraft gelähmt. Man darf von Ludwig nicht reden, ohne mit ernstem Wort einer häßlichen Schwäche der deutschen Gesittung zu gedenken – des unanständigen Geizes, den die deutsche Lesewelt ihren Schriftstellern entgegenbringt. Alle die bequemen Entschuldigungen, welche auf unseren noch jugendlichen Volkswohlstand verweisen, zerfallen in nichts vor der beschämenden Tatsache, daß in dem kleinen Holland, dem halbbarbarischen Rußland die Auflagen guter Bücher weit stärker, oft zehnmal stärker sind als in dem großen gelehrten Deutschland. Kein Volk liest mehr, keines kauft weniger Bücher als das unsere. Namentlich unsere höheren Stände zeigen im literarischen Verkehrsleben einen Mangel an Feingefühl, eine Kargheit, welche unsere Nachbarn mit Recht als unschicklich schelten. Solange es bei uns noch nicht für schmutzig gilt, wenn eine reiche elegante Dame mit Handschuhen bewaffnet ein unsauberes Lesezirkelexemplar eines Buches liest, das sie im nächsten Laden für wenige Groschen kaufen kann – ebensolange werden alle Schiller- und Tiedgestiftungen die gedrückte Lage der deutschen Schriftsteller nicht wesentlich bessern. Ist ein deutscher Dichter vollends wenig fruchtbar, fehlt ihm, wie diesem Thüringer, gänzlich das Talent für den einzigen gewinnbringenden literarischen Erwerbszweig, für die Journalistik, so kann er der bitteren Not nicht entgehen.

Doch in Wahrheit liegt der letzte Grund der Unfruchtbarkeit von Ludwigs späteren Jahren nicht in der Krankheit, nicht in der Armut, sondern in jener rätselhaften Anlage seiner Phantasie. Ihm blieb versagt, der Welt die Schätze seiner Seele zu zeigen, er war mehr, als er schuf, und nur seinen Freunden lebt das unverstümmelte Bild seines Wesens in der Erinnerung. In der Kunst aber gilt nur das Können – der alte Spruch soll allezeit in Ehren bleiben, ob er auch grausam scheine; das landläufige Urteil wird bei Otto Ludwigs Namen immer zuerst an jene Erzählung »Zwischen Himmel und Erde« denken, welche er selber für ein Nebenwerk ansah. Wer den unendlichen Wert der Persönlichkeit in der Kunst versteht, wer da weiß, daß in der Entwicklung des geistigen Lebens wie in dem Haushalt der Natur nichts verloren geht, der darf freilich bei einer so äußerlichen Schätzung nicht stechen bleiben. Wie die politische Geschichte dem General Friedrich von Gagern einen ehrenvollen Platz anweist um der Gedanken willen, die er in der Stille für Deutschland dachte, um der unerfüllten Hoffnungen willen, die sich an ihn knüpften – so wird auch die Literaturgeschichte nicht bloß anerkennen, was Otto Ludwig schuf, sondern auch ein Wort des Dankes übrig behalten für die hohen Ziele, die der Ringende nicht ganz erreichte; sie wird gerecht und in Ludwigs eigenem Sinne urteilen, wenn sie ihn auffaßt als den Dichter der Makkabäer, der das realistische Ideal im Drama zu verwirklichen suchte.

Mit unwandelbarer Treue bewahrte sich der kranke Dichter den Glauben an sein Volk und seine Zeit, niemals vermochte die hergebrachte Klage über das Epigonentum der Gegenwart die Kraft seines Hoffens zu erschüttern. »Unsere Ideale sind andere als die der goldenen Zeit unserer Dichtung« – auf diesen Gedanken kommen die Shakespearestudien immer wieder zurück – die Gegenwart hat schon genug eigene Geschichte gehabt, um sich neue Ideale zu bilden, denen nichts fehlt als »die eigentliche Gestaltung« durch den Dichter. Gelingt es einst unserem aufstrebenden Volke, zu dem neuen Gedankengehalt, der unsere Welt erfüllt, auch jene Sicherheit der sittlichen Überzeugung, jene zweifellose Daseinsfreudigkeit zu erwerben, welche allein der dramatischen Kunst die volle Entfaltung gestatten – dann werden die glücklicheren Dichter, welche den Idealen der Zeit »die eigentliche Gestaltung« geben, mit dankbarer Rührung dieses echt deutschen Künstlers gedenken, der so tapfer, so schmerzlich, so wahrhaftig gerungen hat nach den höchsten Zielen der Kunst.


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