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Cavour

(Heidelberg 1869)

Der Gegenwart klingt es wie ein Märchen aus verschollenen Tagen, daß einst Goethe mit seinem Eckermann alles Ernstes über die Frage streiten konnte, ob Napoleon zu den produktiven Menschen zu zählen sei. Doch als ein Nachhall aus jener reichen Zeit, da unser Volk seinen Herrscherthron in den Wolken suchte, besteht noch heute in den Herzen der edleren Deutschen die stille Neigung, das Leben, auch das politische Leben mit dem Maße des Schönen zu messen. Unter den Frauen vornehmlich lebt weit verbreitet der liebenswürdige Irrtum, als ob die reinste Blüte der Menschlichkeit allein im Kreise der Dichter und Denker sich entfalte. Wir verstehen nicht leicht, daß das politische Talent eine von allen anderen menschlichen Gaben wesentlich verschiedene Kraft des Geistes ist. Wir fühlen uns erkältet vor dem Bilde eines Staatsmannes, dem die politische Tat der ganze Inhalt des Lebens, nicht bloß, wie unserem Wilhelm Humboldt, ein Ringplatz war, darauf er die allseitige Ausbildung seiner schönen Seele bewähren konnte. Dem Staatsmanne winkt, derweil er schafft, jeder Glanz des Daseins; alle Leidenschaften des Tages folgen seinen Spuren, sein Name weicht nicht aus dem Munde der Menschen. Sobald er die Augen geschlossen hat, dauert nur ein schwaches Abbild seines Wesens, verblaßt und oft entstellt, in dem Gedächtnis der Nachwelt. Der Künstler geht im Leben als ein geringer Mann daher, mit bescheidenen Ehren begnügt; nach seinem Tode läßt er sein Eigenstes, sein Bestes zurück, er weilt leibhaftig unter den spätesten Geschlechtern, er redet zu ihnen, aus ihrer Seele heraus als ein Freund, ein Seher, ein Herzenskundiger. Wieviel tausendmal hat deutsche Gefühlsseligkeit diese Vergleichung ausgesponnen, um einen Sophokles glücklich zu preisen, einen Hannibal wohlwollend zu bemitleiden!

Es frommt nicht, solche Schwächen moderner Überbildung durch die Wiederbelebung altrömischer Rauheit zu bekämpfen. Jenem mannhaften Adel Piemonts, der um das Dasein seines Volkes kämpfte, stand es wohl zu Gesicht, wenn Cäsar Balbo jede Stunde seines gesegneten schriftstellerischen Schaffens für halbverloren, nur die Jahre seiner staatsmännischen und kriegerischen Tätigkeit für fruchtbar ansah, wenn Massimo d'Azeglio versicherte, ein mittelmäßiger Verwaltungsbeamter sei ein nützlicheres Mitglied des Gemeinwesens, als der größte Maler. Die freiere Gesittung der Deutschen ist für dies Römertum unzugänglich, sie verwirft die Frage des Plutarch: ob der Ruhm des Pheidias und Archilochos einen edelgeborenen Jüngling reizen könne? – mit vollem Rechte als eine Barbarei. Nur müssen wir lernen, auch den Helden des nach außen gerichteten Willens gerecht zu werden, und ablassen von den spielenden Versuchen, das Unvergleichliche zu vergleichen, das Unwägbare zu wägen. Wir glauben alle an das tiefe Wort: »Genie ist Fleiß«, wir wissen längst, daß jeder große Künstler, jeder der ein Meister ward, von einer unzähmbaren Macht des Willens durchglüht war wie nur der tapferste Kriegsmann. Warum sollen wir nicht auch die einfache Wahrheit bekennen: der große Staatsmann legt sich die Dinge dieser Welt mit ebenso ursprünglicher Kraft des Gedankens zurecht, wie ein Goethe oder Kant; er schaut auf die gemeine Lust und Not des kleinen Menschenlebens ebenso vornehm von beherrschendem Gipfel herab wie der Dichter und der Denker. – In wenigen Geistern hat sich der Ideengehalt der Mitte unseres Jahrhunderts so treu und vollständig widergespiegelt, wie in dem Kopfe des Gründers der italienischen Einheit. Wer über Cavour urteilt, der bekennt, wie er selber sich zu den großen Problemen der modernen Gesellschaft stelle. Die Gedanken, welche diesen Geist bewegten, lagen schon den Zeitgenossen offen vor; denn Cavour erscheint auch darum als ein rechter Sohn der neuen Zeit, weil er selbst seine Verschwörungen unter freiem Himmel trieb. Sein Bild unbefangen zu betrachten ist schon jetzt dem Fremden nicht unmöglich. Der Abstand der Zeit, dessen das historische Urteil bedarf, wird aufgewogen durch den Reichtum der jüngsten Jahre. Durch gewaltige Umwälzungen ward seit Cavours Hingang das alte Gleichgewicht der Mächte verschoben. Wir dürfen ruhig über den Toten sprechen, er rechnete mit anderen Größen, als der Staatsmann von heute. –

Die Zeit ist nicht mehr, da in dem langen Wettkampfe der beiden Kulturvölker Mitteleuropas um die Herstellung ihrer alten Größe Italien den Preis davonzutragen schien. Der ästhetische Reiz, der die Massenbewegung der Italiener vor den Schlachten des deutschen Krieges auszeichnete, beginnt zu verblassen; die Gebrechen, der vor der Zeit und mit fremder Hilfe errungenen Einheit Italiens liegen vor aller Augen. Schon beneiden uns einzelne Stimmen jenseits der Alpen um unsere stetige und selbständige Entwicklung, und unter den Deutschen sind manche geneigt, allzu niedrig zu denken von jener gewaltigen sittlichen und politischen Arbeit, welche das letzte halbe Jahrhundert der italienischen Geschichte erfüllt. Aus den Wirren des napoleonischen Zeitalters war der Nation nichts geblieben als einige mächtig aufregende Erinnerungen. Sie hatte gesehen, wie ihr größter Sohn den Herrscherstab der Welt in Händen hielt, wie der heilige Name des Königreichs Italien wieder auferstand, wie ein modernes Gemeinwesen rüstig aufräumte unter der heillosen Erbschaft der alten Despotien, entfremdete Nachbarn als Bürger Eines Staates verband. Über dem Widerstreit der Gefühle, die solcher Zustand halber Fremdherrschaft erweckte, ward der große Augenblick versäumt, da Italien sein Schicksal selbst bestimmen konnte. Jetzt lag die Halbinsel waffenlos, willenlos zu den Füßen des Wiener Kongresses, Italien ward wieder ein geographischer Begriff. Kalt und schnöde wies die englische Diplomatie die klagenden Patrioten zurecht: Europas Ruhe fordere die Zerstückelung des Landes. Eine Staatskunst der nackten Willkür stellte die fremdländischen Dynastien, doch nicht die nationalen Republiken des vergangenen Jahrhunderts wieder her, erhob Österreich zur herrschenden Macht der Halbinsel. Auch Venedig, das einst Bonaparte dem besiegten Österreich zugeworfen hatte, ward abermals dem Doppeladler preisgegeben und dergestalt eine Erinnerung erneuert, welche den Italienern jederzeit als die brennendste Schmach ihrer neuen Geschichte gegolten hat. Während nun das pfäffische Regiment der alten Zeit, gekräftigt durch die Machtmittel napoleonischer Bureaukratie und Polizei, an den Höfen sich wieder einnistete und in Lombardo-Venetien nach einigen Jahren der Milde der kaiserliche Stock, il bastone tedesco, die Herrschaft antrat, wucherte in dem unglücklichen Volke, dem eine Bühne für gesetzliches öffentliches Wirken versagt blieb, jede Art von politischer Verderbnis empor.

Einen wesentlichen Charakterzug des italienischen Staatslebens, zugleich einen schneidenden Gegensatz zu dem deutschen Wesen, bildet die Macht und Berechtigung der republikanischen Überlieferungen in diesem Lande der Städte. Wenn wir in der Kapelle von S. Lorenzo zu Florenz jene wunderbaren Mediceergräber betrachten, die einst der harte Republikaner Michel Angelo widerwillig seinem heimischen Tyrannenhause errichtete, und darauf den Blick wenden nach der Ecke der Kapelle, wo eine grell bemalte Krone das abgeschmackte Grabmal des »besten Fürsten« Ferdinand III. von Lothringen-Toskana deckt – dann empfindet auch der Deutsche mit Entrüstung, wie roh ein Barbarengeschlecht die Tempel eines hochgesitteten Volkes geschändet hat. Dann ahnen wir etwas von den Gefühlen, welche die Patrioten Italiens gegen ihre neuen Herrscherhäuser beseelten. Die Epoche der Monarchie war dem Italiener das Zeitalter der Fremdherrschaft und des Despotismus. Wie mochte diese öde Zeit des Schlummers sich vergleichen mit jenen Tagen republikanischer Herrlichkeit, da der Löwe des heiligen Markus die Häfen des Morgenlandes beherrschte und das hochsinnige Künstlervolk von Florenz zu seinem Arnolfo sprach: »der Plan für unseren Dom soll groß sein wie die allergrößte Seele, wie die Herzen so vieler Bürger, die zu Einem Wollen vereinigt sind« –? Tausendjährige Städte, einer stolzen Geschichte froh, umfaßten noch immer die größere Hälfte der Nation, beherrschten das flache Land mit ihrer Geldmacht, ihrer Bildung; keinem Volke fiel es schwerer zu begreifen, daß die moderne Welt der monarchischen Flächenstaaten nicht mehr Raum bietet für städtische Republiken.

Die Macht der republikanischen Erinnerungen, der Druck der fremden Gewalthaber, die verwahrloste politische Bildung einer Nation ohne Rednerbühne und Presse riefen einen verwegenen Radikalismus hervor, der nach der Weise unfreier Völker in Verschwörungen sich zusammenfand und bald die Gegner zwang, sich gleichfalls in Geheimbünde zu scharen. Alle die häßlichen Züge, welche die arge Schule des spanischen Despotismus dem Charakter der Nation aufgeprägt, fanden in diesem Sektenwesen, den sette, bereite Förderung: das Mißtrauen aller gegen alle, der Todhaß wider die politischen Gegner, der aus den entsetzlichen Eiden der Carbonari wie der Sanfedisten so blutig hervorbricht, und vornehmlich jene Moral der Verzweiflung, welche seit Machiavellis Tagen auf diesem Boden heimisch, soeben in dem mannhaftesten Dichter des neuen Italiens, in Vittorio Alfieri, einen begeisterten Apostel gefunden hatte. Hundertmal war die Ohnmacht des Meuchelmordes durch gescheiterte Verschwörungen erhärtet, und hundertmal kehrten die Fanatiker zu dem Dolche als der letzten Zuflucht des Geknechteten zurück. Gewiß sprach Ugo Foscolo allen Denkenden ein erlösendes Wort aus der Seele, da er ausrief: um Italien zu schaffen, müssen wir die Sekten vernichten! Und doch gebührt diesen Wahnwitzigen der Ruhm, daß sie zuerst den Gedanken der Einheit Italiens, roh und unklar genug, in weiteren Kreisen verbreiteten: schon die Carbonari träumten von einer Republik Ausonien, und noch bestimmter trat die Idee der Einheit in jenem Geheimbunde des »jungen Italiens« hervor, der in Mazzini sein sichtbares Oberhaupt verehrte.

Während dergestalt köstliche Jugendkräfte in dem schlechten Handwerke der Verschwörer vergeudet wurden, ergingen sich weichere Gemüter in unfruchtbaren sentimentalen Klagen über die Schande ihres Vaterlandes. Sie beweinten Italien in jenem elegischen Tone, den einst Filicaja anschlug, da er sein Land also anredete: »O wärst du starker oder minder schön, daß du die Gier der Mächtigen nicht reiztest!« Wieder anderen ward die große Vorzeit des Landes zum Fluche. Dies erstgeborene Volk des neuen Europas weiß nichts, will nichts wissen von der tiefen Kluft, welche die moderne Zeit von dem Altertume trennt. Die Italiener führen unbefangen ihre Geschichte bis auf die römische Wölfin zurück, sie sehen in der Entwicklung der Jahrtausende immer dasselbe italienische Volkstum, das unheimischer Gewalten sich erwehrt, und reden über die Völkerwanderung noch mit dem gleichen naiven Erstaunen wie jener Machiavelli, der sich verwundert, warum der Po und der Gardasee ihren antiken Namen abgelegt und die Menschen heute Pier-Giovanni und Matteo, nicht mehr Cäsar und Pompejus heißen. Sie haben in ihrer schönsten Zeit den Geist des Altertums wieder aufgeweckt und schauen auf die Völker des Nordens noch mit derselben Empfindung, wie einst Ciceros Römer auf die Germanen. Die Größe der weltherrschenden Roma ist Italiens Größe. Während die Deutschen an ihrem Hermannsdenkmal bauten, schlug Niccolini seinen Landsleuten vor, nach der Vertreibung der Österreicher auf dem Gipfel der Alpen ein Riesenstandbild des Marius zu errichten, das Schwert drohend gen Norden erhoben, darunter die Inschrift: zurück ihr Barbaren! Wie schwer mußte die Nüchternheit des politischen Urteils, die Klarheit der Selbsterkenntnis leiden, wenn in kleiner Zeit eine aufgebauschte Rhetorik mit majestätischen Erinnerungen prahlte und bei der Phrasenseligkeit der durch jesuitische Erziehung verflachten Hörer nur allzu willigen Glauben fand!

Italien lebte wie Deutschland ein übergeistiges Leben. Der Nordländer, der, begeistert von den Schilderungen der Kunsthistoriker, in Italien den unverfälschten Adel der Renaissance zu finden hofft, entdeckt mit Überraschung, daß die meisten welschen Städte auf den ersten Anblick den Charakter des Rokoko zeigen. So massenhaft, so unablässig hat dies Künstlervolk gebaut, auch nachdem die Heroen seines Geistes dahingegangen. Doch wenn die Lust am Schauen und Bilden und am schönen Spiele niemals ausstarb, die schöpferische Kraft war tief gesunken. Die neue Wissenschaft der Italiener darf von sich rühmen, daß sie, mit Ausnahme der römischen Theologen, niemals den Mächten der Finsternis, nie dem Despotismus gedient hat, aber sie konnte durch viele Jahre nur weniges aufweisen, was sich den Werken deutscher Gelehrsamkeit vergleichen ließ. Die höheren Stände verkamen in überfeinerter geistiger Genußsucht, in schwächlichem Dilettantismus. Mit Ekel betrachteten ernste Patrioten, welche überschwenglichen Triumphe eine gewandte Ballerina oder Primadonna unter dieser entnervten Gesellschaft erringen konnte. »Italien erwacht!« rief Azeglio jubelnd aus, als er endlich den Verfall der Kunst bemerkte und auf der Bühne zum ersten Male heulen hörte. Und wahrlich, sollte dies Volk gesunden, so mußte der ästhetische Müßiggang der Kenner und Dilettanten ausgetrieben werden durch die derbe hausbackene Prosa der stählenden wirtschaftlichen Arbeit. Als Richard Cobden mit einem italienischen Freunde von der Höhe des Monte Mario herniederschaute auf die majestätischen Trümmer des alten Roms, da sagte er kalt: »Alles das ist heute zu gar nichts mehr nutz« – und es lag ein tiefer Sinn in dem banausischen Worte des Manchestermannes. Die mächtige Entwicklung der modernen Volkswirtschaft war an der Halbinsel fast spurlos vorübergegangen. Der Bauer schaffte noch wie vor alters mit bewunderungswürdigem Fleiß im Sonnenbrande der lombardischen Ebenen und der ligurischen Terrassen. Aber der Unternehmungsgeist der Reichen war gelähmt durch verkehrte Erziehung, durch die Sünden einer ungeheuerlichen Handelspolitik. Zollinien, elende Straßen hemmten den Handel und Wandel, die Fremdherrschaft erschwerte grundsätzlich den Verkehr von Staat zu Staat. Niemand wagte ein weitaussehendes wirtschaftliches Unternehmen, weil niemand Glauben hatte an die bestehende Ordnung, und in Europa ward das alte Märchen von der unverbesserlichen Faulheit der Italiener überall nachgesprochen.

Die hochbegabte Nation galt in der Welt als ein Volk von Knechten, reich an Witz und Arglist, unfähig zu freiem Bürgerleben; die deutschen Blätter vornehmlich versündigten sich schwer an dem Nachbarlande, beteten gläubig alle Lügen der österreichischen Presse nach. Tausende von Fremden durchstreiften alljährlich die Halbinsel, bildeten sich ihr Urteil nach dem geschäftigen Völkchen der Facchini und Ciceroni, das sie feilschend umdrängte. Sie kamen in das Land der Myrten und Orangen, um auszuruhen von ihren schweren nordischen Gedanken, um die Pracht der Natur und der alten Kunst zu bewundern. Für die fürchterliche Prosa der italienischen Gegenwart hatte niemand ein Auge; höchstens die Bettler in ihren malerischen Lumpen ließ man gelten als willkommene Staffage für die grauen Ruinen. Wenn dann und wann ein Byron oder Platen ein Lied der Klage sang um die Niobe der Nationen, so hörte der Italiener aus diesen Klängen ein herablassendes Mitleid heraus, das ihn noch tiefer verletzte, als jene kalte Verachtung.

Unter den verkommenen Staaten der Halbinsel mußte das Königreich Sardinien dem oberflächlich Hinschauenden als einer der kläglichsten erscheinen. Nur zu begreiflich, daß Platens freier Geist bei kurzem Verweilen angeekelt ausrief:

Unglückseliges Land, wo stets militär-jesuitisch Söldner und Pfaffen zumal saugten am Marke des Volks!

Fremd, wie durch ein Spiel des Zufalls zusammengewürfelt, standen die Provinzen des kleinen Staates nebeneinander. In den schönen Gartengeländen der Poebene, die der strahlende Ring der Schneeberge umschließt, wohnte das Mark des Reiches, ein derbes kernhaftes Bauernvolk, ein Mischvolk in tausend Schicksalsstürmen erprobt, der malo assuetus Ligur der Römer. Daneben, durch die Alpen, durch Sprache und Sitten geschieden, das Stammland des Königshauses, das arme Bergland Savoyen, wo eine rührige demokratische Partei die Wiedervereinigung mit dem freien Frankreich ersehnte, und das halbfranzösische Nizza. Als ein erstorbenes Glied hing am Leibe des Staats die Insel Sardinien, eine schlechthin barbarische Welt, von dem Klerus und mächtigen zumeist spanischen Adelsgeschlechtern beherrscht; ihr Volk in Schmutz und Fieberluft verkommen, zu allen Werken der Kultur, oft sogar zum Soldatendienste unfähig. Der Wiener Kongreß fügte noch die Häfen und Felsterrassen des Genueser Küstensaumes hinzu. Hier lag nach den wütenden Parteikämpfen einer wirrenreichen republikanischen Geschichte der Radikalismus gleichsam in der Luft. Der Stolz des Genuesen begriff nicht, wie Genova la superba dem kargen Turin gehorchen solle; nur mit Widerstreben betrat der Seemann die Kasernen der Piemontesen.

Über dies bunte Ländergemisch brachen bei der Heimkehr Viktor Emanuels I. jene tollen Saturnalien der Restauration herein, die nur in Kurhessen und Hannover ihresgleichen fanden. Jede Spur der Herrschaft der Franzosen mußte verschwinden. Selbst die schöne Pobrücke von Turin, ein Werk Napoleons, sollte zerstört werden, bis sich der Stadtrat von Turin erbot, eine Votivkirche an den Ausgang der Brücke zu bauen. Die Sorge für den Klerus ging allem vor in diesem »Paradiese der Priester«. Nicht umsonst nannte sich noch Karl Albert in seinem Zivilgesetzbuch den Beschützer der Kirche; der Staat lieh den geistlichen Gerichten seinen Arm, führte als Fronvogt ihre Urteilssprüche aus. Mehr als 100 Millionen Lire wendete das hergestellte Königtum in einem Vierteljahrhundert auf, um die Geistlichkeit mit liegenden Gründen auszustatten. Gotteslästerung und Kirchenschändung, auch die unfreiwillige Verletzung der Ehrfurcht gegen das Allerheiligste, ward mit dem Tode bestraft. Wer dem Kirchenbanne verfiel, hatte sein Amt verwirkt. Über die Ehen entschieden die geistlichen Gerichte allein, dergestalt, daß eine Ehe nach jahrelangem Bestände wieder aufgelöst werden mußte, sobald sich eine kirchenrechtswidrige Verwandtschaft der Gatten herausstellte. Die Juden lebten in ihren ghetti eingesperrt, der Protestant durfte vor Gericht kein Zeugnis ablegen wider einen Katholiken – und dies in einem Staate, der allein auf der Halbinsel eine namhafte protestantische Bevölkerung, in seiner Waldenserhauptstadt Torre ein kleines italienisches Genf besaß. Eine zwiefache Zensur, eine geistliche und eine weltliche, behütete die Presse so sorgsam, daß nicht einmal das Wort »Verfassung« in einem piemontesischen Buche erscheinen durfte. Unter der Führung sanfter Abbati zog alltäglich das Kadettenkorps sittsam durch die Straßen von Turin.

Wie die Geister durch die Kirche, so ward die Staatsverwaltung durch ein überzahlreiches vielgeschäftiges Beamtentum geleitet. Die schwachen Gemeinden, darunter nur wenige sich mit den stolzen Kommunen Mittelitaliens messen konnten, fügten sich leicht den schleppenden Geschäftsformen einer halbmilitärischen Zentralisation. Der Kriegsminister war zugleich das Haupt des Polizeiwesens; die Kommandanten der Provinzen und der Städte besorgten gemeinsam mit den bürgerlichen Beamten die Verwaltung der Sicherheitspolizei. Das gesamte geistige Leben des Staates sollte seinen Brennpunkt finden in der Hauptstadt, wo fast alle Bildungsanstalten vereinigt waren; und wie leer, wie nichtig erschien dies Darmstadt Italiens mit seinen geraden reizlosen Straßen, das fast allein durch die Bogengänge seiner Postraße an die Schönheit südlichen Lebens erinnert, neben der Kunstherrlichkeit, der bewegten Geselligkeit von Mailand und Florenz! Über der Universität stand, seit der Aufstand von 1821 die Krone zu schärferem Anziehen der Zügel bewogen hatte, meisternd und spürend die Aufsichtsbehörde der Riforma. Die königliche Bibliothek hielt das Gift der Aufklärung wohlverschlossen in ihren Schränken; selbst Gibbon und Montesquieu wurden vor dem März 1848 nicht ausgeliehen. Eine spanische Etikette beherrschte den Hof, sie bestimmte sorgsam, wer der Königin aus dem Wagen helfen dürfe, und erregte sogar den Spott des Erzherzogs Stephan. Und wie zähe die Lehren de Maistres, die Ideen der katholischen Monarchie von dem Hofadel festgehalten wurden, das bezeugt uns noch ein aus diesen Kreisen entsprungener Nekrolog auf Karl Albert: da werden die Zeiten Philipps II. und Ludwigs XIV. kurzab als die Glanztage der modernen Gesittung geschildert; denn der freche Menschengeist bedarf eines festen Zaumes, um seine volle Schöpferkraft zu entfalten. Auch die Volkswirtschaft kränkelte. Nur der Ackerbau gedieh unter den fleißigen Reisbauern der Lomellina, aber Genuas Schiffahrt hob sich nur langsam, und der Gewerbfleiß wollte trotz der Schutzzölle so wenig erstarken, daß selbst die gröbsten Baumwollenzeuge vom Auslande eingeführt werden mußten. Der Ertrag des Flachsbaues von Savoyen wanderte nach Frankreich, weil man ihn daheim nicht zu verarbeiten verstand. –

Und doch wußte Fürst Metternich wohl, was er sagte, als er zur Zeit der Juli-Revolution dem französischen Gesandten zurief: »Piemont ist für uns die ganze italienische Frage.« Dieser Staat allein hatte sich, umringt von erschlafften und geknechteten Nachbarn, zwei unschätzbare politische Güter bewahrt: ein tapferes Heer und ein nationales Königtum. Wenn unsere Friedensapostel in ihrer altklugen Selbstgefälligkeit noch fähig wären, von der Geschichte zu lernen: aus den Schicksalen Preußens und Piemonts müßten sie die Erkenntnis schöpfen, daß der Krieg ein Jungbrunnen ist für die sittliche Kraft der Völker. Italiens Unheil war der faule, würdelose Friede, die lange Entwöhnung der Nation von dem edlen Handwerk der Waffen. Auch Piemont hatte Zeiten gesehen, da sein Volk mit angesteckt war von der friedensseligen Erschlaffung der Italiener, da das Volkslied spottete: Piemontese e Montferrin, pan e vin e tambourin! Aber schon Emanuel Philibert rühmte sich, daß er so viel Soldaten habe als Untertanen, und seitdem war in dem tapferen Stamme die erste der bürgerlichen Tugenden, die Grundlage aller anderen, die kriegerische Tüchtigkeit, nicht wieder untergegangen. An dem Schmettern der savoyischen Trompete erfreute sich in den Tagen Karl Emanuels jeder, der ein Mann war unter den Italienern; hier blieb noch eine Scholle italischen Landes, die sich nicht knechtisch den Winken des Hofes von Madrid unterwarf. Piemont allein hatte den Heeren der französischen Revolution zu trotzen gewagt, sieben Jahre lang ausgedauert in dem ungleichen Kampfe. Jetzt war die kleine Armee neu gegründet, die freilich mehr als ein Drittel der Staatseinnahmen verschlang und von den österreichischen Nachbarn wegen der Überzahl ihrer Marschälle und Generale verspottet ward – immerhin eine tüchtige Truppe, deren Offiziere auch auf der hohen Schule ihrer Feinde, auf den Feldübungen Radetzkys um Verona, zu lernen wußten, und, was mehr bedeutet, ein nationales Heer, beseelt von den Überlieferungen echten kriegerischen Ruhmes, gleich weit entfernt von der Landsknechtsroheit der bourbonischen Söldner, wie von der feigen Erbärmlichkeit der Schlüsselsoldaten, treu ergeben dem angestammten Herrscherhause.

Nur dieser Winkel Italiens kannte den Segen der Monarchie. Ein hochstrebendes Fürstengeschlecht hatte hier, eingepreßt zwischen übermächtigen begehrlichen Reichen, die Jahrhunderte hindurch das Grenzland verteidigt, bald im offenen Kampfe, bald durch die Künste einer verschlagenen Diplomatie – wie jener Eisenkopf Emanuel Philibert, der, ein Friedensstifter und ein Held, auf dem Karlsplatze zu Turin gepanzert hoch zu Rosse sitzt und sein siegreiches Schwert in die Scheide steckt. Unberechenbar treulos gegen die bösen Nachbarn standen die Grafen von Savoyen fest zu ihrem Volke als sorgsame Herren. Sparsame Wirte, streng gegen sich und ihr Haus, nüchterne Geschäftsleute, die der Zauber der Kunst kaum je berührte, bewahrten sie, während das Schicksal in wunderlicher Laune den kleinen Staat auf und nieder schleuderte, unentwegt ihren dynastischen Stolz, ihr monarchisches Pflichtgefühl. Es gibt Staaten, die das Gesetz ihres Lebens nicht durch eine geographische Notwendigkeit, sondern durch den freien Entschluß ihrer Leiter empfangen. Wir sehen sie oft gleich einem Menschen zögernd und wählend am Scheidewege stehen, und was sie erringen, ist ihr eigenstes Werk. Hierin, in der bewußten Arbeit des Menschenwillens, liegt der tiefe Grund der oft geschilderten Verwandtschaft zwischen Preußen und Piemont. Rittlings auf den Alpen sitzend, fand der kleine Staat das Recht seines Daseins vorerst nur in der Eifersucht der Nachbarmächte; es währte lange, bis er sich selber ein festes Ziel seines Wirkens gab. Nachdem das Grafenhaus von Maurienne den Titel des Markgrafen von Italien annahm, vergingen acht Jahrhunderte, bis die Markgrafen zu Königen von Italien wurden. Viel Blut und Arbeit ward vergeudet an den unmöglichen Versuch, die Herrschaft Savoyens zugleich über Norditalien und über die französisch-schweizerischen Nachbargebiete auszudehnen; noch am Hofe Karl Alberts tauchte einmal der Plan, das Wallis zu erobern, auf als ein letzter Nachklang der alten burgundischen Politik des Hauses.

Seit Emanuel Philibert die Penaten dieses frommen Hofes, das heilige Schweißtuch, von Chambery über die Alpen nach der Kathedrale von Turin führte, tritt die Richtung auf Italien immer bestimmter, zuletzt als der leitende Gedanke des Hauses Savoyen hervor. Das Stammland sinkt zu einem Nebenlande der Poebene herab. Es gilt jetzt eine selbständige subalpinische Macht zwischen die Reiche der Habsburger und der Bourbonen zu schieben und zunächst die Lombardei wie eine Artischocke blattweis zu verspeisen. Im achtzehnten Jahrhundert verzehrte man das erste Blatt – die Lomellina, das lombardische Land am rechten Ufer des Tessin. Das alte Mißtrauen gegen die Nachbarmacht im Osten ward sehr bald zur unversöhnlichen Feindschaft, nachdem die herrschende Position in Oberitalien, das mailändische Gebiet, von Spanien an Österreich gekommen war. Der blaue Rock und die harte Mannszucht der Preußen – im Potal wohlbekannt, seit die Grenadiere des alten Dessauers die blutige Schlacht vor den Wällen Turins eröffnet hatten – wurden seit den Tagen des großen Friedrichs in dem Heere der Piemontesen heimisch, und bald stachelte die Dynastie der verlockende Gedanke, ob nicht das Kreuz von Savoyen den Herrscherbahnen des preußischen Adlers folgen solle. Als Friedrich zum ersten Male versuchte, die beiden natürlichen Gegner des alten Österreichs durch ein Bündnis gegen Wien zu vereinigen, da fehlte in Turin nur die Macht, nicht der Wille; mit Freuden begrüßten die Staatsmänner Piemonts den deutschen Fürstenbund des großen Königs als einen »Schutzgott für die italienischen Staaten«. Auch der Wiener Hof hatte seines Hasses gegen den händelsüchtigen Kleinstaat kein Hehl. Derweil die austro-sardischen Heere gemeinsam gegen die Scharen der Revolution kämpften, hegte man in Wien die Absicht, die Festungen des Verbündeten zu überrumpeln, seine Truppen den kaiserlichen Regimentern einzuverleiben – ein boshaftes Ränkespiel, das dem größten politischen Kopfe des Turiner Hofes, dem Grafen de Maistre, unvergessen blieb.

Der Wiener Kongreß bereitete hier wie in Deutschland dem Nebenbuhler Österreichs eine unhaltbare, schwer gefährdete Stellung. Piemont ward freilich durch die Erwerbung Liguriens eine Seemacht, und dergestalt, wie der Argwohn des partikularistischen Genuesen Brignole-Sala augenblicklich erriet, von neuem bestärkt in seinen ehrgeizigen Plänen. Aber wie mochte man hoffen, die feindselige neue Provinz mit dem kleinen Kernlande zu verschmelzen? und wie frei aufatmen in dieser furchtbaren Pressung, umklammert von den Vasallenstaaten des Wiener Hofes und von dem österreichischen Gebiete, das jetzt vom Tessin bis zur türkischen Grenze reichte? So hatte einst Preußen neben dem Rheinbunde gestanden. Auf eine friedliche Änderung der unleidlichen Lage war nicht zu hoffen. Wenn das Geschlecht der Bourbonen in Parma ausstarb und das Herzogtum Piacenza kraft alter Erbverträge an Sardinien kam, dann sollte die Festung Piacenza, der große die Ostgrenze Piemonts beherrschende und jetzt schon mit kaiserlichen Truppen besetzte Waffenplatz, ganz an Österreich fallen. Unablässig bestürmten die gewandten Diplomaten aus der Schule de Maistres, die Aglié und Brusasco, die großen Mächte mit ihren Klagen; es gelang, den alten Gönner der Kleinstaaten Italiens, Rußland, zu überreden und mit seiner Hilfe die nächste Gefahr, die Bildung eines italienischen Bundes unter Österreichs Führung, abzuwenden. In den Tagen der heiligen Allianz erschien Piemont als der besorgte Anwalt der kleinen Staaten; man faßte sogar den phantastischen Gedanken, alle Mittelstaaten Europas von der Nordsee bis zum ligurischen Meere durch ein großes Bündnis zu sichern. Nach der Revolution von 1821 erlahmte die Turiner Politik. Aber selbst der träge Karl Felix dachte zu stolz, um teilzunehmen an den Huldigungen, welche die italienischen Satrapen dem Kaiser Franz bereiteten, und in Wien wollte man nie ein herzhaftes Zutrauen fassen zu diesem Geschlechte, das freilich mit dem Kaiserhause eng verschwägert, aber – die einzige italienische Dynastie der Halbinsel und seit dem Untergange der Republik Venedig der einzige Vertreter einer nationalen Staatskunst war.

Während dergestalt der Staat langsam in das italische Land hineinwuchs, begann in seinem Volke noch langsamer und folgenreicher eine Wandlung der Geister, sie hebt an mit dem großen Namen Vittorio Alfieri. Mit der Kraft und Kühnheit seiner schweren piemontesischen Natur hat dieser Dichter des Willens zuerst unter den neueren Italienern den Gedanken der Einheit Italiens aufgegriffen; er macht Ernst mit dem Traume, arbeitet daran, sein Piemontesentum abzulegen (spiemontizzarsi), er wirft den rauhen Dialekt seiner Heimat hinweg, lernt die schöne Sprache von Toskana, wird ein Italiener schlechtweg. Einsam unter den Zeitgenossen, klagt er oft: bin ich allein von Stahl und die Italiener von weichem Tone? Nach seinem Tode begann sein Beispiel Früchte zu tragen. In stiller Arbeit, mit hellem Bewußtsein sind die Piemontesen zu Italienern, mit den fremden Gütern der alten nationalen Bildung vertraut geworden. Das verspottete Böotien Italiens, dessen Volksmasse noch lange die Lombarden als »Italiener«, als eine fremde Nation mißtrauisch betrachtete, ward endlich in den vierziger Jahren einer der Mittelpunkte der geistigen Bewegung der Halbinsel, schenkte der Nation in Gioberti und Balbo, Azeglio und Durando ihre besten politischen Schriftsteller. Von hier, aus Cäsar Balbos Mund, erklang das erweckende Wort: die Unabhängigkeit ist für ein Volk, was die Schamhaftigkeit für ein Weib. Und eher nicht hat Italiens politische Arbeit Kraft und Stetigkeit und Haltung gewonnen, als bis sie von den zuchtlosen Stämmen des Südens hinüberdrang in das strenggeschulte Volk von Piemont.

Nur langsam konnte diese Entwicklung sich vollziehen; der herrschende Stand von Piemont, der Adel, stand ihr lange fern. Die Söhne dieser stolzen und zumeist armen Geschlechter verbrachten ihre jungen Tage am Hofe, im Heere, in den Ämtern, und schlossen ihr Leben mit einem patriarchalischen Regimente auf ihren Gütern. Es war eine enge Welt von unbeschreiblicher Armseligkeit der Bildung, eine Hölle für jeden freien Geist, unerträglich selbst für den milden und bequemen Sinn Massimo d'Azeglios. Der »Cavajer« sprach französisch oder am liebsten den rohen Dialekt des Landes, fast niemals italienisch; er lebte und webte in den Leiden und Freuden der Vetterschaft, ehrte die Kirche und den König, sah auf den »Bourgeois« mit einem Junkerstolz hernieder, den die Patrizier von Mailand und Bologna nicht kannten. Nicht der Schimmer einer Idee drang in diese harten Köpfe. »Es gibt nur zwei wahre Freuden auf Erden, die Liebe und den Krieg« – sagte Cäsar Balbo diesem Adel aus der Seele. Aber wie aus Azeglios goldenem Buche i miei ricordi durch allen Spott hindurch immer wieder die Liebe zu den Standesgenossen hervorbricht, so darf auch das historische Urteil den sittlichen Kern dieser Aristokratie hinter der widerwärtigen, oft lächerlichen Hülle nicht verkennen. Dieser Stand war der einzige politische Adel, den Italien noch besaß. Er hatte ein Vaterland, er arbeitete für den Staat, er war hundertmal für sein Königshaus in die Schlacht gezogen. Welch ein Abstand von Rom, wo der Adel in geilem Prasserleben verkam, wo ein Schweif von amanti, patiti und galanti jeder gefeierten Schönheit nachzog, wo Schmarotzer und Improvisatoren sich schmeichelnd an die üppigen Tafeln der Vornehmen drängten, wo das System des galanten Müßiggangs sich zu einer wohlgegliederten Hierarchie ausgebildet hatte! In dem derberen und gesunderen Leben der Aristokratie von Piemont erwuchsen Charaktere wie der Vater Azeglios, der strenge makellose Mann, der um seines Königs willen das Brot der Verbannung gegessen hatte und dann jahrelang ohne Klagen als ein treuer Untertan die unverdiente Ungnade desselben Königs ertrug. Die alten Herren, die selber für die blaue Kokarde und das Kreuz von Savoyen gekämpft und geduldet, sie sollten dereinst, auf des Königs Ruf, willig ihre Söhne unter die gehaßten dreifarbigen Fahnen stellen und mit der Fassung spartanischer Bürger ertragen, daß das alte Piemont für das neue Italien blutete.

In diesem Geiste der Pflichttreue und des patriotischen Stolzes lag die Gewißheit der Heilung für die Gebrechen des Staates. Die Krone hatte bei all ihrer Frömmigkeit niemals einen Übergriff des römischen Stuhles geduldet, der Adel bei all seinem Hochmute nie gepraßt von dem Schweiße des Volkes. Die Verwaltung arbeitete so langsam und pedantisch, daß man die affari interni spottend affari eterni nannte, doch sie bewährte eine in Italien unerhörte Redlichkeit. Der Staatshaushalt war so wohl in Ordnung, daß die Regierung vor der Revolution von 1848 hoffen konnte, den Eisenbahnbau zwischen Turin und Genua – die großen Brücken über den Po und Tanaro, den weiten Tunnelweg durch die Pässe der Bocchetta – ohne eine Anleihe, allein aus den baren Mitteln des Staates zu vollenden. Das Volk des oberen Potals glaubte an sich und an seinen Staat, stand neben den höher gebildeten Nachbarn mit einem Selbstgefühl, das diesen unbegreiflich schien. Schon Napoleon fand, hier sei gar kein Stoff für eine Revolution; und noch in unseren Tagen gelangten mißgünstige Fremde, wie Graf Rayneval, wenn sie die strengen monarchischen und militärischen Überlieferungen der Piemontesen mit der Schlaffheit und dem verworrenen Radikalismus der übrigen Italiener verglichen, zu dem voreiligen Schlusse, dies kräftige Sonderleben gehöre nicht zu Italien. Wie einst in den Wettkämpfen von Sparta und Athen, von Rom und Griechenland, von Venedig und Florenz, so sollte auch in Italiens neuester Geschichte sich bewähren, daß in den großen Entscheidungsstunden des Völkerlebens nicht das Genie den Preis davonträgt, auch nicht die Tugend, sondern der Charakter. Nur von diesem Gemeinwesen – dem einzigen, das ein Staat war – konnte Italiens Rettung ausgehen, und der Mann, der das adlige Piemont in die steilen Bahnen revolutionärer Staatskunst hineinreißen wollte, mußte selber ein Aristokrat sein.

In solchen Umgebungen ist Camillo Cavour aufgewachsen. Das alte Haus Benso aus Chieri führte seinen Grafentitel von dem Städtchen Cavour, dessen Name in der Geschichte Piemonts einen guten Klang hat; denn von hier erließ einst Emanuel Philibert das Toleranzedikt für seine Waldenser. Von den protestantischen Erinnerungen, welche der Name erweckt, war indes in der Haltung der Familie nichts zu spüren; die Grafen standen allesamt fest zu dem Throne und der römischen Kirche, rühmten sich ihrer Verwandtschaft mit dem heiligen Franz von Sales. Nur einmal, in der napoleonischen Epoche, hielt die royalistische Gesinnung des Hauses nicht stand; Camillos Vater trat in den Hofstaat des Fürsten Borghese, der als Vertreter seines Schwagers Napoleon in Turin Hof hielt. Die Gemahlin des Fürsten hob den kleinen Camillo aus der Taufe, der am 10. August 1810 als französischer Untertan geboren war. Nach der Rückkehr des Königshauses suchte der alte Graf durch den Eifer seiner royalistischen Ergebenheit den Fehltritt zu sühnen; er wurde späterhin Vikar von Turin, das will sagen: zweiter Polizeiminister des Königreichs, spürte fleißig den Umtrieben der Demagogen nach. In seinem Palaste verkehrten täglich der österreichische Gesandte und die Führer der klerikalen Partei, der Cattolica. Für Cavour, wie für die meisten ungewöhnlichen Männer, ist das Vorbild der Mutter bedeutsamer geworden, als der Einfluß des Vaters. Durch die geistreiche Frau, eine Genferin aus dem Hause Sellon, und ihre protestantischen schweizer Verwandten drangen einzelne moderne freie Ideen in das ehrenfeste Grafenhaus. Der strenge Sinn des Vaters und der frühreife freie Geist des Sohnes sind wohl oft heftig aneinander geraten; so schwer waren diese häuslichen Kämpfe doch nicht, daß sie den leichten frohen Mut des jungen Grafen verdüstert hätten. Er lernte im Verkehr mit andersdenkenden Verwandten früh, was vollständig nur die persönliche Erfahrung lehrt, die Gewohnheit der Duldung. Die Erbsünde des gemäßigten Liberalismus, die doktrinäre Rechthaberei, blieb ihm fremd; mit seinem strengkatholischen älteren Bruder Gustav stand er sein Lebtag in herzlichem brüderlichem Verkehr. Der Knabe trat nach adliger Sitte in die Militärakademie; hier ward ihm als einem vornehmen Herrn die Auszeichnung, daß er als Page bei dem Prinzen von Carignan Dienst leisten sollte. Aber seinem Stolze, seiner unbändigen Lebhaftigkeit war der Zwang der Etikette unleidlich, er zog sich die Ungnade seines Prinzen zu, der über den Formen höfischer Sitte mit feierlicher Strenge wachte. So war der Grund gelegt zu jener tiefen Abneigung, welche König Karl Albert und der mächtige Minister seines Sohnes einander immer bewahrt haben. Auch in der Armee war seines Bleibens nicht; der junge Ingenieurleutnant wurde als ein unruhiger Kopf beargwöhnt, da er seine liberalen Neigungen, seine Freude über die Juli-Revolution nicht verhehlte, und in die entlegene Bergfeste Bard versetzt. Nun nimmt er seinen Abschied, wirft sich auf die Landwirtschaft mit einer bürgerlichen Arbeitsfrische, die seine steifen Standesgenossen erschreckt. Er ist früh mit sich im reinen, nach der Weise tatkräftiger Naturen, und wie glücklich, wie harmonisch erscheint er in seiner Einseitigkeit – einer jener seltenen Menschen, die nichts wollen, was sie nicht können. Ein mathematischer Kopf, militärisch gebildet, hat er die alten Sprachen nie verstanden, die Gedichte Dantes und Ariostos nie gelesen; die Fragen der Politik erschienen ihm wie Probleme der Integralrechnung. Während Gioberti seine Landsleute ermahnte, durch andächtige Versenkung in das klassische Altertum zum Bewußtsein ihres Volkstums, zur italianità sich hindurchzuarbeiten, stand dieser Mann mit jeder Kraft seines Geistes in der modernen Welt, ganz der Gegenwart und einer großen Zukunft zugewendet. Er kannte die gesunde Prosa seiner Natur, lachte gern über die Armut seiner Phantasie, meinte späterhin, er könne leichter die Einheit Italiens zustande bringen als ein Sonett. Und weil er sich selber von Grund aus kennt, weil kein Trieb seiner Seele dem anderen widerspricht, darum redet aus jedem seiner Worte jene Heiterkeit im Verstande, welche das Kennzeichen harmonischer und reicher Begabung ist. Das Grübeln über Ich und Nichtich überließ er lachend seinem Bruder, und die schwermütigen Verse, die sein träumerischer Freund Pietro di Santa Rosa ihm zusang: »gemeinsam zu klagen, Camillo, sei jetzt der Trost für die niedergeschlagene Seele,« paßten wenig für seine frische Lebenslust.

Diese goldene Laune, diese derbe Natürlichkeit machen das Bild des Mannes uns modernen Menschen rasch vertraut; denn keine Epoche der Geschichte hat auf den fröhlichen Lebenshumor, auf die kurz angebundene Einfachheit größeren Wert gelegt als die Gegenwart, die mit Bewußtsein aus einer Zeit sentimentaler Überschwenglichkeit herauswächst. Sah man den untersetzten lebhaften Mann mit dem behaglichen Lächeln auf dem breiten Gesichte, wie er sich in den Sessel warf, beide Hände in den Hosentaschen, die Beine fast nach Türkenart verschränkt, und unter schmetterndem Gelächter übermütige Witze herausplauderte; beobachtete man diese lockeren Junggesellensitten, die Lust am hohen Spiele und die galanten Abenteuer, die noch in späten Jahren, wenn ein Redner leise darauf anspielte, die Heiterkeit des Parlamentes erregten – so wähnte man leicht, nur einen glänzenden Lebemann vor sich zu haben. Nichts von der Kälte, der zugeknöpften Behutsamkeit des Piemontesen; niemals lernte Cavour jene Feierlichkeit der Amtsmiene, die seine Landsleute, mit einem ihren spanischen Herren entlehnten Worte, sussiego nennen. Er liebte noch als Minister, im Kreise der Freunde das Pathos seiner Gegner durch groteske Gebärden nachzuahmen, durch neckische Schelmenstreiche die Genossen in Atem zu halten, und ist oft, wenn er eine Depesche geschrieben, pfeifend und die Hände reibend im Zimmer umhergelaufen wie ein Schulbube, der sein Pensum glücklich abgetan. Und welche Meisterschaft der Menschenkenntnis und Menschenbehandlung offenbarte sich doch in dieser bestrickenden Liebenswürdigkeit, die sich nie langweilte, jedem etwas zu sein und bei jedem da anzuklopfen verstand, wo auch aus der trockensten Seele ein Quell springt! Auch seine gesprächige Offenherzigkeit, die doch kein Wort zuviel sagte, erwies sich bald als eine furchtbare Waffe gegen die gemeine Mittelmäßigkeit der Diplomatie, welche solcher Keckheit ungewohnt hinter jedem Worte eine Falle fürchtet. Wie rasch und sicher faßt der Mann, der so übermütig mit dem Leben spielt, sich alsbald zusammen im Bewußtsein seines Wertes, sobald ein bedeutender Gegenstand ihn erregt: dann lagert sich ein tiefer Ernst über die breite Stirn, die Klarheit eines mächtigen Verstandes redet aus den stechenden, tiefliegenden Augen, er wird nicht müde, zu fragen und zu forschen, entfaltet im leichten Gespräche eine Fülle selbständiger Gedanken, ein erstaunliches Wissen. Denn bis zu den Romanen englischer Blaustrümpfe herab las er alles, was seinem Kopfe einen tatsächlichen Stoff bot; auch die Kunst, auch die alte Geschichte lernte er kennen, nicht als ein Gelehrter, sondern als ein Mann der Tat, der das Treiben der Menschen übersehen und beherrschen will.

Sein bestes Wissen dankte er dem Leben; auch an ihm bewährte sich die alte Erfahrung, daß der Realismus des Heerwesens und der Landwirtschaft die beste Vorschule für den Staatsmann bildet. Glücklicher als in dem schönen Parke des Familiengutes Santena, wo heute seine Leiche ruht, ward diesem Arbeitsmanne zu Mute in der weiten baumlosen Ebene, wo sein neuerworbenes Landgut Leri lag. Dort in den feuchten Reisfeldern, unter fleißigen Tagelöhnern und stattlichen Herden schaltete er als Meister; da wurden neue Untergrundpflüge versucht und Riesenspargel gepflanzt, ganze Schiffsladungen voll Guano aus England verschrieben – denn »ich kann nichts halb tun« – und der mäßig bemittelte jüngere Sohn des Grafenhauses ward durch eigene Arbeit Millionär. Bald hatte er seine Hand in allen den industriellen Unternehmungen, welche sich in jenen schläfrigen Tagen hervorwagten, errichtete Zuckersiedereien und Düngerfabriken, ward ein Mitgründer der Bank von Turin, der Paketbootfahrt auf dem Langensee und verdiente sich abermals das Mißtrauen der Regierung. Man ahnte in Turin dunkel die Verwandtschaft des neuen Großgewerbes mit dem Liberalismus.

In der Tat, nicht als eine Kunst reich zu werden erschien dem Grafen die Volkswirtschaftslehre, obwohl er willig zugab, daß sie nur die jüngere Schwester der moralischen Wissenschaften sei. Er erkannte, welchen Schatz von psychologischem Tiefsinn und werktätiger Menschenliebe ihre trockenen Sätze bergen, und wünschte die einseitig literarisch-philologische Erziehung der Italiener durch eine tüchtige technische Bildung zu ergänzen. Cavour hatte mit eisernem Fleiße die gesamte Literatur der Nationalökonomie sich zu eigen gemacht; diese Studien blieben sein Liebling; statistische Berichte und technologische Abhandlungen bedeckten noch in seiner Todesstunde seinen Schreibtisch. Er ward ein begeisterter Freihändler, weil er ein Staatsmann war, weil er in der Entfesselung der Arbeitskräfte die Voraussetzung der politischen Freiheit sah. Das soziale Leben galt ihm so sehr als die Grundlage aller Politik, daß er später dem russischen Gesandten sagen konnte: »der kommunistische Gemeindebesitz eurer Bauern ist uns gefährlicher als alle eure Heere.« Er begünstigte die Kleinwirtschaft freier Bauern als ein sittliches Gegengewicht gegen die einseitige Ausbildung des städtischen Lebens in Italien. Sein vornehmer Sinn, der die Dinge im großen überschaute, hatte nur ein Lächeln für jene subalternen Praktiker, welche, auf örtliche, zufällige Erfahrungen sich berufend, die Theorie für eine Feindin der Praxis erklären. Ihm ist kein Zweifel, daß jede richtig gedachte Theorie in der Anwendung unfehlbar die Probe halten müsse, er redet mit Zuversicht von der »unbesiegbaren Macht der Wahrheit«. Ihn durchglüht der frohe Optimismus der Tatkraft, alle seine Fehler sind Fehler der Kühnheit. Und was die Macht des Glaubens auch im Staatsleben bedeutet, wie überlegen in den großen Tagen der Völker die Männer auftreten, welche zu glauben vermögen an sich und ihre Sache, das sollte eine nahe Zukunft in Deutschland und Italien abermals erhärten.

Als das höchste Ziel von Cavours politischen Gedanken erscheint schon früh die Befreiung Italiens. Er besaß das historische Gefühl der Aristokratie, fühlte sich und sein Haus fest verwachsen mit dem Staate Piemont – ein Vorzug des Adels, der von den italienischen Demokraten williger anerkannt wird als von den deutschen. Von blondem Haar und heller Haut, wie die meisten seiner Stammesgenossen, hatte er in seinem Äußern nur das Feuer des Auges mit dem ungemischten italienischen Blute gemein; er sprach mit Vorliebe französisch, sein Italienisch wollte dem reizbaren Ohre der Männer von Toskana nie ganz gefallen. Wie war er stolz auf dies Grenzvolk, das an den Vorzügen der Germanen und der Romanen zugleich Anteil habe; seine ernste und schmucklose Vaterstadt behagte ihm besser als das ewige Rom, das er nie betreten mochte. Er lebte in den großen Erinnerungen des Hauses Savoyen, schwärmte für die rücksichtslose Tatkraft des ersten Karl Emanuel, den er gern neben Friedrich und Napoleon stellte, und nannte selbst Karl Emanuel III., der dem Fremden wenig bedeutend erscheint, einen großen König, in dankbarer Erinnerung an die wirtschaftlichen Reformen des aufgeklärten Despoten. Schon seine ersten Schriften preisen »die glorreiche Politik, welche die savoyische Dynastie zur ersten in Italien gemacht hat und sie in Zukunft zu noch höheren Geschicken erheben wird.« So fallen ihm der Stolz des Piemontesen und die Hoffnung des Italieners in eines zusammen; auch er nimmt teil an der stillen Umbildung seines Stammes, wird mit hellem Bewußtsein ein Italiener. Hart lastet auf ihm der Gedanke, daß seine Nation die letzte sein soll unter den großen Kulturvölkern. »Sagen Sie Ihren Landsleuten,« schreibt er in seinem neunzehnten Jahre flehend an einen englischen Freund, »daß die Italiener der Freiheit nicht unwürdig sind.« Die Scharen kunstsinniger Fremder sind seinem nationalen Stolze peinlich; dann erst sollen sie ihm willkommen werden, »wenn wir gelernt haben die Fremden auf dem Fuße vollkommener Gleichheit zu behandeln.« Seine Hoffnung bleibt »die Vertreibung der Barbaren«, und sei es auch mit Frankreichs Hilfe. »Ach,« ruft er im Jahre 1832, »wenn Frankreich im vergangenen Jahre das Schwert gezogen hätte!«

Auf Augenblicke regt sich ihm wohl das dämonische Ahnungsvermögen des Genius. »Ich habe einen ungeheuren Ehrgeiz,« gesteht er nach seiner Entlassung aus der Armee. »Glauben Sie mir, ich werde meinen Weg machen. In meinen Träumen sehe ich mich schon als den Minister des Königreichs Italien.« Doch es bestraft sich schwer, wenn der Historiker, nach der Weise der Dramatiker, die Menschen und ihre bewußten Pläne überschätzt, die Macht der Ereignisse unterschätzt; am allerwenigsten bei diesem praktischen Genius, der mit seinem Volke wuchs, dürfen wir eine bestimmte Rechnung für die unberechenbare Zukunft suchen. Jenem einen übermütigen Briefe stehen hundert andere entsagungsvolle Worte gegenüber, welche bezeugen, daß Cavour vorerst darauf verzichten mußte, in dem alten Piemont als ein Staatsmann zu wirken. Vertreibung der Österreicher durch das gute Schwert der Piemontesen – das ist die einzige bestimmte Hoffnung, die wir aus den patriotischen Träumen seiner Jugend herauslesen; an ihr hat er festgehalten mit der nachhaltigen Glut eines großen Herzens, mit einer Macht der Leidenschaft, die sich unendlich selten verriet, wenn plötzlich aus dem leichten Gespräche des Weltmannes der Todhaß gegen die Unterdrücker seines Vaterlandes hervorblitzte. Durch welche Menschen und auf welchen Wegen seiner Nation die Erlösung kommen werde, das maßte er sich nicht an vorherzuwissen. Er spottete der eigensinnigen Kinder, die der erhabenen Vernunft der Geschichte den Plan ihres eigenen Hirnes unterschieben. Er fühlte in sich die Kraft und die Lust des Herrschens; er war bereit, wenn das Schicksal rief, für die Unabhängigkeit seines Landes zu kämpfen mit jedem wirksamen Mittel, auch die Mittel und die Männer zu wechseln, dem politischen Gegner zum gemeinsamen Werke die Hand zu reichen, denn »in der Politik ist nichts abgeschmackter als der Groll«. Durch solche Beweglichkeit der Tatkraft erscheint er als ein echter Italiener; seine politische Moral, obschon geläutert durch menschenfreundlichen Sinn und hohe Bildung, läuft doch hinaus auf das vermessene Sprichwort, das einst im Getöse der bürgerlichen Kämpfe zu Florenz aufkam: cosa fatta capo ha. »Er bekannte – so sagte mir einer seiner Freunde – die Philosophie des möglichen, die trefflichste praktische Philosophie, die es gibt.« Ein listiger Zug schlauer Berechnung tritt auf den besten Bildern in seinem Gesichte sehr stark hervor; lächelnd pflegte er zu sagen, für umsichtig zu gelten sei in der Politik noch wichtiger, als umsichtig zu sein. Die Mehrzahl seiner heimischen Biographen preist an ihm nichts so freudig, wie die meisterhafte Kunst der Verstellung; sie erkennen darin die Überlegenheit des italienischen Genius, des antico senno italiano, gegenüber der Plumpheit der Barbaren.

Während Cavour vermied, für die noch im Nebel verschwimmende italienische Frage sich ein Programm zu bilden, hatten ihn die greifbaren Fragen der inneren Politik seiner Heimat sehr bald zu einer bestimmten Parteimeinung geführt. Er hatte früh gebrochen mit den Vorurteilen seines Standes, gründlicher gebrochen als selbst Massimo d'Azeglio, der häufiger als Cavour die Unsitten des Adels geißelte und dennoch den stolzen Edelmann nie verleugnen konnte. Schon das Lakaienkleid des Pagen machte den jungen Mann erröten, und auf den Flittertand, der an dem höfischen Leben haftet, sah er stets mit Spott und unverhohlener Verachtung. Doch er blieb Aristokrat in allen Lebensgewohnheiten, unfähig, ungeneigt, auf die Massen unmittelbar zu wirken. So erklärt sich, warum dieser freie Geist schon in dem Alter, das den kühnen Abstraktionen zufliegt, bedächtig in eine mittlere Richtung einlenkte. Er war konstitutioneller Monarchist von der Stunde an, da er selbständig zu denken vermochte, nannte sich gern einen Mann des juste-milieu. Nicht daß er als ein ängstlicher Eklektiker die Extreme zu vermeiden suchte: er wußte schon in seiner Jugend, daß die Politik nur relative Gegensätze kennt, nur durch Kompromisse vorwärts schreitet, und wählte sich von links und rechts die lebensfähigen Gedanken. »Über alle wesentlichen Punkte der Politik,« schreibt er im Jahre 1843 an Santa Rosa, »über alle großen sozialen Fragen haben sich meine Ansichten nicht geändert, und sie werden sich niemals ändern. Ich war im Jahre 1831 ein Anhänger des gemäßigten Fortschritts, wo er möglich war. Wo er unmöglich war, da, glaubte ich in jener Zeit, könne man ihn durch gewaltsame Mittel zu erreichen suchen. In dieser Hinsicht hat sich mein Urteil erheblich umgewandelt; ich gestehe, daß ich heute sehr viel weniger geneigt bin, die Gegenwart den ungewissen Wechselfällen der Zukunft zu opfern.« Die Verschwörungen der Radikalen erregten schon in jungen Jahren den Widerwillen seines sittlichen Gefühles, den Widerspruch seines Verstandes. Er fand, die unreife Empörung von 1821 habe den Tag der Freiheit nur hinausgeschoben, und selbst die harten Maßregeln der Kabinette nach der Juli-Revolution entschuldigte er mit dem Gebote der Selbsterhaltung. Die Republik scheint ihm in den Großstaaten Europas unmöglich, denn sie setze einen Grad der Massenbildung voraus, den wir erst zu erstreben haben. Das ungehemmte Spiel der sozialen Kräfte ist das Wesen der Freiheit, nur die Monarchie stark genug, solche Freiheit zu schützen.

Und wie hoch und vielseitig faßt er dies humane Ideal! Er weiß nichts von jener Selbstsucht des französischen Liberalismus, die den Zwang wider die Gegner im Namen der Freiheit fordert; er will das gleiche Recht auch für den Feind, und vor allem für die Kirche. Der kirchenfeindliche Sinn der Liberalen Frankreichs hat wohl bei der Masse der italienischen Patrioten, die zwischen Unglauben und Aberglauben haltlos schwankte, vielen Anklang gefunden, niemals bei ihren Führern. Silvio Pellico und Manzoni, Gioberti und Balbo, Rossi und Boncompagni, sie alle erkennen in dem römischen Stuhle eine gloria italiana, das letzte Vermächtnis einer großen Zeit, da Italien die Herrschaft der Erde behauptete. Selbst Alfieri, der den Hohenpriester gern zu der Hütte und dem Fischernetze des heiligen Petrus zurückführen wollte, verdammte unbarmherzig die deutschen Protestanten wie die Pariser Vernunftanbeter als zügellose Ungläubige; und Niccolini, der unter allen Patrioten Italiens dem heidnischen Altertum am nächsten steht, redet doch über Gott und göttliche Dinge mit einer frommen Scheu, die ein französischer Freigeist verspottet hätte.

Auch auf diesem Gebiete erscheint Cavour als ein Sohn seines katholischen Volkes. Zu grübeln über religiöse Dinge lag seinem weltlichen Sinne fern; immerhin ward er, wie die meisten Staatsmänner, von diesen Fragen ungleich stärker angezogen als durch die Welt der Kunst. Er hörte mit Achtung, wenn sein Bruder und dessen Freunde, der fromme Dichter Manzoni, der schwärmerische Abbate Rosmini, über die höchsten Geheimnisse sprachen, wenn Santa Rosa die weihevolle Feier des römischen Osterfestes mit brünstiger Begeisterung schilderte. Die Kirche der Autorität galt ihm als die natürliche Freundin des Liberalismus; nur zufällige historische Umstände sollten verschulden, daß bisher die Freiheit des Staates in protestantischen Völkern am glücklichsten gediehen ist. Er sah mit Kummer, wie die Kirche durch die Ausschweifungen der Revolution dem Despotismus in die Arme getrieben ward, und jubelte auf, als er in Paris den Abbé Coeur von der Kanzel herab den Glauben und die Freiheit zugleich verteidigen hörte. »Sobald diese Lehren,« versprach er seinem Santa Rosa, »von der Kirche allgemein angenommen sind, bin ich bereit, ein ebenso glühender Katholik zu werden wie du.« Tocquevilles Werke, von den Franzosen kaum verstanden, waren dem jungen Italiener recht aus dem Herzen geschrieben; er glaubte mit dem französischen Denker, nur eine freie Kirche werde dem Vaterlande, nur eine mit selbständigem Grundbesitz ausgestattete Kirche werde der bürgerlichen Gesellschaft Verständnis und Treue entgegenbringen. Belgien erschien ihm als ein Staat des idealen Glückes; noch berührte ihn kaum das Bedenken, ob nicht eine Kirchenpolitik, welche der Kirche zugleich die absolute Selbständigkeit eines Schachklubs und die bevorrechtete Stellung einer öffentlichen Korporation verleiht, statt der Freiheit einen Staat im Staate gründen müsse.

Zur Reife gelangten die Ideen Cavours erst, da es ihn hinaustrieb aus der Finsternis des alten Piemont, um auf Reisen eine kosmopolitische Bildung zu erwerben. In Italien leider konnte ein politischer Kopf seine Nahrung nicht finden; selbst ob er es durfte, schien zweifelhaft. Den sorgenden Blicken der k.k. Polizei war auch dieser unbedeutende junge Mann nicht entgangen; schon im Jahre 1833 warnte sie ihre Werkzeuge vor dem Grafen, der »trotz seiner Jugend schon sehr weit vorgeschritten ist in der Verderbnis seiner politischen Grundsätze«. Gleich allen Liberalen der dreißiger Jahre bewunderte Cavour die berufene »große Konzeption« Lord Palmerstons, er sah in den Westmächten die Beschützer der europäischen Freiheit, in Italien und Polen die zwei Unglückskinder des Weltteils, die von einer Revolution das Größte zu hoffen hätten. Die Schicksalsverwandtschaft der beiden »liberalen und katholischen« Duldervölker rührte sein Herz, er hörte gläubig die Märchen der polnischen Flüchtlinge und stellte den Götzen des modernen Sarmatentums, Mickiewicz, dicht neben Shakespeare und Dante. Die Westmächte aber, deren Zwietracht er als der Übel größtes, als den Anbruch eines neuen Zeitalters der Barbarei fürchtete, wurden ihm vertraut wie eine andere Heimat. Die Neigung seines halbfranzösischen Blutes zog ihn nach Paris. In den Salons von Molé, Pasquier, Broglie lernte er den ganzen Zauber seiner Liebenswürdigkeit entfalten und ein hochaufgeregtes geistiges Leben als eine Segnung des Repräsentativsystems schätzen. Er schwelgte in den Reizen dieser »geistigen Hauptstadt der Welt« und bekehrte durch sein Entzücken selbst den Franzosenhasser Santa Rosa: »man lebt hier ein sehr weltliches Leben, aber man berührt auch die ernstesten Seiten der Welt.« Auch daheim wollte er den anregenden Umgang der Franzosen nicht missen; wie oft hat er mit seinem Freunde, dem Grafen Haussonville von der französischen Gesandtschaft, über den Parlamentarismus gestritten, wie oft den Gesandten, Herrn von Barante, nach Tisch in ein Seitenzimmer geführt, um durch unablässiges Fragen die Geheimlehren der neuen Freiheit zu ergründen. Begreiflich, daß er im Verkehre mit Barante und Broglie eine sehr günstige Meinung von den Pariser Doktrinären faßte. Erst die wirtschaftliche Unfruchtbarkeit des Julikönigtums und vornehmlich Guizots klägliche Politik gegen Italien offenbarte dem Piemontesen die Gebrechen dieses Systems.

Ungleich wichtiger ward ihm der wiederholte Aufenthalt in England. Im Jahre 1835 ging er mit Santa Rosa zum ersten Male über den Kanal. Der schwärmerische Freund vermißte schmerzlich in dem Nebellande die Sonne seiner Heimat, stahl sich oftmals abseits, um über den Werken der englischen Dichtung zu träumen. Der junge Volkswirt aber durchstöberte unermüdlich unter der kundigen Führung des Technikers W. Brockedon Fabriken und Banken, Docks und Bahnhöfe, fand des Schauens kein Ende unter den Wundern des Weltverkehrs. Später lernte er Englisch, kehrte wieder, saß als andächtiger Zuhörer im Hause der Gemeinen, um die Technik der Geschäftsordnung, das Wesen parlamentarischer Beredsamkeit zu ergründen. Noch wenige Jahre vor seinem Tode ist er einmal mit einem Agenten der geheimen Polizei durch die verrufensten Winkel von London gezogen, um von den Nachtseiten der modernen Gesellschaft eine lebendige Anschauung zu gewinnen. Wie bewunderte er »diese Erstgeborene der Freiheit, diese Königin der Meere,« die überall in der Welt »die Feinde der Freiheit und die Revolutionäre zu ihren bittersten Gegnern zählt!« Hier erst, inmitten der Selbstverwaltung der Grafschaften, ging ihm das Wesen eines freien Staates auf, er haßte jetzt die napoleonische Zentralisation als die letzte Quelle der meisten Leiden der modernen Gesellschaft, als die Mutter des Kommunismus. Cavour bezeigte in Brüssel dem verbannten Patrioten Gioberti seine Verehrung, lernte die Schweiz kennen durch wiederholte Besuche in dem verwandten Hause der de la Rive am Genfer See, stand mit den Staatsmännern aller Länder des Westens in lebhaftem Verkehr. Der Umgang mit den Fremden war ihm, wie den Besten seiner Landsleute, zugleich ein Mittel, um für sein Land jene warme Teilnahme der öffentlichen Meinung zu erwecken, welche dereinst das Werk der Befreiung fördern sollte. Nur mit unserem Vaterlande und seiner Sprache ward Cavour niemals ganz vertraut. An manche schwer verständliche Erscheinungen des widerspruchsvollen deutschen Staatslebens legte er kurzerhand den Maßstab seiner westeuropäischen Freiheitsbegriffe: die Lehren F. Lists erschienen ihm lediglich als die Frucht eines krankhaft und einseitig entwickelten Nationalstolzes.

Die sozialen Bewegungen in Großbritannien boten dem Volkswirt den ersten Anlaß, sich als Schriftsteller zu versuchen. Er gab eine Flugschrift heraus über Irland, schrieb, noch bevor Cobdens Agitation gesiegt hatte, eine Abhandlung über die englischen Korngesetze, dann nach dem Triumphe der Freihändler einen hoffnungsvollen Aufsatz über die Einwirkung der neuen Handelspolitik Englands auf Italien. Wohl mochte er jubeln, als seine Weissagung in Erfüllung ging und gerade in dem Lande der praktischen Leute, der Feinde der Doktrin, die wahren volkswirtschaftlichen Lehren, die rette dottrine, den ersten vollständigen Sieg erfochten: nun wird die Schutzzolltheorie, die Tochter alter Vorurteile, der bequeme Vorwand für selbstsüchtige Interessen, überall so unfehlbar fallen, wie einst die Astrologen den Astronomen das Feld räumen mußten. Cavour schreibt den Stil des praktischen Mannes, schlicht, scharf und klar; man erkennt den Geist, der gewohnt ist, schwere mathematische Aufgaben im Kopfe zu lösen. Er wirft manchmal, wo er nicht Zeit hat zum Verweilen, achtlos einen trivialen Satz hin, gleich dem verwandten Genius Friedrichs des Großen, und wie dieser geht er stets geradeswegs auf den Kern der Frage los, findet immer einen greifbaren sicheren Schluß. Weit entfernt, nach der Weise geistreicher Dilettanten blendende Paradoxen aufzustellen, wiederholt er unbefangen die überlieferten Sätze der englischen Schule: Smiths Freihandelstheorie, die Bevölkerungslehre des Malthus, deren Härte diesen logischen Kopf keineswegs abschreckt, und mit besonderer Vorliebe die mathematische Schlußfolge der Grundrentenlehre Ricardos. Careys Einwände wider die Freihandelslehre hat er nie eines Wortes gewürdigt. Neu und bedeutend erscheint er nur in der Anwendung jener Sätze auf das Leben.

Seit die Mittelstaaten Italiens endlich langsam in die Bahn der Reformen einlenkten, stand ihm fest, daß an die politische Auferstehung auch das risorgimento economico sich anschließen müsse; denn »die Bedingungen des politischen und des wirtschaftlichen Fortschritts sind identisch«. Dies Wort erinnert an manche verrufene Aussprüche Napoleons III. und steht doch im schärfsten Gegensatze zu der materialistischen Staatsweisheit der Bonapartes. Cavour will nicht durch den Lärm der Arbeit und der Schwelgerei die Völker für den Verlust der Freiheit trösten; er würdigt ruhig den untrennbaren Zusammenhang von Leib und Seele, sieht in den nahe verwandten schutzzöllnerischen und kommunistischen Lehren der Franzosen einen wesentlichen Grund der Unfreiheit ihres Staates, in der gereiften Volkswirtschaftslehre den besten Bundesgenossen des Liberalismus: »der Despot verhandelt mit dem Demagogen, dem Nationalökonomen verzeiht er nie.« Von der Anglomanie, die Cavours Gegner in diesen Schriften zu finden meinten, wird der ruhige Beurteiler nichts entdecken. Der humane Italiener erkennt scharf die schwerste Sünde der englischen Aristokratie, die Vernachlässigung der niederen Klassen. Er fordert entschieden soziale Reformen für Irland – Volksunterricht, mildere Behandlung der Pächter, unbedingte Gerechtigkeit gegen die katholische Kirche: – nur die volle Selbständigkeit der grünen Insel verwirft er als eine Utopie. Selbst die wirtschaftliche Überlegenheit Englands gibt er mit nichten zu: die kunstvolle Kleinwirtschaft der Lombardei steht höher als der Großbetrieb des englischen Landbaus; auch die Lehren Adam Smiths haben schon vor dem großen Schotten auf italienischem Boden in Verri, Galiani, Carli ihre prophetischen Bekenner gefunden. Die Tage sollen wiederkehren, da der Gewerbfleiß von Venedig, Genua, Florenz der weiten Welt voranleuchtete. Der Geschäftsmann gibt einige praktische Fingerzeige, weist hin auf die Vorteile, welche die Nachbarschaft der Getreideländer des Schwarzen Meeres der Reederei von Genua bietet; er rät einzelne künstlich gepflegte Gewerbe aufzugeben, dafür die nationale Seidenweberei mit neuen Maschinen und größerem Kapitale zu betreiben, er warnt vor dem aussichtslosen Versuche, mit den französischen Tischweinen in Mitwerbung zu treten, und empfiehlt die Pflege der Likörweine nach dem Vorgang der Händler von Marsala. – Bedeutsamer ist seine Begeisterung für den jüngeren Pitt wie für Wellington und Peel. Er preist jenen, weil er vermochte, in den Wirren der Revolutionskriege auf längst gehegte Reformpläne zu verzichten, diese, weil sie den Ruf der verwandelten Zeit verstanden, zur rechten Stunde alte Freunde, teure Grundsätze aufgaben und die unvermeidlichen Neuerungen selber mit entschlossener Hand durchführten. Das Programm seines eigenen Wirkens liegt in diesem Lobe.

Unterdessen hatte seit dem Anfang der vierziger Jahre die nationale Bewegung auf der Halbinsel einen neuen glücklichen Aufschwung genommen. Dann geschah das Unglaubliche: ein menschenfreundlicher Papst empfing die dreifache Krone. Mit namenlosem Entzücken begrüßte das heißblütige Volk das Nahen einer schöneren Zeit, mit schlecht verhehlter Angst der Wiener Hof den Revolutionär auf dem heiligen Stuhle. Der Nachfolger der Gregore, der die Verschwörer von den Galeeren befreite, mußte ja ein Liberaler, ein Italiener sein. Blindgläubig, wie der Pöbel Roms, welcher in festlichem Getümmel den Wagen des Papstes umringte, bauten sich auch denkende Patrioten ein Idealbild von dem neuen Hohenpriester auf, dem die Worte und die Werke Pius' des Neunten niemals entsprachen. Italien vertraute wieder seinen Gewalthabern, der rohe Radikalismus verlor sichtlich an Boden. Giuseppe Giusti sah mit Freuden das alte Geschlecht der radikalen Banditen dahingehen und ein neues Volk von freien Bürgern aufsteigen; er atmete auf, so oft die Glocken des Domes von Mailand zum Begräbnis oder zur Taufe läuteten, und zeichnete in dem Verse

Muore un brigant e nasce un liberale

mit einem Meisterstriche die Stimmung dieser hoffnungsseligen Tage.

War solche Ermäßigung der rohen Leidenschaften unzweifelhaft ein Segen, so trieb doch die vertrauensvolle Schwärmerei der Zeit neue Verirrungen hervor: die Träume der Neo-Guelfen. Die große Vorzeit übte nochmals ihren betörenden Zauber auf die Enkel. War dieser Pius nicht der Messias, den der Prophet Gioberti geweissagt? Man schwärmte mit dem verbannten Denker von einer gewaltigen Zukunft, da das Land des Statthalters Christi den Primat in der Welt wieder übernehmen werde; denn jede schöpferische Kraft unter den Menschen gehöre Italien an. Auch Balbo, zu nüchtern, um der Kometenbahn Giobertis ganz zu folgen, verherrlichte doch begeistert das Papsttum, das einst den Dante und Machiavelli und allen hellen Köpfen bis in das siebzehnte Jahrhundert hinein als der Urquell der Leiden Italiens gegolten hatte. Vergeblich fragte der klarblickende Niccolini: Wollt ihr wegen eines Traumes von achtzehn Tagen die Geschichte von achtzehn Jahrhunderten streichen? Wollt ihr verfinsterten Köpfe die Wahrheit auf einem Kirchhofe suchen?

Noch immer trug die nationale Bewegung einen überwiegend literarischen Charakter: die Schriftsteller Gioberti, Balbo und der weltlichere Azeglio behaupteten die oberste Stelle in der Volksgunst, auf Gelehrtenkongressen und Festmahlen feierten schwungvolle Reden Italiens Auferstehung. Auch die Verehrung für die Helden der italienischen Kunst mußte der nationalen Erhebung dienen. Längst hatte Florenz, »die Mutter von geringer Liebe«, sich reuig vor ihrem größten Sohne niedergeworfen, in ihrem Westminster Santa Croce dem verbannten Dante ein Grabmal errichtet. Allmählich verbreitete sich der Kultus des Dichters weithin über das Land, sein Name ward ein Symbol für die Einheit der Nation. Immer vernehmlicher tönte aus dem verworrenen Chor dieser begeisterten Stimmen der drängende Ruf hervor: Krieg gegen Österreich! In diesen Tagen sang Giusti sein mächtiges Lied delenda Carthago, in tausend Herzen widerhallte der donnernde Kehrreim: »wir wollen keine Österreicher.« Wenn Niccolinis Arnold von Brescia über die Bretter schritt, dann dröhnte das Haus, die Hörer stimmten mit ein in den Zuruf: »ein Blitz vom Himmel stiegst du hernieder, um zu zerstören Italiens Schmach.« Die liberale Schwärmerei der Zeit hatte den Papst, wider seinen Willen, sich zum Führer und Vertreter ausersehen. Die nationalen Hoffnungen bedurften des Schwertes, sie wendeten sich dem König von Sardinien zu.

Der aber war sich selber und der Welt ein Rätsel. In der napoleonischen Kriegsschule erzogen, von Haus aus ein Schwärmer für die Einheit seines Landes, hatte der junge Prinz schon nach dem Wiener Kongresse den König Viktor Emanuel zu offenem Kampfe gegen Österreich ermahnt; dann war er kopfüber hineingestürzt in die tosende Bewegung von 1821, in der Hoffnung, den König mit sich fortzureißen. Als diese Erwartung trog, verschmähte der Fürstensohn den Aufruhr, gab die verlorene Sache preis. Seitdem lastete der Haß und das Mißtrauen der Patrioten schwer auf dem »Verräter«. Aber wenn ihn die Pfeile der Verleumdung schmerzten, die in dichtem Hagel aus den Reihen der Radikalen auf ihn niederschossen, unvergeßlicher blieb ihm doch das Hohnwort, das die österreichischen Offiziere in jenem Jahre ihm zuriefen: da kommt der König von Italien! Haß gegen Österreich wurde der große Gedanke seines Lebens, und der herrische Übermut des Kaiserhofes versäumte nichts, diese Empfindung zu nähren. Mehrmals versuchte die reaktionäre Partei dem Prinzen von Carignan die Erbfolge zu rauben; nur mannigfache Demütigungen und das heilige Versprechen, niemals eine Verfassung zu gewähren, retteten ihm die Krone. Als er den Thron bestieg, begrüßte ihn sogleich eine wilde Verschwörung der Radikalen; mit unbarmherziger Härte stellte er das Ansehen seiner Krone her. Also stand er jetzt – er selber sprach es aus – zwischen dem Dolche der Demagogen und der Schokolade der Jesuiten. Alle Inbrunst seiner katholischen Frömmigkeit vermochte nicht das tiefe Mißtrauen der österreichischen Priesterpartei zu beschwichtigen. Wenn die Erinnerung an eine wüste Jugend diesen düsteren Geist übermannte, wenn er tagelang fastete, die lange Nacht hindurch in seinem Betstuhl weinte und seinen Leib in grausamer Kasteiung zerschlug – um so besser für die frommen Väter am Hofe. Sie nährten mit teuflischer Berechnung die Selbstquälerei des Königs: in einem siechen Leibe konnte die frische Willenskraft nicht wohnen, deren die geheimen Pläne des Fürsten bedurften. Karl Albert gab der Verwaltung moderne, schlagfertigere Formen, der Rechtspflege ein neues Gesetzbuch, aber den Liberalen und ihrer Aufklärung blieb er fern, ja er hoffte für den schweizerischen Sonderbund das Schwert zu ziehen. Er lebte und webte in den großen Erinnerungen seines Hauses und seines Heeres, ehrte seine Ahnen durch prächtige Denkmäler, ließ die Grabkapelle zum heiligen Schweißtuch königlich schmücken; und auch dem schlichten Soldaten Pietro Micca ward ein Standbild – dem Retter der Hauptstadt, der einst durch das Sprengen einer Pulvermine den Franzosen den Eintritt in die Zitadelle versperrt hatte.

Der König nährte seinen kriegerischen Ehrgeiz an den Werken von Thiers, und Prati dichtete in seinem Auftrage für die Armee das verheißende Kriegslied: »Jede Trompete der Piemontesen wecke ein Echo am Fels und am Meer. Carlo Alberto und seine Bestimmung, das sei der Schlachtruf von unserem Heer!« Wie groß er selber dachte von dieser seiner Bestimmung, das verbarg er in verschlossener Brust. Er haßte, nach der Weise unentschiedener Geister, die laute Beratung, er allein wollte befehlen – das Volk sollte vertrauen auf den geheimnisvollen Wahlspruch des Fürsten j'attans mon astre. Selbst der streng katholische Balbo durfte sein Buch über die Hoffnungen Italiens wohl mit Vorwissen des Königs, doch nicht in seinen Staaten drucken. Nur wenigen ward vergönnt, aus einem aufgeregten Ausrufe dieses kämpfenden Herzens zu erraten, daß Italien keinen treueren Sohn besaß als ihn. Als Azeglio, aus der unruhigen Romagna heimkehrend, in dunkler Morgenstunde auf das Schloß berufen ward, da fielen die Worte: »Sagen Sie den Herren, daß sie sich still halten. Wenn die Stunde kommt, dann wird mein Leben, das Leben meiner Kinder, meine Waffen, mein Heer, mein Schatz, mein alles geopfert werden für mein Vaterland Italien!« Und fast zur selben Stunde schrieb der Minister La Margherita den deutschen Höfen, sein Herr verwerfe Azeglios böswillige Gedanken. So brütete der König dahin, halb Mönch, halb Soldat, schwankend zwischen Wollen und Nichtwollen, zwischen Fürstenstolz und Herrschergröße, unliebsam überrascht von dem Erwachen der liberalen Gedanken und doch zu fromm, um dem neuen Papst zu widersprechen – ihm gegenüber die schreckliche Übermacht Österreichs und die herrische Erklärung des Zaren, jeder Angriff auf die Lombardei sei ein Kriegsfall für Rußland.

Uns Nachlebenden wird ein herzliches Mitleid rege, wenn wir diese riesige Soldatengestalt mit dem düsteren unsicheren Auge betrachten, den tief unglücklichen und doch hochherzigen Fürsten, der so schwer litt unter eigener Schuld und dem Unglück seines Landes. Den Mitlebenden und Mitkämpfenden lagen andere Empfindungen näher. Außerhalb Piemonts war die wahre Kraft des wohlgeordneten Militärstaates wenigen bekannt, da die geknechtete Presse grundsätzlich die piemontesischen Dinge im übelsten Lichte darstellte. Der König galt noch immer als der verräterische Carignano von 1821. Wenn Azeglio die Patrioten des Kirchenstaats mit der Hoffnung auf Karl Albert als den König und das Schwert Italiens vertröstete, so begegnete er überall erstauntem Lächeln; man begann erst zu glauben, sobald er seinen letzten Trumpf ausspielte: »wir erwarten ja keine edle Tat von dem Könige, wir verlangen von einem Räuber, daß er raube.« In Piemont, wo die Verdienste des Fürsten besser gewürdigt wurden, regte sich doch oft die Ungeduld; man sang Spottlieder über den Rè Tentenna, den König Zauderer. Cavour am wenigsten konnte sich mit dieser kränkelnden Staatskunst des Hinhaltens befreunden; der geistreiche Weltmann liebte zu sagen: »das Reglement macht aus jedem Beamten einen Dummkopf,« ihm widerstand die militärische Steifheit des Fürsten. Indes hielt er für Pflicht, teilzunehmen an der bescheidenen und fruchtbaren Agitation, welche in jenen Jahren der Erwartung die denkenden Köpfe von Turin bewegte und heute von den Italienern gern als das erste Kindergeschrei – i primi vagiti – ihrer Freiheit gepriesen wird. Seine Stellung in diesen geräuschlosen Kämpfen blieb die schwierigste: dem Hofe galt er als ein Demagog, ein verkappter Protestant, die Liberalen wollten dem Sohne des Vikars von Turin nicht trauen, und der Feinfühlende verschmähte, seinen Ruf auf Unkosten des Vaters zu retten. Der demokratische Neid verfolgte mit boshaftem Spotte den reichen Grafen. Er mußte lernen seine Seele zu panzern wider die bösen Zungen, er mußte erfahren, daß die Gemeinheit der Demokratie auch die persönlichsten Geheimnisse, auch die Leibesgebrechen des Gegners mit ihrem Kote bewirft. Zum Danke für einen trefflichen Aufsatz Cavours über die Handelsfreiheit schrieb ein demokratisches Blatt höhnend: siehe da, die Freiheit des Handels verteidigt durch das Monopol!

Die ersten Regungen eines freieren Geistes zeigten sich in der Wirtschaftspolitik der Regierung. Im Jahre 1839 wurde eine statistische Kommission gegründet, und hier versuchte sich Cavour als freiwilliges Mitglied zuerst in amtlichen Arbeiten. Bald darauf ward an der Turiner Hochschule ein Lehrstuhl der Nationalökonomie errichtet. Dann stifteten die Grundbesitzer einen landwirtschaftlichen Verein, und Cavour führte in der Vereinszeitschrift einen scharfen Federkrieg wider die bureaukratische Bevormundung; nicht einmal die Gründung eines Musterlandgutes wollte der Verfechter der Selbsthilfe dem Staate erlauben. Soziale Vereine in unfreien Staaten werden in bewegter Zeit unvermeidlich zum Herde politischer Parteiung; bei den Jahresfesten dieser Ackerbaugesellschaft versammelten sich alle Elemente der Opposition, außer der Partei des rohen Umsturzes. Schon besprach man den Plan, die Gesellschaft über die ganze Halbinsel auszudehnen und ihr die soziale Erhebung der ackerbauenden Klassen Italiens zur Aufgabe zu stellen; und schon führte die trockene Geschäftsfrage, ob der Schwerpunkt des Vereins in der Hauptversammlung oder in dem Vorstande liegen solle, zu der ersten leisen Trennung der politischen Parteien. Cavour und die Aristokraten sprachen für den Vorstand, der gewandte Demokrat Lorenzo Valerio verfocht auch in dem Vereine das Recht des souveränen Volkes. Noch deutlicher war der politische Zweck der neuen Kleinkinderbewahranstalten, welche, von dem wackeren Abbate Aporti gegründet, die Jugend den Händen der Jesuiten entziehen sollten. Cavour trat aus dem Vorstande zurück, weil er fürchtete, sein mißliebiger Name werde den Haß der Regierung auf das Unternehmen lenken. Währenddem hetzte und klagte am Hofe die österreichische Partei. Wie strahlte der alte Graf Cavour, als er dem Könige das neue Spottlied der Liberalen zustecken konnte: »Wanken und gaukeln, schwanken und schaukeln, das Schaukeln ist süß!« Der Sohn aber verkehrte fleißig mit dem patriotischen Grafen Petitti, dem alten noch immer nicht machtlosen Vertrauten des Fürsten, und fehlte selten in den Versammlungen des liberalen Adels bei dem stolzen hochsinnigen Grafen Sclopis. Karl Albert verfiel dem Schicksal aller Geheimniskrämer, er wurde mit seinen eigenen Waffen geschlagen: die Patrioten brachten aufregende, auf den Stolz des Fürsten klug berechnete Artikel in ausländische Zeitungen, spielten sie dem Könige in die Hände; so ward er getrieben, während er alles zu leiten wähnte.

Bald nach der Thronbesteigung des neuen Papstes begannen die Höfe von Turin, Florenz und Rom zu wetteifern um die Palme der Volksgunst. Preußens Vorbild reizte nochmals zur Nachfolge: der Plan eines italienischen Zollvereins wurde zwischen den drei Reformstaaten lebhaft verhandelt, Cavours sachverständiger Rat von den Patrioten oftmals eingeholt. Schon hofften viele, diesen italienischen Zollverein dereinst mit dem deutschen zu verbinden. Aber die Aufhebung der Zollschranken mußte unfruchtbar bleiben in einem verwahrlosten Lande, dem noch die Elemente moderner Verkehrsmittel mangelten. Das Eisenbahnnetz Italiens bestand aus den kurzen Linien Mailand-Monza und Neapel-Castellamare. Mit überschwenglichen Hoffnungen wendeten sich die Patrioten diesen Gedanken zu; Graf Petitti gab ein gediegenes Buch über die Frage heraus. Man gedachte die Alpen und die Apenninen zu überschienen und dergestalt die Überlandspost über Genua zu leiten, Triest, das Schoßkind des Wiener Hofes, durch den ligurischen Hafenplatz zu überflügeln. Il n'y a plus d'Alpes! hieß das zuversichtliche Schlagwort des Tages. Unter solchen Eindrücken schrieb Cavour die bedeutendste seiner Schriften, die Abhandlung über die italienischen Eisenbahnen (in der Revue nouvelle 1846). Die Erfindung der Dampfmaschinen ist ihm ein Ereignis, das wir mit seinen unermeßlichen Folgen ebensowenig ganz überschauen können, wie den Buchdruck oder die Entdeckung von Amerika. Die Eisenbahnen werden nicht bloß den Reichtum der hochgesitteten Völker erhöhen, sondern auch die Erniedrigung der zurückgebliebenen Zweige der großen christlichen Familie aufheben; hierdurch erscheinen sie als »ein Werkzeug der Vorsehung«. Nun entwirft er in großen Zügen ein Bild von der dem modernen Verkehr eröffneten Halbinsel: Turin soll eine Weltstadt, ein Platz der Vermittlung zwischen Nord- und Südeuropa, Brindisi wieder wie in den Tagen der Römer der Schlußpunkt der via Appia, der glänzende Hafenplatz werden für den morgenländischen Handel. Auch die Eisenbahn zwischen Wien und Mailand ist willkommen; hinweg mit dem törichten Bedenken, daß sie dem Wiener Hofe bei einem Aufstande zu statten kommen werde. »Die Zeit der Verschwörungen ist vorüber. Die Befreiung der Völker kann weder durch Umtriebe noch durch eine Überraschung erreicht werden, sie ist das notwendige Ergebnis der fortschreitenden christlichen Gesittung geworden.« Höher als der volkswirtschaftliche Segen der Eisenbahnen steht ihre politische Bedeutung, sie sollen mithelfen, die Unabhängigkeit der Nation zu erobern, ein lebendiges Gemeingefühl im Volke, wachzurufen. »Das Leben der Masse bewegt sich in einem engen Ideenkreise. Die edelsten und erhabensten Ideen aber, welche sie erringen kann, sind nächst der Religion die Gedanken des Vaterlandes und des Volkstums. Ohne diese kann das Gefühl der persönlichen Würde nur in einzelnen ausgezeichneten Menschen bestehen.« So gibt der trockene Stoff dem Grafen Anlaß, den ethischen Grundgedanken seiner Politik auszusprechen. Nicht als eine Machtfrage erscheint ihm die Freiheit Italiens, sondern als ein sittliches Gebot: es gilt, die Seele der Nation mit einem neuen reicheren Lebensinhalt zu erfüllen. Der König erschrak über die kühnen Worte, befahl dem Verfasser eine längere Reise außerhalb Piemonts anzuraten, ließ sich mühsam beschwichtigen. Noch wurden mehrmals die friedlichen Bürger von Turin, wenn sie, allesamt mit der blauen Kokarde des königlichen Hauses geschmückt, abends auf den Straßen sich versammelten, durch rohe Angriffe der bewaffneten Macht auseinander gesprengt. Der Offizier, der zum letzten Male diesen häßlichen Auftrag vollführte, war jener General Bava, der einige Monate später die dreifarbigen Banner Italiens über den Tessin führen sollte. Es war das letzte Aufflackern despotischer Launen, das alte System lag im Sterben. Die Sprache des österreichischen Gesandten lautete schroffer von Tag zu Tag. Bereits war man im Zollkriege mit dem Nachbarlande; unter frivolen Vorwänden verbot Österreich die Einfuhr piemontesischer Weine, die Patrioten aber veranstalteten Sammlungen, um den Winzern über die Not hinwegzuhelfen. Wie die Dinge lagen, war ein Zugeständnis an die Liberalen unvermeidlich, wenn der König im Kampfe mit Österreich auf sein Volk zählen wollte. Auch Lord Palmerston ließ zum Einlenken mahnen; der König von Preußen aber schrieb kummervoll einem Vertrauten: »der englische Gesandte in Piemont scheint mir, um recht höflich zu sein, zum Tollhaus reif, überreif.« Endlich wurden die Minister Villamarina und La Margherita entlassen, und am 29. Oktober 1847 begrüßte unermeßlicher Volksjubel die »Reformen« Karl Alberts. Gewählte Gemeinderäte sollten fortan an der Spitze der Gemeinden stehen, die mißhandelte Presse gegen die Willkür der Zensoren gesichert werden durch ein nach Preußens Muster eingerichtetes Oberzensurkollegium. Damit war der offenen gesetzlichen Opposition eine Bahn geöffnet. Der König hatte die Liebe seiner Piemontesen wiedergewonnen, doch nicht die Treue der Radikalen von Genua, nicht das Vertrauen der Italiener.

 

Mit dem Tage der albertinischen Reformen ward Cavour ein Politiker von Beruf. Überall in den Staaten der Reform trieb die junge Hoffnung neue Zeitschriften hervor. Wie La Farina in Florenz das »Morgenrot« der Freiheit mit seinem Blatte l'Alba begrüßte, so gründete der liberale Adel Piemonts eine Zeitung unter dem verheißenden Namen il Risorgimento. Ihr Programm lautete: »Unabhängigkeit Italiens, Eintracht zwischen den Fürsten und den Völkern, innere Reformen, Gründung eines italienischen Fürstenbundes.« Zu den alten Freunden Balbo, Santa Rosa, Boncampagni traten bald neue Genossen hinzu, vor allen der gelehrte Castelli, der treue Mann, der die staatsmännische Kraft des vielgescholtenen Grafen rasch erkannte und ihm fortan ein unerschütterlich gleichmütiger Tröster blieb, eine feste Stütze in den Tagen des Kampfes. Noch lagen die Parteien unschuldig, unklar durcheinander, wie in Preußen zur Zeit des Vereinigten Landtags; auch Cavour wiegte sich noch in holden Täuschungen. Voll Hoffnung schaute er auf den Klerus, welcher – Dank sei dem sommo Pio – auf die Gewissensfreiheit und alle anderen großen Anliegen der modernen Welt bereitwillig eingeht. Nur die Besitzenden hegen die liberale Bewegung, die Massen stehen gleichgültig abseits; der unruhigen Köpfe sind wenige, und selbst Valerios Concordia unterstützt die wohlmeinenden Absichten der Regierung so sanft und achtungsvoll wie nur unser Risorgimento.

Bei solcher Stimmung der Gemüter schien dem Grafen eine demokratische Revolution aussichtslos, nur die eine Gefahr bedenklich, daß die hochgehende nationale Leidenschaft den Kampf mit Österreich allzufrüh eröffne, den friedlichen Ausbau der freien Institutionen unterbreche. Um dies zu verhindern, wollte er um die Fahne des Risorgimento eine gemäßigte liberale Partei versammeln. Er traf als Journalist sehr glücklich den Ton der ruhigen Belehrung, den einzig fruchtbaren für eine junge Presse und ungeschulte Leser, schilderte sorgfältig und mit vernichtender Kritik die Armseligkeit der Politik Guizots. Während an Österreich kein Wort der Ermahnung verschwendet wurde, versicherte das Risorgimento den italienischen Höfen geflissentlich seine vertrauensvolle Treue; auch das letzte der größeren Kabinette der Halbinsel sollte für die Sache der drei Reformstaaten gewonnen werden. Noch im Dezember 1847 ging, von Cavour mit unterzeichnet, eine Petition nach Neapel ab, welche den König Ferdinand beschwor, »eine Politik der Voraussicht, der Verzeihung, der Zivilisation und der christlichen Barmherzigkeit« einzuschlagen – das alles in dem mystischen Stile, welchen Pius IX. und Gioberti in diesen neoguelfischen Tagen großgezogen hatten. Aber mit jedem Schritte vorwärts auf dem Wege praktischer Politik trat der verborgene Gegensatz der Parteien schärfer hervor. Schon murrte Balbo über den jungen Grafen, der unentwegt dem konstitutionellen Staate zusteuerte; »der Heißsporn,« rief er aus, »wird das Werk unserer Mäßigung über den Haufen werfen.« In den Spalten der Konkordia erklang immer neidischer der Adelshaß; umsonst hatten Azeglio der Edelmann und Farini der Bürgerliche versucht, die grollende Verstimmung des lange zurückgesetzten Bürgertums von Turin zu beschwichtigen. Bald offenbarte sich auch die fundamentale Verschiedenheit der Staatsauffassung, welche Liberale und Demokraten zu allen Zeiten trennen wird: der Rationalismus der Konkordia sah nur Freiheitsfragen, den Patriziern des Risorgimento galt Macht und Sicherheit des Vaterlandes als das Höchste.

Der Starrsinn Österreichs trieb die Patrioten weiter und weiter. »Auch Karl Albert ist den Fesseln der Volksherrschaft verfallen,« klagte Fürst Metternich, »nur der König von Neapel steht noch aufrecht!« Kurz nachher gab die Hofburg ihre Antwort auf die Turiner Reformen: sie schloß mit Modena den berufenen Dezembervertrag, der ihr gestattete, jederzeit nach Belieben Truppen in den Vasallenstaat zu werfen. Die feilen Federn der k.k. Presse leugneten noch nach Jahren die feindselige Bedeutung des Vertrages, dem auch Parma bald beitrat. Fürst Metternich aber schrieb insgeheim befriedigt dem Grafen Trauttmansdorff in Berlin: »wir haben die Form eines Verteidigungsbündnisses gewählt, um das von den Kabinetten so streng verdammte Wort Intervention zu vermeiden.« Mit Recht erblickten fortan die Patrioten schon in dem Dasein der beiden verfaulten Kleinstaaten der Emilia eine nationale Schmach. So war Piemonts Grenze vom Nordosten bis zum Süden durch österreichische Provinzen umklammert; an jedem nächsten Tage mochten die weißen Röcke von den Gipfeln des Apennins in die unbeschützten Häfen Liguriens niedersteigen. Das Volk in den Städten der Lombardei und Venetiens zitterte der Stunde der Befreiung entgegen; schon war Blut geflossen im Straßenkampfe. Verheißungsvoll klang aus Turin und Florenz, aus Rom und Bologna über die Grenze hinüber das Lied: O ihr geliebten Brüder, auch euer Tag wird tagen!

In Genua wogte eine ziellose unstete Bewegung; der Stadtrat beschloß endlich, den beiden lautesten Schlagworten des Tages gerecht zu werden, schickte Abgesandte nach Turin, um die Bildung einer Nationalgarde und die Vertreibung der Jesuiten von dem Könige zu erbitten. Man hoffte auf den Beistand der Turiner Presse. Doch die Männer des Risorgimento waren nicht gemeint, so unreife Volkswünsche, die in einem Atem zu viel und zu wenig verlangten, zu unterstützen. Als am 6. Januar 1848 die Vertreter der Presse im Europäischen Hofe zusammentraten, da erhob sich Cavour im Namen der Genossen: Wozu eine Nationalgarde, die in einem Lande ohne Parlament nur zu Wirren führen kann? Warum den König reizen durch Wünsche, die seine kirchliche Gesinnung beleidigen? Will man bitten, so gehe man weiter und fordere – eine Verfassung oder wenigstens eine Consulta! Cavour hat das Verlangen nach einer Verfassung zum ersten Male öffentlich ausgesprochen; aber er hat nicht, wie gemeinhin erzählt wird, seine eigenen Freunde durch einen genialen Einfall überrascht. Die Männer vom Risorgimento waren einig; Cavour sprach lediglich in ihrem Namen. Die Biographien von Bonghi, de la Rive u.a. haben ihre Nachrichten über den Vorfall ersichtlich aus zweiter und dritter Hand. Auch Fr. Predari (i primi vagiti della libertà italiana in Piemonte S. 247 ff.) war freilich in der Europa anwesend, doch von den Beratungen in den Redaktionszimmern des Risorgimento nicht unterrichtet. Der wahre Hergang ergibt sich unzweifelhaft aus dem Berichte, den der Augenzeuge Santa Rosa an Gioberti erstattete (mitgeteilt in der vita di Pietro di Santa Rosa vom Grafen Saraceno S.158 ff.). Es war der Rat eines Staatsmannes. Denn trat der König, als der Erste unter den Fürsten der Halbinsel, zu dem konstitutionellen System über, so ward er das Haupt Italiens, das tiefe Mißtrauen der Nation mit einem Schlage beseitigt. Aber die unfertige öffentliche Meinung verstand den Ernst der Stunde nicht, selbst die Journalisten in der Europa blieben uneins. Lorenzo Valerio widersprach: sollte ein Edelmann liberaler sein als die Demokratie? und welcher Fallstrick mochte sich nicht hinter dem kühnen Vorschlage des Grafen verbergen?

Nach wenigen Tagen war der vermessene Gedanke der Männer des Risorgimento ein unabweisbares Gebot der Not.

Am 12. Januar wehte die Trikolore auf den Wällen von Palermo. Am 29. brach die letzte Hoffnung des Fürsten Metternich zusammen, der bourbonische Despot versprach seinem Volke eine Verfassung; zwei Tage darauf folgte der Großherzog von Toskana dem Beispiel des Königs Ferdinand. Cavour warf unter dem Rufe »es lebe die Verfassung« jubelnd den Hut in die Luft, als ihm ein junger Freund die Nachricht aus Neapel brachte, und schrieb nun in das Risorgimento hoffnungsfreudige Worte, die den persönlichen Gefühlen des zaudernden Königs galten. Was sei denn zu fürchten von dieser maßvollen Bewegung, die sich des Segens der Kirche erfreue? Wir haben nicht, wie einst die Franzosen, furchtbare soziale Fragen zu lösen. Wir treten nicht, wie die Spanier, als ein unerfahrenes Volk, von Parteien zerrissen, in diese neue Zeit. Bei uns besteht nur eine mächtige Partei, die nationale; sie hegt »ein unbegrenztes Vertrauen in die Tugend, die Einsicht, die Hochherzigkeit unserer Fürsten«. In denselben Tagen wagte der Turiner Stadtrat, von Santa Rosa geleitet, den König um die Verleihung einer Verfassung zu bitten. Doch erst mußte ein Bischof dem Verzweifelnden geistlichen Trost spenden, ihm beweisen, daß ein unsittliches Versprechen nicht binden könne; da endlich, nach einer Nacht voll fürchterlicher Kämpfe, entschloß sich Karl Albert, sein dem Wiener Hofe gegebenes Wort zu brechen. Am 7. Februar verhieß er die Verfassung, einige Wochen später bildete Cäsar Balbo das erste konstitutionelle Ministerium. So hatte die Charte des Julikönigtums die Runde gemacht durch Italien, einen Augenblick bevor sie in ihrer Heimat unterging. Cavour versuchte im Risorgimento, die Grundsätze des neuen Staatsrechts den unkundigen Lesern zu erklären. Er verwirft das allgemeine Stimmrecht als den verdächtigen Liebling der extremen Parteien. Das Zweikammersystem ist nötig, nicht um das Gleichgewicht zu erhalten, wie die Doktrinäre sagen, sondern um die Bewegung, die Tatkraft des Staates zu erhöhen. Nur ein Senat entspricht der demokratischen Gesellschaft Italiens; eine erbliche Pairie künstlich zu schaffen, wäre »der Gipfel der Unvernunft«.

Den Piemontesen war nicht vergönnt, sich friedlich einzuleben in die neue Freiheit. Die Windsbraut der Revolution warf den Thron des Bürgerkönigs und das alte Österreich zu Boden. Auf die Kunde von dem Sturze Metternichs brach der Aufstand in Mailand aus. Ein großer Augenblick, wie er den Deutschen im Frühjahr 1813 winkte, schien für Italien gekommen, und wieder war es Cavour, der den Piemontesen die Zeichen der Zeit deutete. Am 23. März schrieb er in seine Zeitung die majestätischen Worte: »Die große Stunde für die savoyische Monarchie hat geschlagen, die Stunde der kühnen Entschlüsse, die Stunde, von der das Dasein der Reiche und das Schicksal der Völker abhängt. Wir Männer von kaltem Verstande, gewohnt mehr auf die Gebote der Vernunft als auf die Wallungen des Herzens zu hören, wir wägen heute sorgsam das Gewicht eines jeden unserer Worte und bekennen frei: ein einziger Weg ist offen für die Nation, für die Regierung, für den König – der Krieg, der Krieg augenblicklich und ohne Verzug!«

Das Gestirn, das der König in den Träumen langer Jahre erharrt, war aufgestiegen. Karl Albert überschritt den Tessin, und schon sein Aufruf an die Lombarden gab Zeugnis von den Täuschungen, welche die hochherzige Politik Cäsar Balbos beherrschten und dem gerechten Kriege ein jammervolles Ende bereiten mußten. Der König hoffte »auf den Beistand des Gottes, der unserem Lande einen Pius geschenkt hat und heute Italien durch wunderbare Ereignisse in den Stand setzt, aus eigener Kraft zu handeln«. Ein Feldzug von wenigen Monaten lehrte, daß das stolze l'Italia farà da sé eine Unmöglichkeit, und selbst das zerrüttete Österreich der Wehrkraft Italiens vollauf gewachsen war. Noch früher wurden die Hoffnungen zu Schanden, die Italien auf seinen Kirchenfürsten gesetzt; durch die Allokution vom 29. April legte der Papst Verwahrung ein gegen den Mißbrauch, der mit seinem Namen getrieben werde. Der Statthalter Gottes, der Friedensfürst durfte den Krieg gegen ein katholisches Volk nicht aufnehmen, kaum ihn mit seinem Segen begleiten. Er hatte längst im stillen gegen die von den neuen Verfassungen gewährte Gleichstellung der Glaubensbekenntnisse protestiert und den Höfen erklärt, daß er nur an einem Verteidigungsbündnis teilnehmen könne; jetzt fand er den Mut, sich öffentlich zu seiner Pflicht zu bekennen. Nach dieser heilsamen Enttäuschung erschien das Papsttum wieder in seiner wahren Gestalt, als die kosmopolitische Macht, die den Gedanken der Nationalität nicht fassen kann. Die Hoffnungen der Neoguelfen lagen platt am Boden; in der stillen Arbeit der folgenden Jahre sollte dann der gesunde weltliche Kern, der in den neoguelfischen Lehren lag, aus der geistlichen Hülle herausgeschält werden. Für den Augenblick wurde der Abfall des Papstes ein Anlaß des Verderbens: er entfesselte die wilden Kräfte des Radikalismus.

Das Idealbild der politischen Reife, der maßvollen Besonnenheit der Italiener, das in den Träumen der Patrioten gelebt, erwies sich bald als ein Wahn. Ein so krauses Durcheinander von föderalistischen und unitarischen, republikanischen und monarchischen Bestrebungen, wie es nun hereinbrach, kam selbst der Nüchternheit Cavours unerwartet. Noch bestand kaum der Schatten eines festen Planes für die Neugestaltung der Halbinsel, kaum ein Anfang ernsthafter Parteibildung; selbst das unauflösliche Band, das die Höfe, den Turiner allein ausgenommen, an die Interessen der Hofburg kettete, war der Nation noch verborgen. In solchem Gewirr fand das Toben der Demagogen bereiten Boden; bald flog der Ruf al tradimento! betörend und verwirrend durch das Land. Unter dem wilden Hafenvolke von Genua und Livorno schlug Mazzini sein Lager auf, selbst die ernsten ruhigen Männer von Piemont unterlagen der Herrschsucht seiner Abgesandten. Was dies Wüten der Demagogen für die Einheit der Nation bedeutete, das sagte Giusti schon im Herbst mit männlichem Spott voraus: »Siebenhundert Republiklein reißen unser Land in Stücklein, recht nach Hahnemanns System. Schneiden wir das Brot beizeiten, dann wird's um so leichter gleiten in des Österreichers Maul!« Der Radikalismus fand seinen natürlichen Bundesgenossen in dem Munizipalgeist der großen Städte, seinen Todfeind in dem hochherzigen Monarchen, der das alte Wappenschild des Hauses Savoyen soeben in die neue Trikolore Italiens einfügte und mit seinen Söhnen die Schlachten seines Landes schlug. Dem tapfern Straßenkampfe der Mailänder war allzurasch der Sieg gefolgt; das trunkene Volk wähnte den Krieg beendet, da er kaum begann. Karl Albert erschien den lauten Rednern, die in Klubs und Kaffeehäusern ihr prahlerisches Handwerk trieben, als ein Unberufener, der sich in fremdem Neste wärme. Jede Waffentat der Piemontesen war Verräterei, Mazzini verdammte feierlich »den königlichen Krieg«. Die einzig mögliche Politik, welche die verworrene Bewegung zum Ziele führen konnte, ward als Albertismus verhöhnt und verfolgt.

Cavour und wer sonst in diesem Taumel die politische Denkkraft sich bewahrt hatte, hoffte auf ein subalpinisches Königreich bis zur Adria. In Briefen und Zeitungsartikeln verlangte er unablässig die rasche bedingungslose Einverleibung der Emilia und der österreichischen Provinzen. Die idealistische Unklarheit, das unentschlossene Zögern der Politik Balbos entging seinem Tadel nicht, doch jetzt schien ihm nicht an der Zeit, das Ansehen der Krone durch systematische Opposition zu schwächen. Am allerwenigsten wollte der stolze Piemontese die Ausfälle gegen sein Heimatland ertragen, welche als das Probstück der Gesinnungstüchtigkeit galten. Ein Platz im Parlamente ward ihm erst bei den Nachwahlen unter lebhaftem Widerstand erobert, und bald galt er der Demokratie als das Haupt der Partikularisten Piemonts. Als ein radikaler Genuese sich eine hämische Bemerkung über die laue Freiheitsliebe der Piemontesen erlaubte, da sprang der Graf zornig auf: »Die Piemontesen beweisen ihren Freisinn auf dem Schlachtfelde; ich verlange, daß der Verleumder zur Ordnung gerufen werde.« Die Presse der Radikalen spottete mitleidsvoll über diese komische Person, den Mylord Camillo, der sein armes Wissen allein aus ausländischen Zeitungen schöpft und den Abgott der Demokratie, Vincenzo Gioberti, zu bekämpfen wagt: kommunistisch nennt er jedes Gesetz, das den Armen nicht neue Lasten zum Vorteile der Reichen auflegt, die Blöße seines Geistes verdeckt er durch triviale Späße und zahllose Körner nichtattischen Salzes! Mehrmals mußte Cavour den schwachen Präsidenten erinnern, daß er sein Ansehen gebrauche gegen die lärmenden Galerien: »wer mich unterbricht, beleidigt die Kammer, nicht mich!« Es schien, als ob der stolze Mann seine Lust daran fände, die Wut des unverständigen Haufens herauszufordern. Er scheute sich nicht, die Progressivsteuer, den Lieblingstraum der begehrlichen Massen, als einen reaktionären Gedanken zu entlarven, denn sie hindere die Kapitalansammlung und damit jeden wirtschaftlichen Fortschritt; er wünschte spöttisch der Demokratie Glück zu der Freundschaft der Ultramontanen, und wenn die Linke wider den Volksfeind murrte, sagte er wohl gleichmütig: »ich werde Ihnen meine Behauptung mit mathematischer Sicherheit beweisen.« Und doch empfand er tief, was die Volksgunst in einem freien Staate gilt: der Vorschlag Santa Rosas, Cavour mit der Leitung der Finanzen zu betrauen, blieb unausführbar bei dem Hasse, der auf diesem Namen lastete. Auch im Parlamente sprach der Graf die ersten zwei Jahre über nur selten und ohne starke Wirkung: kaum daß die Versammlung bei Finanzfragen ihrem ersten Fachmanne einige Aufmerksamkeit schenkte. Unterdessen war das Ministerium Balbo zurückgetreten, da die doktrinäre Demokratie des Parlamentes zwar die Vereinigung der Lombardei mit Piemont, aber zugleich die Einsetzung einer souveränen Constituante in Mailand beschloß. Zur selben Zeit brach das Verhängnis über den König von Italien herein. Sein tapferes Heer erlag der Feldherrnkraft Radetzkys, und als der Geschlagene in Mailand ankam, entlud sich die Unzucht der Demokratie in scheußlicher Roheit: der rasende Pöbel bedrohte das Leben des Königs, der sein alles für Italien hingegeben, er allein handelnd inmitten der Schwätzer. Und welch eine entsetzliche Verwirrung nun, da ein Waffenstillstand dem Kampfe ein Ende machte! Die Ehre des königlichen Hauses fast erliegend unter dem Hohngelächter der Fremden, leider auch der Deutschen – die Blüte der Finanzen für immer vernichtet – das Heer entmutigt und nahezu aufgelöst – der Adel empört über jene ruchlosen Auftritte in Mailand, wie über die Frechheit der Demagogen daheim, gern bereit, um jeden Preis den aussichtslosen Krieg zu beendigen – in Genua die Herrschaft der Klubs, überall in den Massen eine unbeschreibliche Erbitterung. Zweitausend Flüchtlinge aus der Emilia und der Lombardei forderten gebieterisch die Erneuerung des Krieges, schürten den Haß wider den königlichen Verräter. Es war, als fühlte die Nation die Wahrheit der vorwurfsvollen Worte des Königs: »Italien hat der Welt noch nicht bewiesen, was es für seine Freiheit zu leisten vermag« – als wollte sie die Stimme ihres Gewissens durch wütendes Geschrei übertäuben. Cavour hatte in dem Treffen von Goito den geliebtesten seiner Neffen verloren; der durchlöcherte Waffenrock des Toten hing fortan über dem Schreibtisch des Oheims, mahnte ihn täglich an entschwundene Freuden und an die Stunde der Vergeltung. Er selbst war nach jenem Unglückstage als Freiwilliger unter die Fahnen geeilt, und stemmte nun seine ganze Kraft wider die hereinbrechenden Wogen des Radikalismus, er wurde die mächtige Stütze, der beinah einzige unermüdliche Verteidiger des neuen gemäßigt-liberalen Kabinetts Perrone-Pinelli.

Während die Klubs wider die Feigheit der Regierung donnerten, Brofferio unter brausendem Jubel sein Kraftwort »Verwegenheit, Verwegenheit, Verwegenheit!« in die Massen schleuderte und ein Konvent, eine italienische Constituante, Tausenden als der einzige Weg der Rettung galt, zeichnete das Risorgimento mit unbarmherziger Nüchternheit den despotischen Charakter der neufranzösischen Freiheit. Am 16. November schildert Cavour die »Männer der energischen Maßregeln, vor denen wir nur elende Gemäßigte sind«, also: »Setzet euch einen Plan in den Kopf, bildet euch eine Kette von willkürlichen Voraussetzungen, löset sie ab von der Wirklichkeit, die sie umgibt und ermäßigt, verachtet die Hindernisse, erbost euch darüber, schlagt sie nieder und bahnt euch einen Weg hindurch – das ist das ganze System in seiner Nacktheit; es ist ein Zug des menschlichen Übermuts, dem die Natur beständig die augenblickliche Unmöglichkeit oder die Strafe baldiger Enttäuschung entgegenstellt. – Die Natur hat gewollt, daß das menschliche Herz einen Schauder empfindet vor vergossenem Blute und sich empört wider den Mörder. Marat und Robespierre dagegen glaubten ein großes revolutionäres Mittel entdeckt zu haben ... Es fielen Tausende von Köpfen, und was erntete die französische Revolution davon? Das Direktorium, das Konsulat, das Kaiserreich!« – Aus jedem Worte klingt hier die sittliche Entrüstung des ehrlichen Mannes heraus, aber der Politiker erträgt nicht lange den pathetischen Ton des Sittenpredigers; ihm gilt es, die Unfruchtbarkeit, den Mißerfolg der politischen Gewalttätigkeit zu zeigen. Er erweist sie an Napoleon, »dem großen Meister der energischen Maßregeln,« und vor allem an der Februar-Republik. »Warten wir noch einen Augenblick, und wir werden den letzten Erfolg der revolutionären Mittel sehen: Ludwig Napoleon auf dem Throne!« Wie lästerlich mußten solche Aussprüche prophetischer Verstandesklarheit dem phantastischen Führer des Klubs der Concordia klingen, jenem Gioberti, der noch im Jahre 1850 an die Ewigkeit der französischen Republik glaubte!

Der Graf war gerichtet in den Augen der Demokratie, da er auch in der auswärtigen Politik die Sprache des Verstandes redete. Der neidische Kleinsinn, der das freie Frankreich gegen Piemont beseelte, entging Cavours Augen nicht; wollte doch die französische Republik nicht einmal die Sicherheit des altpiemontesischen Gebiets verbürgen, als Karl Albert im Herbst mit dem Plane umging, Modena und Parma vor den Österreichern zu schützen! Aber da die Vermittlung der Westmächte von dem Turiner Hofe angenommen war, so konnte nur die Torheit jetzt durch plötzliche Erneuerung des Krieges die einzigen nicht schlechthin feindlich gesinnten Kabinette beleidigen. Cavour riet den Erfolg der Vermittlung abzuwarten und der Regierung zu überlassen, wann sie den Wiederbeginn des Kampfes für geboten halte. Die Strafe ereilte den Feigling schnell: bei den Neuwahlen im Januar 1849 triumphierte die lärmende Mittelmäßigkeit, Cavour unterlag einem dunklen Ehrenmanne Pansoya, der auf das Wahlprogramm Giobertis schwor. Auch das Kabinett Perrone-Pinelli war gefallen, Gioberti bildete eine demokratische Regierung, und nun erfolgte, was gegen alle Regel läuft: der hochgesinnte doktrinäre Mystiker bewahrte als leitender Staatsmann mehr praktisches Geschick denn vordem als Parteiführer. Er sah voraus, daß die Frevel des roten Radikalismus die Überflutung der Halbinsel durch die Österreicher herbeiführen mußten, und bot daher dem Papst und dem Großherzog von Toskana die Hilfe Piemonts an: italienische Truppen sollten die Ordnung in Rom und Florenz herstellen, die Verfassungen retten, die fremden Heere fernhalten. Cavour bewies jetzt, wie ernst er als ein echter Liberaler das Wort nahm »measures not men«. Er ahnte wohl, daß der Papst und der Großherzog lieber den Fremden als dem König von Italien die Herstellung ihrer Macht verdanken würden, doch er wollte diesen letzten Versuch zur Rettung der Unabhängigkeit der Nation nicht aufgeben, er verteidigte laut die italienische Politik seines Gegners. Als auch diese Hoffnung zerbrach, als Giobertis Pläne an dem bösen Willen der Höfe von Florenz und Rom zu Schanden wurden, als die demokratische Regierung abtrat und die Helden der Klubs ihren weiland verherrlichten Führer mit Füßen traten, da war es wieder Cavour, der sich allein des gestürzten Mannes ritterlich annahm. Er mochte dem Denker nicht grollen, dessen beredte Feder einst die Ideen des primato d'Italia verkündet hatte.

Der Vermittlungsversuch der Westmächte war gescheitert. Ohne Bundesgenossen, mit seinem geschwächten Heere sah Piemont einer gewissen Niederlage entgegen; und doch drängten gebieterische Mächte zur Wiederaufnahme der Waffen – vor allen der König selbst. Dem düsteren, für das Unglück geschaffenen Manne erwachten in diesen argen Tagen alle edlen Kräfte der Seele. Er hatte die Huldigung empfangen von den Lombarden und wollte noch einmal seine Königspflicht üben, seine schirmende Hand ausstrecken über das mißhandelte Land; ein gläubiger Fatalist dachte er in Gottes Namen zu siegen oder zu fallen. Und wo war sonst noch ein Ausweg aus der entsetzlichen Zuchtlosigkeit der Geister? Nur der Ernst des Krieges, nur der Anblick der Taten des Königs konnte das wüste Geschrei wider den verräterischen Hof zum Schweigen bringen. Die Lage, dem aus ruhiger Zeit Zurückschauenden schier rätselhaft, drängte den Lebenden ihre Forderungen unabweisbar auf; selbst der Adel, auch der strengkonservative Graf Revel, auch Cavour wünschte jetzt den Krieg herbei als den Herold des inneren Friedens. So begann zum zweiten Male der ungleiche Kampf. Die Schlacht von Novara warf Italien zu Boden; der König legte seine Krone nieder, um seinem Lande einen milderen Frieden zu verschaffen.

Ein dumpfes Schweigen lag auf der Hauptstadt, als der neue König einzog. Ein Feldzug von fünf Tagen hatte das Heer abermals der Auflösung nahegebracht, den Staatsschatz so gänzlich erschöpft, daß in den nächsten Monaten der reiche Finanzminister große Summen aus seinem eigenen Vermögen entnehmen mußte, um die Staatsgläubiger zu befriedigen. Und selbst diese schrecklichen Erfahrungen waren an der verhärteten Parteiwut der Radikalen spurlos vorübergegangen. Mit lauter Schadenfreude begrüßten die Klubs von Genua die Niederlage von Novara. »Italien ganz frei oder wenigstens ganz geknechtet!« so lautete der neue Orakelspruch der Teodemocrazia Mazzinis. Durch Überrumpelung und Waffengewalt mußte die unbotmäßige Hafenstadt dem Staate wiedergewonnen werden. Und bestätigte nicht jeder Auftritt in dem letzten Akte der italienischen Tragödie die Weissagungen des radikalen Sehers? War »die Nichtigkeit und vollendete Impotenz« des konstitutionellen Piemont, die Mazzini so oft gegeißelt, nicht durch die klägliche Kriegführung von Novara erwiesen? Wie glorreich erschienen neben der Niederlage des königlichen Heeres die letzten verzweifelten Kämpfe der Sizilianer, die heldenhafte Ausdauer der Republikaner von Rom und Venedig! Während also das Schicksal selber die Nation in ihren republikanischen Träumen zu bestärken schien, hielt eine Handvoll beherzter Männer unentwegt den Glauben fest an die Zukunft des Hauses Savoyen. Azeglio schrieb bald nach dem Tage von Novara sein hochgemutes Wort nous recommencerous! – und Cavour richtete sich auf an der Erinnerung, daß einst nur vierzehn Jahre nach der Zerstörung Mailands die Schlacht von Legnano geschlagen ward.

Sobald man anfing, in sich zu gehen, das Dauernde und Echte aus den Wirren des letzten Jahres auszuscheiden, blieb doch ein großer Gewinn für die gedemütigte Krone zurück. Die Lage war geklärt, die alten kindlichen Hoffnungen auf die italienische Gesinnung der anderen Höfe von Grund aus zerstört. Kroaten hatten das alte Regiment in Toskana und der Emilia wiederhergestellt, durch schweizerische Söldner war Sizilien den Bourbonen wieder unterworfen, der Papst hatte Zuflucht gesucht bei jenem Ferdinand, den er vor einem Jahre noch einen Schurken genannt, den Kirchenstaat zurückempfangen aus den Händen der Franzosen und der Österreicher. Nur auf dem Königsschlosse von Turin wehte noch die Trikolore, nur dort lebte noch ein italienischer Herrscher, der sich nicht losgesagt von seinem Volke. Turin war die Hauptstadt der Italiener, bevor es die Hauptstadt Italiens ward. Kraft des Friedensschlusses nahm Piemont die vertriebenen Lombarden als Bürger auf, und wenn von den Flüchtlingen einige den inneren Unfrieden, den Groll der Presse schürten, so traten andere als Apostel der italienischen Bildung in die Lehranstalten ein: die Verschmelzung des Grenzlandes mit der Kultur Italiens wurde jetzt erst ganz vollendet. Als die gehässigen Anschuldigungen, die jeder Niederlage folgen, endlich schwiegen, harte Kriegsgerichte der erbitterten öffentlichen Meinung ein Opfer dargebracht hatten, da ward man doch endlich dessen inne, wie oft das schlecht geleitete Heer mit dem Heldenmute der Väter gewetteifert, und mit wie gutem Grunde der alte Radetzky gesagt: »diese Teufel von Piemontesen sind immer dieselben.« Il nostro glorioso esercito war bald auf aller Lippen, Schriften und Bildwerke verherrlichten die Tage von Goito und Governolo. Dann kam die Kunde von dem Ende des Königs von Italien: ihm war das Herz gebrochen durch das Unglück seines Vaterlandes, die letzten Wünsche des landflüchtigen Mannes galten der Heimat, er hoffte, noch einmal als Soldat für Italien zu kämpfen. Vor dem Adel dieses Todes verstummte die Wut der Parteien, ein Parlamentsbeschluß gab dem Könige den Namen des Großherzigen; und als die Leiche beigesetzt ward in jener stolzen Kuppelkirche der Superga, die von dem Gipfel der Collina weithin »das Land am Fuß der Berge« überschaut, da strömten die andächtigen Wallfahrer herbei, und um den Sarg erklangen die Gebete und Schwüre von Tausenden.

Der blinde Haß der Österreicher hatte den gebrochenen Mann zur Abdankung gezwungen; jetzt stand an der Spitze des Staates ein junger tapferer Fürst – ein rauher und roher Soldat, von Jesuiten erzogen, ohne Bildung, ohne Freiheit des Geistes, aber eine derbe massive Kraft, ein treuer Sohn, entschlossen, den beleidigten Vater zu rächen, ein Mann von heldenhaftem Willen, der mit seinem Volke wuchs und nach kurzer Lehrzeit lernte, stets zur rechten Stunde die rechte Entscheidung zu finden. Auch patriotische Männer vom Adel verlangten die Beseitigung der Verfassung, die doch nur Unheil über das Land gebracht; ein absoluter Herr mußte von Österreich leichtere Friedensbedingungen erlangen als ein konstitutioneller Fürst. Wären nur die despotischen Gelüste der Hofburg nicht gar so laut und zudringlich hervorgetreten! Selbst der besonnene Radetzky hatte den Kampf als einen Bürgerkrieg geführt: ich will, schrieb er dem Großherzog von Toskana, die Demagogen in Turin zur Vernunft bringen. Felix Schwarzenberg vollends, der geschworene Feind Preußens und Englands und alles dessen, was der Freiheit glich, der kurzsichtige Vertreter der politischen Roheit, der seine Gedankenarmut hinter dünkelhafter Hoffart verbarg und nur einer ganz verkommenen Epoche als ein großer Mann gelten konnte – er verlangte die Besetzung Alessandrias durch kaiserliche Truppen, auf daß entweder sofort mit Österreichs Hilfe der Umsturz der Verfassung erfolge oder die Demagogen, zur Wut gereizt, eine neue Schilderhebung und schließlich einen Staatsstreich herbeiführten.

Sollte wirklich der stolze Sohn des Hauses Savoyen wie der armselige Großherzog von Toskana sich's bieten lassen, daß der österreichische Feldmarschall ihm schriebe: »der Kaiser unser Herr« –? Ein Vasall Österreichs, mit dem Scheine der absoluten Macht getröstet, oder ein konstitutioneller unabhängiger König – so stand die Wahl. Vergeblich warnten die Gemahlin und die Mutter des Königs, beide Erzherzoginnen. Viktor Emanuel berief Massimo d'Azeglio an die Spitze der Geschäfte, das Statut war gerettet. Wie das gute Gewissen der Nation erschien dieser »Ritter Italiens«, der schöne, unwiderstehlich liebenswürdige, geistvolle Mann, der Beherrscher aller Weiberherzen, der als Maler und Dichter, als Soldat und Schriftsteller auf den mannigfachen Wegen eines vielseitigen Talents der Größe seines Landes gedient hatte, treu seinem Wahlspruch: »die Vaterlandsliebe ist ein Opfer, nicht ein Genuß« – freilich eine läßliche Künstlernatur, leicht gelangweilt, unfähig, die Pflichten des Beamten mit Pünktlichkeit zu erfüllen, ohne den derben Ehrgeiz, ohne die rastlose Tätigkeit des großen Staatsmannes. Geraden Sinnes und warmen Herzens, wie geschaffen, das deutsche Vorurteil wider die Arglist der Welschen Lügen zu strafen, lebte er des Glaubens, sein alter treuer Diener Johann werde dereinst besser vor der ewigen Gerechtigkeit bestehen als der Welteroberer Alexander. Er gab dem neuen Systeme den Namen, da er lächelnd zu seinem Fürsten sagte: »es hat so wenig Könige gegeben, die Ehrenmänner waren, es wäre wahrhaftig schön, die Reihe anzufangen.« – »Das Statut, nichts mehr, nichts weniger«, so lautete sein Rat; er war der Mann der Lage, solange die Politik der Ehrlichkeit genügte.

Monate sollten noch vergehen, bis die erhitzten Köpfe sich beschwichtigten und das Land »den Fortschritt auf den Wegen des möglichen« guthieß, den Viktor Emanuel bei seiner Thronbesteigung empfohlen hatte. Auch in dem neuen Parlamente, das im Juli zusammentrat, überwog die Demokratie; der Abschluß des Friedens mit Österreich bot der Opposition eine bequeme Handhabe. Der Mailänder Friede stellte die alten Grenzen von Piemont wieder her – das Glimpflichste, was sich nach solchen Niederlagen erwarten ließ. Auch die Ehre des Königshauses war gewahrt, da Österreich den Lombarden, die für Karl Albert gekämpft, Amnestie gewähren mußte. »Sehen denn diese Menschen nicht,« rief Azeglio verzweifelnd, »wie schwer es gehalten hat, auch nur das Statut zu retten, wie leicht sie alle nach Fenestrelles auf die Festung wandern können? Heute heißt es: après nous les Croates!« Cavour, der jetzt wieder bei den Wählern Gnade gefunden hatte und vom nächsten Jahre an bis zu seinem Tode der Vertreter der Hauptstadt blieb, beschwor die Kammer, das Notwendige zu wollen: durften diese provisorischen Zustände sich ins Unendliche hinschleppen? Die Kammer zog vor, ein Spektakelstück demokratischer Gesinnungstüchtigkeit aufzuführen, sie verweigerte die bedingungslose Genehmigung des Friedens. Mag das Statut untergehen, rief Brofferio, mag die Freiheit untergehen, nur nicht unsere Ehre! Man stelle diesen Kraftspruch neben die Worte, die Cavour später in den Tagen seiner schwersten Kämpfe ausstieß: »mag mein Name untergehen, mag mein Ruf untergehen, wenn nur Italien eine Nation wird!« – und ein Gegensatz der Staatsgesinnung, der, in wechselnden Formen ewig derselbe, auch das deutsche Parteileben durchzieht, tritt uns durchsichtig vor die Augen. Die Politik des Bekenntnisses schwelgt im Genuß der eigenen Größe, indem sie ihre Glaubenssätze mit der Seelenruhe des kirchlichen Märtyrers unabänderlich vom Blatte abliest; die Politik der Tat bescheidet sich, dem Vaterlande ein wenig zu nützen.

Der König hatte sein Wort verpfändet für den Mailänder Frieden, er sah den Bestand der Verfassung, vielleicht des Staates selber gefährdet durch den Widerspruch des Parlaments. Er löste die Kammer auf und wendete sich mit der Proklamation von Moncalieri (20. November 1849) persönlich an sein Volk: »Wenn das Land, wenn die Wähler mir ihren Beistand versagen, so wird nicht auf mich die Verantwortung für die Zukunft fallen ... Noch niemals hat sich das Haus Savoyen vergeblich gewendet an die Treue, den Verstand, die Liebe seiner Völker.« Die Demokratie tobte, sie hat dem Colonello (so hieß ihr der militärische Ministerpräsident) diesen Streich nie vergessen. Aber in den Wählern der Poebene erwachte endlich wieder der monarchische Sinn der Piemontesen. Die Mehrheit des neuen Parlamentes genehmigte den Frieden. So war ohne jeden Gewaltstreich der Boden gewonnen für ein gesichertes Staatsleben. Denn nicht um eines Fingers Breite wollte Cavour, der dem Kabinette seinen Beistand lieh, das Gesetz übertreten sehen; jetzt schon wie noch auf seinem Totenbette bekannte sich der Liberale zu dem Worte »mit dem Belagerungszustande kann jeder regieren«. Wie er während des Krieges alle Ausnahmegesetze entschieden bekämpft hatte, so schrieb er sogleich nach dem Manifeste von Moncalieri in das Risorgimento die Warnung: rühret nicht an die Presse! Der Rat ward befolgt, doch die Reform an Haupt und Gliedern, deren der kranke Staat bedurfte, blieb aus. Azeglio hielt sich als Minister allzu treu an die Weisheit, die er einst den heißblütigen Verschwörern der Romagna gepredigt: »mit der Hand in der Tasche könnt ihr am sichersten für Italiens Wiedergeburt wirken!« Der Handelsminister Santa Rosa hörte wohl in Detailfragen gern auf den Rat seines Jugendfreundes; doch für die schöpferischen Gedanken, die in Cavours Kopfe gärten, war in dieser Regierung keine Stätte.

Und wahrlich, das Zusammenbrechen der Mächte der Bewegung weitum in der Welt ermutigte wenig zu einer kühnen Politik des Liberalismus. Der Beherrscher Europas, der Zar, hatte nach seiner brutalen Weise längst den Verkehr mit dem demokratischen Kabinett von Turin abgebrochen. Der Hof des Prinzpräsidenten von Frankreich schwankte noch unstet zwischen entgegengesetzten Gedanken. Ludwig Napoleon brütete zuweilen über dem Plane, für Piemont das Schwert zu ziehen; er trat mit dem Turiner Hofe jener wahnwitzigen großdeutschen Politik Schwarzenbergs entgegen, welche Deutschland und Italien durch einen ewigen Bund an Österreich zu ketten suchte; dann schmeichelte er wieder dem Kaiser von Österreich als einem Helden der »Ordnung«, sein Gesandter in Turin forderte zudringlich eine starke Regierung. Die deutsche Nation hatte mit Hohn und mit Kälte geantwortet, als Karl Albert vor dem Feldzuge von Novara die Hoffnung aussprach, Deutschland werde in Österreich den Feind seiner Einheit erkennen; jetzt beugte sie sich ermüdet unter Österreichs Joch, beflissene Poeten brachten den »jugendlichen Heldenkaiser« und die »ewig grünen Lorbeerreiser« in jammervolle Reime. Freiherr von Manteuffel riet, man solle in Turin wie in Berlin auf die Träumereien der nationalen Staatskunst verzichten. Selbst England, das einzige befreundete Kabinett, mahnte zur Vorsicht. Zudem hatte Karl Albert den Senat durchweg aus strengkonservativen Männern gebildet, und am Hofe scharte sich um den Prinzen von Carignan eine erbitterte reaktionäre Partei, General d'Aviernoz forderte im Parlamente die blaue Kokarde des Hauses Savoyen zurück, in Genua zerstörten noch weit später junge Offiziere die Druckerei einer radikalen Zeitung, alle Heißsporne vom Adel schalten auf die konstitutionelle Unordnung. In solcher Lage war es schon rühmliche Kühnheit, wenn der kleine Staat festhielt an seinem öffentlichen Rechte. Weiter zu gehen, Neues zu schaffen schien dem Kabinett Azeglio nur da rätlich, wo unerträgliche Übelstände, schreiende Widersprüche in der Verfassung selber augenblickliche Abhilfe verlangten.

Das Statut, in wilden Tagen rasch auf das Papier geworfen, verriet auf jeder Seite die Spuren seines Ursprungs; sein schwerstes Gebrechen lag in der unklaren Ordnung der kirchlichen Dinge. Die Verfassung erklärte in ihrem ersten Artikel die römische Kirche für die einzige Religion des Staates – darauf hatte das geängstete Gewissen Karl Alberts bestanden – sie gewährte den Bischöfen die Zensur über den Druck der Bibeln und Gebetbücher; und doch sollten die Waldenser der vollen Freiheit des Kultus genießen. Sie bestimmte, daß alle Bürger vor dem Gesetze gleich seien, alle Gerichtsbarkeit vom Könige ausgehe; und doch hielt der Klerus seine geistlichen Gerichte noch aufrecht, gab den Verbrechern ein Asyl in seinen Kirchen. Schon im Herbst 1848 verhandelte der Hof von Turin über die Lösung dieser Widersprüche mit dem römischen Stuhle; der Papst aber verlangte, er selber wolle der höchste Richter sein für die Verbrechen der Geistlichen Piemonts, stellte unmögliche Forderungen, die sogar der bigotte Karl Albert nur durch Stillschweigen beantworten konnte. Mehrmals wurden die Verhandlungen wieder aufgenommen, doch selbst der fromme Balbo vermochte kein Zugeständnis von der Kurie zu erreichen. Seitdem war der hohe Klerus mit dem Papste in das Lager der Reaktion übergetreten; den Staat im Staate länger zu ertragen, ward unmöglich. Graf Siccardi, ein ausgezeichneter Richter, der auf Cavours Rat das Portefeuille der Justiz erhalten hatte, entwarf jetzt das »ketzerische und pestilenzialische« Gesetz, das die geistliche Gerichtsbarkeit beseitigte. So begann ein Kampf um die Elemente des modernen Staatslebens. Die Wiener Presse spottete: da ringt das liberale Piemont um Güter, die Österreich schon seit Joseph dem Zweiten besitzt! In Wahrheit bezeichnete diese bescheidene Reform den Bruch mit uralten Traditionen des savoyischen Hauses.

Cavour übersah rasch die Bedeutung des Augenblicks. »Gerade in ruhigen Zeiten,« rief er aus, »denkt der wahre Staatsmann an Reformen.« Die katholische Kirche, meint er zuversichtlich, hat immer verstanden, sich in die Zeit zu fügen, und wieder verherrlicht er den unauflöslichen Bund der Religion und der Freiheit. »Schreitet hochherzig vorwärts auf der Bahn der Reformen, dann wird dieser Thron in unserem Lande so feste Wurzeln schlagen, daß er nicht bloß dem Sturme der Revolution widerstehen kann, sondern, alle lebendigen Kräfte Italiens um sich versammelnd, unsere Nation zur Vollendung ihrer erhabenen Bestimmung führen wird!« Als diese Worte unter dem Jubel der Galerien verhallten, da fragte mancher, ob das noch der reaktionäre Graf des Jahres 1848 sei? Und doch war nur ein Zerrbild zerstoben, das der Unverstand des Parteihasses aufgebaut. Solange die auswärtigen Fragen im Vordergrunde standen, bekämpfte Cavour, mit den Konservativen vereint, die phantastischen Pläne des Radikalismus, die bei den Dilettanten der liberalen Partei allzu leicht Eingang fanden. Jetzt war nicht er bekehrt, sondern die besseren Liberalen hatten verzichtet auf ihre föderalistischen Träume, und seit die Fragen der inneren Reform das Land beschäftigten, ergab sich sogleich, daß der gescholtene Anglomane den Ideen der Liberalen sehr nahe stand. Darum durfte Cavour den oft wiederholten Vorwurf des Gesinnungswechsels frohen Mutes verlachen. Als späterhin der Radikale Asproni dem Ministerpräsidenten mit Selbstgefühl zurief: »damals erst, im Jahre 1850, hat der Graf, als ein kluger und geschickter Mann, sich unseren Ansichten genähert« – da erwiderte Cavour nur mit der Miene possierlichen Erstaunens: » Ihren Ansichten?« – und ein schallendes Gelächter des Hauses folgte dem abgeschlagenen Angriff. Allerdings lockerte sich jetzt Cavours Verhältnis zu den Konservativen. Er stand ihnen nahe durch Geburt und persönliche Neigung, wie durch die lange Waffengemeinschaft im Kampfe mit den Radikalen; doch er konnte ihren Widerwillen gegen jede Reform und vornehmlich ihre hoffnungslose Ansicht über Italiens Zukunft nicht teilen. Nicht einen Augenblick hörte Cavour auf, an eine neue Erhebung seines Volkes zu glauben. Graf Revel hingegen, der bisher mit ihm die Rechte geführt – ein echter Sohn des altpiemontesischen Adels, ehrenhaft und geschäftskundig, hochangesehen bei der Rechten als ein Minister der weiland absoluten Krone, bei der Linken nicht unbeliebt, da sein Name unter dem Statut stand – verwarf die Hoffnung auf die terza riscossa als einen Wahn der Italianissimi; er verlangte ein strenges Regiment der Selbstbeschränkung, um das verlorene Zutrauen der Kabinette wieder zu gewinnen. Auch Cäsar Balbo widersprach; er fürchtete, das Siccardische Gesetz werde die Gewissen des katholischen Volkes beirren.

Zwei Tage nach Cavours Rede, am 9. März 1850, wurde die Siccardiana von dem Abgeordnetenhause angenommen. Der Nuntius protestierte, der heilige Vater »hob seine Hände gen Himmel und betete, der Gott der Barmherzigkeit möge von dem Volke Piemonts die durch seine Gottlosigkeit verdiente Strafe abwenden.« Nun brauste über das Land die vendetta pretina dahin, das demagogische Toben des erbitterten Klerus; der Erzbischof Franzoni von Turin, ein störrischer Vertreter adliger und priesterlicher Hoffart, forderte seine Geistlichen offen zum Ungehorsam auf. Der Masse des Volkes kam der Ernst des Kampfes erst zum Bewußtsein nach dem erschütternden Ende Santa Rosas (5. August 1850). Mit der tiefen Herzenssehnsucht eines gläubigen Katholiken verlangte der sterbende Minister nach den letzten Gnadenmitteln seiner Kirche, er war bereit zu jeder Erklärung; nur einen Widerruf wollte er nicht leisten, nur die Unterschrift nicht zurückziehen, die er mit Bedacht unter das Siccardische Gesetz gestellt. Tagelang ward Cavours Freund und sein frommes Haus auf Befehl des Erzbischofs gemartert; noch als der letzte Kampf begann, trat der Pfarrer von S. Carlo an das Bett und drohte mit der Verweigerung des christlichen Begräbnisses. Heiliger Gott, rief der Kranke, ich habe vier Söhne, sie sollen von ihrem Vater nicht einen geschändeten Namen erben! So ging er dahin, und welches menschliche Gefühl sollte kalt bleiben bei diesen empörenden Szenen pfäffischer Rachsucht, unchristlicher Bosheit? Keine Stadt im Lande, die »dem in seinem politischen Glauben Gestorbenen« nicht eine Totenfeier bereitete. Heftiger von Tag zu Tag erklangen die Angriffe der liberalen Presse wider die Schacherbude der Klerisei ( Ia Bottega). Der Erzbischof von Cagliari verlor sein Amt, weil er die Befreiung des Bodens von den grundherrlichen Lasten als Kirchenraub verdammte. Erzbischof Franzoni wurde zweimal als Unruhstifter zur Haft verurteilt; dann ging er nach Lyon, schleuderte aus der Ferne seine Verwünschungen wider die ketzerische Hauptstadt, die eine Waldenserkirche, eine Bibelgesellschaft in ihren Mauern entstehen sah. Die Klerikalen überreichten ihrem trotzigen Führer einen Hirtenstab; in Turin aber erhob sich auf dem savoyischen Platze ein Obelisk, den die Städte Piemonts zur Verherrlichung der Siccardiana errichteten. Savoyen, das schon dem Kriege gegen Österreich gleichgültig zugeschaut, wurde durch diese kirchlichen Wirren den Piemontesen gänzlich entfremdet. In den stillen Alpentälern herrschten die Priester; sie blickten jetzt, wie einst die Radikalen, verlangend hinüber nach dem stammverwandten Frankreich und seiner ultramontanen Herrlichkeit. Das Volk des Potals jedoch war seit dem Tode Santa Rosas der liberalen Sache gewonnen. Cavour sah längst, daß die unfruchtbare Politik, die sich begnügte, den Buchstaben der Verfassung streng festzuhalten, nicht mehr ausreichte, am wenigsten in der Finanzverwaltung. Der Ehrgeizige ertrug es nicht mehr, nur als Kritiker den Schritten des Ministeriums zu folgen; er wollte herrschen und darum, hatte er nur erst den Fuß im Bügel, sich vorläufig auch mit einem untergeordneten Ministerposten begnügen. In einer von fröhlicher Zuversicht strahlenden Rede verteidigte er am 5. Juli die Taten der Regierung, um ihre Unterlassungssünden desto schärfer zu geißeln. Wir müssen vorwärts – das war der Kern seiner Worte – die Freiheit ist festgewurzelt im Lande, sie hat die extremen Parteien nicht mehr zu fürchten. Der Haushalt eines kleinen Staates, der soeben 250 Millionen für den Krieg aufgewendet, bedarf einer gründlichen Umbildung. Es geht nicht mehr mit den alten Steuern, die den kleinen Mann unbillig drücken – »man erlaube diese Bemerkung einem Manne, der nicht gewohnt ist, gewaltsame oder dramatische Worte zu gebrauchen.« – Wenn wir durch Ermäßigung der Zölle der Volkswirtschaft freien Spielraum gewähren und die Steuerkraft an den rechten Stellen anzupacken wissen, so kann das Land, das heute mit Mühe zehn Franken zahlt, leicht fünfundzwanzig Franken für den Kopf aufbringen. So zeichnete er in großen Umrissen den Plan seiner eigenen Finanzpolitik. Der Graf hielt seine »Ministerrede«; das fühlte die Regierung, als er drohte, sich zur Opposition zu schlagen, wenn in dem neuen Budget das Gleichgewicht des Staatshaushalts nicht hergestellt würde. Nach Santa Rosas Tode schlug Azeglio vor, Cavour mit dem Handelsministerium zu betrauen. »Ich will wohl,« meinte der König lachend, »aber der Mann wird euch alle aus dem Sattel heben!« Azeglio ahnte dasselbe und sagte, nachdem er den neuen Genossen eine Weile im Amte wirken gesehen: »Mit diesem Kerlchen muß ich's machen wie Ludwig Philipp; ich trage nur die Krone und darf nicht regieren.« Am 11. Oktober trat der Unvermeidliche in das Amt.

 

Auch Cavours leichter Sinn war während der grimmigen Parteikämpfe der jüngsten Jahre dann und wann vom Mißmut überwältigt worden. »In solchen Zeiten,« schrieb er einmal, »werden die politischen Männer rasch vernutzt; ich bin es schon halb, bald werde ich es ganz sein.« Als Minister fand er rasch seine frische Spannkraft wieder. Mit seinem Eintritt in das Kabinett begann die Wiedergeburt des Staates – eine Zeit der Sammlung und Erhebung, die ihrem Leiter zu noch höherem Ruhme gereicht, als der offene Kampf, und sich als ein bescheidenes Gegenbild neben die Epoche Steins und Hardenbergs stellen darf. Eine Politik des Freihandels im großen Stile sollte der ermatteten Volkswirtschaft Erstarrung bringen; Piemont wurde mit der Schweiz der erste Staat des Festlands, der dem Vorgänge R. Peels entschlossen folgte. »Unser Gewerbfleiß muß endlich hinauswachsen aus seiner ewigen Jugend, aus dem zarten und interessanten Alter, das Schutz und Pflege fordert; keine Nation der Welt hat jemals durch Schutzzölle gewonnen!« – Warum doch wagte, der so zuversichtlich sprach, als Minister nicht, mit einem Schlage durch ein Gesetz das System des freien Handels einzuführen, wie er es so oft gefordert hatte als Abgeordneter? Warum zog er vor, Handelsverträge mit Belgien, England, Frankreich, sogar mit Österreich abzuschließen und so auf weitem Umwege zur Herabsetzung der Zölle zu gelangen? – Die Kühnheit seiner freihändlerischen Überzeugung ward von den Landsleuten noch kaum verstanden; selbst Gioberti klagte, durch diese Experimente Cavours werde Piemont erniedrigt zu einem anderen Portugal, einem Brückenkopfe Englands. Obgleich Ligurien allein dem Handel und der Schiffahrt, das Potal vornehmlich dem Ackerbau lebte, der Freihandel also durch die Natur der Dinge geboten schien, so erklang doch von allen Seiten der Hilferuf der Produzenten – am lautesten unter den Tuchfabrikanten, die heute Cavours Andenken segnen, und unter den Kaufleuten von Genua, die zehn Jahre später dem Neugründer ihres Wohlstandes eine Bildsäule in ihrer Börse errichteten. In dem Parlamente wuchs allmählich ein tüchtiger Stamm ernster, berufsmäßiger Politiker heran; mancher Dilettant verschwand aus dem Hause, da die Abgeordneten keine Tagegelder bezogen. Bei der Mehrheit herrschte ein wohlmeinender Liberalismus, eine warme nationale Gesinnung, welche den patriotischen Sinn des Gegners ritterlich anerkannte. Aber die volkswirtschaftliche Bildung stand selbst hier so niedrig, daß der Minister einmal einen Zweikampf mit einem schutzzöllnerischen Abgeordneten durchfechten mußte. Da endlich auch die Klerikalen die wirtschaftliche Angst Savoyens für ihre Parteizwecke ausbeuteten, so mußte der Vorschlag einer allgemeinen Zollerniedrigung unfehlbar scheitern an dem gemeinsamen Widerstände der Fabrikanten, der Käse- und Ölproduzenten, der unzähligen aufgescheuchten örtlichen Interessen. Die Handelsverträge dagegen, die immer einzelnen Provinzen, einzelnen Zweigen der Produktion Gewinn versprachen, boten dem klugen Minister den Vorteil, die Gegner zu teilen.

So gelangte das Parlament zur Freihandelspolitik, ohne es recht zu merken, und als die Verträge mit einer in dem alten Piemont unerhörten Schnelligkeit zum Abschluß gelangt waren, konnte der Graf, zum Entsetzen vieler Hörer, triumphierend rufen: »wir sind zu Ende gekommen mit einer der gründlichsten Zollreformen, die je in Europa gesehen wurden.« Auch dieser Erfolg wurde nur möglich durch die eindringende Beredsamkeit des Handelsministers, durch eine Reihe von Reden, welche als ein umfassender Lehrkursus der Handelspolitik der Übersetzung ins Englische wohl würdig waren. Ein mächtiger Geist verbreitet hier sein Licht über die Grundfragen der Volkswirtschaft. Er spricht mit unumwundener Offenheit – das lo dico schiettamente bleibt fortan ein stehender Ausdruck in Cavours Reden – und mit der alten hoffnungsvollen Frische: die beschränkte Selbstsucht der Industriellen wird der besseren Einsicht in den eigenen Vorteil weichen, und sollte der Haß gegen das Kabinett uns über den Kopf wachsen, so bleibt noch ein unfehlbares Mittel: »man wechselt die Minister und hält die Reformen aufrecht!« Aber auch einen politischen Zweck verfolgte und erreichte Cavour durch den Umweg der Handelsverträge: zwischen den Piemontesen und den Völkern des Westens entstand ein regerer Austausch der Waren und Gedanken, der vereinsamte und verfemte Turiner Hof wurde wieder eingeführt in die Staatengesellschaft, die Gesinnung der Westmächte freundlicher gestimmt. Fürst Schwarzenberg schrieb zornig: Piemont will den Beistand Englands für Italien durch seine Handelspolitik erkaufen – und gründete seinen Zollverein mit Modena und Parma als einen Damm wider die Turiner Propaganda.

Cavour arbeitete an dem Eisenbahnnetze, das den ganzen Staat bedecken sollte, prüfte die gewaltigen Pläne für die Überschienung des Mont-Cenis und des Apennins, erklärte sich kühn sogleich für den Bahnbau mit zwei Geleisen. Das Kapital der Nationalbank wurde verdoppelt, dann vervierfacht; denn jeder Staat mit schwunghaftem Verkehr, erklärte der Minister, bedarf einer zentralen Kreditanstalt, nur soll sie die Entstehung kleiner Privatbanken eher fördern als verhindern und nie zur Staatsanstalt werden. Mit Vorliebe sorgte Cavour für den Handel Liguriens: »Genua soll uns bald zu reich werden, um noch an Aufstände zu denken.« Er faßte den allzu kecken Plan, eine direkte Dampfschiffahrt zwischen Genua und Amerika einzurichten, hoffte sogar einen Teil der deutschen Auswanderung über die ligurischen Häfen zu leiten. So sollte die Heimat des Columbus mit ihrer starken Reederei im transatlantischen Verkehr eine Beschäftigung finden, die ihr das enge Hinterland nicht bot, die Überzahl der kleinen ligurischen Fahrzeuge verdrängt werden durch die großen Schiffe, welche der moderne Handel liebt. – Piemont war endlich, allein unter den Staaten der Halbinsel, eingetreten in das bewegte Treiben der modernen Volkswirtschaft; auch die Spekulationswut des Bonapartismus schlug oftmals in ungestümen Wogen nach Turin hinüber. Der Handelsminister aber verschmähte, den Arzt für dies Fieber zu spielen, er sagte oft: Präventivmaßregeln müssen, solange nicht Engel regieren, mehr Gutes unterdrücken als Böses verhindern. Zu allererst die Selbsthilfe der Bürger sollte die sozialen Leiden heilen; kaum ins Amt getreten, fragte der Minister bei den Bürgermeistern an, ob sie die Brotsteuer in ihren Gemeinden nicht abschaffen wollten; vor einem Befehle seien sie sicher. Er erwartete bestimmt von dem neu erwachten wirtschaftlichen Leben die Heilung der zerrütteten Finanzen; »ich fordere den klügsten und sparsamsten Steuerpflichtigen heraus, sein Einkommen zu vermehren, ohne daß ein entsprechender Teil davon in die Staatskassen fließt!«

Im Auslande sprach man längst von dem Ministerium Cavour. Der Mann aber, der allein durch schöpferisches Wirken den Ruf des Kabinetts in der Welt aufrecht hielt, empfand täglich schwerer, wie wenig er auf die Mehrheit seiner Amtsgenossen zählen konnte. Die Nation erwachte langsam aus tiefer Entmutigung; die Patrioten daheim, die tausend Verbannten in der Fremde arbeiteten wieder an einer neuen Erhebung, mit jener glühenden, nervösen Leidenschaft, jener unbedingten Hingebung, die diesen Jahren der Vorbereitung ihre Weihe gab. Und daß zu der Leidenschaft auch die Einsicht nicht fehlte, das bewahrte Giobertis letztes und größtes Werk, das Rinnovamento (1851). Kein Wunder, daß die beiden unförmlichen Bände von Tausenden verschlungen wurden; denn aus mystischem Schwulst, aus pathetischen Standreden wider »den kosakischen Gegenpapst und den Nachfolger Barbarossas«, aus den Prahlereien einer rechthaberischen Eitelkeit, die für Cavour nur einige herablassende Worte halben Lobes übrig hatte, trat doch überwältigend der leitende Gedanke hervor: auf das schwache Morgenrot der »Auferstehung« soll der lichte Tag der »Erneuerung« folgen, auf das Parteiengewirr des Jahres 48 eine geordnete Bewegung, die in fester Mannszucht der Diktatur Piemonts zu gehorchen hat. So war das Neuguelfentum verweltlicht, sein Prophet übergegangen in das piemontesische Lager, Cavour hat dem mystischen Abbate diesen Mut der Selbstverleugnung nie vergessen und späterhin oft geäußert: »wir wollen Italien die von Gioberti zuerst erdachte Erneuerung geben.«

Aber derweil die Anspruche der Patrioten an die Krone von Savoyen sich steigerten, ward in Paris der Staatsstreich vollzogen. An allen Höfen erhob die reaktionäre Partei frohlockend ihr Haupt. Die Wiener Hofburg forderte, im Verein mit ihren Vasallenstaaten, die Beseitigung des liberalen Unwesens in Piemont; von Azeglio stolz zurückgewiesen, schlug sie den Tuilerien vor, durch gemeinsame Einmischung den gefährlichen Nachbarstaat zur Ruhe zu bringen, und Ludwig Napoleon versprach zum mindesten, sein Gesandter Butenval solle in Turin strenge Aufsicht üben. Wie konnte der kleine Staat gegen solche Mißgunst der Nachbarn sich behaupten, solange er selber dastand als ein unfertiges Gemeinwesen, das vom konstitutionellen Staatsleben nicht viel mehr besaß als eine Verfassungsurkunde? Sollte man den Genossen Mazzinis auch fernerhin überlassen, sich als die einzigen Vertreter des nationalen Gedankens zu gebärden? Und war nicht in solcher Zeit die Rachsucht der mächtigen Reaktion ungleich mehr zu fürchten als die Torheit der zu Boden geworfenen Demokratie?

Auf wen hatte die Regierung zu zählen in dem begonnenen Kampfe mit dem römischen Stuhle? Graf Revel, der Führer der Rechten, war von Cavour soeben nach England geschickt worden, um eine Anleihe abzuschließen. Er hatte, obwohl ein Gegner der neuen Handelspolitik, den Auftrag geschickt und ehrenhaft wie immer vollzogen, aber er brachte aus der Fremde die Überzeugung heim, eine Änderung des Wahlgesetzes und des Preßgesetzes sei durch die reaktionäre Stimmung der großen Mächte geboten. Hinter ihm standen die bigotten Savoyarden Deviry und Beauregard und jener La Margherita, der einst die Lehren des Mariana, den Vernichtungskrieg wider ketzerische Könige, verteidigt hatte. Hinter diesen redlichen Gegnern gar die wilde Meute der pfäffischen Demagogen, welche dessen kein Hehl mehr hatte, daß sie die Unordnung wolle, um zur rechten Ordnung zu gelangen. In seinen frommen Zeitungen las der Savoyard schaudernd, 60 Millionen seien spurlos aus den Staatskassen verschwunden. Noch hielt Azeglios Ansehen die Fraktionen der Rechten notdürftig zusammen; doch bei den Debatten über die Handelsverträge stand ein großer Teil der ministeriellen Rechten gegen die Minister, das Kabinett siegte nur durch den Beistand der Opposition.

Sollte diese verkehrte Welt fortdauern? Man regiert nicht auf der Spitze einer Nadel, meinte Cavour unwillig; die Bildung zweier starker regierungsfähiger Parteien nach englischer Weise galt ihm sein Lebtag als die Voraussetzung gesunden parlamentarischen Lebens. Man bedurfte einer starken zuverlässigen Mehrheit, um gegen Rom und Österreich, gegen Savoyen und Genua, gegen Ultramontane und Radikale zugleich, den ungleichen Kampf zu wagen, und diese Mehrheit war nur zu gewinnen durch die Verständigung mit dem linken Zentrum, das unter Rattazzis Führung stand. Zwischen Cavour und dieser Partei des liberalen Turiner Bürgertums lag die tiefe Kluft, welche den selbständigen Staatsmann von dem vulgären Liberalismus trennt. Er hatte oft der Opposition unter dem Beifall der Rechten zugerufen: Ihr wollt nach französischer Weise die Unterdrückung der Kirche! – oft ihr vorgehalten: Ihr macht die Regierung für jeden Übelstand in der Gesellschaft verantwortlich; heißt das nicht der Staatsallmacht in die Hände arbeiten? Er kannte die innige Verwandtschaft, die den flachen Liberalismus mit der Bureaukratie verbindet. Die aristokratischen Liberalen, die Freunde der Selbstverwaltung, wie Karl Alfieri und Boncompagni, standen der Überzeugung des Ministers näher als diese Bourgeoisie, der jede selbständige örtliche Gewalt leicht als ein Trümmerstück des Feudalismus verdächtig wurde. Und wieviel würdiger erschien der ritterliche Azeglio als dieser glatte Rattazzi, der alle Fechterkünste des Advokaten im Parlamente entfaltete, der sich einst schmiegsam den Launen Karl Alberts gefügt, dann als ein untertäniger Hofmann den neuen König und seine Unsitten gewähren ließ. In diesen Kreisen galt das Wort: il est de la bande, il faut le pousser! Hier sprang man über sittliche Vorurteile mit einer Keckheit hinweg, welche bald, nach Rattazzis Heirat, noch unbefangener auftreten sollte. »Fast noch als Kind« hat Frau Rattazzi die Soirées d'Aix les Baines geschrieben, und wahrhaftig, die helle Kinderunschuld des zweiten Kaiserreichs lächelt aus diesen Blättern. Gleichviel – die Partei des linken Zentrums war die stärkste in dem Parlamente, sie vertrat die öffentliche Meinung in dem Kernlande des Staates, nur durch sie konnte Cavour das Haus beherrschen; sie war bereit, den Kampf mit Rom entschlossen weiterzuführen, und bekannte sich zu dem Programme des Handelsministers: »das Statut mit allen seinen Früchten und Konsequenzen!« Ihr Führer blieb eine Macht auf der Rednerbühne wie in der Presse, und die Lobsprüche ergebener Federn liefen zuletzt stets auf den Satz hinaus: »die Regierungsgewalt kommt zu Urban Rattazzi, nicht er zu der Regierungsgewalt!« Nichts ist verständlicher als das leise Anwinken der bescheidenen Größe. Cavour näherte sich dem gewandten Parteiführer, und nur einer seiner Amtsgenossen stand ihm bei solcher Schwenkung fest zur Seite: der unermüdliche Romagnole Farini, ein bekehrter Demokrat, durch den Grafen in das Kabinett eingeführt.

Ein seltsamer Anlaß brachte die Verschiebung der Parteien an den Tag. Der Pariser Staatsstreich erweckte Cavours vaterländische Hoffnungen; er ahnte, diese Tat werde Bewegung bringen in das Stilleben des Weltteils. Die Masse der Liberalen dagegen, in Piemont wie überall, überhäufte den neuen Despoten mit lauten Verwünschungen. Das Volk freute sich der zügellosen Heftigkeit seiner Presse, sah darin ein Zeichen der stolzen Unabhängigkeit des kleinen Landes. Der Hof aber sollte alsbald die Empfindlichkeit des Napoleoniden kennen lernen. Wenige Tage nach dem Staatsstreiche kam ein Minister zu dem piemontesischen Gesandten in Paris, versicherte feierlich, daß Piemont und seine Verfassung auf Frankreichs Beistand zählen könne, und forderte als ein Unterpfand der Freundschaft strenge Maßregeln wider die Flüchtlinge und die Presse; zuletzt erboten sich die Tuilerien freundnachbarlich, den gefährlichsten Demagogen Italiens eine Zufluchtsstätte in Cayenne anzuweisen. Diese Zumutung wies Azeglio stolz und fest zurück; doch brachte er endlich einen Gesetzentwurf ein, wonach künftighin die Presse, wenn sie fremde Souveräne beleidigt hatte, vor rechtsgelehrten Richtern, nicht mehr vor Geschworenen Rede stehen sollte. Darin lag – was auch die Minister beteuern mochten – ein Bekenntnis der Abhängigkeit vom Auslande; indes die Notwendigkeit des Schrittes, die Unmöglichkeit, mit den beiden mächtigen Nachbarstaaten zugleich in Feindschaft zu leben, war unverkennbar. Sofort schöpften die Konservativen frische Hoffnung; General Menabrea schloß mit der Konsequenz des Mathematikers, auf diese erste beschränkende Maßregel müsse die Beseitigung des Preßgesetzes folgen. Am 5. Februar 1852 hielten die Minister am Bette des erkrankten Azeglio ihren Rat; Cavour zog ungeduldig einen Kollegen abseits an das Fenster: »dieser Menabrea wird mir langweilig, ich habe Lust, auf seinen Beistand zu verzichten.« Von da ging man in die Sitzung des Parlaments, und hier wagte Cavour, im Einvernehmen mit Farini, einen kecken Handstreich. Er verteidigte die Vorlage der Regierung; auf die Klage der Opposition: »man verletzt die Prinzipien,« gab er die Antwort: »die großen Phrasen, die großen Grundsätze haben oft die Staaten zu Grunde gerichtet.« Aber zugleich versprach er eine entschlossene Politik der Reformen und erklärte, daß er auf Rattazzis Beistand hoffe: »diese Hilfe wird unseren Weg ebenen!« So war, wie Graf Revel entrüstet bemerkte, Cavours Scheidung von der Rechten (das divorzio) vollzogen, die Ehe (das connubio) mit dem linken Zentrum abgeschlossen. Für einige Wochen beschwichtigte der Ministerpräsident den Unfrieden unter den Genossen. Doch schon im April, bei den Debatten über den französischen Handelsvertrag, wiederholte Cavour seine Erklärung. »Ich weiß,« rief er den Savoyarden auf der Rechten zu, »daß, wer in so schwierigen Zeiten in das politische Leben eintritt, auf die größten Enttäuschungen gefaßt sein muß. Sollte ich auch verzichten auf alle Freunde meiner Kindheit, sollte ich auch meine liebsten Bekannten sich in bittere Feinde verwandeln sehen – niemals werde ich die Grundsätze der Freiheit aufgeben, denen ich meine Laufbahn gewidmet habe.« Im Mai, als das Haus sich einen neuen Präsidenten wählte, lenkte Cavour – abermals hinter dem Rücken der Minister – die Stimmen auf Rattazzi. Es ging nicht ab ohne jene rücksichtslose Gehässigkeit, welche sich unvermeidlich einstellt, sobald politische Freunde sich trennen; Cavour verbarg es kaum noch, daß er den Ministerpräsidenten zu stürzen und selber an die Spitze einer neuen Regierung zu treten dachte. Azeglio wurde von der Wunde, die er einst bei dem Kampfe um Vicenza empfangen, immer wieder auf das Lager geworfen; ermüdet schrieb er einem Freunde: »Gott bewahre Sie davor, leitender Minister zu werden!« Doch »diese Ohrfeige« wollte er sich nicht bieten lassen. Eine Ministerkrisis erfolgte; die fremden Gesandten verlangten dringend eine konservative Regierung. Azeglio bildete, auf des Königs Wunsch, ein neues Kabinett ohne Cavour und Farini.

Der Anschlag des Grafen war mißlungen; er empfand die Niederlage sehr schmerzlich, doch er verschmähte, klug und edel, gegen die verlassenen Freunde eine systematische Opposition zu beginnen. Er reiste in den Westen, traf in Paris mit Rattazzi zusammen, und nach einem Gespräche der beiden mit Ludwig Napoleon stand Cavours Urteil fest: das neue Regiment wird dauern, nur von der Wildheit der ultramontanen Reaktion droht ihm Gefahr; die gerühmte Friedensliebe des Bonapartismus wird uns kund werden durch eine ausgreifende europäische Politik! Als er im Herbst heimkehrte, fand er die Patrioten hochaufgeregt durch den Tod des Propheten Gioberti, den Verkehr mit Rom abgebrochen, die katholische Partei tobend wider den Gesetzvorschlag über die Zivilehe, der den Liberalen nicht genug tat. Azeglio, bei Hofe als ein unerschrockener Tadler unbeliebt, mußte dulden, daß die Erziehung des Thronfolgers einem Schüler des vertriebenen Erzbischofs, Pillet, anvertraut wurde. In Rom verhaßt schon seit seinem schönen Buche über die Romagna, verfeindet mit dem französischen Gesandten, gebot er daheim, ohne den Beistand des linken Zentrums, nicht mehr über die Mehrheit des Parlaments. Das Risorgimento, das lange zwischen den hadernden Freunden geschwankt, verkündete jetzt: Cavour wird durch das öffentliche Gewissen gerufen, die konstitutionelle Partei herzustellen! Da gab Azeglio den unhaltbaren Posten auf. Der König berief Cavour zu sich, beauftragte ihn, ein neues Kabinett zu bilden und die Versöhnung mit der Kurie herbeizuführen. Aber der Graf erklärte offen, bei der tiefen Verstimmung des Papstes könne er den kirchlichen Frieden nicht wiederherstellen; eine Unterredung mit dem Erzbischof Charvaz von Genua, die er auf Befehl des Königs abhielt, zeigte nur von neuem, wie fern er den Klerikalen stand. Nun versuchte Viktor Emanuel, gedrängt von den beiden Königinnen, durch ein Ministerium Balbo-Revel den Papst milder zu stimmen; doch Graf Revel selbst gestand, seine Partei habe keine Stütze im Lande, und dem Vatikan war auch jetzt noch kein Zugeständnis zu entreißen. So blieb nur übrig, den Weg der Reformen mutig weiter zu verfolgen. Die Verblendung des römischen Stuhls führte den Grafen an das Ruder des Staats; am 4. November bildete Cavour sein Kabinett, das »große Ministerium« der Italiener. Der entlassene Minister aber antwortete lustig, als der König ihm den Annunziaten-Orden und damit den Rang eines Vetters der Dynastie anbieten ließ: »Ich finde es nicht passend, daß Seiner Majestät Verwandte Bilder verkaufen.« Frohen Mutes griff er wieder zu seiner geliebten Palette und schrieb: »Ich verlasse meinen Wachtposten: ein anderer zieht auf. Dieser andere ist von einer teuflischen Tätigkeit, sehr aufgeweckt an Leib und Seele, und dann macht es ihm so viel Vergnügen!«

Der andere, dem das Regieren so viel Vergnügen machte, sprach den leitenden Gedanken seiner Verwaltung in dem Satze aus: »Es ist unmöglich, eine nationale, italienische Politik dem Auslande gegenüber zu verfolgen, ohne im Innern liberal und informatorisch zu sein.« Sein »Unionsministerium« sollte der Revolution einen Damm entgegenwerfen, der Welt den Unterschied despotischer und konstitutioneller Staaten zeigen; dergestalt hoffte er, das moralische Ansehen Österreichs und seiner Vasallenstaaten zu erschüttern und »das alte Märchen« zu widerlegen, als könnten die Italiener weder Ordnung noch Freiheit ertragen. Für die Leitung der Verkehrsanstalten besaß die Regierung schon seit drei Jahren ein glänzendes technisches Talent an dem venetianischen Flüchtling Paleocapa, einem alten Soldaten des napoleonischen Königreichs Italien. In dem Kriegsministerium schaltete La Marmora etwas pedantisch und langsam, doch mit einer Willenskraft, die er als Feldherr nicht bewährt hat; die Einheit der Armee wurde durch die Aufhebung der Provinzial-Regimenter befestigt, das Aufrücken in die höchsten Stellen auch den bürgerlichen Talenten gestattet, das Offizierkorps von allen unbrauchbaren Elementen gesäubert. Das kleine Heer stand bald in Mannszucht und Ausbildung weit höher, als die heutige italienische Armee. Der Justizminister Rattazzi gründete Handelsgerichte, schuf eine Neuordnung des Zivilprozesses, stand dem Präsidenten als ein geschickter entschlossener Kamerad zur Seite, also daß Rattazzis Herolde, die Migliotti, Berti, La Varenne, von der innigen Freundschaft der beiden erzählen konnten und der Justizminister selber in seiner Bescheidenheit sich für die Seele des Kabinetts hielt. Aus der Verwaltung verschwanden die letzten Spuren des Militärstaats, die Polizei fiel ausschließlich den Zivilbeamten anheim, aber die von dem Grafen verabscheute Zentralisation blieb aufrecht. Denn noch erstaunlicher als die Kühnheit dieser Reformpolitik ist ihre vorsichtige Mäßigung; in ihrem Leiter verkörperte sich jene Mischung grundverschiedener, ja entgegengesetzter Geisteskräfte, welche den großen Staatsmann macht. Umgeben von radikalen Himmelsstürmern begnügten sich die Liberalen Piemonts nur an einige wunde Stellen des Staates die heilende Hand zu legen; viele empfanden, daß man in provisorischen Zuständen lebe, forderten eine stramme bureaukratische Verwaltung, um die Kräfte zu sammeln für den nahen Krieg. Auch für die Hebung des Volksunterrichts geschah wenig; man fühlte schmerzlich, daß dem großen Volkswirt diese Interessen fern lagen.

Von allen inneren Staatsfragen hingen die kirchlichen Händel am festesten mit der nationalen Politik zusammen. Es war längst kein Geheimnis mehr, daß der Abfall des Papstes von der Sache Italiens so schnell nicht erfolgt wäre, wenn nicht die Hofburg versprochen hätte, alle Ansprüche der Kirche zu befriedigen. In den folgenden Jahren verständigten sich alle italienischen Staaten durch Verträge mit Rom; die Solidarität der konservativen Interessen schloß ein festes Band um die Hofburg und ihre Vasallen. Welche schneidige, mit gewandter Bosheit gehandhabte Waffe gewährten diese Konkordate den Piemontesen! Wie war doch das stille Turin der altköniglichen Tage verwandelt! Auf den Galerien im Palaste Carignan drängten sich die Hörer, in allen Kaffeehäusern eifrige Zeitungsleser. Man verschlang die geistreichen Sonntagspredigten des Pfaffenfeindes in der »Unione«, durchwühlte noch lieber »den schwarzen Sack« der Turiner Volkszeitung, worin alle möglichen und unmöglichen Unsauberkeiten der Klerisei sorgsam aufgesammelt lagen. Überall erklang der Ruf: »Krieg den Pfaffen, Einziehung der geistlichen Güter, die von Rechts wegen dem Volke gehören!« Cavour ahnte tief bekümmert, wie schwer dieser Kirchenstreit die Sittlichkeit der Nation zu gefährden drohte. Er erblickte mit Sorge unter den Kämpfenden freche Materialisten, radikale Schwärmer, die den Klerus zu der Einfachheit eines erträumten Urchristentums zurückzuführen dachten. Ihm war kein Zweifel, dies katholische Volk müsse, losgerissen von der alten Kirche, der Verwilderung verfallen. Aber solange die Kirche die Unabhängigkeit des Staats nicht zugestand, wollte der Staatsmann auch die unbedingte Kirchenfreiheit, die sein Ideal blieb, nicht gewähren, nicht verzichten auf das Recht der Oberaufsicht, das der Staat gegen den Mißbrauch geistlicher Gewalt in Händen hielt. Über die schwebende Kirchenreform hatte der Graf schon vor Jahren geurteilt: solche Versuche schneiden so tief ein, daß sie, einmal begonnen, bis zum Ende durchgeführt werden müssen. Darum hielt er tapfer aus, obgleich die europäische Meinung, und mit ihr die Börse, noch für den Papst Partei nahm. Die Zivilehe, die er einst hatte vermeiden wollen, erkannte er jetzt als unentbehrliches Mittel, gehässige Händel zwischen den beiden Gewalten abzuschneiden; doch der Senat, eingeschüchtert durch die Drohungen Roms, verwarf das Gesetz.

Dann rückte Rattazzi ins Feld gegen die tote Hand und die Überzahl der geistlichen Genossenschaften. Auch Piemont krankte an den Folgen der Politik der Päpste, die im Mittelalter den italienischen Episkopat vermehrten und vermehrten, um auf den Konzilien mit einer starken zuverlässigen Mannschaft auftreten zu können. 41 Erzbischöfe und Bischöfe regierten die Herde des kleinen Königreichs; unter 214 Einwohnern war einer geistlich, auf der Insel schon unter 127 einer. Man zählte 1417 Kanonikate und an 18 000 Klosterinsassen. Das Einkommen der Kirche betrug über 17 Millionen, mehr als der gesamte Ertrag der Grundsteuer im Staate, und doch konnten Hunderte armer Pfarrer nur durch Staatszuschüsse ihr Leben fristen. Jetzt verlangte der Staat: Besteuerung der toten Hand; Unterdrückung aller kirchlichen Genossenschaften, die nicht der Erziehung, der Predigt, der Krankenpflege dienen; Beseitigung aller Pfründen, denen kein geistliches Amt entspricht, desgleichen aller Kanonikate in den kleinen Städten. Aus dem also gewonnenen Kirchengute wird eine Kirchenkasse gebildet, welche, vom Staate verwaltet, den Mitgliedern der aufgehobenen Stiftungen eine Pension, den armen Pfarrern ein genügendes Einkommen gewährt. Der Papst bedrohte mit der Exkommunikation jeden, der für diese Gesetze stimme oder sie ausführe. Unter den frommen Älplern im Tale von Aosta brachen Unruhen aus; Cavours Bruder Gustav nannte den Entwurf kommunistisch. Selbst unter den Liberalen fragten einzelne: wo denn das Vereinsrecht der freien Piemontesen bleibe? Die Demokratie schalt auf die Halbheit des Ministeriums, verlangte die unbedingte Unterwerfung der Geistlichen unter die Wehrpflicht und ähnliche Schritte der Rache. Cavour bewährte in langen siegreichen parlamentarischen Kämpfen den vornehmen Sinn des Staatsmannes, der die Leidenschaften der Parteien übersieht. Keinen Schritt wich er ab von seinem Mittelwege: die Einziehung sämtlicher Kirchengüter schafft entweder einen servilen Klerus, wie der russische, oder eine fanatische Sekte; blickt nur hinüber nach Savoyen, wo die Jakobiner längst mit dem geistlichen Gute aufgeräumt haben! Wie die Turiner Universität, endlich der geistlichen Bevormundung entledigt, der Unterrichtsfreiheit genießt, so soll auch der Staat die theologischen Seminare mit seiner Aufsicht verschonen; denn »wo ist die Freiheit, die keine bitteren Früchte bringt? Ist es den Klerikalen einst, da sie über die weltliche Gewalt geboten, nicht gelungen, den Triumph der liberalen Ideen zu verhindern, um wieviel minder heute, da wir sie mit der Schule, der Presse und dem freien Worte bekämpfen können!« – Und wie er vormals, da die Revolution die Gesellschaft Jesu vertrieb, für die polnischen Jesuiten als für die Märtyrer einer mißhandelten Nation sein Fürwort eingelegt hatte, so erklärte er jetzt, eher wolle er seinen Ministerposten verlassen, als die segensreiche Genossenschaft der barmherzigen Schwestern aufheben. Die Staatskirche blieb aufrecht. Nur in Turin und Genua genossen die Nichtkatholiken unbedingter Freiheit des Gottesdienstes; in den Provinzen mußte eine milde Praxis aushelfen.

Die Kurie wollte nichts sehen von allen diesen Beweisen der Mäßigung. Sie stellte maßlose Forderungen, sie verlangte, daß selbst das letzte Sicherheitsmittel des Staats gegen den Klerus, der Recursus ab abusu, fallen müsse, tadelte laut, daß man den Mauritiusorden einem Protestanten verliehen habe. Auch den Munizipalgeist wußte die katholische Partei gewandt auszubeuten: Piemont, rief man, gehört nicht mehr den Piemontesen, sondern den Farini und Paleocapa und den journalistischen Schreiern aus der Fremde. Und gerade jetzt, in den ersten Monaten des Jahres 1855, wurde das königliche Haus schwer heimgesucht. Rasch nacheinander starben die beiden Königinnen hinweg und der Herzog von Genua, der ritterliche Bruder Viktor Emanuels, der oftmals vor der Überstürzung der Liberalen gewarnt hatte. Abermals schwankte der König; sein unfreies Gemüt zitterte vor dem Finger Gottes, der drohend aus den Wolken winkte; gleich ihm Tausende im Lande. Tiefe Trauer lag über dem treuen Volke, wie einst nach dem Tode Karl Alberts. Eine neue Ministerkrisis erfolgte, die Priester hofften auf einen Staatsstreich. Da trat Azeglio mannhaft ein für die Sache der Reform, zuerst als Schriftsteller, dann in persönlicher Ansprache an den König. Soll ein mönchisches Ränkespiel, schrieb er entrüstet, in einem Tage das Werk Ihrer ganzen Regierung zerstören? – Der König kämpfte und überwand. Die Gesetze Rattazzis brachten das Werk Siccardis zum Abschluß. Im Frühjahr 1855 stand das Ministerium fester denn je.

Die Einziehung eines großen Teiles der Kirchengüter gereichte der Volkswirtschaft zum Vorteil, aber die Finanzen litten, da die Kirchenkasse steigende Zuschüsse vom Staate verlangte. Auf dasselbe Ergebnis lief die gesamte Wirtschaftspolitik des Ministers hinaus. Mit rastloser Tätigkeit wurden die alten Pläne wieder aufgenommen, die Eisenbahnen in der Ebene und im Apennin vollendet, der Tunnelbau am Mont-Cenis begonnen. Auch das aufsässige Savoyen erhielt seinen Schienenweg, Nizza und die Insel ein neues Straßennetz. Ein unterseeischer Telegraph verband Ligurien mit Cagliari. Die Wuchergesetze waren beseitigt, das Briefporto um fast 40%, herabgesetzt. Selbst dem Kleinen und Kleinsten galt die Aufmerksamkeit des Ministers: er ruhte nicht, bis seine Tabaksregie eine rauchbare Zigarre für das arme Volk zustande brachte – die Cavourina, die jedem Nordländer ebenso unvergeßlich bleibt wie die Mücken Italiens. Die Industrieausstellung im Schlosse Valentin bezeugte, wie rüstig in den sechs Jahren seit 1850 der Gewerbfleiß vorgeschritten war; ein halbes Jahrzehnt später, als das einige Italien zum ersten Male in Florenz seine Gewerbserzeugnisse ausstellte, schlug Piemont, zum Erstaunen der Welt, alle anderen Provinzen aus dem Felde. Der Arbeitslohn stand hoch, die Verzehrung der wichtigsten Ruhstoffe in Savoyen hatte sich verdreifacht. Der Ackerbau verwendete, statt der alten unförmlichen Geräte, tüchtige im Lande gefertigte eiserne Maschinen, verbrauchte jährlich gegen 8 Millionen Tonnen Guano, während noch vor wenigen Jahren der Minister allein auf seinen Gütern das neue Dungmittel versucht hatte. Die Ausfuhr der Seidenwaren war in 22 Jahren von 366 000 auf 925 000 Kilogramm, die Einfuhr der zur Verarbeitung bestimmten Baumwolle von 28 000 auf 120 000 Quintal gestiegen; die Eisenbahnen brachten einen Rohertrag von 16 Millionen.

Trotzdem fand sich die Nation nur langsam in das freie Verkehrsleben. Die Bevölkerung stieg in zehn Jahren bloß um eine Viertelmillion; Auswanderungen und Bankrotte bekundeten die zweischneidige Wirkung des neuen Spekulationsgeistes. Noch im Herbst 1853 bedrohte eine tobende Masse den Palast des Ministers, dem man die hohen Kornpreise schuld gab. Die Beseitigung der Kornzölle kam vornehmlich der ligurischen Küste zu statten, und als der neue mächtige Hafendamm mit seinem Leuchtturme das majestätische Halbrund des Hafens von Genua erweiterte, da durfte Cavour sich rühmen, seine Regierung habe Größeres für die Wohlfahrt der Stadt geleistet als weiland die Republik. Dennoch verharrte Genua in seinem unbändigen Trotze. Ein englischer Ingenieur mußte die Untersuchung des Hafens vornehmen, da die Stadt sich dessen weigerte, und bei der Einführung der neuen Tranksteuer sah sich der Minister gezwungen, den Gemeinderat aufzulösen. Fast ebenso rasch wie der Volkswohlstand wuchsen die Auflagen des Staates und der Gemeinden. Cavour wußte, daß jede Steuer ein Übel ist: der gewiegte Volkswirt verwarf den Vorschlag der Dilettanten, die eine rationelle Umgestaltung des gesamten Steuerwesens forderten. Doch schon die behutsame Steuerreform, die er wagte, drückte die Massen als eine ungewohnte Last. Wohl gelang dem Minister mit seiner genauen Kenntnis der Börsenwelt, seiner seltenen Gewandtheit im Unterhandeln, die Anleihen des Staats unter leidlichen Bedingungen abzuschließen und Österreich immer aufs neue zu beschämen. Aber seine herkömmliche Versicherung: »die Finanzen sind beinahe wiederhergestellt«, erwies sich wieder und wieder als ein Irrtum. Unleugbar traten in den Finanzfragen die Schwächen seiner Tugenden zu Tage. Dieselbe Kühnheit, die ihn befähigte, die schwerfällige alte Bureaukratie in neue Bahnen zu treiben, hieß ihn auch den Staatshaushalt mit einer Leichtfertigkeit behandeln, welche noch heute in dem Königreich Italien verhängnisvoll fortwirkt.

Der ganze Tiefsinn der Staatskunst Cavours steht und fällt mit diesen unvermeidlichen Schwächen des Staatshaushalts. Alle Reformen im Innern waren ihm nicht ein Selbstzweck, sondern lediglich ein Mittel, Piemont zum Führer Italiens zu erheben. Längst bildeten die Verhandlungen des Turiner Parlaments die hohe Schule für alle Patrioten der Halbinsel, darin sie Besonnenheit, staatskundige Mäßigung lernten; und bald vergönnte die Torheit der Hofburg dem Minister, vor der Welt als der Vertreter der Nation zu reden. Eine ruchlose Schilderhebung der Mazzinisten zu Mailand (6. Februar 1853) bewog den Wiener Hof, alle Güter der lombardischen Flüchtlinge mit Beschlag zu belegen, obgleich die Ausgewanderten in Turin völlig schuldlos waren an dem Ausstande. Sofort verwahrte sich Piemont gegen diese unzweideutige Verletzung des Mailänder Friedens. Österreich antwortete durch heftige Anklagen wider die Presse Piemonts und die Umtriebe der in Turin geduldeten Flüchtlinge; zwischen den Zeilen las man die Frage, ob nicht Graf Cavour selber den Mailänder Banditen die Dolche geschliffen habe. Der aber verwies stolz auf die im Statut gewährte Freiheit seines Landes, bat das Parlament um Unterstützung für die Beraubten, rief seinen Gesandten aus Wien ab, also daß fortan der diplomatische Verkehr nur notdürftig durch Geschäftsträger vermittelt ward. Nun fluchte der heilige Vater auf die Kirchenräuber in Turin, wie nur ein Papst zu fluchen versteht. Der k. k. Hofpresse versagte schier der Atem bei den unflätigen Schimpfreden wider den »aufgeblasenen piemontesischen Frosch«.

Umso mächtiger stieg das Ansehen des kühnen Ministers bei seinem Volke: der Mann, der so oft sein strafendes Auge gegen die tobenden Galerien gerichtet, mußte jetzt von der Priesterpartei den Vorwurf hören, er erschrecke das Haus durch den Jubel der Massen. Aller Blicke hingen an ihm, wenn er durch die Postraße schritt, alles lächelte befriedigt, wenn der Graf sich behaglich die Hände rieb. Nicht lange, so begannen die Doktrinäre des Parlamentarismus in der Stille zu klagen: wir haben ein Statut, eine Regierung, ein Parlament und das alles heißt Cavour! Noch über ein Kleines, und der allmächtige Minister durfte schon vor entscheidenden Abstimmungen sein unfehlbares Hausmittel anwenden: dann steckte er beide Hände in die Taschen und erklärte achselzuckend, wenn das Parlament ihn diesmal nicht unterstütze, müsse er das Regiment geschickteren Händen übergeben. Unbedingtes Vertrauen oder ein Ministerwechsel – das war die Wahl, die er stets der Volksvertretung stellte. Während gewöhnliche Menschen im Genusse der Macht erschlaffen, hob sich der Freisinn Cavours, seit er regierte, zu immer kühneren Flügen. Mit jeder neuen größeren Aufgabe schien seine Arbeitskraft zu wachsen, desgleichen das Talent, das von Gajus Gracchus und Julius Cäsar bis herab auf Mirabeau allen großen Staatsmännern eigen war – die Gabe, andere für sich arbeiten zu lassen.

Nach der Weise herrischer Naturen zog er jüngere Männer vor, die willig seinen Plänen folgten. Treffliche diplomatische Kräfte wie Nigra und jener August Blanc, der später bei dem Abschlüsse des preußisch-italienischen Bündnisses seine Tüchtigkeit erproben sollte, wurden durch Cavour emporgehoben. Seine nächsten Vertrauten blieben: Graf Villamarina, der stets auf die gefährlichsten Gesandtschaftsposten gestellt wurde, Castelli, der alte Freund vom Risorgimento, und der rastlos tätige junge Geheimsekretär Artom. Freilich nicht in allen Fällen bewährte sich die Menschenkenntnis, deren der Minister sich gern rühmte; unter den Flüchtlingen, die sich zum Palazzo Cavour drängten, war mancher zweideutige Gesell. Schadenfroh jubelte das ultramontane Lager, als der Parmesane Gallenga plötzlich aus der Gesellschaft des Ministers verschwinden mußte; es stellte sich heraus, daß der Cavourianer vor Jahren als ein Spießgesell Mazzinis Mordanschläge gegen Karl Albert geplant hatte. Auch die romanischen Unsitten, Cliquengeist und Ämtersucht, blieben der von der Linken schändlich verleumdeten Consorteria des Grafen nicht immer fremd. Ein kecker Ton übermütiger Laune herrschte in diesen Kreisen. Der Graf selber wurde der Possen nicht müde, lachte gern über die Zerrbilder der Witzblätter und hing ein Bild, das seinen Liebling Boggio als Alkibiades mit dem Augenkneifer darstellte, hochachtungsvoll in seiner Fensternische auf. In früher Morgenstunde gab er seine Audienzen, im bequemen Hauskleid, auf dem Kopfe eine Samtkappe mit langer Quaste; wer seinen Mann kannte, mochte aus dem raschen oder langsamen Auf- und Niedertanzen der Troddel die Stimmung des Ministers erraten. Wie behaglich heiter erschien er am Tische seiner Nichte, der Gräfin Alfieri, wie geistreich in den Salons seiner liebenswürdigen Freundin, der Gräfin San Germano, und wie einfach gutherzig, wenn er plötzlich insgeheim in eine ärmliche Dachkammer hinaufstieg, um zu helfen und zu spenden! Er freute sich des Erfolges seiner Freunde; wer aber mit ihm ging, durfte einen Schlag vor den Kopf nicht scheuen, denn der geniale Realismus des Ministers rechnete stets nur mit den Feinden und den Schwankenden, nie mit den bewährten Genossen. Wie viele Gegner hat er durch seine Schmeichelei gewonnen, indem er sie beflissen um Rat fragte!

Auch als Redner war er durchaus eigentümlich, weder mit Fox zu vergleichen, der durch die Gewalt seiner Beredsamkeit den Piemontesen weitaus übertraf, aber zuerst ein Redner war, dann erst ein Staatsmann – noch mit Palmerston – denn der gewandte Brite verstand durch frivole Spaße auch eine schlechte Sache zu bemänteln, bei dem Italiener schaut hinter scharfen Witzen und einzelnen sophistischen Wendungen immer der tiefe heilige Ernst hervor. Tagelang pflegte er den Reden im Hause zu folgen. Ungeduldig hämmerte sein Falzbein auf das Pult, wenn leere Worte ihn langweilten; doch nichts entging seinen spähenden Blicken, und während er horchte, lachte, gähnte, entstand ihm sein Plan. Den Mann der Tat reizte nicht die Schaurede, nur die Debatte. Dann trat er auf mit wohldurchdachten Worten, die er oft vorher einem Freunde daheim herzusprechen pflegte, führte die geschlossene Schar seiner Gründe und Einwände ins Feld, und es bewährte sich, daß die beherrschende Klarheit des Verstandes ebenso hinreißend wirkt wie der Schwung rhetorischer Begeisterung. In seinen letzten Jahren gelang ihm oft das Höchste, was der parlamentarische Redner erreichen kann: er gab den Hörern das Gefühl, daß sich nichts mehr sagen lasse; bald nachdem der Minister gesprochen, pflegte man die Verhandlungen zu schließen. Das alles mit geringen äußeren Mitteln, die den hohen Ansprüchen der verwöhnten Italiener keineswegs genügten: mit einer scharfen, wenig wohllautenden Stimme, einem zerhackten Vortrag, den dann und wann ein willkommener Husten unterbrach. Der Redner suchte nach unschädlichen Worten; ihn beengte die Verantwortlichkeit des Staatsmannes umso schwerer, da sein kleiner Staat, unfähig eine europäische Verwicklung zu schaffen, sie gelassen abwarten mußte.

 

Der orientalische Krieg brachte endlich diese ersehnte Verwicklung. Cavour wollte die Nation an den Gedanken gewöhnen, daß sie nicht imstande sei, ohne fremde Hilfe das Joch Österreichs abzuwerfen, und er hatte schon Farini, den eifrigen Verteidiger des l'Italia farà da sè, für seine nüchterne Erkenntnis gewonnen. Er wollte ferner, indem er Piemont zu einer geachteten Stellung in der Staatengesellschaft emporhob, die mazzinistischen Lehren der Verzweiflung bekämpfen, die Geister mit stolzer Zuversicht erfüllen. Für eine solche Politik ergab sich von selbst die Notwendigkeit, in dem russischen Kriege auf Frankreichs Seite zu treten. »Piemont,« sprach der Graf im Parlamente, »durch die Hochherzigkeit seiner Könige an eine entschlossene Staatskunst gewöhnt, hat sich oft seiner Bündnisse, niemals seiner Neutralität zu erfreuen gehabt.« Die Westmächte warben um Österreichs Beistand; Frankreich war bereit, dem Wiener Hofe seinen Besitzstand und die Aufrechterhaltung der »Ordnung« in Italien zu gewährleisten. Ging Österreich darauf ein, so sah sich Piemont gezwungen, durch raschen Beitritt zu der großen Allianz mindestens die völlige Knechtung Italiens zu verhindern. Wenn die Hofburg dagegen in das russische Lager übertrat, so hatte für Italien die Stunde der Befreiung geschlagen. Kam Österreich endlich zu keinem festen Entschluß – ein Fall, den Cavours Scharfblick von vornherein als wahrscheinlich ansah – umso besser für das tapfere Piemont, das dann auf dem Friedenskongresse unverhohlen seine Klagen aussprechen konnte wider den Staat, der niemands Freund gewesen. Eben dieses, die unschätzbare Gelegenheit, Italiens Lage vor der amtlichen Welt Europas zu schildern, erschien dem Grafen und dem Minister des Auswärtigen Dabormida als das wichtigste Ergebnis des Krieges. Aber Frankreich weigerte sich, bestimmt zu versprechen, daß die italienische Frage aus dem Kongresse verhandelt werden solle. Dabormida nahm seinen Abschied. Nur Cavour hielt aus, in der stillen Zuversicht, der rechte Augenblick zum Reden werde und müsse sich finden. Im fernen Hintergrunde sodann erschloß sich eine weite unbestimmte Aussicht. Schon Cäsar Balbo hatte einst in seinen »Hoffnungen Italiens« behauptet, die Lösung der orientalischen Wirren werde das Mittel bilden, um Italiens Unglück zu enden, und jahrelang den Spottvers der Gedankenlosen hören müssen: »Der Balbo sagt: von Österreichs Quälereien kann nur der Türke uns befreien!« An diese Ahnungen des Freundes knüpfte Cavour wieder an. War es so ganz undenkbar, Österreich wieder zu der großen orientalischen Politik des Prinzen Eugen zurückzuführen? den Wiener Hof oder die Erzherzöge Mittelitaliens in den Donauprovinzen zu entschädigen für den unhaltbaren italienischen Besitz? –

Am 26. Januar 1855 trat Piemont dem Bunde der Westmächte bei, als der erste unter den Staaten zweiten Ranges und als eine selbständige Macht – denn Cavour durfte dem stolzen Heere keine Demütigung bieten und wies den Vorschlag Englands, Subsidien für die 15 000 Mann zu zahlen, weit von sich. Die Welt erdröhnte von den Zornrufen des Liberalismus wider den nordischen Despoten; man fand in England selbstverständlich, daß ein liberaler Staat dem heiligen Bunde der Freiheit sich anschloß, und ahnte wenig von den italienischen Plänen des Grafen. Noch weniger ahnten vorerst die Italiener. Selbst Rattazzi und La Marmora widersprachen, erst des Königs kriegerischer Eifer gewann sie für die Gedanken Cavours. Viele Offiziere forderten ihre Entlassung. Die Kaufleute von Genua zürnten, weil der Getreidehandel mit Odessa zu Grunde gehe; als der Friede zurückkehrte, mußten sie bekennen, daß ihre Reederei seit den großen Transportgeschäften dieses Krieges einen neuen Aufschwung genommen habe. Die Masse murrte laut, denn die Ausgaben des Staats, die noch vor zwei Jahren 143 Millionen betrugen, waren schon im Jahre 1854 auf 192 Millionen gestiegen, und nun die Aussicht auf einen schweren Krieg! Die Debatten im Palaste Carignan dauerten eine volle Woche und bezeugten abermals, wie schwer ein Parlament einen weit angelegten Plan der auswärtigen Politik zu fassen vermag. Kein Schimpf, kein Hohn blieb dem Minister erspart. Der Vertrag ist ein Abfall von dem italienischen Volkstum – er macht uns mitschuldig an der Unterdrückung der Völker! Fluch, rief Tecchio, Fluch über jeden, der Italiens Namen ausspricht auf einem Kongresse, wo Österreich mitstimmt! Noch vielseitiger fluchte Brofferio in seiner Revue: das Bündnis ist wirtschaftlich betrachtet ein großer Leichtsinn, militärisch betrachtet eine große Dummheit, politisch betrachtet ein großes Verbrechen. Und mußte nicht dieser Vertrag, geschlossen ohne jede Bedingung, durch die Drohungen der Westmächte erzwungen sein? Nicht einmal zu Gunsten der lombardischen Flüchtlinge, für die Befreiung ihrer mit Beschlag belegten Güter hatten die Verbündeten ein festes Versprechen gegeben. Wenn nun Rußland siegt, schalt man weiter, dann hat das Mittelmeer drei Herren statt zweier; was gilt das uns? – Darauf Cavour: »Ich kann nicht glauben, daß solche Ansichten in diesem Saale Widerhall finden. Das hieße unsere Hoffnungen auf die Zukunft aufgeben!« Alle die verblaßten orientalischen Erinnerungen seines Staates beschwor der Graf herauf, die ritterlichen Fahrten des grünen Grafen und die Herrscherstellung, die einst Genua in Kaffa behauptete: »das Kreuz von Savoyen und das Kreuz von Genua kennen den Weg nach dem Osten.« Der frische Odem einer neuen Zeit weht durch diese Reden; ihr kühner Schwung erscheint um so bewunderungswürdiger, da der Minister sein letztes Wort nicht sagen durfte. »Der Vertrag ist nicht ein Abfall, sondern eine Verstärkung der liberalen Grundsätze, die wir als ein köstliches Erbstück von Massimo d'Azeglio hegen. – Dies neugestaltete Banner, das Karl Albert erhob, dies Banner, das schon geheiligt ist durch unermeßliches Unglück, wird im Osten die Taufe des Ruhmes empfangen und dann sicher der Zukunft, die ihm bestimmt ist, entgegengehen!« – Durch eine schwache Mehrheit wurde der Vertrag angenommen; auf dem Felde von Marengo verteilte der König die Fahnen an das abziehende Heer.

Immer banger und düsterer ward die Stimmung im Volke, als der Creso, ein großes Transportschiff, auf hoher See verbrannte, die Cholera das kleine Heer in der Krim furchtbar heimsuchte und zur selben Zeit daheim der Kirchenstreit, den Bestand des Kabinetts nochmals gefährdend, in wilder Heftigkeit tobte. Nur in der Lombardei und unter jenen denkenden Flüchtlingen, welche, wie La Farina, von dem Munizipalgeist und dem verbissenen Widerspruchseifer der Piemontesen nicht berührt wurden, hatte der verwegene Plan des Ministers von Haus aus Billigung gefunden. Endlich kam die Kunde von dem Kampfe an der Czernaja: heldenhaft, würdig der Väter, die Viktor Amadeus auf die Wälle von Belgrad führte, waren die Truppen in das Feuer gegangen, stolz und gemessen hatte General La Marmora im Lager, Cavour im Kabinett die Überhebung des englischen Befehlshabers Lord Raglan zurückgewiesen. Nun erwachte in dem Soldatenvolke der kriegerische Stolz, heller Jubel brach aus, jeden Widerspruch erstickend: die Schmach von Novara war gesühnt, das neue aus allen Ländern Italiens zusammengeströmte Offizierkorps hatte das Vertrauen des piemontesischen Soldaten gewonnen.

Der Wiener Hof, der nach dem Tode der beiden nahe verwandten Königinnen den Nachbarfürsten nicht einmal einer Beileidsbezeigung gewürdigt hatte, ließ seine Presse, im schönen Bunde mit den Mazzinisten, beharrlich verkünden: Piemont ist abgefallen von der Sache Italiens. Er rühmte sich in frivoler Prahlerei seiner Undankbarkeit gegen den Bändiger Ungarns, doch das Ansehen seiner tatlosen Staatskunst sank und sank. Cavour aber redete laut von dem nahen Tage der Rache; auch der König sprach in einer vertraulichen Unterhaltung, die rasch bekannt ward, seine kühnen Hoffnungen aus, und seit dem Spätsommer 1855 galt in der diplomatischen Welt die Feindschaft der beiden Nachbarn als unversöhnlich. Die Entfremdung der beiden Höfe wird Schritt für Schritt verfolgt in dem lehrreichen »Promemoria, die italienischen Verhältnisse betr.«, das der preußische Minister des Auswärtigen unterm 8. April 1859 als Handschrift drucken ließ. Um den Österreichern und den Radikalen die neugewonnene Machtstellung Piemonts zu zeigen, reisten der König und Cavour im Herbst nach Paris und London. Auch Azeglio war in dem glänzenden Gefolge – »als Blitzableiter«, meinte er lachend, damit man sieht, daß wir nicht angesteckt sind von der Seuche der Revolution. Der Graf wünschte die Höfe des Westens für seine Anschauung der italienischen Dinge zu gewinnen. In der Tat ließ der schweigsame Napoleonide erraten, welche Pläne in seinem Kopfe gärten. Er richtete eines Tags nach Tisch an Cavour und Azeglio die Frage: »was kann man für Italien tun?« Sofort packte ihn der Graf beim Worte, bat um Erlaubnis, die schwierige Frage eingehend zu beantworten.

Die ausführliche Denkschrift, die er nun für den Kaiser entwarf und im Februar absandte, wird immer ein erstaunliches Denkmal durchtriebener Menschenkenntnis bleiben. Zum ersten Male mitgeteilt in dem gehaltreichen siebenten Bande von Bianchi's storia documentata della diplomazia Europea in Italia, S. 588 ff In breiten Umrissen entwickelte er eine Ansicht der neuen Geschichte, die freilich seiner eigenen Herzensmeinung nicht geradezu widersprach, doch ersichtlich zurecht gelegt war, um den Lieblingsgedanken napoleonischer Geschichtsphilosophie zu schmeicheln: Frankreich wird seit 1793 bedroht durch eine Koalition der Ostmächte, die sich seitdem nie wieder aufgelöst hat. »Die Staaten des Westens ruhen, trotz der Verschiedenheit der Staatsformen, auf demselben Grundgedanken, für Österreich aber ist der Westwind – der Tod.« Alsdann schildert er Italiens Not und die vergeblichen früheren Vermittlungsversuche der Westmächte. In Zukunft sollen die Gesandten Englands und Frankreichs an den italienischen Höfen laut und offen Reformen für Italien fordern »im Geiste des westeuropäischen Staatsgedankens«, sie sollen unter sich und mit den Patrioten der Halbinsel in Verkehr treten, damit die Italiener endlich aufhören zu klagen: »Diese Ärzte wollen immer Italien heilen, ohne ihm den Puls zu fühlen.« Noch einige Fragen, ob es nicht möglich sei, das unentbehrliche Piacenza an Piemont zu geben, Österreich an der unteren Donau zu vergrößern. Dann schließt der Schlaue inbrünstig: »Welches Schicksal auch die Vorsehung uns vorbehalten mag, jeder treue Italiener wird sich in Ewigkeit erinnern, daß der Kaiser der Franzosen der erste war, der uns fragte: was kann man für Italien tun?« – Es war die erste Lehrstunde, die der Meister dem langsam fassenden Schüler gab.

Die rasche Beendigung des Krieges erregte in Italien die allgemeine Bestürzung: zweitausend tapfere Soldaten und 80 Millionen Lire geopfert für ein Nichts? Nur Cavour verlor den Mut nicht, er überwand seine Abneigung gegen das Handwerk des Diplomaten und ging als Bevollmächtigter auf den Pariser Friedenskongreß, wenngleich mit herabgestimmten Hoffnungen, mit der bangen Ahnung, er werde seinem eigenen Begräbnisse beiwohnen. In diesem Satze sind die widersprechenden Empfindungen, welche sich in Cavours Briefen vom 8. Febr. 1856 ff. bekunden, getreu wiedergegeben. Nach deutschen Begriffen ist es nicht ritterlich, wenn L. Chiala ( Lettere di C. Cavour, II. p. CLXVI) die ersten sechs Worte des Satzes aufgreift und die folgenden wegläßt. Seine kecke Zuversicht lebte wieder auf, als er dort die Stimmung der großen Machte über Erwarten günstig fand. Die Bevollmächtigten Österreichs, Buol und Hübner, beide durch häßliche persönliche Erinnerungen tief erbittert gegen die Italiener, stießen überall an mit ihrer hoffärtigen Schroffheit. England war unzufrieden mit dem Abbruch des Feldzugs und darum, so schien es, bereit, einen kühnen Schritt für Italien zu wagen. Rußland, das während des Krieges den König von Neapel mit Auszeichnungen überhäuft, hatte jetzt mit Österreich gänzlich gebrochen, näherte sich den Tuilerien. Selbst der Freiherr von Manteuffel murrte über den Habsburgischen Dünkel, und Graf Hatzfeldt gestand dem Piemontesen vertraulich, er glaube an die natürliche Freundschaft der beiden Nebenbuhler Österreichs. Am französischen Hofe trat der Prinz Napoleon mit gewohnter rücksichtsloser Derbheit für das leidende Italien auf. Auch der Kaiser verriet, daß er die Träume seiner Jugend, die italienischen Überlieferungen seines Hauses nicht vergessen habe; vergeblich beschworen ihn die österreichischen Diplomaten, er solle verhindern, daß Englands liberale Grundsätze auf Italien angewendet würden. Nur die Rücksicht auf den Papst beengte seinen Willen, eben jetzt stand die Freundschaft des Kaisers mit dem Kirchenfürsten in ihrer Blüte. Durch solche Gunst der großen Höfe wurde Piemont, gegen Österreichs Widerspruch, als gleichberechtigte Macht unter die Mitglieder des Kongresses eingeführt. Solange über die orientalische Frage verhandelt ward, hielt sich Cavour vorsichtig zurück und vermied jeden weitgreifenden Vorschlag. Er wußte, daß nichts einen Staatsmann in den Augen der Diplomatie so unfehlbar zu Grunde richtet, als der Ruf eines Utopisten, gab seinen jungen Freunden oft den Rat, der Staatsmann müsse zurückhaltend sein mit Worten, entschlossen mit der Tat. Nur als man über die Bändigung der radikalen Presse beriet, traten Piemont und England für die Preßfreiheit ein. Unterdessen stellte Cavour schon im Januar in einer Denkschrift an den Kaiser die dringendsten Beschwerden Italiens zusammen, forderte Reformen für Rom, Neapel, Venetien und den Abzug der fremden Truppen. In vertraulichen Gesprächen regte er auch nochmals den Gedanken an, die kleinen Despoten der Emilia an die Mündung der Donau zu versetzen. Napoleon stimmte zu, doch der Widerwille der Mächte gegen jede starke Änderung ließ den Plan scheitern.

Die Zeit verstrich, das Friedenswerk näherte sich dem Abschluß. Da lenkte eine Verbalnote Cavours vom 27. März, von dem Romagnolen Minghetti entworfen, die Augen des Kaisers nochmals auf den Kirchenstaat. Mit seiner Berechnung weiß der Italiener hier wiederum auf alle dynastischen, nationalen und konservativen Neigungen Napoleons III. zu wirken. Er geht aus von den Reformplänen, die einst der Prinzpräsident in seinem Briefe an Edgar Rey ausgesprochen, doch er verzichtet auf das unmögliche, auf die Selbstvernichtung der Theokratie. Nur der Teil des Landes, den allein Österreichs Waffen dem Papste erhalten, nur die Romagna soll dem Joche des Kirchenregiments entrissen werden. Nun schildert er, wie Österreich die Romagna in Wahrheit als seine Provinz behandle, wie das konservative Volk durch den Druck der fremden Besatzung der Umsturzpartei zugeführt werde, wie das Land nur einen Wunsch hege: Herstellung jener geordneten weltlichen Regierung, die ihm einst der erste Napoleon geschenkt. Die Verwaltung der Romagna muß säkularisiert, von dem Kirchenstaate getrennt, durch einen weltlichen Statthalter des Papstes geleitet werden. Der Vorschlag entsprang aus der Natur der Dinge; er war schon auf dem Wiener Kongresse von dem Minister des Königreichs Italien, dem Grafen Aldini, fast mit denselben Worten aufgestellt worden. Aber mit Recht fragten die besorgten Gegner: welch eine unabsehbare Bewegung wird sich entfesseln, wenn jetzt in Bologna ein Parlament zusammentritt!

Die Note wirkte; der Kaiser erlaubte, daß Graf Walewski am 8. April in der Sitzung des Kongresses die italienischen Dinge zur Sprache brachte. Damit war für den Grafen das Spiel gewonnen; denn die unhaltbare Lage seines Landes sprang in die Augen, selbst eine hochkonservative Diplomatenversammlung konnte die greulichen Mißstände nicht verkennen. Cavour sprach mit Schonung über Neapel; noch war die Hoffnung, die Bourbonen für die nationale Sache zu gewinnen, nicht gänzlich aufgegeben. Zudem spannen die Murats seit dem orientalischen Kriege vielgeschäftig ihre Ränke – Bestrebungen, welche Napoleon heimlich begünstigte. Der Piemontese aber warnte die englischen Diplomaten vor den Umtrieben der Murats und wendete also die volle Wucht seines Angriffs gegen Österreich und den Papst; die römische Frage galt seit Jahrzehnten in der diplomatischen Welt als der Kern der italienischen Verwicklung, und an ihr hing untrennbar die Herrscherstellung Österreichs. In erregter Debatte trat Cavour als Ankläger gegen die Hofburg auf, und niemand von den anderen wagte die Haltung Österreichs offen zu verteidigen. Selbst Graf Buol mußte die unleidliche Lage Italiens mit halben Worten zugestehen; sein Auftreten ward ohnedies beengt durch die stille Hoffnung, Frankreich zu Österreich hinüberzuziehen. Im übrigen stand er fest auf dem Boden der Verträge, verschmähte auch sophistische Erbärmlichkeiten nicht: wenn Piemont das Städtchen Mentone des Fürsten von Monako mit fünfzig Mann besetzt halte, warum solle Österreich sein Heer aus der Romagna zurückziehen? – Man ging auseinander ohne einen Beschluß. Dann faßten Cavour und sein Amtsgenoß Villamarina noch einmal die Klagen Italiens zusammen in einer Zuschrift an Lord Clarendon und Graf Walewski, die alsbald zum Befremden der Westmächte veröffentlicht wurde. Zu welchen Verirrungen werde die Glut der Südländer sich hinreißen lassen, wenn das System der Unterdrückung und gewaltsamen Reaktion fortwähre! Piemont allein sei unabhängig von Österreich und ein Bollwerk wider die Revolution; mit ihm müssen sich die großen Mächte verständigen, um dem drohenden Umsturz vorzubeugen.

Inzwischen verbrachte der Graf lange Stunden in vertrautem Zwiegespräch mit den Staatsmännern der Westmächte. Lord Clarendon hatte vor dem versammelten Kongresse das Regiment des Papstes eine Schmach für Europa genannt und zornig ausgerufen: mit der Verweigerung jedes Zugeständnisses an Italien wirft Österreich dem gesamten liberalen Europa den Handschuh hin! Unter vier Augen sprach er noch rücksichtsloser. Solche Worte erweckten dem hoffnungsvollen Piemontesen den Wahn, das Kabinett von St. James sei zu bewaffneter Hilfe bereit, sei von ebenso lebhaftem Eifer für Italien beseelt wie sein Gesandter in Turin, Cavours Freund Sir James Hudson. In Cavours feurigem Wesen lag, gleichwie in der Natur Friedrichs des Großen, eine starke Neigung zu übertriebenen Hoffnungen – ein notwendiger Fehler, ohne den er nie der Befreier seines Volkes geworden wäre. Noch jetzt baute er zuweilen Luftschlösser und hielt für möglich, daß Österreich gegen eine Summe Geldes seine italienischen Provinzen abtreten werde. Offenbar hatte er den Briten gründlich mißverstanden. Ich lasse dahingestellt, ob der Lord im Eifer des Gesprächs ein Wort zu viel gesagt oder schlau versucht hatte, durch freundliche Vorspiegelungen dem Piemontesen Geständnisse zu entlocken. Genug, der weitere Verlauf beweist, daß die Staatsmänner Europas – mit Ausnahme der Piemontesen und des Kaisers Napoleon – von der nahenden großen Umwälzung gar nichts ahnten. Ein Abstecher nach England, auf den Rat des Kaisers unternommen, belehrte den Grafen schnell, wie wenig er von der Tatenscheu dieses Hofes zu erwarten habe. Seine Hoffnung stand fortan auf Frankreich allein. Er hatte mit dem Vertrauten Bixio lebhaften Umgang gepflogen und von dem Kaiser selber ermutigende Zusicherungen erhalten – soweit sich bei dem phlegmatischen Zauderer von Zusicherungen reden läßt. Er war überzeugt, daß Napoleon einen neuen italienischen Krieg wünsche, und gedachte der kaiserlichen Worte: »ich habe eine Ahnung, daß dieser Friede nicht dauern wird; die Befreiung Italiens wird sich in fünf Aufzügen vollziehen, heute stehen wir im dritten!«

So kehrte er heim, »ohne das mindeste kleine Herzogtum in der Tasche,« und doch gehobenen Mutes. War es ein Nichts, daß dies kleine Piemont, soeben noch als der Herd der Revolution von allen Seiten beargwöhnt, jetzt als der Wortführer Italiens, als Kläger wider Österreich unter dem Beifall selbst der russischen Staatsmänner auftreten durfte, und Italiens Klagen feierlich in das Protokoll des europäischen Rates eingetragen wurden? Dem toskanischen Minister »gerann das Blut in den Adern«, wenn er die schamlosen Reden des Piemontesen las. Vergeblich sprach der neapolitanische Gesandte zu Turin mit erheuchelter Geringschätzung von dem überschuldeten, durch Parteien zerrissenen Staate. Österreich verstand den Ernst des Augenblicks; ein Rundschreiben der Hofburg an die italienischen Höfe verwarf feierlich die Anmaßung Piemonts, das den Beschützer Italiens spielen wolle, behielt dem Kaiserhaus das Recht vor, jederzeit auf Anrufen der verbündeten Höfe seine Truppen in die Nachbarstaaten zu senden. Deutschland dagegen ließ sich nichts träumen von der gewaltigen Verschiebung aller Machtverhältnisse, die in der Stille sich vollzog. Man lachte des vielgeschäftigen kleinen Ministers: was sei er denn anders als ein Staatsmann der Ultimo-Abrechnung, gleich den Schwindlern des zweiten Kaiserreichs? Selbst einer unserer kundigsten Publizisten, C. F. Wurm, erklärte spöttisch, Piemont sei betrogen um den Lohn seiner Kriegstaten. Auch die Partei Mazzinis blieb unbelehrt; soeben machte eine schwülstige Ode Victor Hugos die Runde durch ihre Blätter: »seid auf der Hut, auf der Hut, daß nicht im Kleide des falschen Propheten Kain herniedersteigt von den Quellen des Po!« Die ungeheure Mehrheit der Patrioten aber bewies ein wunderbar feines Verständnis für die Pläne des Ministers. Unermeßlicher Beifall erklang, selbst Graf Revel stimmte für die Regierung, nur La Margherita und eine Handvoll unverbesserlicher Reaktionäre widersprachen, als Cavour im Mai dem Parlamente Rechenschaft ablegte von seinem diplomatischen Feldzuge und mit Worten, die einer Kriegserklärung gleichkamen, versicherte: ich habe mich von dem Grafen Buol getrennt mit der Überzeugung, daß die Grundsätze der beiden Höfe unvereinbar sind! Die begeisterte Jugend grüßte den Minister als den Zauberer, der diesem Volke den verheißenen principe des Machiavelli schenke. »Die Italiener Toskanas« sendeten dem »Redner Italiens« seine Büste mit den Worten ihres Dante: »ihm, der Italien verteidigt mit offenem Visier!« – und als ob man nicht genug erinnern könne an die Propheten der Einheit, schrieben die Patrioten auf den Ehrensäbel, den sie an La Marmora überreichten, jene Verse des Petrarca, die den verheißenden Schluß von Machiavellis Principe bilden: »ist doch die alte Mannheit noch nicht erstorben in italischen Herzen.«

Schwerer denn all dies wog die Bundesgenossenschaft eines Mannes, der, eine Macht für sich selber, jetzt wieder in das politische Leben eintrat. Daniel Manin trug den Namen des letzten Dogen von Venedig; die Herrlichkeit der Lagunenrepublik zu erneuern war der Traum seiner Jugend. Ihm ward beschieden, was er geträumt; er durchglühte als Diktator von Venedig sein weichliches Volk mit dem Feuer seiner eigenen großen Seele, lenkte durch lange Monate namenloser Leiden das Ruder des kleinen Freistaats mit sicherer Kraft, als seien die Tage der Foscari und Coleoni wiedergekehrt. Niemand in Italien durfte mit besserem Rechte als er an die Ewigkeit des republikanischen Gedankens glauben. In Paris sodann ging der landflüchtige Mann abermals durch eine Schule des Elends: Weib und Kind starben ihm hinweg, er selber mußte als Sprachlehrer kümmerlich sein Brot verdienen, ward von schwerer Krankheit daniedergeworfen. Aber die Leiden des Exils, die den gemeinen Menschen verbittern und in seinem Wahn bestärken, wurden diesem lichten Geiste ein Quell der Selbsterkenntnis: auf seinem Siechenbett in schlaflosen Nächten ging ihm die Einsicht auf, daß die Erhebung Venedigs gescheitert war durch eigene Schuld – durch den Partikularismus der Republikaner. Als er im Jahre 1854 zuerst wieder seine Stimme erhob und dem Lord Russell, der den Italienern Mäßigung predigte, kurzab erwiderte: »Resignation ist Feigheit für ein Volk unter fremder Herrschaft; wir fordern von Österreich nicht, daß es mild regiere, wir fordern, daß es gehe!« – da stimmten alle Heißsporne unter den Flüchtlingen jauchzend ein in dies stolze qu'elle s'en aille! Doch welch ein Wutgeschrei unter den Anhängern Mazzinis, als Manin darauf mit erhabenen Worten die Niedertracht des politischen Mordes verdammte und mit der grausamen Folgerichtigkeit eines scharfen Realisten die Sätze seiner neuen Erkenntnis entwickelte: Die Republik ist unmöglich, da Piemont von seiner Krone nicht lassen will; ein monarchischer Staatenbund wäre ein Bund der Fürsten wider das Volk; darum bleibt nur eines, der monarchische Einheitsstaat. »Schaffet Italien, ihr Fürsten des Hauses Savoyen, und ich bin mit euch; wo nicht, nicht! Unabhängigkeit und Einigung ( unificazione) sei unser Wahlspruch!« Damit hatte der Venetianer die alte unheilvolle Politik des Entweder-Oder aufgegeben, die nur mit der sofortigen unbedingten Einheit des Landes sich begnügen wollte; er erkannte jetzt, daß auch die schrittweis vorgehende Vergrößerung Piemonts zum Ziele führen könne. Die radikale Presse lärmte wider den bestochenen Verräter, der sich bald den bestverleumdeten Mann Europas nennen durfte und selbst sein Leben durch die Dolche der fratelli Mazzinis bedroht sah. Auch die stillvergnügten Partikularisten in Piemont zuckten die Achseln: Manin ist allein, eine nationale Partei, wie er sie ersehnt, besteht nirgends! Der Apostel des Einheitsstaats fand daheim einen tätigen Helfer von höchster Uneigennützigkeit in dem Marchese Giorgio Pallavicino, der vormals in den Kerkern des Spielbergs unter der väterlichen Fürsorge des guten Kaisers Franz geschmachtet hatte und jetzt seinen reizbaren unsteten Sinn dem überlegenen Genossen unterordnete. Die Flugschriften Manins, Meisterwerke gedrungener, einschneidender Beredsamkeit, überschwemmten das Land. Sein Anhang wuchs mit dem Vertrauen, das durch Piemonts kühne Staatskunst erweckt ward.

Also wurde durch Manins Lehre und Cavours Beispiel die neue nationale Partei gebildet, und seltsam, die beiden Bundesgenossen verkehrten nicht miteinander. Der Diktator von Venedig baute seine Hoffnungen lediglich auf den offenbaren Gang der Turiner Politik, auf vereinzelte Mitteilungen aus dritter Hand und auf einige deutliche Winke, die von oben kamen: so erschien bald nach dem Kongreß eine halbamtliche Schrift aus den Tuilerien »Italien und Frankreich im Jahre 1848«, die für die neue Erhebung ein festes Bündnis zwischen den beiden großen romanischen Völkern verlangte und bereits Savoyen als den Preis des Bundes nannte. Unheimliche Gerüchte, von den Mazzinisten emsig verbreitet, hochgefährlich für das alte böse Mißtrauen der Nation, beirrten die Patrioten. Auch Cavour wird uns verraten, schrieb der Tollkopf Montanelli, wie weiland Karl Albert, »der Meineidige von 21, der Schlächter von 33, der Verschacherer Venedigs von 48«. Für erwiesen galt, daß der Turiner Hof die Umtriebe der Murats begünstigte. Nur Manin blieb unentwegt in seinem Vertrauen: Cavour ist zu klug, zu ehrgeizig, um dem Rufe der Nation sich zu versagen; eine Regierung muß anders reden als wir, die wir die Revolution sind. Cavour hat keineswegs zur Zeit des Pariser Kongresses mit Manin sich verständigt, wie man aus einer unklaren Redewendung Henri Martins ( Daniel Manin, Paris 1861, p. 363) schließen könnte. Die obige Darstellung beruht auf den Lettere di Daniele Manin (Torino 1859) und auf dem Epistolario di Giuseppe La Farina, edt. A. Franchi (Milano 1869), namentlich Bd. II, S. 22 und S. 426 ff.

Bald fand sich zu Manin und Pallavicino noch ein dritter Erwecker der Geister hinzu: der Sizilianer Giuseppe La Farina – ein erprobter Kämpe der Republik gleich dem Venetianer. Der gewandte Vielschreiber hatte soeben in seiner »Geschichte Italiens seit 1815« den Ernst seiner Vaterlandsliebe, die Nüchternheit des bekehrten Radikalen bekundet; doch erst in der praktischen Politik wuchsen seinem Talente die Schwingen. Denn wie kein zweiter verstand der schöne Mann mit dem milden und festen Wesen die Herzen zu gewinnen. Treu und wahrhaft, rein und uneigennützig in seiner bitteren Armut, setzte er den letzten Hauch des Leibes und der Seele für sein Vaterland ein – eine ungeheure Arbeitskraft, die ihm ermöglichte, die gesamte Korrespondenz des Nationalvereins außerhalb Piemonts allein zu schreiben und dergestalt drei Jahre lang die Wachsamkeit der österreichischen Polizei zu täuschen. Im September 1856, als Kossuth und die Genossen Mazzinis mit höchster Bestimmtheit von den muratistischen Ränken des Grafen erzählten, faßte sich der Sizilianer ein Herz und fragte geradeswegs bei dem Minister an, wessen man sich zu versehen habe von seinen geheimen Plänen. Eine frohe Enttäuschung erfolgte, der Bund ward geschlossen zwischen dem Minister und den Patrioten. Durch den neuen Freund empfing der Graf genaue Kunde von den geheimen Arbeiten der nationalen Partei, die er wenig, und von der erregten Stimmung jenseits der piemontesischen Grenze, die er gar nicht kannte. Um Sonnenaufgang, zu der Stunde, die in Italien die verschwiegenste des Tages ist, pflegte fortan La Farina im Palaste Cavours vorzusprechen; dort tauschten die beiden rauchend Gedanken und Pläne aus, und beim Abschied hieß es wohl: »Tun Sie, was Sie können. Aber vor der Welt werde ich Sie verleugnen wie Petrus seinen Heiland!« Jedermann glaubte dem Sizilianer, wenn er in seinen Schriften beharrlich versicherte, die Absichten der Regierung seien ihm gänzlich verhüllt. Und nicht bloß vor der Welt, selbst vor den nächsten Freunden und Amtsgenossen Cavours blieben diese Zusammenkünfte durch viele Monate verborgen. Auch die Partei Rattazzis im Parlamente, welche sich rühmte, daß der Graf ihr diene, wurde vielmehr von ihm an unsichtbaren Fäden gelenkt.

Im August 1857 entstand der Nationalverein, unter dem Vorsitz Pallavicinos und Garibaldis, in Wahrheit geleitet durch den Sekretär La Farina – die erste große politische Gesellschaft in Italien, die alles Sektenwesen gänzlich verwarf. Der Verein wirkte öffentlich, der piemontesischen Freiheit froh, und auch in den geknechteten Ländern Italiens, wo er gezwungen war, geheim zu arbeiten, mahnte er ab von Verschwörungen und Aufläufen, gewöhnte die Nation, auf den Krieg, auf geordnete militärische Kräfte zu hoffen. Er stachelte den nationalen Stolz durch die bittere Frage: »wozu nützt uns der italienische Genius, wenn Talente zu besitzen in vier Fünfteln Italiens ein Unglück, sie zu gebrauchen ein Verbrechen ist? Was frommt es uns, der Welt einen Cäsar und Bonaparte geschenkt zu haben, wenn die Soldaten Italiens als Hilfstruppen der Kroaten dienen müssen?« Das Programm des Vereins sagte vorsichtig nur: für die Erreichung seiner Ziele sei notwendig die Tätigkeit des italienischen Volks, nützlich die Hilfe der piemontesischen Regierung. Doch die Führer wußten längst, daß ohne den Staat und das Heer Piemonts die Bewegung im Sande verlaufen mußte. »Was soll,« schrieb La Farina zur Belehrung der Phrasenhelden, »was soll das harmlose Kälbchen Italien beginnen unter so vielen gewappneten Adlern, Löwen und Leoparden, wenn es sich in die Unmöglichkeit versetzt, seine Hörner zu gebrauchen? Wir glauben an den Fortschritt des Guten, nicht an das Ende des Bösen auf der Welt.«

Der Diktator Venedigs sollte die Früchte seines Tuns nicht ernten; bald nachdem er das erste Manifest des neuen Vereins unterzeichnet, unterlag Manin der furchtbaren Arbeit, die ihm den Schweiß des Hirns, das Blut des Herzens entpreßte. Und gleich ihm sollten in wenigen Jahren fast alle Führer dieser herzerschütternden Bewegung dahingehen: La Farina, Farini und Cavour selber. Denn auch aus Cavours leichten Umgangsformen brach dann und wann schreckhaft die wilde Glut, die sein Herz verzehrte, hervor. Er erbleichte, als man ihm erzählte, wie die Knechte der Barclayschen Brauerei den k. k. Frauenpeitscher Haynau mißhandelt hatten, und rief mit zitternder Stimme: »ich sage Ihnen, diese Brauer von London haben Italien eine Lektion gegeben!« Wie arm erscheint neben solcher dämonischen Leidenschaft der Patrioten des Südens jene satte, behagliche Verzweiflung am Vaterlande, die zur selben Zeit unter den deutschen Liberalen vorherrschte! Wie erbärmlich vollends die deutsche Phrasenseligkeit neben dem klaren entschlossenen Realismus der Südländer! Der Verein La Farinas behandelte alle kirchlichen, sozialen, politischen Streitpunkte als offene Fragen und verfocht nur die eine Losung: Krieg gegen Österreich, Viktor Emanuel König von Italien! Sein deutsches Gegenbild faßte Resolutionen über Erbfriedriche und österreichische Schmerzenskinder, über alles, was da kreucht und fleucht zwischen Himmel und Erde, und betrachtete nur das eine, daran Deutschlands Zukunft hing, die sogenannte preußische Spitze, als eine offene Frage. Darum ward der Nationalverein der Italiener eine Macht in der Geschichte seines Landes, der deutsche Nationalverein hat seinen Lohn dahin.

Der alte Wunsch Cavours, es solle fortan nur zwei Parteien geben, Partikularisten und Nationale, näherte sich der Erfüllung; die vollständige Vereinigung aller Patrioten unter einem Banner ward freilich hintertrieben durch den eitlen Übermut Mazzinis. Nimmermehr mochte der Gründer des »jungen Italiens« ertragen, daß jetzt ein wirkliches junges Italien sich erhob, begeistert für die Ideale einer neuen reiferen Zeit. Er hatte kein Ohr für die Bitte Manins: »ich erkenne dem Genuesen den Namen des großen Italieners zu, aber jetzt beschwöre ich ihn, sich zurückzuziehen.« Er witterte Verrat, da La Farina sich dem Parteiterrorismus der Roten entzog und die nüchterne Wahrheit bekannte: »zuerst muß Italien da sein, leben; dann erst kommt die Frage, wie es sein Leben einrichten will.« Als nun die Mehrzahl der denkenden Radikalen, die Flüchtlinge in Turin fast sämtlich zu dem Nationalverein übertraten, da beschloß er zu zerstören, wo er nichts schaffen konnte – nach dem brutalen Brauche seiner Partei, der schwachen Köpfen als Kühnheit gilt. Er stiftete in Genua einen Geheimbund, welcher mit nichtswürdigen Ränken den Briefwechsel des Nationalvereins zu durchkreuzen suchte. Bald ging die Saat des Unheils auf: in Modena erwachte wieder der alte reaktionäre Geheimbund der Sanfedisten. Unerschrocken kämpfte der piccolo corriere d'Italia, das Sonntagsblatt des Nationalvereins, gegen die Torheit von rechts und links. La Farina wußte, daß Revolutionen immer nur das Werk einer Minderheit sind, doch er wiederholte auch unablässig die Lehre: eine Verschwörung vermag den Boden zu ebnen für eine Umwälzung, niemals eine Revolution zu schaffen.

Cavour scherzte oft: »es gibt einen Stand der Gnade für Minister und Ehemänner; sie merken es nicht, wenn die Liebe schwindet.« Er selber hat solchen Gnadenstand nie gekannt, er folgte wachsam jedem Wellenschlage der öffentlichen Meinung, empfand mit tiefem Kummer, der still an seinem Leben nagte, die rasenden Schmähreden der Roten. Der Graf ließ um diese Zeit die Briefe de Maistres herausgeben; denn Mark und Bein erschütternd klang aus dem Munde des frommen Katholiken der Hannibalshaß wider Österreich. Doch begnügte er sich, die Bewegung der Geister aus der Ferne zu leiten. Der Nationalverein blieb in stolzer Unabhängigkeit, verschmähte jede Unterstützung von der Regierung – um dem Minister Verlegenheiten, sich selber arge Nachrede zu ersparen – empfing nur durch La Farina die Ratschläge des Meisters. Cavours freier Sinn duldete nicht einmal eine offiziöse Zeitung; die feste Mannszucht der Patrioten erlaubte ihm, auf die Treue der unabhängigen Parteiblätter zu bauen. Behutsam wahrte er selbst gegen La Farina die verantwortliche Stellung des handelnden Staatsmannes. »Gewiß,« sagte er dem Vertrauten, »Italien wird eine Nation werden nach den Plänen Ihres Vereins; doch ob in zwei, in zwanzig oder hundert Jahren, das weiß ich nicht.« Von hohem Werte war ihm die derbe formlose Soldatenart des Königs, welcher noch manchmal in seine bigotten Gewissensbedenken zurückfiel und dennoch mit den Männern der Linken, sogar mit Brofferio, als guter Kamerad verkehrte: auch die radikalen Piemontesen bauten auf den Ré galantuomo.

Noch bei Manins Lebzeiten gaben die Flüchtlinge dem Turiner Hofe ein erstes Zeichen des Vertrauens. Sie veranstalteten eine große Sammlung, um die Festung Alessandria zu rüsten, und die Namen Boston und Philadelphia auf den neuen Kanonen bekundeten, daß ringsum in der Welt die versprengten Söhne des Vaterlandes an die Zukunft des Hauses Savoyen glaubten. Eine Gegendemonstration, die Mazzini versuchte, scheiterte kläglich. Seitdem häuften sich die Beweise des Zutrauens. Ein reicher Venetianer der Terra ferma vermachte dem Grafen sein ganzes Vermögen zum Besten der Volksschulen Piemonts. Mit erstaunlicher Geduld ließ die Nation ihren Staatsmann gewähren; jedermann, sagten die Italiener später, jedermann war stolz, der Mitwisser eines so großen Geheimnisses zu sein. Garibaldi schrieb kurz vor dem Kampfe: »Cavour kann alles – nun tue er auch alles und noch etwas mehr!« Allein Neapel rechtfertigte noch immer den Namen des Regno, der schon im Mittelalter die träge Selbstgenügsamkeit dieses großgriechischen Sonderlebens bezeichnete. Der Süden blieb stumm, die übrige Nation war einig, und Cavour selbst schilderte am Ende seiner Laufbahn den Mut und Einmut dieser glorreichsten Jahre der Italiener also: »Ja, zwölf Jahre lang war ich ein Verschwörer mit allen meinen Kräften, um meinem Vaterlande die Unabhängigkeit zu schaffen. Aber ich war ein eigentümlicher Verschwörer, ich verkündete mein Ziel im Angesichte des Parlaments und an allen Höfen von Europa. Ich führte mit mir das ganze oder fast das ganze subalpinische Parlament, in den letzten Jahren waren fast alle Mitglieder des Nationalvereins meine Adepten und Genossen, und heute verschwöre ich mich mit 26 Millionen Italienern.« Nicht leere Eitelkeit hieß den Minister die Männer der nationalen Partei seine Adepten nennen; denn so gewiß im Leben der Völker die Tat schwerer wiegt als das Wort, ebenso gewiß war Cavour der Meister dieser Revolution. In Wien war man den Verhandlungen des Kongresses mit schwerer Sorge gefolgt. Kaiser Franz Joseph versuchte endlich, durch Milde seine italienischen Untertanen zu gewinnen, gab im Dezember 1856 die Güter der lombardischen Flüchtlinge frei, kam im folgenden Monat selber nach Mailand, ermahnte den Papst und die Bourbonen zur Mäßigung. Aber die Zeit der Versöhnung war vorüber; auch der neue Statthalter, der wohlmeinende Erzherzog Max, konnte die Wunden, die der kaiserliche Stock geschlagen, nicht mehr heilen. Während der Kaiser in Mailand weilte, sandte die lombardische Hauptstadt ein reiches Geschenk nach Turin, auf daß vor dem Palaste des subalpinischen Parlaments dem glorreichen Heere Italiens ein Denkmal errichtet werde. Mit Schadenfreude sah Cavour dem verspäteten schwächlichen Besserungsversuche zu. In der Tat fiel die Wiener Politik alsbald in ihr altes Unwesen zurück. Herrischer denn je verlangte die Hofburg im Februar 1857 die Bändigung der piemontesischen Presse und forderte Rechenschaft wegen der Kanonen von Alessandria. Abermals verwies Cavour trotzig auf die Freiheit des einzigen glücklichen Staates der Italiener; er fragte höhnisch, ob Piemont ein Vertrauenszeichen der Italiener abweisen solle. Da brach Osterreich den diplomatischen Verkehr mit Turin gänzlich ab, und Cavour ließ auf die Drohungen der Mailänder Zeitungen unzweideutig erwidern: »in den Kämpfen, welche um die großen Grundsätze der Zivilisation und der Gerechtigkeit begonnen werden, entscheidet heute nicht mehr allein die Zahl der Soldaten noch die Ausdehnung des Gebiets!« Ein Vermittlungsversuch, von Preußen unternommen, offenbarte nur die tiefe Kluft zwischen den beiden Kabinetten.

Der Graf feierte sodann den Triumph, daß Österreich den Zollvertrag mit Modena auflösen mußte, weil Piemont kraft des Mailänder Friedens dieselben Begünstigungen wie Modena forderte. Seitdem steuerte Cavour geradeswegs dem Kriege entgegen. Die neuen Festungswerke, die Österreich auf fremdem Boden in Piacenza errichtete, gaben dem Turiner Hofe willkommenen Vorwand, für die Sicherung des eigenen Landes zu sorgen. Niemand sprach mehr von dem vielgerühmten usbergo di Savoia der alten Zeit, von den kleinen Festen, welche die Klausen der Alpentäler gegen Frankreich deckten. Der neue Schild Piemonts ward gegen Osten gekehrt. Casale, dessen Verstärkung der Kriegsminister schon vor Jahren eigenmächtig begonnen hatte, sollte mit Alessandria und Valenza durch Eisenbahnen verbunden werden, und dergestalt zwischen Po und Tanaro ein Festungsdreieck entstehen, das dem kleinen heimischen Heere gestattete, die Ankunft fremder Hilfe abzuwarten. Mit unerhörter Offenheit bekannte Cavour diesen Zweck dem Parlamente; der Plan ward genehmigt, obgleich die Gesinnungshelden der Linken weihevoll klagten: »nicht feste Mauern verteidigen das Vaterland, sondern die starken Herzen seiner Bürger.« Im Jahre 1850, als Cavour den Vorschlag aussprach, die herrliche Bucht von La Spezzia zu einem Kriegshafen ersten Ranges zu erheben, hatte Gioberti höhnisch gefragt: »das kleine Piemont wird doch nicht einen grandiosen Gedanken des ersten Napoleon verwirklichen wollen?« Jetzt wurde ernstlich Hand ans Werk gelegt, und der Graf antwortete nur mit seinem ausgelassenen Gelächter, als man bedenklich meinte: wie können wir dicht an den Grenzen Modenas ein so kostbares Werk, den Österreichern eine leichte Beute, errichten?

Was gab dem Grafen den Mut, dies hohe Spiel zu spielen, das mit dem Bankrott oder dem Kriege endigen mußte und selbst manchem seiner Freunde eine Tollheit schien? Er hatte immer an die natürliche Gemeinschaft der romanischen Völker geglaubt und als ein echter Italiener die Bewunderung für seinen größten Landsmann, für den Schöpfer des Code Napoléon nie verleugnet. Seit dem Kongresse wußte er, daß der Erbe dieses Mannes den Hoffnungen der Italiener ungleich näher stand als das französische Volk. Es fehlte zwar nicht an bedenklichen Anzeichen, die von dem zaudernden Schwanken des Kaisers Kunde gaben. Graf Walewski tadelte mit scharfen Worten den unnützen Lärm, den das kleine Piemont in der Welt errege. Bald nach dem Kongresse begannen Österreich und Frankreich tiefgeheime Verhandlungen mit dem Papste wegen der Verwaltung des Kirchenstaats – Unterhandlungen, die der Wiener Hof selbst vor den Preußischen Diplomaten in Abrede stellte. Das Ergebnis war – eine noch innigere Verbindung der Kurie mit der Hofburg; Napoleon aber rief seinen ultramontanen Gesandten Rayneval aus Rom zurück, ersetzte ihn durch den Herzog von Grammont. Cavour empfing unterdessen von dem treuen Villamarina beruhigende Berichte über die Absichten des Kaisers und bald stand er selber im Briefwechsel mit den Tuilerien. Er hörte gelassen die Vorwürfe des französischen Diplomaten an; nur einmal, da der Gesandte Talleyrand in seinen friedfertigen Ermahnungen allzu eifrig ward, ging der Graf an seinen Schreibtisch und zeigte dem Erregten die Handschrift seines Kaisers. Der Herzog von Grammont klagte einst: »Cavour ist toll geworden; von England kann er doch unmöglich so feste Zusicherungen haben.« Da erwiderte eine Freundin des Ministers: »ist es denn noch nie geschehen, daß ein Souverän hinter dem Rücken seiner Diplomaten seine Fäden spinnt?« Der Franzose aber fuhr erschreckt in die Höhe: »da können Sie ein wahres Wort gesprochen haben.«

Seit dem letzten Kriege war die Gruppierung der Mächte gänzlich verschoben. Rußland und Frankreich standen in gutem Einvernehmen, die Zusammenkunft der beiden Kaiser zu Stuttgart (September 1857) galt sicherlich auch der italienischen Frage. Von England hoffte Cavour nichts mehr seit jener Londoner Reise; auch die Patrioten Siziliens, die das englische Kabinett oftmals mit ihren Aufstandsplänen behelligt, gaben jetzt den Lord Feuerbrand auf, und nachdem gar die Tories an das Ruder gelangt, stand England entschieden auf Österreichs Seite. Daher mußte Cavour in allen Händeln, die dem orientalischen Kriege entsprangen, in den Streitigkeiten über Rumänien, Serbien, Montenegro, die Meinung Frankreichs und Rußlands unterstützen. Auch auf Österreichs innere Feinde mußte er zählen, wie jeder, der einen Entscheidungskampf gegen das Völkergemisch des Donaureiches wagt. An den Nationalverein erging die Weisung, man solle beim Ausbruch des Krieges die ungarischen Regimenter zu gewinnen suchen. Die Diplomatie Piemonts, deren verschlagene Umsicht mit dem alten Ruhme der Venetianer wetteiferte, stand längst in Verkehr mit der gemäßigten Partei des magyarischen Adels; dringend beschwor Cavour den getreuen La Farina, der alte Unheilstifter Kossuth, der plötzlich in Italien auftauchte, müsse fern bleiben, dürfe nimmermehr Garibaldis leicht bestimmbares Gemüt betören.

Die Furcht vor patriotischen Übereilungen, welche den Verbündeten in den Tuilerien abschrecken könnten, blieb unter den Sorgen dieser drangvollen Jahre die schwerste. Fast in keinem der Briefe, die der Graf den Verschworenen sendet, fehlt die Mahnung: »jetzt ist nicht die Zeit für Straßenkämpfe, für provisorische Regierungen und ähnliche Torheiten von 48.« Cavours Politik hätte in jedem anderen Lande als tollkühner Radikalismus gegolten; neben den Geheimbünden Italiens erschien sie hochkonservativ. Der Beweis ihrer Größe liegt in der Fülle widersprechender Anklagen, welche aus Wien und Genua wider sie geschleudert wurden. Als Pallavicino einmal schwankte und im Parlamente den ohnmächtigen Künsten der Diplomatie den Frieden aufkündigte, da tröstete der Minister: »in Paris und in der Krim ist ein Same ausgestreut, den die Zeit und die Weisheit der Italiener zur Reife bringen werden;« dann verwies er auf »den großen Improvisator, die Geschichte«. Doch die Ungeduld der Radikalen griff der Geschichte vor. Im Sommer 1857 brachen zu Genua und Livorno Unruhen aus, von Mazzini angezettelt; zu Parma herrschte, seit der geheimnisvollen Ermordung des Herzogs, harter Kriegszustand, unheimliche Gärung im Volke; bald folgten Aufstände in Neapel und Sizilien, wilde Bewegungen in den großen lombardischen Städten. Der Graf versuchte auch von der Torheit der Gegner Gewinn zu ziehen: Europa, sagen seine Noten, hat den Hilferuf Italiens nicht hören wollen; jetzt bewährt sich, was ich in Paris weissagte!

Im Januar 1858 sollte das Seherwort abermals in Erfüllung gehen, schrecklicher als der Prophet geahnt. Felix Orsini unternahm den wahnsinnigen Mordanfall wider den Kaiser; Napoleon, gewaltsam aufgescheucht aus seiner phlegmatischen Ruhe, verhängte die Schrecken des Sicherheitsgesetzes über sein Land. Wer durfte noch hoffen, daß der Kaiser den Landsleuten Orsinis seine Hilfe leihen werde? Jetzt endlich, jubelte Graf Buol, müsse der revolutionäre Staat seine Lektion empfangen. War denn nicht allbekannt, daß der Mörder keineswegs zu der wildesten Partei der Italiener gehörte und vor kurzem noch versucht hatte, sich dem Grafen zu nähern? Ungestüm verlangte der Tuilerienhof von den gastfreien Staaten England, Belgien, Piemont und der Schweiz strenges Einschreiten wider die Flüchtlinge. Er forderte in Turin, daß Mazzinis Organ Italia e popolo verboten, eine Anzahl der gefährlichsten Flüchtlinge ausgewiesen, allen aber untersagt würde, in piemontesische Zeitungen zu schreiben; gehorche man nicht, so werde der Kaiser verzichten auf seine italienischen Pläne. Abermals, wie nach dem Dezemberstaatsstreich, empfand der kleine Staat schwer seine Abhängigkeit von dem anmaßenden Nachbar. Ein radikales Blatt, das die Tat Orsinis gepriesen, wurde von den Geschworenen freigesprochen; die Presse Mazzinis predigte wieder das Evangelium des Tyrannenmordes, sie hörte nicht, wie der Minister flehend schrieb: um Gottes willen, greifet mich an, aber schonet des Kaisers!

Es war, nach Cavours Geständnis, die schwerste Gefahr, die jemals seine Regierung bedroht. Doch das Ansinnen einer offenbaren Verfassungsverletzung empörte den Stolz des Piemontesen. »Karl Albert,« schrieb er an Villamarina, »starb in Oporto, um sein Haupt nicht vor Österreich zu beugen. Unser junger König wird in Amerika sterben, oder nicht einmal, nein hundertmal am Fuße unserer Alpen kämpfend fallen, ehe er mit einem einzigen Flecken die alte makellose Ehre seines edlen Hauses besudelt.« Indem er also die Verfassung wahrte, beteuerte er zugleich lebhaft seine Entrüstung über die Mordtat. Auf Napoleons Wunsch erschien sodann im Turiner Staatsanzeiger der letzte, wahrscheinlich apokryphe Brief Orsinis, der die Reue des Fanatikers, sein Vertrauen auf den Kaiser aussprach. Cavour selber ermahnte in einigen einleitenden Worten die Jugend seines Landes, nach dem Vorbild jenes Verirrten feste Zuversicht zu hegen zu jenem erhabenen Willen, der Italien günstig sei. Wie die Dinge lagen, ward noch ein weiteres Zugeständnis an den erzürnten Freund in Paris unvermeidlich. Die Regierung schlug vor, daß Verschwörungen gegen fremde Souveräne in Zukunft als Verbrechen bestraft, die Geschworenen nicht mehr ausgelost, sondern durch den Bürgermeister und zwei Richter ernannt werden sollten. Wohl klang es stattlich, wenn der Graf versicherte: »wir gehorchen allein dem Drange unseres eigenen Gewissens;« das ganze neugewonnene Ansehen des Staates beruhte ja auf seiner gesetzlichen Freiheit. Und gewiß sprach Cavour ein tiefsinniges und wahres Wort, da er erklärte: die Preßfreiheit, ein Segen für alle inneren Fragen, werde leicht verderblich für die auswärtige Politik. Dennoch fühlte jedermann, daß der Minister nur die halbe Wahrheit sagte, daß Napoleon jenes Gesetz gefordert hatte.

Die Stimmung im Hause stand ohnedies bedenklich. Die letzte Schilderhebung Mazzinis in Genua hatte die Besitzenden beunruhigt, auch manche Behörden in das Lager der Reaktion geführt. Und da Rom, wie der Minister vergnügt erzählte, bei den Wahlen im Herbst 1857 seinen Priestern einen unbeschränkten Kredit auf die bessere Welt eröffnete, so ging die klerikale Partei beträchtlich verstärkt aus dem Wahlkampfe hervor. Cavour mit der unversieglichen Kraft seines Hoffens nahm die Schlappe leicht; er freute sich, daß der fromme Adel jetzt in das parlamentarische Leben hineingezogen werde: »die meisten, die als Klerikale eintreten, werden als Konservative hinausgehen.« Der große Haufe dagegen ward – kraft einer Unart, die mit der Sicherheit eines Naturgesetzes in allen ähnlichen Krisen wiederkehrt – durch die halbe Niederlage weiter nach links gedrängt. Man ruhte nicht, bis Rattazzi zurücktrat; er hatte jene Künste der Wahlbeherrschung, welche in dem freien Piemont nach romanischer Weise sehr rücksichtslos angewendet wurden, allein gegen die Radikalen spielen lassen und also den Ultramontanen in die Hände gearbeitet. Nur nach schweren Kämpfen stimmte diese argwöhnisch-liberale Mehrheit der neuen Freiheitsbeschränkung zu. Eine verschrobene, aufgeregte Debatte hob an, wobei die gemäßigten Liberalen als die Verteidiger des Preßzwanges erschienen. Erst Farini traf den Kern des Handels mit den Worten: Österreich ist der Schwerpunkt des alten Europas, Frankreich der Schwerpunkt des neuen. Noch aufrichtiger bekannte Graf Mamiani, ein alter liberaler Minister des Papstes, der jetzt dem Turiner Kabinett seinen treuen Beistand lieh: Ich habe einst den Prinzen Ludwig Bonaparte mit unserer Trikolore geschmückt gesehen; heute muß unsere Selbstverleugnung den Kaiser festhalten bei den Träumen seiner Jugend.

Trotz solcher ermutigenden Zurufe blieb die Stimmung der Patrioten niedergeschlagen. Wie ein gebrochener Mann schrieb Azeglio im Juni aus seiner Villa Cannero am Langen See: »Der Zweck meines Lebens ist verfehlt. Ich werde dies feindliche Ufer mir gegenüber nie mehr italienisch sehen.« Doch unerschütterlich, als sei nichts geschehen, verharrte der Turiner Hof bei seiner aufreizenden nationalen Politik; er überhäufte im Frühjahr den Papst mit Vorwürfen wegen der zahllosen Verbannungen und der Mißverwaltung im Innern, klagte bei den großen Mächten über den unendlichen Belagerungszustand in Modena. Denn während die klugen Leute in Deutschland den Prozeß Orsinis, die leidenschaftlichen Bitten, die der Verurteilte in seinem ersten, echten Briefe an den Kaiser gerichtet, und die klug berechnete Verteidigungsrede Jules Favres vornehm als ein Gaukelspiel belächelten, wußte Cavour längst, wie tief die Worte des Verschwörers in der Seele Napoleons hafteten. Die Bluttat wurde dem Napoleoniden eine Mahnung, durch entscheidende Taten seinen Thron sicherzustellen vor den Angriffen italienischer Banditen.

Auch diesmal, wie einst da das Connubio gestiftet ward, entsprang aus einem um Frankreichs willen vollzogenen reaktionären Gesetze eine neue schwungvolle Epoche der italienischen Politik. In demselben Augenblicke, da Azeglio jene verzweifelten Worte niederschrieb, erschien zu Turin Napoleons Vertrauter, der Arzt Conneau, im tiefsten Geheimnis, also daß selbst der französische Gesandte nichts ahnte, und lud Cavour ein, in dem lothringischen Plumbersbade mit dem Kaiser zu verhandeln. Italien frei bis zur Adria, ganz Oberitalien zu einem Königreiche vereinigt, Frankreich vergrößert durch Savoyen – so lautete die mündliche Abrede am 20. Juli. Aus den Andeutungen des Kaisers ergab sich, daß er auf der Halbinsel einen Staatenbund von vier Staaten unter dem Vorsitze des Papstes zu bilden hoffte; über die Zukunft von Nizza gingen die Meinungen noch auseinander. Doch das Wesentliche, der Bund mit Frankreich zur Befreiung Norditaliens, war beschlossene Sache. Nur die beiden Souveräne, Cavour und Villamarina, aber – bezeichnend genug für den Napoleoniden – kein Franzose kannte das Geheimnis. Seinen Heimweg nahm der Graf über Baden, wo er den Prinzregenten von Preußen hochschätzen lernte und von der Großfürstin Helene ermutigende Zusagen erhielt; mit erstaunlicher Keckheit sprach er dann in der Schweiz von dem nahen Kriege. Österreich schöpfte Verdacht, versuchte umsonst durch geheime Verhandlungen an den kleinen deutschen Höfen durchzusetzen, daß der Deutsche Bund ihm die Herrschaft in Mailand und Venedig gewährleiste. Cavour hatte unterdessen erfahren, daß die Garantie, welche der preußische Hof während des Krimkrieges für Österreichs italienischen Besitz übernommen, nicht mehr zu Recht bestand. Er genehmigte im Oktober einen von La Farina entworfenen Operationsplan, wonach die Erhebung in Oberitalien durch regelmäßigen Krieg, in der Emilia durch revolutionäre Kräfte begonnen werden sollte. Im Dezember traf er mit Garibaldi zusammen und gewann das Herz des treuen Patrioten. Er bedurfte der Freischaren, um die besseren Elemente der Radikalen an sich zu ziehen; die drohende Übermacht der Aktionspartei blieb immer ein wichtiger Faktor in seiner Rechnung. Noch näher lag die Gefahr, daß Italien das Joch Österreichs nur abwerfe, um Frankreichs Ketten zu tragen. Darum wünschte der Graf einen langen schweren Krieg, der alle Glieder der Nation in seine Wirbel hineinreiße und die Franzosen verhindere, sich als die Befreier Italiens zu gebärden. Darum wagte er noch in der elften Stunde wiederholte ehrlich gemeinte Versuche, die Kronen von Neapel und Toskana für die Sache Italiens anzuwerben. Schnöde zurückgewiesen rief er dem Hofe der Lothringer zu: »nicht aus der vernünftigen und bescheidenen Ausübung einer maßvollen Freiheit entspringen die Aufstände und Unruhen.« Er durfte Rußland nicht beleidigen, das mit Neapel und Turin zugleich in Freundschaft lebte, und nahm daher keinen Teil an den diplomatischen Feindseligkeiten, wodurch die Kabinette von Paris und London nach dem Kongresse den Bourbonenstaat belästigten. Auch der Hof von Florenz schien noch nicht ganz verloren, hatte er doch in den jüngsten Jahren oft die Hofburg durch schwache Regungen selbständigen Willens gekränkt. Cavour mußte um so mehr wünschen solche Gesinnung zu kräftigen, da ihm bekannt war, daß eine Partei in den Tuilerien eifrig an der Gründung eines napoleonischen Königreichs Etrurien arbeitete, und der Kaiser selbst diese Gedanken begünstigte. Darum wurde der gewandte, liebenswürdige Boncompagni nach Florenz gesendet, um den Hof für die große Sache zu gewinnen. Darum sollte auch der Nationalverein in Toskana – so verfügte die Weisung des Ministers – sich auf ein gemäßigtes Programm beschränken, das selbst loyale Bürger, selbst Offiziere unterschreiben konnten; lediglich die militärisch-diplomatische Vereinigung mit Piemont, die Auflösung aller mit Österreich geschlossenen Verträge durfte man fordern. Nur in der Romagna, in Modena und Parma war alles Bestehende faul bis ins Mark; hier half allein die offene Empörung, und der Reformer in Turin säumte nicht, sie vorzubereiten. Doch unterschied Cavour scharf zwischen der Romagna und dem Patrimonium Petri; die Unverletzbarkeit des eigentlichen Kirchenstaates blieb die unabwendbare Bedingung, davon Napoleons Beistand abhing.

Überdenken wir diese diplomatische Verwicklung, die furchtbar bedrängte Lage eines Mittelstaates, der eine europäische Umwälzung zu beginnen wagte, so brechen die gellenden Anklagen der Aktionspartei wider die Zahmheit der Pläne Cavours alsbald zusammen. Italien frei von fremdem Einfluß, neu geordnet durch eine starke subalpinische Macht – das blieb noch immer der einzige helle Punkt in den Nebeln der Zukunft. Und doch lebte in der Seele des verwegenen Mannes, der so vorsichtig mit dem möglichen rechnete, das Vorgefühl ungeheurer Dinge. Cavour glaubte, so freudig wie nur ein Heißsporn unter den Jüngern Mazzinis, an die dämonischen Kräfte der Revolution, welche einmal aufwogend in unabsehbare Fernen sich ergießen mußten. Er ahnte, was nach dem Ausbruch der Bewegung selbst der ängstlichere Azeglio aussprach, daß in großen Tagen das Reich des möglichen, gleich allen Reichen, seine Grenzen zu erweitern strebt. Ihm entging nicht, wie leicht der Starrsinn der Höfe die beiden einzigen treuen Freunde Italiens, Piemont und den Geist der Nation, in die Bahnen des Einheitsstaates treiben konnte. Darum kehrt in den Briefen seiner Genossen immer die Warnung wieder: Hütet euch, der Zukunft vorzugreifen ( l'avvenire rimagna intatto)!

 

Am Neujahrstage 1859 verkündete die schroffe Anrede Napoleons III. an den österreichischen Gesandten – deutlicher als der Kaiser selber wünschte – das Nahen des Krieges. Augenblicklich warf die Hofburg frische Regimenter in die Lombardei. Der König von Sardinien, durch den Nationalverein über jede Truppenbewegung jenseits des Tessin genau unterrichtet, eröffnete am 10. Januar sein Parlament mit den unzweideutigen Worten: »Der Horizont, an dem das neue Jahr heraufsteigt, ist nicht ganz heiter. Wir sind nicht unempfindlich für den Schmerzensschrei, der aus so vielen Teilen Italiens uns entgegenschallt.« Nochmals, wie vor vierzig Jahren, da die Kreolen ihren Schmerzensschrei erhoben, übte der pathetische Ausdruck seinen Zauber auf die Herzen der Romanen. In Massen waren die Lombarden herbeigeeilt, die Thronrede zu hören, der Palast erbebte von ihrem Jubel, trunken vor Freude kehrten sie heim. Noch im selben Monat zahlte der König den ersten Preis, den der schlaue Rechner an der Seine für seine Hilfe sich ausbedungen, vermählte sein geliebtes Kind mit dem roten Prinzen Napoleon, der zugleich in Turin den Bündnisvertrag zwischen den beiden Staaten unterzeichnete. Cavour übergab inzwischen dem Parlamente einen Gesetzentwurf über die Nationalgarde, welcher die älteren, verheirateten Mannschaften auf den Garnisonsdienst verwies, nur die wahrhaft kriegstüchtigen Truppen für die Feldschlacht bestimmte. Noch einmal, nun die große Entscheidung nahte, warnte der Graf, nicht durch dilettantische Spielerei den schweren Ernst des kriegerischen Handwerks zu verderben: »die Vorsehung ist die Freundin der starken und noch mehr der guten Bataillone.« Dann offenbarten die Verhandlungen über das vorgeschlagene Kriegsanlehen, wie schreckhaft gewaltig der eine Mann mit seiner breiten, lustigen Behaglichkeit den Zeitgenossen erschien. Hatte ihn schon vor vier Jahren das Geschichtswerk Antonio Gallengas ohne Widerspruch den ersten der lebenden Staatsmänner genannt, so erklang jetzt aus den Reden der Opposition oftmals jene Empfindung des Schauders, welche der Anblick echter Menschengröße erweckt: wohin treiben wir, rufen sie aus, wenn dieser Titane den Pelion auf den Ossa türmen darf? Aber auch das häßliche Geheimnis, das aller Herzen bang bedrückte, warf seinen Schatten in die Verhandlung. Die Abgeordneten Savoyens erklärten, ihre französische Heimat sage sich los von dem Kampfe für ein fremdes Volkstum. Wollt ihr uns von euch weisen, rief Costa di Beauregard, so wird die tapfere Brigade Savoia (die erprobte Lieblingstruppe des Königs) gleich uns zu stolz sein, euch ein Wort des Bedauerns nachzurufen. »Mögen Sie nie bereuen, daß Sie die Bedeutung unserer Berge, den Wert unserer Herzen so niedrig schätzten!« – »Savoyen ist zu hochherzig, um am Tage der Gefahr seinen Beistand zu verkaufen,« erwiderte der Minister, der weder leugnen noch bekennen durfte. Beide Gesetze wurden mit überwältigender Mehrheit genehmigt; dann verlautete im Parlamente zwei Monate lang, bis in den April hinein, kein Wort mehr über die nahende Erhebung.

Der Graf hatte nach Rattazzis Rücktritt auch das Ministerium des Innern und damit die schwere Aufgabe übernommen, die unter Rattazzis Leitung erschlaffte sittliche Haltung der Verwaltungsbehörden wiederherzustellen. »Nehmen Sie nur auch dies Portefeuille,« lachte der König, »es wird nicht schlechter gehen.« Jetzt gab der Minister dem Hause gelassen Auskunft über die Gefängnisse, erörterte geläufig den Begriff des ademprivio, der auf der Insel Sardinien hergebrachten Grundlasten. Derweil das Parlament also sein Alltagsgesicht zeigte, leitete Cavour aus der Stille seines Kabinetts den verwegenen Federkrieg, welcher den Kampf der Waffen vorbereitete, und zugleich den unaufhaltsamen Gang der Rüstungen. In Scharen strömten die Freiwilligen herbei. Vergeblich, daß Österreich die Grenzen Piemonts mit einer Postenkette umzog; die begeisterte Jugend von Venedig, Mailand, Toskana fand die Schlupfwinkel durch die Reihen der Feinde, Hunderte vom Adel traten als Gemeine in die Regimenter. Auch die Linie – so war Cavours Meinung – darf nicht mehr den Piemontesen allein angehören; von Freischaren nur so viel als nötig, um die Teilnahme der radikalen Partei zu erwecken, ihre meisterlosen Glieder zu bändigen; hebt der Krieg an, dann muß das Heer gleich der Lawine wachsend vorwärts treiben, in jeder eroberten Landschaft alle waffenfähigen Italiener an sich ziehen und dergestalt durch seine Masse dem übermächtigen Verbündeten verbieten, daß er ein Herr werde.

Welch ein Gegensatz der Zeiten und des Volkstums, sobald wir diese terza riscossa der Welschen mit unserem Jahre 1813 vergleichen! Hier eine Nation von Dichtern und Denkern, die allzulange mit ihren Träumen in den Wolken schweifte und nun, da sie den Mut findet, ihren Fuß fest auf die Erde zu stemmen, alle die vertrauten Mächte des Himmels anruft, ihr beizustehen: die Tröstungen des Glaubens, den sittlichen Ernst einer weltverachtenden Philosophie, die Heldengestalten ihres neuentdeckten Altertums, die glänzenden Bilder einer gottbegeisterten Kunst. Dort eine rein politische Bewegung; alle gesunden Kräfte des Volks so ganz versenkt in die Händel des Staats, daß noch auf Jahre hinaus allein Parteischriften die Geister zu entzünden vermögen. Kein Fichte, kein Schleiermacher, die das Pathos und das Ethos des Krieges vertreten; keine Hochschule, welche, der Berliner gleich, den Mut des Wissens in der Jugend stählt, um ihr den Mut des Handelns zu erwecken. Und wie leer, wie erkünstelt, wie arm erscheint das Lied vom roten Hemde, das va fuori d'Italia, neben der brausenden Jünglingsdichtung der Deutschen: Laßt wehen, was nur wehen kann, Standarten weh'n und Fahnen! Hier ein Volk ohne Presse, ohne öffentliches Leben. In tiefer Stille schreitet der Gedanke der Befreiung durch die Hütten und die Paläste, grollend schaut der Bauer auf die ausgeplünderte Hofstatt, auch an der Wand des Kleinbürgers hängt, ein beredter Mahner, das Bild des großen Königs; fest wie ein Mann erheben sich die Hunderttausende, treu und schlicht, als wüßten sie's nicht anders, opfern und wagen sie das Ungeheure. Jede Tat des wundervollen Kampfes erzählt von der bescheidenen Größe, die in alle Wege des deutschen Geistes köstliches Kleinod bleiben wird. Dort ein hochentwickeltes parlamentarisches Leben, eine laute Presse, die mit überschwenglichen Reden die Wunder italienischer Tapferkeit voraus verkündet; die planvolle Arbeit der Parteien gewinnt den Adel, die gebildete Jugend, zuletzt auch die städtische Masse, nur das Landvolk bleibt dem Kampfe fern. Aber wenn die Erhebung der Italiener mit der edlen Leidenschaft, der schönen Schwärmerei des deutschen Krieges sich nimmermehr messen kann, so ward sie doch geleitet von einer scharfen politischen Berechnung, die jenem Unschuldsalter unseres Volkes versagt blieb: sie wollte und erreichte mit der Vertreibung der Fremden zugleich den nationalen Staat.

Wunderbar schnell begriff der scharfe politische Verstand der Nation das Notwendige. »Ich streite nicht mehr, ich gehorche,« schrieb Azeglio dem Grafen; dann ging er nach Rom, die Patrioten vor unzeitigen Aufständen zu warnen, darauf nach Paris und London als Gesandter seines Nebenbuhlers. Die Denkenden aller Parteien, niemand eifriger als Garibaldi, schworen auf die alte Lehre Manins: der Krieg muß geführt werden unter der Diktatur des Königs. La Farinas Befehl an die Verschworenen lautete: jede Stadt, die sich gegen die Fremden erhebt, hat sich in schweigendem Gehorsam dem Vertrauensmanne zu unterwerfen, der im Namen des Königs die Verwaltung übernimmt; kein Klub, keine Zeitung wird während des Krieges geduldet. Der Nationalverein löste sich auf, sobald der Kampf begann, auf daß die Einheit der Leitung nicht gestört werde. Der König selbst überwand die Eifersucht gegen seinen großen Minister, den geheimen Groll wider den freimütigen Mahner. Dem derben Jäger, dem schon die Regierungssorgen des kleinen Piemont oft lästig fielen, lag nichts ferner als maßloser Ehrgeiz; doch den tapfern Degen, den treuen Italiener reizte der Krieg, und da der Kampf entbrannte, ward der König wirklich, wie er verheißen, »der erste Soldat der italienischen Freiheit«. Auch die Hingebung der Jugend Norditaliens war der Größe des Augenblicks gewachsen; sie bewährte in unvergeßlichen Taten, daß dieses Volk nicht untergehen könne. Oft ward der Feuereifer der Freiwilligen dem Grafen bedenklich; denn nicht vor dem März durfte er wagen, sein Heer durch lombardische Kräfte zu verstärken. Fürs erste mußte er durch ein verschlagenes diplomatisches Spiel Österreich vor den großen Mächten in das Unrecht setzen.

Dem Urteile der Wissenschaft, das die unveräußerlichen Rechte des Volkstums anerkennt und den großen Zusammenhang der historischen Dinge höher anschlägt als die Zufälle des Augenblicks, erscheint Österreich im Frühjahr 1859 ebenso gewiß als der Angreifer, wie Napoleon im Frühjahr 1813. Österreichs Herrschaft war der letzte Quell der Leiden Italiens. Seine Beamten regierten nicht in der Lombardei, sie standen im Feldlager. Seine Truppen bedrückten die Romagna durch einen zehnjährigen Belagerungszustand, sein Gebot schaltete nach Willkür in Modena, Parma, Florenz. Mit erfinderischer Bosheit verhöhnten die k. k. Landsknechte jedes menschliche Gefühl der Italiener. Kein Romagnole verzieh, daß die Österreicher, als sie den Banditen il Passatore erlegt zu haben glaubten, die leibliche Mutter des Getöteten herbeiholten, damit sie die verstümmelte Leiche des Sohnes erkenne. Kein Mailänder durfte vergessen, daß einst Radetzky die Lombardenstadt gezwungen hatte, einer kaiserlich gesinnten öffentlichen Dirne ein Ehrengeschenk darzubringen. – Aber jeder Übergriff der Hofburg berief sich auf rechtsgültige Verträge, auf die Zustimmung der ergebenen kleinen Höfe; und das alte Völkerrecht wußte nur von den Kabinetten, kannte Italien lediglich als einen geographischen Begriff. Noch mehr, ward Österreich den Wünschen der Italiener gerecht, so erhoben augenblicklich auch die anderen geknechteten Völker des Reiches ihre Stimme; der zentralisierende Despotismus, seit zehn Jahren der Stolz und Ruhm der Hofburg, brach zusammen. Denn unter mannigfach wechselnden Formen blieb die Regierung des Kaisers Franz Joseph von ihrer ersten Stunde bis zum Jahre 1871 immerdar dasselbe System des Schwindels, der ernten will, wo er nicht gesät, eines Schwindels, der so dreist und lügenhaft selbst an dem Hofe des dritten Napoleon nicht gedieh. Während Italiener, Magyaren, Tschechen in die Zügel knirschten, sogar unter dem herrschenden deutschen Stamme jeder freie Mann sich angeekelt abwandte von dem entgeisterten Staate, eine scheußliche Fäulnis der Sitten die Grundlagen der Gesellschaft zerfraß, verkündeten die feilen Federn der k. k. Hofpresse in die Welt hinaus wunderbare Märchen von dem verjüngten Osterreich, von den unerschöpflichen Hilfsquellen des Reiches, welche der erbliche Unverstand des Hauses Habsburg doch nie zu benutzen vermochte. Wie sollte man jetzt den erschlichenen Ruhm des Fürsten Schwarzenberg und seiner Nachfolger dem Hohngelächter Europas preisgeben, vor aller Welt gestehen, daß dies Österreich die sittlichen Mächte der Vaterlandsliebe, der Staatsgesinnung nicht kenne? Dasselbe politische Gesetz, das Philipp II. zwang, die niederländischen Rebellen zu bekämpfen, verbot dem neuen Habsburger, den Piemontesen zu weichen.

Nur die Gewandtheit der gallo-sardischen Diplomatie, die unsägliche Verblendung der Hofburg selber hat den Wiener Hof aus seiner rechtlich unangreifbaren Stellung hinausgeschleudert. Österreich rüstete zuerst; mit gutem Scheine konnte Cavour versichern, die Kriegsbereitschaft, das Kriegsanlehen Piemonts sei nur die Antwort auf die gleichen Maßregeln des Nachbarstaates. – Das Kabinett von St. James, das soeben die Macht Rußlands am Pontus durch Verträge beschränkt hatte, mußte darum auch die Verträge von 1815 verteidigen. Seit Frankreich für die Italiener Partei nahm, erwachte selbst unter den Whigs der alte Argwohn wider den napoleonischen Ehrgeiz; alle Parteien des englischen Parlaments verlangten die Wahrung des Rechtsbodens. Grundes genug für den Grafen Buol, um blindlings auf Englands Hilfe zu bauen. Schon im Januar ließ er dem englischen Hofe ein gemeinsames Eintreten der großen Mächte vorschlagen, das den Störenfried in Turin bändige. Am 25. Februar gestand er gar mit staunenswürdiger Torheit, in einer Depesche an den Grafen Apponyi, den geheimen Hintergedanken seines Hofes: Italiens Unglück ist bewirkt durch die Einführung von Verfassungen, »welche weder dem Geiste, noch der Geschichte, noch den sozialen Verhältnissen des Landes entsprechen.« So verließ er selber den Boden der Verträge, forderte Einmischung in die inneren Verhältnisse eines souveränen Staates, bekannte laut, daß ein Kreuzzug des Absolutismus wider das liberale Europa bevorstehe. Je schärfer fortan die Ansprüche Österreichs dem Völkerrechte widersprachen, umso lauter tobte die legitimistische Raserei in Wien. Auf Napoleons Geheiß veröffentlichte Lagueronniere die von Eugen Rendu verfaßte Flugschrift »Kaiser Napoleon und Italien«; sie verkündete der Welt, daß Europa dem italischen Lande als der Heimat der Kultur zu Dank verpflichtet sei. Sobald die Pläne des Napoleoniden sich entschleierten, träumte man an der Donau von der Wiedereinsetzung der Bourbonen. Hatte doch schon vor Jahren eine Denkschrift des allergetreusten Herzogs von Modena den Siegeszug wider das revolutionäre Frankreich gepredigt und kurzab gefordert: wenn einst die Fahnen des austro-italischen Bundes auf dem Montmartre wehten, dann müsse die Hauptstadt Frankreichs aus dem radikalen Paris hinweg verlegt, die Bevölkerung der französischen Binnenprovinzen nach Amerika deportiert werden! – Wahnwitzige Verirrungen, unglaubhaft nur für jene frommen Seelen, welche sich noch immer nicht befreien können von dem alten Aberglauben, als ob die Vernunft, die Wohlfahrt des eigenen Staates bei den Berechnungen der österreichischen Staatskunst irgendwie in Betracht käme!

Meisterhaft wußte Cavour solche Hoffart der Gegner auszubeuten, er spielte mit ihr wie die Katze mit der Maus – wenn anders dies triviale Bild auf den Schwachen paßt, der nur stark war durch die Macht der Ideen. In einer Denkschrift vom 1. März übergibt er dem englischen Kabinett, auf dessen Wunsch, seine Vorschläge für die Rettung Italiens. Stolz und sicher verkündet er die Lehren eines neuen menschlicheren Völkerrechts: die Welt hat schon schlechtere Verwaltungen gesehen als gegenwärtig in der Lombardei, aber vor der modernen Gesittung gelten nur jene Regierungen als legitim, »welche von den Völkern mit Dankbarkeit oder doch mit Ergebung angenommen werden.« Die Übel der Fremdherrschaft heilt nur die Revolution oder die Neugestaltung der europäischen Verträge. Will der englische Hof durch sanftere Mittel helfen, so schaffe er den Lombarden die von Österreich vor fünfundvierzig Jahren verheißene nationale Verwaltung, den Völkern Mittelitaliens die Befreiung von den fremden Garnisonen, den Staaten Parma, Modena, Toskana eine Verfassung nach dem Vorbilde Piemonts, dem Kirchenstaate die schon auf dem Pariser Kongresse geforderte gründliche Reform. »Dann wird Italien erleichtert und befriedet Englands Namen segnen.« – Noch dreister packt Cavour den Stier bei den Hörnern in einer an Azeglio gerichteten Depesche vom 17. März. Gewiß, sagt er hier zur Antwort auf Buols Anklagen, die Verfassung Piemonts ist eine Drohung gegen Österreich; dem Wiener Hofe bleibt nur die Wahl, auch diese Verfassung zu vernichten oder seine Herrschaft über das gesamte übrige Italien auszudehnen, damit die liberalen Ideen die Grenzen Piemonts nicht überschreiten. Will Österreich entwaffnen, schließt er höhnisch, so wird Piemont sich beschränken auf eine friedliche Propaganda, welche die Lösung der italienischen Frage vorbereiten soll. – Dem Grafen ward die Genugtuung, daß die Wiener Hofpresse die großartige Offenheit dieser Sprache brandmarkte als »ein Denkmal der Verächtlichkeit und Verworfenheit der Gesinnung, eine bübische Keckheit«.

Endlich am 18. März schlug Rußland, unzweifelhaft im Einverständnis mit dem Kaiser der Franzosen, das alte Auskunftsmittel diplomatischer Verlegenheit, einen Kongreß der großen Mächte vor, und noch feindseliger denn vorher prallten jetzt die alte und die neue Zeit aufeinander. Der Turiner Hof verlangte Zutritt zu dem Rate der Pentarchie, wie einst nach dem orientalischen Kriege: wir vertreten Italien, auf uns ruht das Vertrauen des unglücklichen Volkes. In der Hofburg fand man kaum Worte scharf genug, diesen Einbruch in die alte aristokratische Verfassung des Staatensystems zurückzuweisen. Welche offenbar abgeschmackte Anmaßung! – schrieb der toskanische Gesandte aus Wien – jeder andere Staat Italiens darf mit besserem Rechte an dem Kongresse teilnehmen, denn Piemont allein ist nicht durch Spezialverträge an Österreich gebunden. Gerade die Aufhebung dieser Verträge, welche den kaiserlichen Truppen den Einmarsch in die Nachbarlande gestatteten, sollte nach Cavours Anschauung die Aufgabe des Kongresses bilden. Graf Buol dagegen wollte die Spitze des Kongresses gegen die Verfassung Piemonts kehren; er wiederholte den einst zu Aachen und Laibach von dem Fürsten Metternich aufgestellten Grundsatz der Interventionspolitik: der Kongreß darf über die inneren Verhältnisse der Staaten Mittelitaliens nur dann beraten, wenn die beteiligten Souveräne ihn anrufen. Das will sagen: er darf gar nicht darüber beraten. – So trieb man im Kreise umher. Preußens wohlmeinender Vorschlag, in Mittelitalien einen Staatenbund, unabhängig von Österreich wie von Piemont, zu schaffen, erschien dem Herrscherstolze des Wiener, den Hoffnungen des Turiner Kabinetts gleich unerträglich.

Während diese Händel schwebten und zugleich die Streitfrage, wer zuerst entwaffnen solle, die Höfe erregte, war auf den schweigsamen Verbündeten in Paris noch immer kein Verlaß. Der Kaiser sah mit Sorge den mangelhaften Zustand seiner Heeresrüstung. Prinz Napoleon, der Freund Italiens, wurde plötzlich von seinem Ministerposten entlassen, Baron Hübner, Graf Walewski und die spanische Damenpartei in den Tuilerien triumphierten. Da eilte Cavour am 25. März selber nach Paris, um den Kaiser zu sprechen. Nach einer vergeblichen Unterredung stellte er dort (30. März) in einem ergreifenden Briefe dem Napoleoniden die verzweifelte Lage Piemonts vor die Augen, und nach einigen Tagen konnte er beruhigt heimkehren. Unterdessen arbeiteten die Getreuen in der Emilia: kam der Kongreß zustande, so sollten bewegliche Adressen, von Hunderttausenden unterzeichnet, dem Rate Europas beteuern, wie fest das Volk von Mittelitalien zu dem Hause Savoyen stehe. Noch einmal stellte Napoleon das Vertrauen des Piemontesen auf eine harte Probe. Nach dem Scheitern aller anderen Vermittelungspläne beantragte England schließlich: Zulassung sämtlicher Staaten Italiens zu dem Kongresse und gleichzeitige Entwaffnung aller streitenden Teile. Ein kurzes befehlendes Telegramm des Kaisers gab dem Turiner Hofe die Weisung, den englischen Vorschlag anzunehmen. Cavour schwankte von furchtbaren Zweifeln gequält; in fieberischer Erregung faßte er bereits den Gedanken, allein mit seinem kleinen Staate eine zweite Schlacht von Novara zu wagen. Da kam ihm von den Genossen aus Neapel die sichere Nachricht, daß Österreich den Krieg wolle; auf die Verblendung des Feindes bauend, trat der Graf am 17. April dem englischen Vorschlage bei. Und wirklich, fast im selben Augenblicke fügte Österreich an die lange Kette seiner Torheiten die letzte und schwerste. Die Hofburg stellte am 19. April ihr Ultimatum: Piemont soll entwaffnen, sofort und allein, widrigenfalls beginnt der Krieg. So war der Zwingherr Italiens aus der denkbar günstigsten Stellung in die allerbedenklichste hinübergetaumelt. Österreich griff an, die neutralen Mächte protestierten gegen die Gewalttat, der Napoleonide aber rief: die Dinge gehen besser, als ich zu hoffen wagte!

Cavour übernahm inzwischen zu dem Vorsitz im Ministerräte und den drei Portefeuilles des Auswärtigen, des Inneren, der Marine auch noch die Leitung des Kriegsdepartements, ließ sein Bett in die Amtszimmer des Kriegsministeriums tragen, ruhte dort während kurzer Nachtstunden von der erdrückenden Arbeit aus. Eine lakonische vom Blatte gelesene Ansprache genügte, als der Minister jetzt dem Parlamente vorschlug, die Diktatur, die pieni poteri, auf den König zu übertragen: die Nation war einig, sie wollte den Zweck und wollte die Mittel. Am 26. April ward das Ultimatum Österreichs verworfen, und wer noch zweifelte, ob wirklich ein großer Prinzipienkampf der absoluten Fürstengewalt wider die Rechte der Völker beginne, ob wirklich die Zeiten Thuguts sich erneuerten – den mußte das Kriegsmanifest des Wiener Hofes belehren: »Wenn die Schatten einer die höchsten Güter der Menschen bedrohenden Umwälzung über den Weltteil sich auszubreiten suchten, hat sich die Vorsehung oft des Schwertes Österreichs bedient, um mit seinem Blitze die Schatten zu zerstreuen.« Im selben Tone rief General Gyulay, da er den Tessin überschritt, den Piemontesen zu: Ihr seid unterdrückt von einer Partei des Umsturzes, ich komme, euch zu befreien!

Wie jederzeit in Koalitionskämpfen die politische Natur des Krieges scharf hervortritt, so wurden auch in diesem Feldzuge die wichtigsten militärischen Entschlüsse durch politische Gründe bestimmt. Mochte immerhin ein Handstreich der Österreicher gegen Turin für den militärischen Erfolg des Krieges wenig bedeuten – der Staatsmann Italiens durfte nicht dulden, daß die Hauptstadt Piemonts durch die Franzosen befreit werde. Cavour befahl, daß die offene Stadt sich bis auf das Äußerste halte. Auch das flache Land sollte sich selber des Feindes erwehren; willig ertrug der wackere Gau von Vercelli, daß der Graf meilenweit die Felder unter Wasser setzen ließ. Derweil die Österreicher in diesen sumpfigen Reisfeldern der Lomellina umherirrten, sammelte sich das verbündete Heer unter dem Schutze des neuen Festungsdreiecks. Sobald der Aufmarsch begann, mußten die Alpenjäger, die Garibaldi mit dem unermüdlichen Medici ausgerüstet, als Sturmvögel dem Heere vorausziehen: die Lombardei sollte wissen, der Krieg der Italiener hebe an. Doch schickte Cavour bedachtsam seinen La Farina als Kommissär den Rothemden nach, um unbesonnene Streiche der Aktionspartei zu verhindern. Nun endlich reifte die Aussaat. Wie hehr und herrlich strahlte der Todesmut des erwachenden Volkes, als der siegreiche König über das Schlachtfeld von Palestro ritt und die lombardischen Freiwilligen, die mit zerschrotenen Gliedern am Boden lagen, ihm die Hände entgegenstreckten: Sire, fate questa, povera Italia! Nur die verhärtete Parteiwut im deutschen Süden hörte nichts von der erschütternden Klage des Völkerleides; sie küßte den Fuß, der auf unserem Nacken stand, und wünschte ihm Heil, daß er ein fremdes Volk zertrete. – Die Schlacht von Magenta öffnete den Verbündeten die Tore der lombardischen Hauptstadt, und als die Mädchen von Mailand sich mit stürmischen Küssen an den behäbigen Minister drängten, die jauchzende Masse mit ihrer ungestümen Zärtlichkeit den Befreier schier erdrückte, da stand Cavour auf der Höhe seines Ruhmes – nicht seines Schaffens.

Während im Norden die Heere sich schlugen, begann in Mittelitalien die Revolution ihr Werk. Der Großherzog von Toskana verwarf noch beim Beginne des Krieges ein letztes Anerbieten Frankreichs, das ihm seinen Besitz verbürgte, wenn er die Neutralität aufgäbe. Er blieb ein Fremder, ein Erzherzog; gutmütig wie er war, ließ er doch alle Anstalten zum Straßenkampfe treffen, und seine Offiziere fürchteten bereits, die lieblichste Stadt der Erde solle bombardiert werden. Von allen, auch von dem Heere verlassen, entfloh er endlich zu den Österreichern. Toskana, längst schon allen italienischen Herzen teuer als die Heimat milder Sitten, edler Künste, gab jetzt auch dem politischen Leben der Nation ein Vorbild durch eine wunderbar ruhige, maßvolle Volksbewegung, die der stolze Baron Ricasoli mit fester Hand leitete. Auch in Parma, in Modena, in der Romagna wurde das alte Regiment hinweggefegt; alle befreiten Provinzen übertrugen dem König von Sardinien die Diktatur. Dem Kaiser der Franzosen ward das Herz von Sorgen schwer, da er die Pläne von Plombieres also durch die unberechenbaren Mächte der nationalen Leidenschaft durchkreuzt sah. Warum mußte auch Prinz Napoleon, der den Argwöhnischen als der künftige König von Etrurien galt, gerade in Toskana mit seinem Armeekorps erscheinen? – Wollte man den Kaiser festhalten bei dem großen Unternehmen und verhindern, daß die begehrlichen Träume der »Plonplonianer« zu einem bestimmten Plane sich verdichteten, so durfte Piemont nicht um eines Fingers Breite abweichen von der Abrede: wir führen Krieg gegen Österreich allein. Daher schlug der König die Diktatur in den Staaten Mittelitaliens aus, übernahm nur den Oberbefehl über ihre Truppen. Noch im Juni beschwor Azeglio in Cavours Auftrag die Patrioten von Florenz, die Volksbewegung nicht zu beschleunigen. In Rom gelang den Besonnenen, jede Erhebung wider den Paten des Kindes von Frankreich zurückzuhalten; »Rom kann warten,« hieß das Stichwort des Tages. – Je düsterer die Verstimmung Napoleons III. sich zeigte, um so dringender mußte Cavour wünschen, das italienische Heer zu verstärken durch die Hilfe Neapels. In den ersten Tagen des Krieges starb Ferdinand II. Aber auf den Bomba folgte der Bombetta, auf den Bombenkönig der König Bömbchen; Cavours Unterhändler, der dem jungen Fürsten ein Bündnis antrug, brachte zur Antwort den Ausspruch heim: Was ist das für ein Ding, die Unabhängigkeit Italiens? Ich kenne nur die Unabhängigkeit Neapels. – Auch die gleichgültig träge Haltung der Massen in Unteritalien bewährte, wie schwer die Spuren einer vielhundertjährigen Trennung sich verwischen lassen.

Unterdessen trugen die Verbündeten ihre Fahnen über den Oglio. Freudestrahlend, mit hundert schmückenden Märchen erzählte sich das Volk zu Turin und Florenz die große Kunde von der Schlacht von Solferino: wie der Himmel selber teilnahm an dem Kampfe, wie am Abend des blutigen Tages ein Gewitter dahinbrauste über das Schlachtfeld, mit ungeheuren Donnerschlägen das Krachen der Geschütze, das Toben der kleinen Menschen übertäubend. Und wie mannhaft hatte das italienische Heer auf den Höhen von San Martino die Ehre seiner Trikolore verteidigt! Die Geringschätzung der Piemontesen, die man im österreichischen Lager zur Schau trug, war durch die Tat widerlegt. – Der frohesten Hoffnung voll kehrte Cavour nach Turin zurück. Noch zwei Tage nach der Schlacht hatte er den Kaiser in guter Stimmung, stolz auf sein Heer gefunden. Der Graf hielt das Festungsviereck nicht für unüberwindlich. In der Tat war ein Teil der Wälle von Verona und Mantua nur mit leichten Feldkanonen armiert; Hunderte schwerer Geschützrohre lagerten auf den Bahnhöfen von Nabresina und Casarsa, denn die wichtige Eisenbahn von Triest nach Venedig war, dank der Trägheit der österreichischen Verwaltung, noch immer unvollendet. Soeben zog die Armee der Piemontesen gegen Peschiera, um nochmals, wie vor elf Jahren, den nördlichen Eckstein aus dem Bollwerk der Lombardei auszubrechen. Wenn jetzt die französische Flotte in der Adria den Kampf aufnahm, wenn man den Grafen Teleki und die zahlreichen in Piemont versammelten ungarischen Freiwilligen rücksichtslos verwendete, um das Donaureich mit dem Bürgerkriege zu bedrohen, so schien der Einzug in die Lagunenstadt unausbleiblich. Auch die Untätigkeit des Heeres nach dem Tage von Solferino störte den Grafen nicht in seiner Zuversicht; so traf ihn am 10. Juli die Nachricht von dem Waffenstillstand von Villafranca.

Jene unsterbliche Unart der Menschen, welche die großen und notwendigen Fügungen der Geschichte aus kleinen und zufälligen Gründen herzuleiten liebt, erschwert den Italienern noch heute ein ruhiges Urteil über diesen Friedensschluß. Noch Luigi Zini, der kundige Fortsetzer von La Farinas Geschichtswerk, will die uns Deutschen nur allzu wohlbekannten Ursachen des Ereignisses durchaus nicht sehen. – Wohl haderten die Marschälle im Hauptquartiere, die Kaiserin und Graf Walewski mahnten zur Umkehr, der Rückblick auf den glücklichen, aber planlos und ungeschickt geführten Feldzug war ebensowenig ermutigend, wie die Aussicht auf einen langen Belagerungskrieg in der Fieberluft der mantuanischen Sümpfe; auch mögen den Kaiser nach den Strapazen der jüngsten Wochen unter den schrecklichen Eindrücken des Schlachtfeldes von Solferino häufiger als sonst Tage der Abspannung überwältigt haben. Doch mehr denn solche kleine Bedenken galt die Gefahr, die vom Norden her drohte. Während über Mittelitalien die Einheitsbewegung, dem Kaiser unheimlich, daherflutete, schickte Preußen sich an, einem hochherzigen, doch von Grund aus unpolitischen Impulse zu gehorchen; besorgt vor Frankreichs wachsendem Übergewicht, voll brüderlichen Mitleids für den Bundesgenossen von 1813, war der Prinzregent bereit, für die Verträge von 1815 die Waffen zu ergreifen. Die italienischen Überlieferungen des Hauses Bonaparte, der Wunsch Napoleons, als der Führer der romanischen Völker an der Spitze Europas zu stehen, das natürliche Bestreben des Emporkömmlings, seine Dynastie durch andere illegitime Herrscherhäuser zu decken – alle diese Beweggründe berechtigten den Kaiser doch nicht, einen Kampf um Frankreichs Dasein zu wagen. Bei dem verwahrlosten Zustande seiner Reserven war das französische Heer in jenem Augenblicke dem Angriff Deutschlands nicht gewachsen. L. Chiala ( Lettere di Cavour, III. p.CXCI) bewährt nur seine urteilslose Geringschätzung der deutschen Verhältnisse, wenn ei heute noch das alte Märchen wiederholt, Napoleons wohlbegründete Furcht vor Preußens Angriff sei lediglich ein Vorwand gewesen. Cavour selbst, den Preußens lange Untätigkeit gewöhnt hatte, die Macht dieses Staates zu unterschätzen, vermochte den entscheidenden Grund des Vertrags von Villafranca niemals recht zu würdigen. Am wenigsten jetzt; denn furchtbar bäumte sich der empörte Stolz des Grafen auf. Die ungeheure Macht seiner Leidenschaft, in langen Jahren umsichtigen Spieles mühsam zurückgehalten, übermannte ihn ganz und gar. »Schaffet Geld und Waffen!« schrieb er nach Modena an Farini; nimmermehr sollte ihm sein König einen solchen Frieden unterzeichnen. Der Staatshaushalt für immer verwüstet durch ungeheure Opfer, dreißigtausend tapfere Piemontesen dahingerafft, und nach alledem das Festungsviereck noch in Österreichs Händen; ja, zum Schaden noch der Hohn, die Lombardei an Frankreich abgetreten, nur durch Napoleons Gnade den Italienern geschenkt!

Niemals war Cavour so ganz »der große Italiener«, wie m diesen bösen Tagen, da der Zorn des Patrioten die Besonnenheit des Staatsmannes gänzlich überwältigte. Er litt und irrte mit seinem Volke. Ein Aufschrei der Wut ging durch Italien; in dem ruhigen Florenz riß die Masse die Nachrichten aus Villafranca von den Straßenecken herab, sie wollte, sie durfte das Entsetzliche nicht glauben. Der Graf eilte mit seinem treuen Nigra in das Hauptquartier, und als er zu Desenzano am Gardasee in einem ärmlichen Kaffeehause eine Stunde lang unerkannt auf den Wagen wartete, da vernahm er aus den Gesprächen der Gäste, wie die alte Krankheit seines Volkes, das finstere Mißtrauen, wieder erwachte: war nicht der Verrat erwiesen? hatte nicht der große Mazzini längst vorausgesagt, der Krieg werde am Mincio stehen bleiben, das Versprechen des Dezembermannes »Italien frei bis zur Adria« sei eine Falle? – Ein Dunkel, das sich wohl niemals völlig lichten wird, ruht noch immer über der stürmischen Unterredung, welche der König und der Graf alsdann in der Casa Melchiorri selbander hielten. Möglich, daß der ungestüme Staatsmann dem Könige riet, den Krieg allein weiterzuführen; wahrscheinlich, daß er die Ehrfurcht vor dem Monarchen in seinem Grimme ganz vergaß und drohend seinen Abschied forderte; gewiß, daß der Entlassene in höchster Aufregung mit zornrotem Gesicht aus dem Hauptquartiere schied und daheim durch seine tiefe Traurigkeit das Mitleid der Freunde erregte. Nach einigen Tagen hatte seine Lebenskraft auch diesen Schlag verwunden.

Derweil in der Arena von Mailand und an den Gestaden des Comer Sees die Befreiung der Lombardei mit der zauberisch schönen Farbenpracht südländischer Feste gefeiert ward, reiste Cavour in der Schweiz umher, allen Staatsgeschäften entfremdet. Er fühlte, daß der Vertreter der Kriegspolitik jetzt bescheiden zurückstehen müsse, da Italiens Zukunft wieder in der Hand der Diplomaten zu liegen schien; übersatt der Politik verschmähte er selbst Zeitungen zu lesen. Rattazzi der Unaufhaltsame ließ sich indessen abermals von der verwaisten Staatsgewalt aufsuchen. Er lebte des bescheidenen Glaubens, sein Kabinett werde die Politik Cavours mit größerer Feinheit fortführen, und allerdings zeigte er selber vorderhand ein wenig mehr italienischen Stolz als seine Amtsgenossen La Marmora und Dabormida, die jedem Winke des Franzosenkaisers folgten. Auch gelang ihm auf dem Züricher Friedenskongresse ein bescheidener Erfolg: der Turiner Hof unterschrieb allein die Verträge über die Abtretung der Lombardei und die Zahlung der Kriegskosten, er behielt freie Hand für die Zukunft, rettete stillschweigend den Grundsatz der Nichtintervention. Österreich und Frankreich durften nur unter sich die Rechte der Fürsten Mittelitaliens vorbehalten, nur sich selber gegenseitig verpflichten, die Bildung eines italienischen Bundes zu begünstigen, und selbst dieser Vorbehalt bedeutete wenig, da die Wiedereinsetzung der Entthronten ausdrücklich nicht durch die Waffen erfolgen sollte.

Aber die treibende Kraft der nationalen Politik lag nicht mehr in dem Turiner Kabinett, sie lag im Volke. Während die Feinde Italiens schon den Tag kommen sahen, da die Anarchie die enttäuschten Gemüter überwältigen und das Land um die Früchte des Krieges betrügen müsse, schritt die Nation in musterhafter Ordnung, entschlossen und sicher über den Vertrag von Villafranca hinweg. Nicht darum hatte sie den Schild erhoben, damit abermals an ihr Manzonis alte Klage sich erfüllte:

il nuovo signore s'aggiunge a l'antico,
un popolo e l'altro sul collo ci sta.

Ein italienischer Bund mit Österreich und mit dem Papste mußte den Turiner Hof zum Vasallen Frankreichs erniedrigen, und zudem bedrohte der Einfluß der beiden despotischen Nachbarmächte das konstitutionelle System, das bereits unzertrennlich war von dem nationalen Gedanken. Einstimmig ward der Plan von den Patrioten verworfen; auch die Venetianer verzichteten großherzig auf die nationale Verwaltung, welche der Bund ihnen bringen sollte. Und nochmals arbeitete die Torheit der Gegner dem Volke in die Hände. Der Papst wies den letzten Ausweg, den Napoleon ihm eröffnete, den Vorschlag, die Verwaltung der Romagna in weltliche Hände zu legen, herrisch zurück. Der römische Stuhl und der Großherzog von Toskana verwarfen den Vertrag von Villafranca, sie zerstörten selber den Bund, den sie bald mit ohnmächtigen Klagen zurückwünschen, sie bauten die Pfeiler des Einheitsstaates, den sie bald mit ihren Flüchen verfolgen sollten.

»Mittelitalien zum mindesten müssen wir retten« – so hieß die Losung, welche von Farini und La Farina schon in den ersten Tagen des Schreckens ersonnen und alsbald von der Nation mit dem unbeirrbaren Instinkte der Selbsterhaltung aufgegriffen ward. Gegen den Feind, der von den Wällen Mantuas und Veronas herüberdrohte, schützte nur die festeste Staatsform, nur der Einheitsstaat. Wie oft hatten die Florentiner das Glück ihres begnadeten Ländchens gepriesen, selbstgefällig die Worte Alfieris wiederholt: deh che non è tutto Toscana il mondo. Jetzt fühlten sie doch, die Tage des Sonderlebens seien vorüber, sie folgten ihren Führern Ricasoli und Boncompagni mit einer Hingebung, die freilich nur möglich war in einem Volke, das noch wenig verstand für sich selber zu denken. Noch entschiedener bereitete Farini in der Emilia das Werk der Vereinigung vor; die fieberische Tätigkeit jener bangen Tage legte den Grund zu dem entsetzlichen Gehirnleiden, das bald nachher den reichen Geist des hochherzigen Mannes bewältigt und umnachtet hat. Die zweischneidige Waffe des allgemeinen Stimmrechts, die sich der Napoleonide einst zum Schutze seines Thrones geschmiedet, kehrte sich jetzt gegen seine eigenen Pläne. Eine überwältigende Kundgebung des Volkswillens verlangte die Vereinigung Mittelitaliens mit dem subalpinischen Königreiche; allen großen Mächten verkündeten die Diktatoren Ricasoli und Farini in fester Sprache den Entschluß der Lande, die Rückkehr des alten Regiments nimmermehr zu dulden. Unsicher, beherrscht von der Angst, sich bloßzustellen, sah das Kabinett Rattazzi dem kühnen Treiben zu. Der König versprach den Abgeordneten Mittelitaliens, er werde ihre Wünsche vor Europa vertreten; er ließ geschehen, daß die Einverleibung der Emilia tatsächlich vorbereitet, das Statut Piemonts verkündigt, die Grenzzölle beseitigt, die Verwaltung der Posten und Telegraphen unter die Turiner Direktion gestellt, das Heer nach piemontesischem Muster neu gebildet, eine Anleihe unter der Bürgschaft des subalpinischen Reiches abgeschlossen wurde. Aber die vollständige Vereinigung lehnte er ab; auch der Prinz von Carignan durfte die ihm angetragene Diktatur nicht annehmen. Denn Napoleon III. legte jetzt seinen Grundsatz der Nichtintervention in einem unfreien, kleinlichen Sinne aus; noch galt ihm Italien nicht als ein Ganzes, nicht als das Land der Italiener, er untersagte dem Turiner Hofe jede Einmischung in die Händel Mittelitaliens. Sollte der Kaiser zu redlicher Auslegung seiner eigenen Lehre bewogen werden, so mußte Piemont den Preis zahlen, der in Plombieres für die Befreiung der Adria bedungen war. Doch Rattazzi fand den Mut nicht, durch die Abtretung von Nizza sich die Gunst des Volkes zu verscherzen.

Zugleich wuchs in Norditalien die Verstimmung. Die Vollgewalt des Königs-Diktators ward von Rattazzi ausgebeutet mit jenem rücksichtslosen Beglückungseifer, der den trivialen Liberalismus auszeichnet. Eine neue Verwaltungsordnung, im Geiste straffer bureaukratischer Zentralisation gehalten, eine Flut unbedachter Gesetze überschwemmte das Königreich; und obwohl die Piemontesen unter den Neuerungen des Ministers ebenso schwer litten wie die Lombarden, so erhob sich doch in Mailand der Zornruf des berechtigten und des unberechtigten Partikularismus wider das anmaßende Piemontesentum. Dazu die Sünden der Stellenjägerei, welche, von jeder Eroberung unzertrennlich, unter diesem würdelosen Regimente auf das behaglichste sich einnisteten. Auch Mittelitalien begann zu klagen. Wohl war es ein Großes, daß die Romagna, das verrufene Land der Bettler, den Mut und Einmut echter Vaterlandsliebe bewährte, daß die fette Bologna nach langer Erstarrung den alten stolzen Wahlspruch ihres Wappens » Libertas« wieder zu Ehren brachte, und nur einmal in neun Monaten krampfhafter Erregung eine Bluttat diese herrliche Volkserhebung schändete. Doch die unvermeidlichen Gebrechen einer provisorischen Verwaltung, Schwäche, Nachsicht, Unklarheit wurden von Tag zu Tag schwerer empfunden.

Im September, sobald die tapfere Haltung der Toskaner und Romagnolen einen neuen Weg der Rettung wies, kehrte Cavour nach seinem Leri heim. In den Schaufenstern italienischer Städte begegnen uns noch zuweilen elegische Bilder, die den entlassenen Staatsmann darstellen, wie er, ein zürnender Achill, finster brütend durch die Baumgänge seines Gartens schreitet. Nur schade, daß vor der rüstigen Tatkraft dieses hellen Geistes alles falsche Pathos zu Schanden wird. Als die erste Verzweiflung überwunden war, erkannte er sogleich, daß gerade der unvollständige Erfolg des Krieges die Revolution notwendig weitertreiben mußte. Frohen Mutes begann er »sich zu verschwören«, da die große Heerstraße versperrt war. »Kommen Sie zu mir,« schrieb er an La Farina, »um das unterbrochene, nicht aufgegebene Werk wieder aufzunehmen. – Ich habe Vaterlandsliebe genug, um weiter zu kämpfen, wo nicht als Feldherr, dann als gemeiner Soldat.« Der Graf kam an mit dem Vorsatz, das Kabinett Rattazzi zu unterstützen. Als er näher zuschaute, wie diese Regierung sein Werk fortsetzte, erkaltete seine Hochachtung für den Minister der pieni poteri, und ehe das Jahr zu Ende ging, hatte sich der Bruch zwischen den beiden Nebenbuhlern entschieden. War von der unschlüssigen Schwäche der Regierung wenig zu erwarten, um so feuriger wirkte der entlassene Staatsmann. Während die harmlose Welt wähnte, der Graf stelle sein in den letzten Jahren schwer geschädigtes Vermögen wieder her, gingen Nigra, La Farina, Sir James Hudson in Leri aus und ein. Mit Castelli und Farini, mit allen Leitern der mittelitalienischen Bewegung stand Cavour in Verbindung, immer anspornend, ermunternd, hoffnungsvoll: die Amerikaner führten einen Krieg von vierzehn Jahren, um ihre Unabhängigkeit zu erobern; dürfen wir nach einem Kampfe von zwei Monaten verzagen?

Seit von jener Unterredung in der Casa Melchiorri einiges auf dem Markte verlautete, konnten die Verleumdungen der Mazzinisten dem Grafen nichts mehr anhaben; er stand noch fest in der Liebe seines Volkes und fühlte mit dem Volke, daß allein der Einheitsstaat noch retten könne. Zugleich erkannte Cavour, welch ein mächtiger Rückhalt der Sache Italiens erwachsen war in der öffentlichen Meinung Europas – eine Gunst des Glückes, welche dem gewaltigeren Einheitskampfe der Deutschen leider nie gelächelt hat, dem liberalen Grafen aber höher galt als eine gewonnene Schlacht. Die niederträchtigen Anschuldigungen, welche die Hofburg nach dem Tage von Villafranca gegen Preußen erhob, brachen den Deutschen die Bahn zur Selbsterkenntnis; der Stolz unseres Nordens empörte sich bei dem Gedanken, daß Osterreich uns als die Häscher seiner Zwingherrschaft hatte mißbrauchen wollen. In Frankreich hielt eine leidlich günstige Stimmung an, da die gewandte Presse Italiens das Volk der Franzosen mit Schmeicheleien überhäufte, alle Schuld des halben Erfolges auf den Kaiser warf. Am stärksten wirkte der Umschwung der Meinungen in England. Dies Volk, immer bereit, die Bedeutung vollendeter Tatsachen verständig anzuerkennen, begriff schnell, daß nur ein Bund zwischen England und Italien die Halbinsel vor der Übermacht Frankreichs bewahren könne; von allen Seiten ward Lord Clarendon angegriffen, weil er sich unterstanden, von dem platzenden bubble der Einheit Italiens zu reden.

Auf solche Gunst Europas gestützt durfte man hoffen, die gereizte, wunde Stimmung der Lombarden zu heilen. Der Nationalverein, der piccolo corriere entstanden von neuem, allerdings ohne ihre alte Macht wieder zu erlangen. Immerhin bewies der Ausfall der nächsten Parlamentswahlen, wie trefflich die 2000 Kommissare des Vereines das Werk der Versöhnung vollzogen. Pallavicino allerdings, betört durch die Aktionspartei, übernahm den Vorsitz im Nationalvereine nicht wieder. Mit unbelehrbarem Ingrimm wirkte Mazzini den verhaßten Liberalen zuwider. Er stiftete abermals radikale Gegenbünde; endlich gelang ihm, den leicht bestimmbaren Enthusiasmus Garibaldis zu verführen. In heftigem Kampfe stießen die Geister aufeinander, als im Herbst die Freunde Cavours einen Einfall in die Marken verhinderten, welchen der Freischarenführer zur unglücklichsten Stunde beginnen wollte; Garibaldi schied in hellem Zorne von La Farina und mochte sich nie mehr mit dem Sizilianer versöhnen.

Der auf das Große gerichtete Sinn läßt durch dies Wirrsal kleinen Gezänkes sich die Freude nicht trüben an dem erhabenen Gange der Revolution. Wieviel Geduld, wieviel Hingebung forderte diese stille Arbeit von dem klugen Manne, der in seiner Verborgenheit alle Fäden der Einheitsbewegung in Händen hielt! »Wir haben für uns eine große Idee; wer sie verleugnet, verdirbt sich« – rief La Farina stolz, derweil er immer aufs neue über den Unfug der Partikularisten und der Roten zu berichten hatte. Ging doch soeben eine Gesandtschaft der Sizilianer nach London, um den Beistand Englands für die weiland vergötterte Verfassung von 1812 zu erflehen. Auch unter den nächsten Freunden brachen Mißverständnisse aus in so verworrenen Tagen. Selbst der treue Ricasoli verfiel in den Ruf eines Partikularisten, weil er, nachdem die Diktatur des Prinzen von Carignan gescheitert war, die Unabhängigkeit Toskanas neben der Emilia standhaft behauptete. Auch Cavour ward einmal irr an dem Baron und schrieb: »Ricasoli ist ein störrischer Maulesel. Aber da man, wenn er das Ruder des Staats verließe, Schöpse oder Eunuchen an den Karren spannen würde, so müssen wir ihn aufrechthalten mit allen seinen Fehlern. Amen.« Das grobe Wort war ungerecht; denn Ricasoli rechnete staatsklug, jetzt sei alles zu vermeiden, was einem selbständigen mittelitalienischen Staate auch nur ähnlich sehe. Auf einen solchen Staat, der dem Ehrgeiz Piemonts das Gleichgewicht halte, war seit dem Sommer die Absicht Napoleons III. vornehmlich gerichtet; noch immer hoffte man in den Tuilerien, dem kaiserlichen Vetter die Krone von Etrurien aufs Haupt zu setzen. Spät im Herbst, als Ricasoli und Farini die französischen Agenten Poniatowski und Reiset mit scharfen Worten heimgeschickt hatten, gestand sich Napoleon endlich, daß seine kleinen Künste gegen den festen Willen eines edlen Volkes nichts verfingen. Aber nicht ohne Entgelt wollte er die Einverleibung Mittelitaliens dulden. Solche begehrliche Wünsche verwehrten dem Kaiser festzuhalten an dem Plane eines neuen Pariser Kongresses – einem Gedanken, der seit Monaten die ratlose Diplomatie beschäftigte und von dem englischen Hofe geflissentlich unterstützt ward. Öffentlich, im Angesichte des Rates von Europa konnte der schmutzige Handel um Savoyen und Nizza nicht gewagt werden. Da auch Österreich sich scheute, die Wirren Italiens einem unparteiischen Gerichte zu unterwerfen, so wartete Cavour, den Rattazzi auf das stürmische Verlangen der Nation zum Bevollmächtigten für den Kongreß ernannt hatte, drei Monate lang vergeblich auf seine Absendung.

Da erschien zur glücklichen Stunde Azeglios geistvolle Schrift de 1a politique et du droit chrétien – eine beredte Verteidigung des Selbstbestimmungsrechtes der Romagnolen, zugleich eine feine Schmeichelei für die persönlichen Neigungen Napoleons. Nicht lange, so bewies der Kaiser, daß er die Mahnung seines Bewunderers verstanden habe. Am letzten Tage des Jahres ermahnte er den Papst, die Romagna aufzugeben; in seiner Schrift »der Papst und der Kongreß« fanden die Ideen Azeglios ein Echo; zur selben Zeit übernahm der wackere Thouvenel das auswärtige Amt. Dergestalt war der Kongreß beseitigt. Schon am 1. Januar 1860 konstituierten sich Modena, Parma und die Romagna als »die königlichen Provinzen der Emilia«. Ein seltenes Glück hatte den Italienern im rechten Augenblicke ein unfähiges Kabinett geschenkt: die Untätigkeit Rattazzis gewährte dem Kaiser und der Nation selber die Frist, den Vertrag von Villafranca innerlich zu überwinden. Jetzt war die Zeit des Harrens dahin; die von neuem entfesselte Bewegung bedurfte eines Helden, der sie leitete. Umsonst suchte Rattazzi durch kleine Ränke, sogar durch eine Annäherung an die Aktionspartei den gefürchteten Nebenbuhler fern zu halten. Die Natur der Dinge, der tausendstimmige Ruf der Nation führte den Grafen an das Ruder des Staates zurück. Die »liberale Union« der parlamentarischen Parteien war mit dem Grafen einig in der Forderung, daß die Diktatur beendigt, die Zentralisation gemildert werde. Sie verschwor sich zugleich, keinen Kandidaten in das Haus zu wählen, der nicht die unverzügliche Einverleibung Mittelitaliens verlange, und stürzte endlich das Kabinett. Am 16. Januar übernahm der Mann, dessen Name jetzt die Annexion bedeutete, wiederum die Leitung. Der Vertrag von Villafranca schuf den Segen des norditalienischen Einheitsstaates, doch er entzündete auch in der Nation einen fieberischen revolutionären Eifer, welcher alsbald halbgereifte Früchte zu Pflücken eilte.

 

Mit einem Schlage zerstob der bange Zweifel, der auf den Geistern lastete, da Cavour schon am 27. Januar den Gesandten seines Königs erklärte: die Wiederherstellung der kleinen Kronen ist undenkbar, die Einverleibung bleibt die einzig mögliche Lösung der mittelitalienischen Frage; die Italiener müssen sich selber helfen, nachdem sie vergeblich auf den Rat Europas gewartet. So kühn zu reden ward dem Grafen nur möglich durch den Beistand Englands. Die britischen Staatsmänner erschraken zuweilen über die verwegene revolutionäre Politik des Piemontesen, dem das geschäftige Gerücht ungeheuerliche Pläne, sogar Umtriebe in den Donauprovinzen, andichtete; doch zuletzt sprach sich das Kabinett von St. James rückhaltlos für den Grundsatz der Nichintervention aus. Meisterhaft handhabte der Nachfolger Karl Emanuels die altsavoyische Politik der zweifachen Bündnisse; zugleich ließ er die Künste des Demagogen spielen. Der Nationalverein erhielt Befehl, in drohendem Tone eine rasche Lösung zu fordern: »es wird mir nützlich sein, sagen zu können, ich sei gedrängt.« Noch einen anderen mächtigen Bundesgenossen rief der Graf herbei: er beschleunigte die Wahlen für das Parlament. Napoleon III. hatte inzwischen von seinen mittelitalienischen Plänen sich noch nicht getrennt: noch am 24. Februar forderte Thouvenel die Herstellung von Toskana, drei Wochen später der Kaiser selber zum mindesten die Autonomie dieses Landes. Aber wer anders konnte diese kaiserlichen Gedanken verwirklichen als der Kongreß? derselbe Kongreß, der die Hoffnungen auf Savoyen unfehlbar vereiteln mußte! – So schwankte Napoleon und unterlag endlich der dämonischen Gewalt, welche Cavours Überlegenheit immer auf seinen Geist ausübte.

Um Mitte März wurde die Vereinigung mit Piemont durch die Volksabstimmung der Mittelitaliener beschlossen. Ein Wald von Fahnen, prangend in den festlich heiteren Farben des freien Landes, rauschte über den Kuppeln der Dome, die ruhevoll aufragen aus den alten Städten im Garten Italiens. Welch ein Wandel der Dinge seit jenen Zeiten des wütenden Bruderkampfes, da Florenz die Abzugsgraben Pisas versumpfen ließ, damit die Pest die Nebenbuhlerin verschlinge! Ein halbes Jahrtausend hindurch hatten die Hafenketten von Pisa ein prahlerisches Siegeszeichen über dem Tore des Baptisteriums der Florentiner geprangt. Nun hingen sie wieder in der Vaterstadt, in ihrem Campo santo, zurückgegeben von der Siegerin, auf daß die letzte Spur des alten nachbarlichen Hasses verschwinde; und die Wände jener wunderbaren Halle, die sich das stolze Pisa zum Denkmal seines städtischen Ruhmes erbaut, erzählten jetzt auch die frohe Botschaft, daß das hochherzige Toskanervolk ein Vaterland gefunden habe.

Aber dieser glänzende Erfolg ward erkauft durch ein Opfer, das Cavour selbst das schwerste, das grausamste seines Lebens nannte. Sobald die Tuilerien erfuhren, daß der Entschluß der Einverleibung in Turin gefaßt sei, erschien sofort Benedetti bei dem Könige, und am 24. März wurde der Vertrag geschlossen, der Savoyen und Nizza an Frankreich dahingab. Die Flut des Spottes und der Flüche, welche damals auf das Haupt des Grafen herabströmte, ist bis zur Stunde noch nicht ganz verlaufen. Und doch wird jedes Wort des Tadels zu nichte vor der einen Frage: war Cavour berechtigt, das Notwendige zu wollen, sein Vaterland mit fremder Hilfe zu befreien? War er hierzu berechtigt, so mußte er den Lohn, den der Verbündete heischte, ebenso gewiß zahlen, als Preußen verpflichtet war, im Frühjahr 1813 seine polnischen Ansprüche an Rußland abzutreten. »Der Vertrag,« sprach er einfach, »ist die wesentliche Bedingung unserer vergangenen Politik, eine unausweichbare Notwendigkeit für ihre Fortsetzung in der Zukunft.« Sollte er jetzt heimkehren nach Leri, begnügt mit dem wohlfeilen Ruhme, Bologna und Florenz dem subalpinischen Reiche geschenkt zu haben, und dann mit verschränkten Armen zuschauen, wie Österreich, von Frankreich ungehindert, das Werk von Magenta und Solferino wieder in Trümmer warf? O über die katonischen Toren, welche die Kleinheit solcher Größe nicht begreifen! Oder sollte er die Abtretung unterzeichnen und dann das Parlament aufreizen zu jener Politik des Undanks, die soeben den österreichischen Hof in das Verderben gestürzt? »Es kommt wenig darauf an,« erwiderte er selbst, »ob die Minister Feinde haben; aber es wäre verhängnisvoll, ein unersetzlicher Schade, wenn der Haß sich wider die Vertreter der Nation richtete.«

Indem das Königshaus sein Stammland preisgab, gleichwie einst die Oranier auf Orange, die neuen Habsburger auf Lothringen verzichtet hatten, empfing das historische Gesetz, das die Herren von Savoyen seit drei Jahrhunderten südostwärts trieb, eine neue Bestätigung, das Nationalitätsprinzip, in dessen Namen man bei Solferino schlug, eine neue Anerkennung. Mit vollem Rechte erklärten einige Abgeordnete Savoyens dem Parlamente: »Der Ruf viva l'Italia läßt sich für Savoyen nur übersetzen durch den Ruf vive la France!« Seit der Vollendung der Viktor-Emanuel-Bahn war Chambery von Paris in zwölf Stunden, von Turin erst nach einer Tagereise zu erreichen. Alle Interessen des Verkehrs und des Volktumes wiesen dies »Irland Italiens« an Frankreich; die letzten Wahlen für den Provinzialrat bekundeten abermals die Übermacht der französischen Partei im Lande. Minder unzweifelhaft standen die Dinge in dem halbitalienischen Nizza. Vergeblich versuchte Cavour noch in elfter Stunde dies Land für Italien zu retten; er hatte sich schon in Plombieres zu dieser Abtretung nicht verstehen wollen, ließ bis zum letzten Augenblicke seine Genossen dawider schreiben und spähte angstvoll aus nach fremder Hilfe. Aber Preußen allein war bereit für das bedrohte Gleichgewicht Europas einzutreten; England versagte sich in unbelehrbarer Trägheit. Napoleon blieb unerbittlich, seit ihm sein Marschall Niel mit gelehrten strategischen Gründen das alberne Märchen bewiesen hatte, daß Nizza für Frankreichs Sicherheit unentbehrlich sei. Der Makel, der an diesen Handeln haftet, fällt ausschließlich auf die kleinsinnigen Befreier, mehr noch auf die französische Nation als auf ihren Kaiser. Denn schamlos trat die Ländergier der Franzosen wieder hervor. Um Gottes willen, schrieb Bixio aus Paris, unterzeichnet, wenn ihr das französische Bündnis wollt; wo nicht, so wird Italien nie mehr Teilnahme in Frankreich finden!

Aber wenngleich alle einsichtigen Italiener im stillen die Unvermeidlichkeit des Opfers erkannten und Cavour späterhin stolz aussprechen durfte: »wir rechnen uns diese notwendige Tat zur Ehre an« – es blieb doch ein politischer Unsinn, daß eine Grenzprovinz mit einer halben Million Bewohnern nach eigener Willkür sich ihren Staat wählen sollte: eine furchtbare Demütigung für den stolzen Piemontesen, dies tapfere Land preiszugeben, das in hundert Kriegen für seine Krone geblutet: eine schwere Sorge für den Monarchisten, diesen dynastisch gesinnten Gau zu entlassen in einem Augenblicke, da neue Provinzen, die das Königshaus nicht kannten, hinzutraten: eine unsägliche Beschämung für den ehrlichen Liberalen, das frivole Possenspiel der Volksabstimmung anzuschauen, das die Mouchards des Napoleoniden in Nizza leiteten. Ein tiefer Seelenkummer klang aus den Reden des Ministers, als Garibaldi im April seine Anfrage wegen Nizzas stellte und im Mai nochmals der Vertrag zur Sprache kam. Derweil ihm das Herz blutete, durfte er doch das entscheidende Wort nicht aussprechen. Wie oft liebte er sonst zu sagen: »ich will dem Parlament ein Geheimnis anvertrauen;« jetzt konnte er nichts erzählen von dem Gespräche zu Plombieres, das allein den Hergang erklärte. Sophistische Wendungen – wie die armselige Versicherung, Nice en Provence habe immer für eine französische Stadt gegolten – mußten ihm vorhalten für seine gute Sache. Indes die klare Vernunft, welche durch alle diese Scheingründe hindurchleuchtete, triumphierte endlich über die dröhnenden Phrasen Guerrazzis. Nur 33 Stimmen erklärten sich mit Rattazzi gegen den Vertrag. Und lag denn nicht am Tage, was der Minister nur in vertrauten Gesprächen andeuten durfte – daß Frankreich durch seine unedle Begehrlichkeit sich selber entwaffnete? Derselbe Vertrag, der dem Kaiser das Vertrauen der Italiener für immer raubte, ließ ihn vor den Augen der großen Mächte als den Mitschuldigen Cavours erscheinen; wie durfte er jetzt dem Wagen der Revolution in die Speichen greifen?

Schon die Thronrede, die das Parlament eröffnete, wies deutlich auf eine bewegte Zukunft hin: »Unser Vaterland ist nicht mehr das Italien der Römer noch das des Mittelalters, es soll nicht mehr der freie Tummelplatz sein für fremde Ehrsucht, es sei fortan das Italien der Italiener!« Noch war der neue Staat namenlos, auf den Parlamentsberichten stand zu lesen: Atti del parlamento nazionale. Wehmütig klagte der Abgeordnete Ferrari zur Zeit der savoyischen Debatten: »Ich wünschte den Namen des Staates zu kennen, dem ich angehöre; wir haben weder den Mut noch die Kraft, uns zu taufen« – worauf der Minister mit seinem glückseligsten Lachen die Achseln zuckte. Sicherlich mußte der Graf wünschen, dies unleidliche Provisorium zu beenden. Man bedurfte einiger Friedensjahre, um das oberitalienische Königreich zu organisieren, die Abgeordneten der neuen Provinzen, die noch fremd im Hause standen, mit der Staatsgesinnung der Piemontesen zu erfüllen, die unfertigen Regimenter aus Mittelitalien durch erprobte Offiziere zu schulen. Dann erst konnte die Einheitsbewegung mit festem Tritte weiter schreiten. Aber der Augenschein lehrte, daß jeder Aufschub unmöglich war. Die Leidenschaft der Nation, die Cavour selbst in stillen Tagen großgezogen, war eine Macht geworden, unbändig, meisterlos. Stolz auf die leichten Erfolge des vergangenen Jahres träumten die Patrioten bereits von dem Siegeszuge auf das Kapitol, zu dem Mazzini durch tausend feurige Genossen auffordern ließ. Die Regierung selber erkannte die Macht des rätselhaften Demagogen an, indem sie ihn allein ausschloß von der Amnestie, die allen politischen Verbrechern zuteil ward. Auf Gunst und Mißgunst der Massen blickte der Graf noch immer mit unwandelbarer Geringschätzung; er lächelte nur, als man ihm meldete, daß ein Mordanschlag wider ihn im Werke sei. Doch sein Staat, das Kind des nationalen Gedankens, durfte den Strom der populären Begeisterung, der jetzt entfesselt daherbrauste, nicht zu hemmen wagen; nur ihn zu leiten, nur die Schwarmgeister der Revolution unter die Zucht der Monarchie zu beugen, blieb noch möglich.

Und noch einmal kam den Feuergeistern der Umsturzpartei der bewährte Freund, die Torheit der Reaktion, zu Hilfe. Das Schicksal suchte die uralte Blutschuld der Bourbonen grausam an dem Enkel heim, schlug ihn in der Stunde der Entscheidung mit unheilbarer Verblendung. In diesem Augenblicke, da nur eine ehrliche Reformpolitik, ein festes Bündnis mit den Siegern von Solferino den verfaulten Bourbonenstaat noch retten konnte, sagte König Franz verächtlich: »ich will nichts von dem Neffen des Menschen, den mein Großvater erschießen ließ.« Der Gesandte Piemonts, Graf Villamarina, der im Januar nochmals, von Rußland unterstützt, ein Bündnis anbot, ward herrisch abgefertigt, dem neuen italienischen Staate die Anerkennung verweigert, obgleich selbst der Graf von Syrakus zum Nachgeben riet. Entsetzt über den Starrsinn, über die greisenhafte Untätigkeit dieses Hofes, rief Napoleon III. im April: »was kann man tun für eine Regierung, die keinen Rat hören will?« Zur selben Zeit schrieb Viktor Emanuel einen, letzten warnenden Brief nach Neapel: »ich werde vielleicht bald vor dem schrecklichen Zwiefall stehen, entweder die heiligsten Interessen meiner Krone preisgeben zu müssen oder selbst das Hauptwerkzeug Ihres Unterganges zu werden.«

Unterdessen strickten geschäftige Hände an dem Netze einer großen reaktionären Verschwörung: die Königin-Mutter in Neapel, die Kaiserin-Witwe Karoline Auguste in Wien – die älteste der bayrischen Unheilsschwestern, die treue Gönnerin der Jesuiten – dazu die unzufriedenen Bischöfe in Toskana und der Romagna, und vor allen der römische Hof. Im Vatikan galt seit dem Vertrage von Villafranca nur das Wort des heimatlosen Landsknechts Merode, des plumpen Eiferers Antonelli und der Ordensgenerale, die für die Zukunft ihrer Orden zitterten; ihr prahlerisches Poltern überdröhnte die Warnungen der wenigen besonnenen Kardinäle, die das italienische Blut nicht verleugnen mochten. Die plebejische Roheit ihres Auftretens bewies aufs neue, daß in Italien wie überall sonst die höheren Stände sich längst fast gänzlich ans dem Priesterstande zurückgezogen hatten. Mit Flüchen und einer stolzen Verweisung auf seinen Eid beantwortete der Papst den Silvesterbrief Napoleons. Nichts, gar nichts werden wir tun, sagte Antonelli im März zu dem Herzog von Grammont: von Reformen kann erst die Rede sein, wenn die aufständischen Provinzen unter den Hirtenstab des Papstes zurückgelehrt sind Dann exkommunizierte der heilige Vater die neuen Sanheribs, die Kinder der Finsternis, die an der Beraubung des römischen Stuhles teilgenommen; aber am Po und Arno lächelte man über den armen alten Mann und seine Blitze, die nicht mehr zündeten. In der Jesuitenkirche zu Rom wurde gepredigt, bald werde die Fahne Mohammeds auf den Zinnen des Vatikans wehen, der Laienkelch den Ketzern in St. Peter gespendet werden. Solchen Greuel zu verhüten, eilten die Gläubigen aus Irland und Belgien, Frankreich und Bayern nach Triest, von da auf österreichischen Dampfern unter die Fahnen des Papstes. Am 1. April übernahm General La Moriciere den Oberbefehl des päpstlichen Heeres mit den Worten: »die Revolution bedroht heute Europa wie ehemals der Islam, und heute wie ehemals ist die Sache des Papstes die der Zivilisation und der Freiheit der Welt.« Noch kräftiger sagte später ein Armeebefehl: »wo die Revolution die Spitze des Ohres oder der Nase zeigt, da muß man losschlagen wie auf einen tollen Hund.« Und wahrhaftig, nicht um einen armseligen Haufen von Schlüsselsoldaten zu führen, hatte der fromme Kriegsmann seinen berühmten Degen nach Rom getragen.

Der bourbonische Hof, der soeben in einem Anfall ratloser Schwäche seine treuen Schweizerregimenter aufgelöst hatte, wähnte sich noch stark genug zu einem großen legitimistischen Kreuzzuge. Seit dem Herbst standen die neapolitanischen Truppen in den Abruzzen, nur eines Winkes aus Rom gewärtig, um die Grenze des Kirchenstaates zu überschreiten und dann, mit den päpstlichen Scharen verbündet, in die Romagna einzubrechen. Das Königreich Neapel ward einst gegründet, um der Kurie als Schild und Schwert zu dienen; jetzt ging es unter an dem Versuche, in einer neuen Zeit den alten Beruf zu behaupten. An Österreich erfüllte sich indessen eine Weissagung Cavours: der Staat blieb, solange er Venedig besaß, unfähig, das System des Despotismus abzuschütteln – trotz der tiefen Verstimmung im Volke, trotz der argen Mißbräuche, die während des Krieges enthüllt wurden – und ein System wie dieses konnte daheim nicht aufrecht bleiben, wenn es nicht die ganze Mitte Europas überherrschte. Der Belagerungszustand lag wieder über Verona, die Patrioten Venedigs verschwanden nach dem Gutdünken der Generale in den k. k. Strafkompagnien, das tapfere Heer verlangte Rache an dem besiegten Sieger. Die Legitimisten zu Wien und Neapel hofften auf eine Volkserhebung in Toskana und der Romagna. Die Revolution in Mittelitalien war ein Werk der Signoren; warum sollte nicht abermals, wie in dem blutigen Reaktionsjahre 1799, das gläubige Landvolk um Arezzo unter dem Rufe viva Maria, viva lAustra, für Thron und Altar die Waffen ergreifen? Wer durfte Österreich schelten, wenn die Truppen des Papstes und des Bourbonen und das Korps des Herzogs von Modena, das auf österreichischem Boden zu solchem Zwecke zusammengehalten ward, im Vereine mit den frommen Bauern die Throne der Erzherzöge wiederherstellten? Von Warschau bis Madrid war die katholische Partei in Bewegung. Da und dort ward ein Faden aus dem seinen Gespinste aufgegriffen; in Florenz entdeckte man einen reaktionären Geheimbund, sodann ergab sich, daß Fürst Brignole, mit reichen Geldmitteln ausgerüstet, die italienischen Truppen zur Fahnenflucht zu bereden suchte. Wenn Azeglio die seltsamen Heiligen musterte, die im Vatikan zusammenströmten, dann fragte er besorgt, ob denn alle Besiegten vom zweiten Dezember sich an der Tiber ein Stelldichein geben wollten. In der Tat ging unter den Heißspornen der Legitimität wieder die Rede von der Herstellung Heinrichs des Fünften; rasende Träume waren im Schwange, faßbar allein für eine Partei, die seit zwei Menschenaltern mit dem unmöglichen rechnete.

Derweil diese ausschweifenden Hoffnungen den Hof von Neapel betörten, schnitt die Axt bereits in die Wurzeln seiner Macht. Schon im Januar ließ Mazzini den Turiner Hof wissen, eine Revolution in Unteritalien stehe unvermeidlich bevor, und in diesem einen Falle stimmte das Haupt der Aktionspartei mit dem Leiter des Nationalvereins überein. La Farina vergaß als Mann des Wortes nicht, das der Jüngling gesungen: ma bella mia Messina consecrato è questo cor; seine Heimat von dem Joche der Bourbonen zu befreien, blieb die teuerste Hoffnung des Sizilianers. Während Crispi im Auftrage der Aktionspartei die Insel bereiste und mit der geriebenen Schlauheit eines südländischen Verschwörers den Aufstand vorbereitete, waren die gemäßigten Liberalen des Nationalvereins in gleichem Sinne tätig. Schon im März lagen die Manifeste des Vereins druckfertig, welche das bourbonische Heer aufforderten, abzufallen »von diesem Geschlechte feiger Schurken«. In den ersten Tagen des April, in demselben Augenblicke, da in Palermo ein Aufstand ausbrach, beschlossen die sizilianischen Flüchtlinge in Genua, ihrer Heimat zu Hilfe zu ziehen; erst als die Sizilianer einig waren, trat Garibaldi dem Unternehmen bei.

So drohten Schlag und Gegenschlag in Unteritalien. Cavour aber hielt 200 000 Mann unter den Waffen, er sah den Ausbruch eines Entscheidungskampfes nahen – minder harmlos als unsere preußischen Liberalen, welche soeben die Versicherung ihres Kabinetts, eine schwere Kriegsgefahr schwebe über dem Weltteil, als ein Parteimärchen belächelten. Mochte der Graf den Unsegen einer übereilten Einheitsbewegung noch so klar erkennen – das Unternehmen gegen Sizilien jetzt verhindern, hieß einen Selbstmord begehen, hieß die Diversion vereiteln, welche den Kreuzzug der Bourbonen zu nichte machen mußte. Durfte Cavour warten, bis die Plane der Legitimisten zur Reife gediehen, bis Österreich mit der triumphierenden Reaktion in Mittelitalien sich verband und vielleicht nochmals die Franzosen über die Alpen stiegen? Nicht zum zweiten Male wollte der Graf den gefährlichen Bundesgenossen rufen; nur um Frankreichs Einfluß zu beschränken, hatte er Savoyen geopfert. Aber auf der anderen Seite drohte die Gefahr der roten Revolution, wenn nicht die Sizilianer sich freiwillig erhoben, sondern Garibaldi, der so leicht den Mazzinisten ins Garn gehen konnte, den Aufstand wagte. Und wie nun, wenn dieser Abgott des Volkes im Kampfe fiel, und dann die öffentliche Meinung die Krone für seinen Tod verantwortlich machte? Begreiflich also, daß Cavour lange und lebhaft dem sizilianischen Zuge widersprach. Es war der König selbst, der diesmal den Ausschlag gab. Am 1. Mai befahl er in Bologna dem Grafen, das Unternehmen Garibaldis nachdrücklich zu unterstützen. Der Minister gehorchte. Und wahrhaftig, wenn Piemont jetzt im Namen der mißhandelten Nation den Bourbonen den Krieg erklärte, so hätten Cavours Freunde heute nicht nötig, auf den alten Battel sich zu berufen, auf das Beispiel Wilhelms III. oder auf die Hilfe, die Elisabeth den Niederländern gewährte, zu verweisen. Denn eine Regierung wie diese bourbonische, die durch die Folter und die gräßliche »Haube des Schweigens« ihr Volk in Zucht hielt, verfällt von Rechts wegen der Vernichtung, sobald die Macht sich findet, sie zu stürzen. Aber die großen Mächte, allein England ausgenommen, beurteilten die nationale Frage der Italiener noch immer nach dem Gesichtspunkte der internationalen Politik; eine ritterliche Kriegserklärung Piemonts gegen Neapel mußte sie alle, und Spanien dazu, auf die Seite der Bourbonen treiben. Zudem konnte Cavour nicht ahnen, wie rasch der in allen Fugen knarrende Bourbonenstaat von den Schlägen einer Handvoll kühner Männer zusammenbrechen sollte. Er dachte also: se saranno rose fioriranno, wählte den Weg der Hinterlist und behielt freie Hand, das Wagestück preiszugeben, wenn es mißlang. Wir müssen, schrieb er an Persano, »die Revolution unterstützen, doch so, daß sie vor den Augen Europas als eine freiwillige Tat erscheint. Dann sind England und Frankreich mit uns; anderenfalls weiß ich nicht, was sie tun werden.«

Sein Gesandter blieb in Neapel, er selbst verweigerte im April die Antwort, als Bertani im Parlamente eine Anfrage wegen Siziliens stellte, denn »das Ministerium kann nicht den Dienst eines Zeitungsschreibers versehen«. Unterdessen wurden in der Stille die Flinten aus dem Zeughause von Modena an die Freiwilligen verteilt und bereits am 18. April zwei Kriegsschiffe mit geheimen Aufträgen nach Palermo gesendet. Der Gouverneur von Genua erhielt Befehl, die Ausrüstung der Schiffe Garibaldis nicht zu bemerken. Der freigebige Pallavicino, La Farinas Verein und ein mazzinistischer Ausschuß unter Bertani sorgten vorderhand für die Geldmittel, bis späterhin Cavour selbst die Staatskassen zu öffnen und eine Dampferverbindung mit Palermo einzurichten wagte. Sobald am 5. Mai der Dampfer Piemonte die Rothemden hinweggeführt hatte, sprach Cavour den großen Mächten sein tiefes Bedauern aus und ließ den Grafen Persano mit der Flotte im Tyrrhenischen Meere kreuzen. Im selben Augenblicke empfing der Admiral zwei Zeilen von dem Minister: »Herr Graf, suchen Sie zwischen Garibaldi und die neapolitanischen Kreuzer zu geraten. Ich hoffe. Sie haben mich verstanden« – und antwortete kurzab: »Herr Graf, ich glaube Sie verstanden zu haben. Im Notfall schicken Sie mich nach Fenestrelles auf die Festung.« Auf die Kunde von der glücklichen Landung schrieb Cavour an die Höfe: wenn die Flotte der Bourbonen die Landung nicht verhindern konnte (und allerdings waren ihre Offiziere gut italienisch), um wieviel weniger wir? wenn Österreich fremden Abenteurern in Triest gestattet sich nach Rom einzuschiffen, um wieviel weniger kann die italienische Regierung italienischen Freiwilligen den Abzug verwehren?

Wohl mögen wir Deutschen uns glücklich preisen, daß Preußens Wehrkraft und des Schicksals Gnade uns erlaubten, ohne Winkelzüge durch rechtschaffenen Kampf das Joch der Habsburger zu zerbrechen. Wohl verstehen wir die Entrüstung des redlichen Azeglio, der im Zorn über dies durchtriebene Spiel den Staatsdienst verließ und ärgerlich schrieb: »kein Mensch glaubt dem Grafen mehr; es ist genau dasselbe, als wenn er die Wahrheit spräche!« Wir verstehen diesen Zorn, doch wir vergessen nicht, wie leicht das Urteil und wie schwer die Tat. Nicht mit moralischen Gemeinplätzen darf ein politischer Kopf hinweggleiten über den fürchterlichen Streit der Pflichten, der das Gewissen eines Staatengründers erschüttert. Dem Staatsmanne ist nicht gestattet wie dem schlichten Bürger, die fleckenlose Reinheit seines Wandels und seines Rufes als das höchste der sittlichen Güter heilig zu halten. Er lebt den Lebenszwecken seines Volkes, er soll die Zeichen der Zeit zu deuten wissen, den göttlichen Gedanken herausfinden aus dem Gewirr der Ereignisse und ihn verwirklichen in hartem Kampfe. Dies allein ist politische Wahrhaftigkeit, dies die politische Tugend, die den Frauen und Gemütsmenschen allezeit unfaßbar bleibt. Läßt sich der Widerstand der trägen Welt anders nicht überwinden, so soll der Staatsmann für den Sieg der Idee auch die Mittel der Arglist einsetzen, die der einzelne für die endlichen Zwecke seines Tuns nicht brauchen darf. An den rauchenden Trümmern des Vaterlandes sich die Hände wärmen mit dem behaglichen Selbstlob: ich habe nie gelogen – das ist des Mönches Tugend, nicht des Mannes. Und solange Männer leben, wird kein Makel haften an der Seelengröße des Staatsmannes, der Italien schuf, der das Sittlichste tat, was dem Sterblichen zu tun vergönnt ist. Ihm war jetzt das Herz geschwellt von dem Bewußtsein eines welthistorischen Berufes. Ihm galt es als »das größte Unternehmen der neuen Geschichte, Italien zu befreien von den Fremden, von den schlechten Grundsätzen und den Tollköpfen«. Bitter lachend rief er den Splitterrichtern zu: »ja ich, ich weiß nicht einmal, ob ich mich noch zu den Biedermännern zählen darf, weil ich die Einheit meines Vaterlandes gründete!« – Und wer tragt denn die Schuld an dem verlogenen Spiele, das zwischen Turin und Palermo hin und her schlich? Doch sicherlich die Engherzigkeit der großen Mächte, vornehmlich der Tuilerien, welche dem Führer Italiens nicht erlaubten, mit offenem Visier einen gerechten Kampf zu beginnen.

So unter Cavours Schutz begann der Zug der Tausend von Marsala. Ein märchenhafter Reiz liegt über diesem Kriege, und noch heute haftet an dem Namen uno dei mille ein Zauber, dem kein italienisches Herz widersteht. Nach den kurzen Kämpfen von Calatafimi und Palermo sah der Diktator die Insel zu seinen Füßen – ein Liebling des Glücks wie der verwunschene Prinz, der heimkehrt in sein Reich. Wer tiefer blickt, erkennt gerade in dem traumhaft raschen Erfolge die Gebrechen dieser Bewegung, die weder ein Krieg noch eine Volkserhebung war, weder die sittlichen Kräfte einer Revolution von unten, noch die Ordnung einer Revolution von oben offenbarte. Eine fremde Welt tat sich hier auf vor den Augen der erschreckten Norditaliener, ein grundtiefer Gegensatz des Volkstums, des sittlichen und wirtschaftlichen Daseins, wie er so auf deutschem Boden nirgends besteht.

Wohl lebte in dem Volke von Sizilien und Neapel der Todhaß wider die Bourbonen, ganz so hitzig, blind und ungestüm, wie jene fieberische Leidenschaft, die einst den Demos von Tarent von Torheit zu Torheit trieb; der Klerus selber teilte den allgemeinen Abscheu, und die Bewegung verlief fast ohne außerordentliche Greueltaten. Aber wie war doch dem reichbegabten Volke das Pflichtgefühl, die Opferfreudigkeit, alles was der Staatsgesinnung gleicht, so ganz abhanden gekommen! Jener heillose Byzantinerstaat, der überall, wo er seine Banner entfaltete, das sittliche Mark der Völker aufzusaugen verstand, hatte durch fünf Jahrhunderte die Halbgriechen Unteritaliens beherrscht; und über diese Trümmerstätte ging später der schläfrige Despotismus der Spanier und die bourbonische Tyrannei dahin, die selbst in Sizilien die Spuren einer glänzendere Geschichte nahezu verwischte. Der Unsegen des Latifundienwesens hielt die Massen in einem Zustand halber Knechtschaft; heidnischer Bilderdienst, tiefe Unwissenheit lahmte die Geister. Dazu die epidemische Feigheit und – die Camorra, der organisierte Raub, schimpflicher für das Volk, das ihn ertrug, als für die Räuber selber. Sobald der Freudenrausch der Tage der Befreiung verflog, mischte sich in den Ruf »es lebe Italien« wieder das alte Wutgeschrei: i Siciliani debbono si bere il sangue dei continentali – und dieser Haß gegen Neapel war tausendmal stärker als die Liebe für Italien. Von Piemont und der strengen Ordnung seines Staates war kaum eine dürftige Kunde über die gesperrten Grenzen des Bourbonenreichs gedrungen; das Volk kannte nur die Namen Viktor Emanuel, Garibaldi und Cavour. Vornehmlich in den beiden Hauptstädten drängte sich der Schmutz dieses verwahrlosten Volkstums zusammen. Von Palermos unstetem Pöbel galt noch das Hohnwort des Mittelalters:

Guelfo non son' nè Ghibellin m'appello
chi mi paga die più tengo di quello.

In Neapel vollends lungerte die wilde Meute der Lazzaroni, von den Bourbonen mit Brot und Spielen gesättigt und zur gelegenen Stunde wider die denkenden höheren Stände gehetzt. Mit gutem Grunde wahrlich pflegte der alte Ferdinand vergnüglich zu sagen: wer die Bourbonen vertreibt, wird ein Jahrhundert an Unteritalien zu arbeiten haben. Wie es in Wahrheit stand mit dieser jammervollen Erbschaft der Bourbonen, das lehrt am klarsten die fanatische Erbitterung der Flüchtlinge, welche, in Norditalien mit den Idealen einer reineren Bildung befreundet, jetzt heimkehrend alles, alles umstürzen wollten und hundertmal klagten: dies Volk war seiner Herrscher würdig! – Sicherlich, der Zug nach Sizilien war ein unabweisbares Gebot der Notwendigkeit; alle die müßigen Klagen über die verfrühte Einheit müssen verstummen vor der einfachen Erwägung, daß keine Macht der Welt den Bourbonenstaat mehr aufrecht halten konnte. Aber ein Unglück blieb diese Eroberung trotz alledem; sie stellte dem Staate Norditaliens Aufgaben, denen der unfertige noch nicht gewachsen war, sie bildete fortan die schwerste Sorge des leitenden Staatsmannes. Bis auf sein Totenbett verfolgte den Grafen das Bild des zerrütteten Südens. Diese unseligen Neapolitaner, rief er schmerzlich, die muß man waschen, si lavi, si lavi

Und wer war der Held, der diese entfremdeten Stamme zu ihrem Vaterlande zurückführen sollte? – Nur der Stumpfsinn des Philisters, nur die Armseligkeit des Parteihasses versteht den Überschwang der Liebe nicht, welchen die Italiener dem größten Manne des modernen Radikalismus widmen. Als ein Geschenk der himmlischen Barmherzigkeit, an dem ihr nicht mäkeln noch deuteln sollt, erscheint Garibaldi in diesen nüchternen Tagen – ein Prophet seines Volkes, so von Gott begeistert, wie jenes Mädchen von Orleans, die einzige Gestalt der Geschichte, die sich dem dämonischen Manne vergleichen läßt. Sein ganzes Leben ist nur ein feuriger Strom lauterer Vaterlandsliebe; sein Wirken unter uns wird späten Geschlechtern noch die tröstliche Wahrheit predigen, daß auch in hochgesitteten Zeiten die heilige Naturgewalt ursprünglicher Leidenschaft eine Macht bleibt unter den Menschen. Die zahllosen Torheiten, die Garibaldi begangen hat und noch begehen wird, sind zum voraus ihm vergeben, der so viel, so unaussprechlich viel geliebt hat. Und wie groß ist dieses Herz! Wie richtig urteilte Cavour, als er nach einem heftigen parlamentarischen Streite mit dem Manne von Caprera einem Freunde zuflüsterte: »Und dennoch! Wenn der Krieg beginnt, werde ich Garibaldi unter den Arm fassen und ihm sagen: was werden wir uns erzählen in Verona?« Die ganze Größe des Demagogen zu schauen, war dem Grafen nicht mehr beschieden: sie offenbarte sich erst im Frühjahr 1866, da der Alte gehorsam wie ein treuer Hund zum Heere kam auf den Wink des Königs, dem er zwei Kronen geschenkt – und der Fuß lahmte noch, den ihm die Soldaten desselben Königs zerschossen hatten! Wie dieser Mann war – ein stürmischer Held und doch ein Kinderherz, das durch seine Milde die wütenden Massen zur Großmut zwang – so blieb er unersetzlich, der einzige, der das sizilianische Abenteuer beginnen durfte.

Jedoch von dem Talente des Diktators gilt schlechterdings das grobe Wort, das Azeglio im Munde führte: ein Herz von Gold, aber der Kopf eines Büffels! Er hatte einst in kleiner Zeit, als der Ruf seiner Kriegstaten aus Montevideo nach Italien hinüberdrang, seinen Landsleuten den Glauben an die alte Waffenkraft der Nation wieder erweckt; dann war der Name des tapferen Verteidigers der ewigen Stadt, des kecken Führers der Alpenjäger in alle Lande hinaus geklungen; doch die Gabe des Feldherrn war ihm versagt. Der Reichtum des politischen Lebens blieb ihm ein unfaßbares Rätsel; er sah die weite Welt geteilt in die zwei Heerlager der republikanischen Freiheit und der monarchischen Knechtschaft. Die plumpste Schmeichelei nichtiger Demagogen vermochte sein Gefühl, die windigste radikale Phrase seinen Verstand zu betören; und so konnte geschehen, daß der in Ehren ergraute Held am Abend des Lebens seinen tapferen Degen für einen Gambetta und gegen die Befreier Venetiens zog. Dort in der Fremde, losgerissen von der heimatlichen Erde, der solche Sehernaturen ihre ganze Kraft verdanken, war der Verführte nichts als ein gewöhnlicher Mensch, ein ratloser Tor, wie ja auch die Jungfrau von Orleans außerhalb Frankreichs nur als eine alltägliche Bauerdirne erschienen wäre. Wir Deutschen, befriedigt mit der Züchtigung, die unser gutes Schwert dem Bandenführer in den burgundischen Bergen erteilte, sollen um jener letzten Sünde willen das goldene Herz des Büffelkopfes nicht geringer achten. – Auch in seinen Träumen ein Kind seines Volkes, sah Garibaldi in Rom den Mittelpunkt der Welt. Er gedachte mit seinen unbesiegten Tausend Sizilien und Neapel zu erobern, dann die unzählbaren tapferen Arme des Vaterlandes aufzubieten zur Befreiung von Venedig und Nizza und zuletzt in der ewigen Stadt die Einheit und Freiheit Italiens auszurufen, ein neues Zeitalter des Völkerglückes einzuweihen. Der Plan verriet genau so viel harmlose persönliche Eitelkeit, als zu einem rechten Demagogen gehört, und erschien dem ironischen Azeglio wie das Textbuch einer heroischen Oper. Eben hierin lag der bestrickende Zauber der tollen Träume; dies Künstlervolk wußte sich nichts Schöneres als einen anderen Rienzi, der im theatralischen Zuge das Kapitol hinanstiege.

Der Nizzarde haßte den kalten Rechner in Turin, »der mich zum Fremdling gemacht in meinem Vaterlande.« Kaum auf Sizilien gelandet, ließ er ein Manifest hinausgehen voll scharfer Anklagen wider die feigen Minister des tapferen Königs. Selbst über die Richtung des Zuges war man anfangs nicht einig. Garibaldis Ziel blieb eine Landung im Kirchenstaate. Er hatte schon einmal auf dem Janiculus die Franzosen geschlagen, er fühlte sich Mannes genug, zum zweiten Male dem blutigen Dezembermann eine Niederlage zu bereiten und zugleich die Kurie zu vernichten, die seinen apostolischen Träumen als der leibhaftige Antichrist galt. Daß ein Kampf mit den französischen Truppen den Untergang der Revolution herbeiführen mußte, war diesem Kopfe nicht beizubringen. Nur durch dringende Bitten, einmal auch durch Überlistung gelang es den Vertrauten Cavours, den Dampfer Garibaldis und die Nachzügler nach Sizilien zu führen. Dort aber stand der Diktator alsbald verzweifelnd vor der ungeheuren Aufgabe, die Keime des Edlen, die in diesem Volke lagen, aus hundertjährigen Trümmern herauszugraben. Unkundig der Menschen und der Dinge, ermüdet, angeekelt von den ungewohnten Regierungsgeschäften, sah er sich rings umflutet von einer wilden Ämterjagd: ehrliche Enthusiasten und freche Demagogen, die geriebenen Spione der Bourbonen und der Auswurf der Galeeren bunt durcheinander. Bald wurden Gesetze über Gesetze, die keiner beachtete, dem mißbrauchten edlen Manne abgedrungen, die Nationalgarde, die allein auf den Straßen einige Ordnung halten konnte, als eine Waffe der Bourgeoisie mit Verachtung behandelt, die öffentlichen Kassen im Nu geleert, die Gerichtshöfe geschlossen im Namen der Freiheit, überall jene vollendete Unfähigkeit zum Regieren bekundet, welche den modernen Radikalismus auszeichnet. Der Diktator redete – um den Feind zu schrecken, Ansehen und Selbstgefühl seiner Partei zu heben – mit großen Worten von den Heldentaten seiner Tausend; doch wußte er sehr wohl, daß sein Heer zur einen Hälfte aus begeisterter Jugend, zur anderen aus Gesindel bestand, und befahl darum kurzab die Aushebung von 300 000 Mann – auf dieser Insel, die keine Wehrpflicht kannte. Niemand gehorchte dem unmöglichen Gebote. Die Anarchie triumphierte, die Besitzenden zitterten für Hab und Leben.

Der hinterhaltigen Politik, welche dem Turiner Hofe aufgezwungen war, folgte die notwendige Strafe. Eine Brigade piemontesischer Truppen, eine kräftige Ansprache des Königs hätten hingereicht, die besonnenen Elemente der Gesellschaft zu ermutigen. Sich selber überlassen sah die Aktionspartei nach ihren leichten Siegen ihre Macht unermeßlich wachsen, und mit der Macht stieg der Übermut. Schon schwärmte man in den Kreisen der Crispi und Mordini für die Trikolore ohne Flecken (ohne das Kreuz von Savoyen), und während vordem das Königreich Italien in aller Munde war, sprach man jetzt von den Vereinigten Staaten Italiens, von einem Parlamente auf dem Kapitol, das die Frage: Republik oder Monarchie? erst entscheiden solle. Darum mußte die Diktatur auf unbestimmte Zeit verlängert werden. Mehr als dreihundert Gemeinden forderten das einzige, was diesen verworrenen Zustand beenden konnte, die unverzügliche Vereinigung mit Piemont. Garibaldi wies sie ab: der edelste Vertreter des Radikalismus zeigte, daß diese Partei den Volkswillen nicht achtet, daß sie allein in dem unbedingten Triumph ihrer eigenen Meinung die Freiheit findet. La Farina, der auch heuer, von Cavour beauftragt, den Mentor der Rothemden spielte, erhielt plötzlich von dem Diktator Befehl, binnen einer halben Stunde die Insel zu verlassen; so schied der treue Mann, den die Bourbonen dreimal verbannt, zum vierten Male aus der Heimat, vertrieben durch die Parteiwut der Radikalen. Und solchen Schimpf mußte Cavour schweigend ertragen! Persano, der mit seinem Geschwader seit Anfang Juni vor Palermo lag, begnügte sich, dem Verbannten ein Schiff zur Rückfahrt nach Turin anzubieten. Der Minister sendete einen anderen Vertrauten, Depretis, hinüber, mahnte dringend, den Diktator nicht zu reizen: nur die Kehlabschneider, die accoltellatori, sollten ihm nicht an das Ruder. Er hat auch späterhin um des Friedens willen hochherzig einen Schleier geworfen über diese Wirren und sein Schweigen selbst dann nicht gebrochen, als die Mazzinisten mit dreister Stirn ihm vorwarfen, er habe den Zug der Tausend verhindern wollen. Schon seit Mitte Juni ging all sein Hoffen dahin, daß Garibaldi schleunigst die Meerenge überschreite. Der Graf wollte die Insel von der Anarchie, die Regierung aus einer unwürdigen Lage befreien, und vor allem, er kannte jetzt die grauenhafte Fäulnis des Bourbonenstaates und begriff, daß die Bewegung nicht auf halbem Wege einhalten dürfe.

Währenddem stürzte die Todesangst den Hof der Bourbonen ließ König Franz in Turin dasselbe Bündnis anbieten, das er in unsägliche Entwürdigung. Sobald Sizilien verloren schien, vor wenigen Wochen verächtlich zurückgewiesen. Er verlieh eine Amnestie, verhieß die Verfassung von 1848, berief ein liberales Kabinett; aber selbst der gute Name des Ministers Martino gab keine Bürgschaft mehr für das Wort des Fürsten, der sich im selben Augenblicke von dem Papste die Absolution erbat für die Todsünde des Verfassungsversprechens. Das letzte Ansehen des Regimentes war dahin. Am hellen Tage stürmten die begnadigten Camorristen das Polizeihaus in Neapel, und während der Belagerungszustand über der Hauptstadt lag, predigten mazzinistische Blätter ungestraft den Hochverrat. Wohl sprachen die großen Höfe, am lautesten Rußland, ihren Unwillen aus über die Revolution und ihre geheimen Gönner. Auch Napoleon sah mit Unmut auf das Anwachsen einer Bewegung, die er nie gewollt; zudem bedrängte ihn das Murren seiner Ultramontanen und der unversöhnliche Groll, den seine Armee ihrem Besieger Garibaldi nachtrug. Aber wenn sogar die Hofburg nicht wagte, für die unheilbare Altersschwäche des Bourbonenstaates die Waffen zu ergreifen, so blieb nun gar dem Napoleoniden nach wiederholten Vermittlungsvorschlägen nur übrig, den König Franz an den guten Willen des Turiner Hofes zu verweisen. Cavour indes fühlte sich stark durch das Vertrauen seines Parlamentes, das ihm soeben, ohne daß er die Lippen öffnete, einen Kredit von 150 Millionen bewilligte. Er wies den bourbonischen Unterhändler ab und erklärte den Mächten unverhohlen: wir wollen und können einen Hof nicht stützen, der sich selbst verdirbt, nicht die Bürgschaft übernehmen für die Verfassungstreue dieses Königs, nicht das Vertrauen der Patrioten uns verscherzen. Und blieb nicht die Verbindung mit Neapel rein undenkbar, da König Franz auch jetzt noch die mittelitalienischen Dinge als eine offene Frage ansah, auch jetzt noch festhielt an der Hoffnung, dereinst auf einem italienischen Bundestage mit Hilfe der Erzherzöge den König von Sardinien zu überstimmen? – Die Maske gänzlich abzunehmen schien dem Grafen noch immer nicht ratsam. Während er selbst für den neapolitanischen Zug Staatsgelder an Garibaldi schickte, warnte sein König in einem offenen Briefe den Diktator vor dem Betreten des Festlandes. Gleichzeitig erging an Persano die Weisung, er solle nicht versuchen, auf Garibaldis Entschließungen einzuwirken; kein Wunder, daß der König die Antwort erhielt: »Erlauben Sie mir, diesmal nicht zu gehorchen.« Cavour aber rief seinem Admiral frohlockend zu: go ahead! Endlich am 9. August überschritt Garibaldi die Meerenge. Dann folgte jener vielgefeierte unblutige Siegeszug, erbaulich für die Freunde historischer Sensationsnovellen, empörend für den ernsten Denker. – Oftmals erklingt unter uns Kämpen der deutschen Einheit bittere Klage über den langsamen, verworrenen Gang unserer Revolution, die so viele unbrauchbare Trümmerstücke der Kleinstaaterei allzu sorgsam geschont hat. Wer aber vergleichend nach Unteritalien hinüberschaut, kommt zu der Einsicht: die Halbheit der deutschen Einheitsbewegung ist nur die Kehrseite unserer Tugenden, deutscher Treue, deutschen Rechtssinnes, der leidlich geordneten Verhältnisse, die auch in dem schwächsten deutschen Staate bestehen. Der Einheitsstaat Italiens ward nur ermöglicht durch die grenzenlose Sittenfäulnis des Südens, und um solchen Preis wäre der deutsche Einheitsstaat zu teuer erkauft. Selbst das listige Verständnis, das die Italiener dem Ränkespiel ihres großen Staatsmanns zeigten, war doch nur die Frucht einer in uralter Knechtschaft gereiften politischen Verbildung. – Kein Nagel wollte mehr haften in dem morschen Holze des bourbonischen Staates; der Bau ward nicht zerschlagen, er brach von selbst zusammen. Schon am 3. August war Persano mit seiner Flotte auf der Reede von Neapel angelangt, vorgeblich, um die Gräfin von Syrakus, eine Muhme Viktor Emanuels, vor möglichen Gewalttaten der Revolution zu schützen. Hier lag er wochenlang vor Anker, freundlich begrüßt von dem englischen, kalt aufgenommen von dem französischen Admiral. Am hellen Tage empfing er an Bord seines Schiffes die wiederholten Besuche des Grafen von Syrakus und des Ministers Liborio Romano, die dort mit beispielloser Unbefangenheit schwarzen Verrat gegen ihren Fürsten anzettelten. Kaum minder öffentlich arbeiteten in der Stadt der Gesandte Villamarina, den Cavour abermals auf Vorposten gestellt, und General Ribotti, der aus Turin hinübergeschickt war, um die Volkserhebung zu leiten. Eines Tages ging das Gerücht, der Bourbone wolle fliehen und seine Kriegsflotte entweder an Österreich abtreten oder sie mit sich nach Gaeta nehmen – ein keineswegs unmöglicher Plan, da die Masse der Matrosen für die italienische Sache noch nicht gewonnen war. Da fuhr plötzlich ein piemontesisches Kriegsschiff quer vor den schmalen Eingang des Kriegshafens, wo die bourbonische Flotte weilte; zufällig stürzte ein schwerer Anker in die Tiefe; so blieb das Fahrzeug tagelang liegen, die Ausfahrt versperrend. Um ganz sicher zu gehen, verdarben die neapolitanischen Flottenoffiziere, die allesamt mit Persano unter einer Decke spielten, die Maschinen und Steuerruder ihrer Schiffe. Noch immer hoffte Cavour, die Stadt werde vor Garibaldis Ankunft einen Aufstand wagen; doch das feige Volk blieb ruhig. Unterdessen rückten die Rothemden der Hauptstadt näher. Da wagte Liborio Romano einen letzten Schurkenstreich: unter brünstigen Beteuerungen seiner Pflichttreue erklärte er dem Könige, die Flucht sei jetzt das einzige Mittel, die Krone zu retten. Der König floh, die Ratten des Hofes hatten längst das sinkende Schiff verlassen.

Wenige Stunden darauf hielt der Befreier, von Liborio Romano empfangen, seinen Einzug, und der brüllende Pöbel grüßte ihn mit unendlichen Gallibardi-Garubalu-Rufen. Die elenden Truppen, verwirrt, zitternd vor dem schrecklichen Manne, der sie einst mit blutigen Köpfen aus dem Kirchenstaate heimgejagt, schauten tatlos zu; gemütlich stieg eine Schar Nationalgarden zum Kastell St. Elmo empor, hißte dort die dreifarbige Flagge auf. Auch nach dem Siege blieb der Stumpfsinn dieser Menschen unverändert. Hatten die Sizilianer nur geringes getan für ihre Befreiung, so war vollends hier Tatkraft und Leidenschaft allein zu finden in dem mazzinistischen Ausschuß Bertanis. Ein liberaler »Ordnungsausschuß« unter Tomasi leistete gar nichts, da die Mittelklassen sich nicht herauswagten wider die herrschende Aktionspartei. Bald erschien Mazzini selber, um seine Ernte einzuheimsen; noch wüster als in Sizilien hauste die Anarchie. Der Staatshaushalt war bisher der Stolz der Bourbonen; wie oft hatten ihre Getreuen höhnisch daran erinnert, daß Piemonts Staatsschuld im jüngsten Jahrzehnt um eine elfmal größere Summe gewachsen war als die Schuld Neapels. Der Diktatur gelang in wenigen Monaten die gefüllten Kassen auszuleeren, und da der gutherzige General einige lästige indirekte Steuern aufhob, die Zölle durch den schamlosen Schmuggel tatsächlich beseitigt, von allen Abgaben allein noch die Grundsteuern bezahlt wurden, so begann hier eine Zerrüttung der Finanzen, die bis zum heutigen Tage fortwährt. Wieder wie in Sizilien drängten sich tausend gierige Neulinge in die Ämter, wieder fürchteten die Reichen für ihr Eigentum; auch der Klerus murrte, weil Garibaldi einen Teil der Klöster aufhob und mit herausfordernden Reden noch kräftigere Streiche in Aussicht stellte.

Nur eines stand fest in der grenzenlosen Verwirrung: der Diktator wollte die Vereinigung mit Oberitalien auf unbestimmte Zeit vertagen. In der einen Provinz verkündete man die neapolitanische Charte von 1820, in der anderen das Statut von Piemont, in den Abruzzen rotteten sich Banden zusammen zum Schütze des legitimen Königs. Und bald ward den Siegern die lehrreiche Erfahrung, daß auch der elendeste Staat, weil er ein Staat ist, noch einige Kraft besitzt zum Widerstand gegen die Mächte der Revolution. Die Truppen der Bourbonen versammelten sich um Capua und Gaeta, ihre Haltung hob sich ein wenig unter dem Einfluß der tapferen deutschen Königin, des einzigen Mannes an diesem Hofe. Der poetische Krieg ist zu Ende, meinte Garibaldi traurig; die Lage ward hochbedenklich für sein schlecht gerüstetes Heer.

Zugleich drohte ein neuer Krieg mit Österreich. Cavour, der wie alle seine Landsleute die Wehrkraft der Nation überschätzte, hoffte den ganzen Sommer hindurch auf die »Auferstehung der nationalen Seemacht in der Adria«, schrieb an Persano, er solle sich rüsten, die Trikolore auf den Wällen von Malamocco und San Marco aufzupflanzen. Noch weit gefährlicher erschien im Augenblicke die Söldnerschar des Papstes. Wie nun, wenn im Kirchenstaate der lange vorbereitete Aufstand ausbrach, wenn La Moriciere und Garibaldi, die Schwarzen und die Roten, im wütenden Kampfe aufeinander stießen und der Diktator im Rausche des Übermuts sich auf Rom stürzte? Der Führer der roten Hemden sah sich jetzt von der Demokratie aller Länder als Haupt und Held gefeiert, er sah die radikale Partei überall, vornehmlich in Genua, trotzig auf den Markt schreiten, und er trat selber der Regierung so herausfordernd entgegen, daß Cavour im August dem Könige erklärte: er müsse wählen zwischen ihm und Garibaldi, zwischen der Monarchie und der roten Revolution. Der König aber, der eine verwegene Romfahrt nicht ungern gesehen hätte, fand bald sein ruhiges Urteil wieder und befahl dem Minister zu bleiben. Kurz darauf versicherte der Diktator öffentlich, er wolle keine Versöhnung mit dem Verschacherer von Nizza, und forderte von dem König die Entlassung Cavours, für sich aber die Statthalterschaft in Unteritalien auf ein Jahr. Ja, in einem Schreiben an die Sizilianer sprach er kurzweg seine Absicht aus, gegen Rom vorzugehen. –

Wahrlich, es ward hohe Zeit, das Warten aufzugeben. »Wir sind entschlossen,« schrieb der Graf am 26. August, »die Bewegung nicht bloß zu unterstützen, sondern sie zu leiten. Sobald die Stunde des Handelns kommt, werden wir nicht minder entschlossen, nicht minder kühn sein als die Bertani, aber mit der Kühnheit werden wir die Umsicht und die Vorsicht verbinden.« Er faßte den Plan, mit einem raschen Schlage die Restaurationsarmee La Moricieres zu vernichten, dann die Einverleibung des Südens zu vollziehen und also mit der Einheit Italiens zugleich das Ansehen der Krone zu retten. Er selber nannte später diesen kühnen Gedanken den besten Rechtsgrund seines Ruhmes; die Monarchie war verloren, wenn wir nicht rasch am Volturno standen! Am 28. August erschienen Farini und Cialdini zu Chambery vor dem Kaiser; sie stellten ihm vor, daß die legitimistische Armee der Kurie seinen eigenen Thron bedrohe, daß Garibaldi den alten Gegner Napoleons, Charras herbeirufen wolle, daß der Zug gegen Venedig zur Notwendigkeit werde, sobald Garibaldi auf Rom ziehe – und was solle denn werden aus aller bürgerlichen Ordnung, wenn nicht die Monarchie der Aktionspartei den Dolch aus der Hand reiße? So umgarnt, in die Enge getrieben, wagte Napoleon nicht nein zu sagen; das berufene faites, mais faites vite, das man ihm damals in den Mund legte, hat er freilich nicht gesprochen.

Ein Anlaß zum Einrücken in das päpstliche Gebiet ließ sich leicht schaffen bei der fieberischen Aufregung der Bevölkerung. Nach geheimer Abrede mit dem Turiner Kabinett Dies ergibt sich aus Cavours Briefe vom 31. August bei Pesano, diario rivato-politico-militare. Torino 1870. II. 89. erhoben sich am 6. September die Patrioten in Umbrien und den Marken, ihre Abgesandten flehten den König um Hilfe. Fünf Tage darauf brachen die Piemontesen in den Kirchenstaat ein, durch die Kämpfe von Castelfidardo und Ancona wurden die Söldner des Papstes vernichtet, und die Greueltaten, welche dies Glaubensheer noch kurz vor seinem Untergänge zu Fossombrone beging, verkündeten laut, von welcher Pest Italien befreit war. Mit Recht nannte der König diese Ansammlung heimatlosen Gesindels im Herzen Italiens »eine neue und seltsame Form fremder Einmischung und die schlimmste von allen«. – In überschwenglichen Worten pries Cavour die junge Flotte, die sich durch die Beschießung von Ancona als die würdige Erbin der glorreichen Seemacht von Genua und Pisa bewährt habe. Die alte Waffenlust des Piemontesen war erwacht. Der große Staatsmann wußte, daß Italien des kriegerischen Ruhms bedurfte; nur glänzende Waffentaten konnten dem werdenden Staate nachhaltigen Nationalstolz und eine geachtete Stellung unter den Völkern schaffen. Als Persano nach der Einnahme von Ancona nachts in Turin ankam, wartete der Minister selber auf dem Bahnhof, umarmte freudestrahlend den zweifelhaften Helden, bestürmte ihn mit Fragen, konnte sich nicht satt hören an den Großtaten italienischer Tapferkeit. Am nächsten Morgen beim amtlichen Empfange war Cavours erstes Wort: »Jetzt vor allem anderen – die Belohnungen;« dann ließ er sich von dem Admiral die Namen der Offiziere, die sich hervorgetan, in die Feder diktieren.

Ein Rundschreiben des Grafen, das er selbst »mehr einen Zeitungsartikel als eine Note, mehr für das Publikum als für die Kabinette bestimmt« nannte, rechtfertigte das Wagnis des umbrischen Feldzugs. Der Kaiser, nur halb gewonnen, rief seinen Gesandten aus Turin ab. Die Piemontesen aber umgingen sorgsam das von den Franzosen besetzte patrimonium Petri, und der Graf griff wieder zu seiner nie versagenden Waffe. Er berief das Parlament und legte am 2. Oktober einen Bericht vor, der kurz und schlagend die Frage des Augenblicks dahin zusammenfaßte: Garibaldi will die Revolution verewigen, wir wollen sie schließen. Die ungeheure Mehrheit der Norditaliener betrachtete längst besorgt das phantastische Treiben der Aktionspartei; das Parlament billigte das Verhalten der Regierung und beschloß, daß die Südprovinzen über die Einverleibung abstimmen sollten. Inzwischen hatte die königliche Armee mit dem Südheer sich vereinigt und die bourbonischen Truppen am Volturno geschlagen. Darauf kam der König selbst in den Süden, »nicht um meinen Willen euch aufzudrängen, sondern um dem eurigen Achtung zu verschaffen«. Pallavicino und alle Gemäßigten in Garibaldis Umgebung erkannten jetzt, daß die Rolle des Diktators ausgespielt sei. Und der hochherzige Mann tat, was Cavour vorausgesagt: nach einem Gespräche mit dem Könige zog er heim auf seine Ziegeninsel. Das Volk des Südens beschloß die Vereinigung mit dem Norden, und triumphierend schrieb der Graf am 9. November nach Berlin: »Wir haben nichts zu verbergen, nichts zu verleugnen; wir sind Italien, wir handeln in seinem Namen, aber zugleich sind wir die Ermäßiger der nationalen Bewegung, die Vertreter des monarchischen Prinzips.«

Wie schwer die Höfe diese neue Sprache verstanden, das lehrten die Botendienste, die unser Dampfer Loreley den Bourbonen leistete, und das drohende Verweilen des Admirals Tinan mit der französischen Flotte vor Gaeta. Zuletzt ahnten die Mächte doch, daß der verwegene Revolutionär in Turin der konservativen Sache diente. Gaeta fiel, von den Franzosen preisgegeben; der Satz »Italien gehört den Italienern« ward stillschweigend anerkannt. An den tapferen Männern des Südheeres aber wurden die Sünden der Aktionspartei allzu hart bestraft. Mit der Verachtung des Berufssoldaten sah der piemontesische Offizier auf diese Freischaren herab; Cavour selbst war leidenschaftlich erbittert über die vielen unnützen Gesellen, die Garibaldi in sein Offizierkorps aufgenommen hatte. So wurden denn die Truppen aufgelöst, während man die unerprobten Regimenter Mittelitaliens geschont hatte – aufgelöst hier am Volturno, auf diesem Boden, den sie mit ihrem Blute genetzt. Ein unbegreiflicher Mißgriff inmitten eines schon leise murrenden Volkes. War es nicht schon bedenklich genug, daß bei der Abstimmung 10 600 Neapolitaner nein sagten? Nun kamen die Beamten aus Piemont, um den Schutt, den der Diktator aufgetürmt, hinwegzuräumen. Nun kam der König und mißfiel: an solche schlichte soldatische Derbheit waren die Gaffer von Neapel nicht gewöhnt. Und galt denn das Wort »Neapel sehen und sterben« gar nichts mehr? mußte die größte Stadt Italiens nicht die Hauptstadt des Reiches werden? – Die seligen Tage, da die helle Freude eines freien Volkes an den Gestaden des Arno jauchzte, wiederholten sich nicht in Großgriechenland. Die Schuld, welche auf jeder, auch auf der gerechtesten Revolution lastet, begann schon sich zu rächen.

 

Die letzte Feste der Bourbonen war soeben gefallen, als der König am 18. Februar 1861 das erste Parlament des Königreichs Italien eröffnete. Nicht bloß die Gedankenlosen jubelten, auch ernste Männer blickten mit Stolz zurück auf die durchmessene weite Strecke Weges; tausend Augen suchten die Stelle neben dem Throne, wo der Schöpfer des Staates stand. Die Thronrede sagte: »Unter anderen Umständen war mein Wort kühn. Aber die Weisheit besteht nicht minder im Wagen zur rechten Zeit als im Warten zur rechten Zeit. Ich habe nie gezögert, mein Leben und meine Krone für Italien zu wagen; doch niemand hat das Recht, Dasein und Geschick einer Nation auf das Spiel zu setzen.« Das goldene Zeitalter der Revolution war zu Ende, ein harter prosaischer Werkeltag brach an, der aus diesen Trümmerstücken verkommener Staaten eine Nation schaffen sollte. Italien ist auferstanden, klagte Azeglio, die Italiener sind es nicht.

Und hier erkennen wir die Grenzen von Cavours Begabung; hier stehen wir vor der demütigenden Einsicht, wie unermeßlich groß die Idee des Staates ist und wie klein selbst die gewaltigste Manneskraft neben der tiefsinnigen Vielseitigkeit des Gemeinwesens. Soweit die Erinnerung der Geschichte reicht, hat vielleicht nur der einzige Julius Cäsar alle Zweige des Staatslebens zugleich mit schöpferischer Kraft umfaßt. Ich lasse diese harmlosen Sätze, die lediglich eine unbestreitbare, hundertmal in der Geschichte wiederkehrende Tatsache konstatieren, unverändert wieder abdrucken, obgleich Karl Lammers (Deutschland nach dem Kriege S.8) sie der politischen Mystik zeiht. Wer wie dieser treffliche Volkswirt »den Staat auf gleiche Linie mit anderen Versicherungsanstalten setzt«, dem muß allerdings der geistige Gehalt des Gemeinwesens, der res publica der Alten ein unfaßbares Geheimnis bleiben. Selbst Friedrich, der als Diplomat und Feldherr bis an die Grenzen des Menschlichen sich erhob, der Rechtspflege, der Bewegung des Gedankens neue Bahnen brach, hat in der Staatsverwaltung – obschon im einzelnen mannigfach bessernd und mildernd – doch nur das System seines Vaters aufrecht erhalten, das auf vier Augen stand und dicht hinter den beiden Meistern zusammenbrach. Desgleichen Stein, ein unvergleichlich schöpferischer Kopf in der Verwaltung, wußte für die Verfassung Deutschlands nur in raschem Wechsel unmögliche Pläne zu entwerfen. So war auch Cavour genial nur als Diplomat, als parlamentarischer Führer und als Volkswirt; im Finanzwesen gedankenreich, aber leichtsinnig; über die folgenschwere Frage der Verwaltungsorganisation sprang er mit einigen guten Einfällen hinweg, und an die Heilung der schweren sittlichen Leiden seines Volkes dachte er nicht mit dem heiligen Ernst, der dem Staatsmanne geziemt.

Das Zusammentreffen der deutschen und der italienischen Revolution wird dereinst eine der fruchtbarsten Parallelen der Geschichtsphilosophie bilden, und vornehmlich dieser Gegensatz wird den Nachlebenden zu denken geben: wie überlegen die Italiener auftraten in der Massenbewegung, wie überlegen die Deutschen in der geordneten politischen Aktion. Dort eine Nation von Verschwörern, hier ein Volk, welches der Ordnung, der Leitung von oben bedarf, um seine schwere Kraft zu bewähren. Sehr klein erscheint die untätige Haltung der Hannoveraner, der Sachsen, der Schleswig-Holsteiner während des deutschen Krieges gegenüber dem patriotischen Mute, der nach dem Frieden von Villafranca die Toskaner beseelte. Aber wie schrumpfen die immerhin ehrenwerten Taten des italienischen Heeres zusammen neben dem Kriegsruhm der Preußen! Und wieder nach dem Siege trat die ganze Überlegenheit nordisch-protestantischer Bildung und Arbeitskraft hervor: so tief die Sachsen von 1866 unter den Toskanern von 1859 standen, so hoch stand der erste norddeutsche Reichstag über dem ersten italienischen Parlamente.

Und wahrlich, die Aufgabe dieses Parlamentes war fast unlösbar schwer. Hier galt es nicht, wie in Deutschland, kleine Nebenlande einem mächtigen, festgefügten Staate anzugliedern, sie zu erfüllen mit dem Geiste des Kernlandes; hier galt es aus losem Gerüll einen neuen Staat zu schaffen. Wohl versuchte Cavour den Schein einer historischen Kontinuität, einer piemontesischen Staatsüberlieferung aufrecht zu halten. Der König nannte sich, zum Ärger der Radikalen: Viktor Emanuel der Zweite, und im Senate überwog der piemontesische Stamm. Aber in einem Abgeordnetenhause das unter 443 Abgeordneten nur 83 Vertreter der alten Provinzen zählte, erfüllte sich ganz von selber das törichte Verlangen der Aktionspartei: Piemont muß verschwinden! Wie berauschend klang das Wort begeisterter Piemontesen: »wir wollen handeln gleich unserem Pietro Micca, der sich selber in die Luft sprengte, um das Vaterland zu retten!« – und wie schmerzlich sollte die Nation, da der Rausch verflog, erfahren, was es heißt, einen Staat auf das Nichts zu gründen. Der verwegene Minister hatte keck ein Anlehen von der Zukunft gefordert, aus sieben Mittelstaaten einen Einheitsstaat zusammengeschweißt, während dies Unternehmen doch die bereits entwickelte Macht eines Großstaates voraussetzte. Nun das Wagnis über Nacht gelungen war, fehlten überall die wirtschaftlichen und die geistigen Kräfte.

Das schwere Werk der Organisation erforderte die genaue Sachkunde von Fachmännern, von Spezialitäten. Es liegt aber tief in den schönsten Charakterzügen dieses halbantiken Volkes begründet, daß Fachmänner dort seltener gedeihen als im Norden. Der Italiener ist nicht ein Schneider, ein Schuster; er macht, er spielt den Schneider, fà il sartore, wie seine Sprache bedeutsam sagt, er verkrüppelt fast nie unter dem Geschmäckchen seines Berufes, bleibt ein schöner, stattlicher Mensch, aber er gibt sich auch seinem Amte selten so mit ganzer Seele hin wie der Nordländer. Und wie sollten gar politische Fachmänner sich bilden unter dem Regiment der Erzherzöge? Wacker hatten die Signoren Norditaliens ihren Mann gestanden als Verschwörer und als Soldaten; in den nüchternen Geschäften des Parlamentes, sobald man statistische Tabellen lesen, über den Geschäftskreis der sindaci ein Urteil fällen sollte, zeigten sich die meisten als Dilettanten, der Arbeit ungewohnt, sehr geneigt, nach Franzosenart mit einem Witzwort, einem concettino, über ernste Dinge hinwegzuhüpfen. »Die auswärtige Politik ist der wahre Angelpunkt des Lebens der Völker« – so lautet ein in vielen italienischen Schriften wiederkehrender Gedanke, der die nationale Meinung ausspricht. Lediglich diese »große Politik«, das zugleich schwierigste und der Phrase zugänglichste Gebiet der Staatskunst, schien vornehmer Männer würdig. Nur einzelne Staatsmänner saßen im Hause, diese wenigen waren schier durchweg Piemontesen und darum schon den Vertretern des Südens verdächtig.

Der Graf sah sich gezwungen, in das erste italienische Kabinett fast allein Nichtpiemontesen aufzunehmen, und seine Wahl fiel nicht durchgängig auf würdige Männer.

Zudem lag noch der Rausch des Sieges über den Köpfen. Wer fragte nach der Prosa der Verwaltung, solange Venedig, Rom und Welschtirol noch den Fremden gehorchten? Warum sollte des Grafen glückhafte Hand die Trikolore nicht bis auf den Kamm des Brenners tragen? War doch in Trient und Roveredo die italienische Gesinnung unzweifelhaft; auch um Bolzano und Merano (wie die Italianissimi unsere ehrlichen deutschen Städte nennen) hatte die Faulheit der Deutschen und der Welschen sparsamer Fleiß der Eroberung emsig vorgearbeitet, Cavour erlag schier der Sorge, wie er diese glühenden Begierden der Nation zügeln und dem kaum geborenen Staate die Anerkennung der großen Mächte erwerben sollte. »Die Zeit,« schrieb er warnend, »ist der mächtige Bundesgenosse der Vernunft und des Fortschritts. Laßt uns nicht die Zukunft gefährden, indem wir allzu eilfertig das Ziel zu erreichen suchen, zu dem uns die eigene unwiderstehliche Kraft unsrer Grundsätze unfehlbar führen muß!« Von solchen Leidenschaften umringt, wollte der Graf um alles nicht die treue Mehrheit im Parlamente zerspalten. Auch die Wahlen bekundeten das Leiden des neuen Staates, die Krankheit der Illusionen. »Wir haben ja Cavour«, sagte man fröhlich, wählte unbedacht jeden, der in den jüngsten Monaten patriotische Hingebung gezeigt: und aus den Urnen ging eine Schar hervor, angetan mit der Livree Cavours – wenn man den Bildern der radikalen Witzblätter glauben durfte. Nur einzelne aus Piemont, mehrere aus dem Süden hielten die rote Farbe. Um diese ergebene und doch bunt gemischte, leicht zu mißleitende Mehrheit, die Stütze seiner auswärtigen Politik, nicht zu verlieren, beging Cavour in den inneren Fragen einen folgenschweren Fehler.

In keinem Staate schien das Problem der Selbstverwaltung so leicht wie hier zu lösen. Das Königreich zählte nur 7720 Gemeinden, jede im Durchschnitt von 2821 Köpfen bewohnt. Da Italien einen Gegensatz von Stadt und Land kaum kennt und noch von den Römerzeiten her gewohnt ist, kleine Ortschaften mit benachbarten Städten zu vereinigen, so konnte es nicht schwer fallen, die ganz unbedeutenden Gemeinden, welche zumeist in den geduldigen Provinzen des Nordens lagen, zusammenzuschlagen und dergestalt etwa 6000 lebenskräftige Kommunen zu schaffen – ein glänzendes Gegenbild zu den 40 000 ohnmächtigen Gemeinden der Franzosen. War doch der alte Munizipalstolz nirgends ganz erstorben. Ebenso einfach schien der Gedanke, das Reich in etwa acht Regionen zu zerlegen. Mit vollem Rechte nannten die Mailänder die Hauptstadt der Lombardei ein subcentro; auch Toskana, Ligurien, die Emilia bildeten natürliche Einheiten, durch große Erinnerungen und bedeutende wirtschaftliche Interessen verbunden, von je einer mächtigen Stadt überherrscht; sie vermochten sehr wohl eine gesunde landschaftliche Eigenart zu behaupten. Von den Regierungsbezirken, den Provinzen, ließ sich eine selbständige Lebenskraft nicht erwarten. Wohl war die Provinz in dem größten Teile des Reiches ein althistorischer Körper, der erweiterte Stadtbezirk; aber offenbar bedeuteten die acht Provinzen Piemonts und der Insel in dem alten Königreich Sardinien etwas anderes, als die 59 neuen Provinzen in dem Königreich Italien bedeuten konnten. Zu klein, um gegen die Bureaukratie der Reichshauptstadt einen Willen zu behaupten, zu groß, um den Einwohnern ein festes nachbarliches Zusammenhalten zu gestatten, blieb die Provinz ein rein bureaukratischer Verwaltungsbezirk – gleich dem französischen Departement, dem ihr Umfang nahe kam – wie geschaffen für das Vaterauge eines Präfekten; und wirklich stand in Norditalien schon ein Präfekt an ihrer Spitze, darunter ein Geschwader von Unterpräfekten, zumeist träges, unbrauchbares Volk. Sollte der abschüssige Weg französischer Zentralisation vermieden werden, so bedurfte man der Regionen, welche, gleich den preußischen Provinzen mehrere Regierungsbezirke umfassend, an Vermögen und geistigen Kräften genug besaßen, um dem Staatsbeamtentum einen Teil der Verwaltungsgeschäfte abzunehmen.

Doch leider fehlte dem Volke noch gänzlich der geduldige politische Arbeitsmut, welcher allein eine ernste Selbstverwaltung tragen kann. Die Nation war von alters her gewohnt, die Staatsgewalt als einen Feind zu betrachten; nicht mit einem Schlage konnte sie den Entschluß finden, selbsttätig bei den Geschäften des befreiten Staates Hand anzulegen. Die gesamte Gedankenarbeit des jüngsten Jahrzehnts war auf die Unabhängigkeit Italiens gerichtet; über Verwaltungsfragen hatte niemand nachgedacht. Was jetzt darüber geschrieben ward, offenbarte nur klägliche Unkenntnis, sklavische Abhängigkeit von französischen Ideen. »Nehmen wir den Hut ab,« rief La Farina begeistert, »vor dem Präfektensysteme des ersten Konsuls, das so vielen und furchtbaren Stürmen widerstanden hat.« Ihm fiel nicht ein, den Spieß umzukehren und zu fragen, ob nicht gerade in dieser unwandelbaren despotischen Verwaltungsordnung der letzte Grund der Unfreiheit Frankreichs zu suchen sei.

Allerdings versteckten sich hinter dem Verlangen nach Dezentralisation gefährliche partikularistische Pläne. Der törichte Wunsch, den alten Kleinstaaten ihre gewohnten Steuern zu erhalten, war weit verbreitet unter den Regionalisten. Toskana vornehmlich, das Hannover des Königreichs Italien, verwöhnt durch die Schonung, die der Staat seinem Liebling erwies, stolz auf eine nicht unbrauchbare Gesetzgebung, wollte von seiner Autonomie wenig aufgeben, wollte als die Lehrerin der Piemontesen in das Gemeinwesen eintreten. Auch bureaukratische Herrschsucht trieb ihr frivoles Spiel mit dem Plane der Regionen. Das despotisch geschulte sechsfache Beamtenheer, das zu den piemontesischen Beamten hinzutrat, verstand den Gedanken der Dezentralisation nach der Weise des Bonapartismus dahin, daß die Bureaukratie, unbelästigt von dem Minister, in den Regionen nach Gutdünken ihr Wesen führen solle. Wieviel bequemer schien es doch, sechs oberste Verwaltungshöfe wie bisher beizubehalten, statt sich einem Staatsrate, einem strengen gemeinen Verwaltungsrechte zu unterwerfen! – Trotz alledem, wenn ein Cavour seine ganze Kraft für das Regionalsystem Farinis einsetzte, so mußte der gesunde Kern des Gedankens durch alle Trübungen und Fälschungen hindurch gerettet werden. Im Sommer 1860, als Farini den Plan einer Kommission unterbreitete, schien noch jedermann einig. Aber bald rächte sich, daß Piemont im letzten Jahrzehnt für die Reform seiner eigenen Verwaltung nur wenig getan hatte. Sobald man in die Einzelheiten einging, schien nichts mehr brauchbar von der alten Ordnung, man stand vor der Notwendigkeit eines Neubaues. Hundert Pläne und Zweifel erwachten, auch subalterne Bedenken: waren nicht Umbrien und die Marken zu klein für eine Region?

Mitten hinein in diese schwankende Stimmung fiel nun die unheilvolle Eroberung des Südens. Noch war Gaeta nicht erobert, und die Neapolitaner murrten schon, weil sie arbeiten, Steuern zahlen, im Heere dienen sollten. Alles eiferte wider die piemontesischen Beamten, deren ernster Ordnungssinn doch ein Segen war für die Unzucht des Südens, und bald begannen die Briganten in den Abruzzen ihr Blutwerk im Namen des legitimen Königs. Ein Statthalter nach dem andern ging hinüber, das Chaos zu ordnen – noch bei Cavours Lebzeiten drei: Farini, der Prinz von Carignan, Graf Ponza di San Martino – und alle kehrten heim, vernutzt, mit Schimpf beladen, weil sie die Meisterlosen nicht bemeistern konnten. War es ratsam, dies unbotmäßige Land unabhängig hinzustellen? die Insel Sizilien durch eine selbständige Verwaltung in ihrem Sonderleben noch zu bestärken? Nur eine durchgreifende Zentralgewalt schien imstande, solchen Mächten des Unfriedens die Stirn zu bieten. Niemand forderte lauter die stramme Zentralisation als die tapferen Emigranten des Bourbonenstaates. Um Gottes willen, schließet diese Regierungskloaken von Neapel und Palermo, schrieb La Farina. Dem Wackeren graute vor dem Gedanken, daß das alte System zurückkehren könne; die blutigen Gespenster der Restauration von 1799 schritten durch seine Träume. Gleich ihm dachte Poerio, der Dulder aus Neapel, und auf die Stimmen dieser Eingeborenen legte die Regierung, befangen in einem fast unvermeidlichen Irrtum, allzu viel Gewicht. Und dazu das allgemeine stürmische Verlangen nach der Hauptstadt Rom, das den Plänen der Zentralisten zugute kam. Hatte man bisher den zentralisierenden Eifer der Piemontesen gefürchtet, so schlug man jetzt die Gefahr des Föderalismus, des Zerfalles höher an, zumal da auch in Norditalien der alte Stammeshaß sich wieder häßlich regte. Selbst Ricasoli, der stolze Toskaner, begann irr zu werden an seinem Ideale. Der Gedanke der Regionalisten wurde allmählich ausgebeint; in den neuen Entwürfen, welche Minghetti dem Parlamente vorlegte, erschienen die Regionen schon nur als ein Übergangszustand – und doch bedurfte Italien einer dauernden Ordnung.

Der Graf, vertieft in seine auswärtigen Pläne, erkannte nicht die ungeheure Bedeutung der Frage. Er wünschte die Regionen, mochte jedoch um ihretwillen nicht die Kabinettsfrage stellen, nicht die Zentralisten der Mehrheit verletzen. Er ließ diese schweren Dinge gehen und – starb darüber. So geschah es, daß ein Parlament, welches die Selbstverwaltung ehrlich wollte, zuletzt das Gegenteil des Gewollten beschloß. In der Nation herrschte der französische Liberalismus vor, welcher die Freiheit allein in der Erweiterung des Stimmrechtes suchte. Die bureaukratische Trägheit gab endlich den Ausschlag: das Präfektensystem, das unter dem Ministerium Rattazzi in der Lombardei und in Piemont neu geordnet und seitdem von allen freien Köpfen verwünscht worden, erstreckte sich bald nach Cavours Tode über das ganze Königreich. Also entstand eine Verwaltung, welche alle Mängel der französischen Bureaukratie in sich vereinigte – doch nicht ihre Vorzüge: Schlagkraft und Pünktlichkeit. Der Präfekt hatte nicht wie in Frankreich die gesamte Verwaltung unter sich, er war nur ein Organ des Ministeriums des Innern, stand in ewigem Kampfe mit den Mittelstellen der anderen Departements.

Wieder liefen die Stellenjäger Sturm auf die neuen Ämter; wohlbestallte Agenten vermittelten den Schacher. Ein Heer von Beamten mit unklarer Kompetenz regierte und regierte, gefährlicher durch Unfleiß und Unordnung, als durch den mehrfach hervortretenden Schmutz der Korruption. Alle Bürgermeister ernannte der König. Wollte die entlegenste Gemeinde auf Sizilien eine Verordnung über die Abfuhr des Straßenschmutzes erlassen, so mußte zuvor der Staatsrat ein Gutachten, der König seine Genehmigung erteilen. Die Freiheit der Regierten, ihr Anteil an den Staatsgeschäften bestand in dem Rechte, von Zeit zu Zeit einen Zettel in die Wahlurne zu werfen. Bald murrte der kleine Mann in der Lombardei, gewöhnt an die despotische, doch geordnete Verwaltung der Österreicher: wenn morgen der Tedesco wieder käme, so würden wir ihm die Stiefel küssen! – und nur sieben Jahre nach dem Falle des Regionalsystems mußte das Parlament abermals über die Reform der Verwaltung beraten. Uns Deutschen ist heilsam, aus diesen traurigen Wirren zu lernen, daß allein die Selbständigkeit starker Provinzen den nationalen Einheitsstaat bei frischer Gesundheit zu erhalten vermag; desgleichen zu lernen, welcher tätigen Wachsamkeit ein Volk bedarf, um sich zu schützen vor der Alleinherrschaft der Bureaukratie, die in allen Lebensgewohnheiten der modernen Gesellschaft eine gewaltige Stütze findet. Gewiß sind die Gebrechen der alten preußischen Verwaltung mit den Sünden der italienischen nicht zu vergleichen; aber unser Volk stellt auch strengere Anforderungen an seine Beamten und nur durch den Ausbau des Systems unserer Selbstverwaltung wird es uns gelingen, Staatseinheit und Volksfreiheit auf die Dauer zu versöhnen.

Und so viele andere Wunden, die der Despotismus geschlagen, bedurften noch der Heilung! Man zählte 18 Universitäten und über 14 Millionen analfabetti (natürlich, daß die Sprache für diese gewaltige Masse von »Nicht-Abc-Schützen« auch einen geläufigen Namen besaß). Deutlicher läßt sich die einseitige, den technischen Berufen entfremdete Bildung der höheren, die Verwahrlosung der niederen Stände nicht schildern. Wohl war der analfabetto von der Wahlurne ausgeschlossen (denn in Sachen des Wahlrechts blieb Cavour ein fester Altliberaler, er ließ das allgemeine Stimmrecht nur für außerordentliche Fälle der Staatsumwälzung gelten); aber schon die Unterschrift des Namens galt als Beweis der Gelehrsamkeit. Immerhin blieb es ein Ehrenzeugnis für den gesunden natürlichen Verstand der Nation, daß eine so wenig gebildete Wählerschaft so viel Mäßigung gezeigt hatte. Wie herrlich war doch trotz aller Kümmernisse dies Erwachen eines großen Volkes! Wie viele längst verschüttete Quellen des Gemeinsinnes begannen zu springen, nun das Leben wieder einen Wert besaß! Wie eifrig sorgten die großen Kommunen, nach Mailands Vorgang, für ihre Schulen! Selbst die Hoffnung auf den Süden war nicht aufzugeben, gerade weil die unglücklichen Länder so verwüstet dalagen, so ganz unfähig, auf eigenen Füßen zu stehen. Man hatte Aufstände zu befürchten und den grausamen Brigantenkrieg zu führen, doch wohl oder übel, der Süden mußte sich der überlegenen Gesittung fügen. Hier drohte nicht die düstere Gefahr, welche vier Jahre lang über dem Süden Deutschlands hing und schließlich nur durch den Segen eines heiligen Krieges, einer lauteren Volkserhebung beseitigt wurde: die Gefahr, daß ein Teil der Nation, befriedigt in einem behaglichen, selbstgefälligen und doch tief unsittlichen Sonderleben, seine tausendjährige Verbindung mit dem großen Vaterlande allmählich aus barer Faulheit auflöse. –

Doch der Weg zur Einheit führt überall nur durch herbe Enttäuschungen. Man kannte einander wenig, und als die Nation ein Bewußtsein ihrer Kräfte erhielt, da zeigten sich die sozialen Verhältnisse nicht günstig. Es gab der Signoren, der großen Kaufherren und der kleinen Pächter viele, aber der eigentliche Mittelstand, die Grundlage des modernen Volkswohlstandes, war nicht zahlreich, und welche Hemmnisse stellte nicht schon das Klima Süditaliens der Industrie der Fabriken entgegen! Der plötzliche Übergang aus dem Prohibitivsystem zu der Handelsfreiheit Piemonts erweckte laute Entrüstung unter den Schutzzöllnern von Neapel, verwirrte viele Vermögen. Die Vorarbeiten begannen für einen Lieblingsplan der Jugend Cavours, für den Bau der Eisenbahnen bis an die Ferse des Stiefels, bis Brindisi. Man betrieb rasch das Werk der Einigung in allem Nötigen – so im Münzwesen, in den Verkehrsanstalten – und wohl auch im Unnötigen. Das ließ die schnellfertige Logik der Romanen sich nicht nehmen, daß fünf bürgerliche Gesetzbücher in einem Staate ein Unding seien; sogleich trat eine Kommission zusammen, über einen neuen Kodex zu beraten.

Ein unschätzbares Band der Einheit blieb das Heer. Cavour fühlte dies lebhaft; er berief den fähigsten Soldaten Italiens, General Fanti, in das Kriegsministerium und stand seitdem mit dem alten Freunde La Marmora auf gespanntem Fuße. Wohl war die militärische Tüchtigkeit der Truppen arg gesunken, seit man, töricht genug, auch die Regimenter der Bourbonen aufgelöst und überall neue Cadres zu bilden hatte. Kein Wunder, daß die tapferen Österreicher fünf Jahre darauf als Sieger den welschen Boden verließen. Aber in dem Heere lernten die Barbaren aus den Abruzzen die Elemente menschlicher Gesittung, das verweichlichte Stadtvolk Zucht und Pünktlichkeit, der dumme Haß der Landschaften schliff sich ab, und vor allem, das köstliche Gut einer gemeinsamen Umgangssprache ward auch dem gemeinen Soldaten zuteil. Aus den Parlamentsberichten und Korrespondenzen der Italiener mögen die bequemen Philister in Nassau und Frankfurt, die über das fremde preußische Wesen jammern, zu ihrer Tröstung lernen, wie leicht und behaglich sich bei uns der Übergang in die neuen Zustande vollzieht. Welche Sorgen regten sich den Turiner Staatsmännern bei platt alltäglichen Dingen; welche Bedenken, wenn man Gendarmen in eine verkommene Provinz senden mußte, und den heimischen war nicht zu trauen, die auswärtigen verstanden nicht den Dialekt des Landes.

Und wie verächtlich erscheint das Murren der reichen schleswig-holsteinischen Steuerzahler, wenn wir vergleichen, was den Italienern ihre Freiheit kostete! Auch der deutsche Krieg hat, wie jeder Krieg, massenhafte Kapitalien zerstört, doch die vorübergehende Verlegenheit der norddeutschen Finanzen war ein Kinderspiel neben dem Jammer, der in Italien sich auftat. Auf diesem Gebiete wurde der Mangel an Fachmännern am härtesten fühlbar. Jedermann hing noch an dem Wahne – dem auch wir Deutschen vor dem Kriege alle huldigten – daß die Kleinstaaterei kostspielig sei. 573 Millionen im Jahre verschlang der siebenfache Despotismus; mußte nicht die Nation jetzt große Summen ersparen, da vier Höfe hinwegfielen und der Vorschlag, die entthronten Fürsten zu entschädigen, in dem erbitterten Volke kaum geäußert werden durfte? Wunderbar günstig lauteten die Berichte der hohen Beamten aus Mittelitalien; der Abgeordnete Galeotti rief noch in der zweiten Auflage seines Buches über das erste italienische Parlament glückselig aus: »niemals hat eine Nation sich wohlfeiler konstituiert.« Auch der tüchtigste Volkswirt des Hauses, der Venetianer Pasini, ein alter tapferer Genosse Manins, teilte den allgemeinen Irrtum.

Sobald man die sieben Budgets in eines verschmolz, ergab sich zuvörderst, daß kleine Staaten, weil sie nichts leisten, wohlfeil regieren; von den Forderungen, welche das unentbehrliche Militärbudget eines Großstaates stellte, ließ sich das Stilleben von Parma und Toskana nichts träumen. Und was hatte nicht die Schwäche der provisorischen Regierungen zusammengesündigt! Da waren verhaßte Steuern abgeschafft, kostspielige Eisenbahnen und Unterrichtsanstalten, auch viele Schulden der Provinzen dem Staate überwiesen, dagegen Domänen und Renten des Staates an die Gemeinden abgetreten, die Ausgaben ins Unendliche gesteigert, um jeden begehrlichen Wunsch der Gesellschaft zu befriedigen. Dazu diese Scharen von Beamten; die höheren Stellen mäßig, die niederen hoch besoldet, da Italien eine abgesonderte Karriere der Subalternen nicht kannte. Hunderte glücklicher Stellenjäger mußten mit Ruhegehalt entlassen und leider sofort ersetzt werden, weil das siegreiche Beamtentum in den provisorischen Regierungen dafür gesorgt hatte, daß man die neuen Amtsstellen nicht aufheben durfte. Der geheime Staatshaushalt des Despotismus ließ die Provinzen ohne Kenntnis von der Schwere ihrer eigenen Belastung; daher rief jetzt alles nach Steuerausgleichung, jede Provinz hielt sich für überbürdet – bis sich zuletzt fand, daß nicht Piemont, wie man geglaubt, sondern die Lombardei bisher die höchsten Steuern gezahlt hatte. Auch das Parlament zeigte geringe Neigung, die Budgets ernsthaft zu prüfen, noch geringere zur Steuerbewilligung. Cavour trat freilich solchen Torheiten mutvoll entgegen: eine mathematisch genaue Ausgleichung der Steuerlast sei unmöglich, auch solle man als den obersten Grundsatz der neuen Finanzpolitik betrachten das Kernwort: »es ist nötig zu zahlen und viel zu zahlen.« Er warnte dringend vor leichtfertigem Schuldenwesen; doch bedrückt durch die Arbeitslast seiner diplomatischen Geschäfte, ahnte auch er nichts von der schrecklichen Zerrüttung des Haushalts. Im April mußte der Finanzminister bereits vorschlagen, in das neue Große Buch des Königreichs sogleich wieder eine Anleihe von 500 Millionen einzuschreiben, und Pasini verlangte jetzt neue Steuern als ein Band der Staatseinheit. Erst nach Cavours Tode kam die volle Wahrheit an den Tag: das Reich hatte 3 Milliarden Schulden und für das Jahr 1861 ein Defizit von 500 Millionen.

Unter solchen Sorgen verstummte bald das noch in dem glücklichen Parlamente von 1860 oft gehörte Pathos allgemeiner Beredsamkeit, wozu den Italiener die Melodie seiner Sprache so leicht verführt. – Cavour empfand schmerzlich, daß der Hof ihm keinen Rückhalt bot. In den Tagen des Friedens begannen die wüsten und rohen Neigungen, die in der Seele des Königs lagen, sich wieder behaglich auszurecken – ein böses Unglück für ein Herrscherhaus, das die Achtung seines Volkes erst erwerben sollte. Der Graf schonte behutsam die zweifelhaften Freunde, half dem behenden Rattazzi in den Präsidentenstuhl. Er bedurfte der Genossen, denn die Aktionspartei verfolgte mit begreiflicher Wut den Mann, der ihr das Messer aus der Hand gerungen. Schändliche Lügen traten mit höchster Sicherheit auf: bald sollte Sizilien, bald Sardinien und Ligurien an Frankreich verkauft sein. Schändliche Lügen, sage ich; denn hätte Garibaldi wirklich, wie seine Freunde behaupteten, die Beweise für diesen Handel in Händen gehabt, so wären sie sicher längst veröffentlicht. Wie? Diese Aktionspartei, welche heute dem Herausgeber der Briefe La Farinas jede Mitteilung verweigert, damit die Welt nicht erinnert werde an den alten Bund der Radikalen und der Gemäßigten – sie sollte aus Zartgefühl Papiere zurückhalten, die dem Ansehen der Konstitutionellen den Todesstoß geben könnten?

Täglich schroffer schieden sich die Parteien: die Piemontesen und die in Turin geschulten Flüchtlinge auf der einen, die in der Fieberluft des Despotismus herangewachsene radikale Jugend auf der anderen Seite. Schon wagte man im Parlamente den Antrag, den Hinterlassenen eines Meuchelmörders, der sich einst an dem Bourbonenkönig vergriffen hatte, solle eine Nationalbelohnung gewährt werden. Und diesen unheimlichen Leidenschaften stand doch eine wahrhaft konservative Partei nicht gegenüber, denn auch Cavours Freunde fühlten, die Einheitsbewegung sei noch nicht am Ziele. – Die Radikalen verlangten »das Recht der Initiative« für die Revolution; traurige Gesellen, die vor drei Jahren noch die Einheit Italiens als einen Narrentraum verlacht, ziehen jetzt den Grafen der Feigheit, weil er einen Freischarenzug gegen Venedig und Rom nicht dulden wollte. Er selber hatte noch vor neun Monaten auf einen venetianischen Feldzug für dieses Frühjahr gehofft; wie jetzt die Dinge standen, inmitten der Wirren der Organisation des neuen Staates, lag die Notwendigkeit ruhiger Sammlung auf der Hand. Was der Graf im vergangenen Sommer dem König erklärt hatte, das wiederholte er nun im April vor dem Hause: man müsse wählen zwischen der Kriegslust der Aktionspartei und seiner Politik, die nur im Einverständnis mit den großen Mächten in Venedig einziehen wolle.

Welch ein erschütternder Auftritt, als jetzt Garibaldi und Cavour noch einmal aufeinander stießen – die beiden Männer, »die darum Feinde sind, weil die Natur nicht einen Mann aus beiden bilden konnte.« Wieder kam der Nizzarde auf sein altes Herzeleid, auf die preisgegebene Heimat zurück. Tief ergriffen erwiderte Cavour: »wenn es über die Kraft des Generals geht, mir zu verzeihen, so fühle ich, daß ich ihm keinen Vorwurf machen kann.« Garibaldi wies die dargebotene Hand zurück, der Preis der Großmut blieb diesmal dem Grafen; denn in verwickelten politischen Kämpfen ist der echte Edelsinn nur dem erreichbar, der die Größe des Kopfes mit der Größe des Herzens verbindet. Zwei Tage darauf, am 20. April, maßen sich die Parteien: 194 gegen 79 Stimmen genehmigten die Tagesordnung Ricasolis, welche »der Regierung allein« das Recht vorbehielt, für die Verteidigung des Vaterlandes zu sorgen.

 

Der Versuch, die Revolution ins Unendliche fortzusetzen, war abgeschlagen. Und doch lag dem Kriegsgeschrei der Aktionspartei ein richtiges Gefühl zu Grunde: der junge Staat blieb mehr ein Anspruch, ein Wunsch, als eine lebendige Macht, solange die Kanonen der Österreicher noch vom Mincio herüberdrohten und der Kirchenstaat in einer unmöglichen Stellung verharrte. Das Verlangen nach Rom ging lärmend, betörend, jeden anderen Gedanken erstickend durch die Nation. Wie sollte eine Regierung, die ihr Dasein selber der Revolution verdankte, die letzte und höchste Idee dieser Revolution bekämpfen? Der römischen Frage galt Cavours letzte Arbeit, und gerade hier, wo er vielfach irrte, trat die Erhabenheit seines Geistes mächtiger denn je hervor.

Rom unsere Hauptstadt! – das war seit vierzig Jahren der Schlachtruf aller radikalen Sekten. Die zentrale Lage, der welthistorische Name der Stadt verleitete selbst den ersten Napoleon zu der Meinung, hier sei Italiens natürliche Hauptstadt; um wieviel weniger konnte die urteilslose Masse der Geschichte scharf ins Gesicht blicken und daraus ablesen, daß Rom seit Cäsars Tagen nicht mehr die Hauptstadt eines Volkes, sondern eine Weltstadt, der Mittelpunkt einer Weltmacht war. Dem politischen Radikalismus gesellte sich der religiöse. An hundert Straßenecken prangte das VV i Franmasoni, von plumper Faust gemalt; die Freimaurer, die Schwärmer, die Atheisten triumphierten, die Uhr des europäischen Dalai-Lama sei endlich abgelaufen. Der Gedanke, den Papst wieder zum Bischof von Rom zu machen – ein Einfall ebenso ausführbar und ebenso tiefsinnig wie die Hoffnung, den König von Preußen wieder in einen Grafen von Zollern zu verwandeln – erschien den Schwarmgeistern schon halb verwirklicht. Solches Geschrei erfüllte den Markt und fand doch in Wahrheit wenig Anklang in dem Herzen der Nation. Dies Volk, das noch nach der Weise des Boccaccio über die Klösterlinge spottete und zischelte, das seinen bösesten Räuber, den Mönchteufel, Fra Diavolo, nannte und oft den alten Kehrreim wiederholte: »drei sind Italiens Unheilsmächte: die Pest, die Mönche und Habsburgs Knechte« – dies Volk blieb trotz alledem oder vielmehr ebendeshalb katholisch. Nicht Einen Priester hatten die aufgeregten Massen der Romagna während der letzten Wirren erschlagen. Wohl war die Weltmacht am Tiber mit seltenen Unterbrechungen der finstere Fronvogt der Fremdherrschaft gewesen – seit jenem 6. Mai 1527, da die Söldner Karls V. die ewige Stadt erstürmten; den sacco di Roma kannte jedermann aus zahllosen volkstümlichen Darstellungen und beweinte ihn als den Todestag des italienischen Glücks. Aber alle politischen Sünden der Päpste hatten nicht vermocht, das religiöse Band zwischen der Kurie und diesem Volke zu zerreißen: Italien und das Papsttum gehörten zusammen. Ein Problem, das also alle Höhen und Tiefen des nationalen Lebens berührte, verlangte langsam schonende Prüfung.

Ein Unglück, daß die fieberische Stimmung der Nation die Frist dazu nicht gewährte: der Süden weigerte sich, der Hauptstadt Turin zu gehorchen. Ohne Zweifel war Turin, zum mindesten für die ersten Erziehungsjahre des jungen Staates, die einzig brauchbare Hauptstadt, wenn man nicht tollkühn einen neuen Sprung ins Finstere wagen wollte. Hier stand der Thron inmitten eines tapferen, treuen Volkes, hier lagen alle politischen und militärischen Traditionen des Königshauses. Der guten Stadt kam auch kein ernster Zweifel an ihrer großen Zukunft: schwunghaft war die Baulust und die Einwanderung. Der König selbst, ein rechtes Turiner Kind, ließ sich in seinem Schlosse ein prachtvolles Treppenhaus errichten, »damit – wie die Inschrift sagt – der Zugang zu der Stelle, von wo Italiens Einheit auszog, heiterer werde.« Aber nimmermehr wollte Neapel den gehaßten Piemontesen den Vorrang lassen; auch in Mailand regte sich die alte Eifersucht wie vor zwölf Jahren. Nur vor der ewigen Stadt trat jede andere bescheiden zurück. Ernste Gründe sprachen gegen Turin: vornehmlich die seit der Abtretung Savoyens schwer gefährdete Lage der Stadt und ihr prosaischer, nur halb italienischer Charakter. Darf die Makedonierhauptstadt Pella jemals die Hauptstadt der Hellenen werden? – so fragte schon vor Jahren Balbo, und Cavour meinte traurig: ach, wenn Italien zwei Hauptstädte haben könnte, eine für den Werkeltag, eine für die Feste! Währenddem saß König Franz unter dem Schutze der Franzosen in Rom, bezahlte den Brigantenkrieg und hoffte auf einen piemontesischen Liborio Romano, der ihm sein Reich durch einen zweiten Verrat zurückgäbe.

Diese Schmach der fremden Besatzung, dies Brutnest der Verschwörung länger zu dulden war dem Minister unmöglich, der seit dem savoyischen Handel die Gunst des Volkes verloren und nicht wiedergefunden hatte. Und wie er der Frage näher trat, erwachten ihm die schönsten und tiefsten Gedanken seiner Jugend; der alte Traum, Religion und Freiheit zu versöhnen, stand wieder glänzend vor seiner Seele. Er faßte den Plan, die Grenzen zwischen Staat und Kirche durch einen feierlichen Vertrag festzustellen: der Papst sollte verzichten auf seine weltliche Herrschaft und dafür die unbedingte Freiheit der Kirche, die freie Kirche im freien Staate, erhalten. Nach seiner großen Weise verschmähte Cavour auch hier jedes Flickwerk: er wollte die völlige Übergabe der weltlichen Gewalt, dergestalt, daß der König von Italien als Vikar des Papstes das patrimonium Petri regiere – keineswegs den Kirchenfürsten als einen Schein-Souverän einsperren in die »Schachtel« der leoninischen Stadt, wie nachher der Prinz Napoleon vorschlug. Nicht der eitle Wunsch, als Befreier auf das Kapitol zu ziehen – die Kernkraft seines sittlichen Seins vielmehr sprach aus diesen Plänen. Mit schier schwärmerischem Feuer pries er dies Geschlecht glücklich, dem beschieden sei, in einem Menschenalter ein Volk zum Dasein zu erwecken und den uralten Krieg des Staates mit der Kirche zu schließen; pries er die Größe dieser Frage, der gewaltigsten, die je ein Parlament beschäftigt – entscheidend für das Seelenheil von 200 Millionen katholischer Christen. Kein Einwand, aus der Vergangenheit entnommen, bestand vor ihm: wo sei denn jemals die volle Freiheit der Kirche in Kraft gewesen? »Gelingt uns dies, so ist mein Werk vollendet!«

In solchen Augenblicken erschien er den Zeitgenossen wie ein Prophet; wir Nachlebenden wissen, daß seine Weissagung nicht eintraf. Nicht als ob wir die grandiose Idee der absoluten Kirchenfreiheit mit feiger Klugheit belächelten. Sie kann niemals ganz verwirklicht werden, weil das Verhältnis zwischen Staat und Kirche seinem Wesen nach ein irrationelles ist und bleibt; doch jeder Fortschritt der Gesittung wird die Welt dem Ideale Cavours näher führen. Wir bestreiten auch dem Katholiken nicht sein gutes Recht, daß er die Kirche als eine geschlossene Hierarchie auffasse und sich mit ihr als einem Ganzen abfinde, während wir Protestanten den Mittelpunkt des kirchlichen Lebens in dem freien Gewissen jedes Gläubigen suchen. Doch offenbar fehlte dem Grafen, versenkt wie er war in die politische Arbeit seines Lebens, die in die Tiefe: dringende Kenntnis kirchlicher Dinge. Er sah in der römischen Kirche die Kirche schlechtweg – gleich den meisten seiner Landsleute, die den Protestantismus so wenig verstehen, wie sie unsere Gotik verstanden haben. Daß diese Einseitigkeit Cavours heute von einzelnen denkenden Italienern durchschaut wird, dafür zeugt u. a. die geistvolle, freilich an Paradoxen reiche Schrift von A. Vera, il Cavour e libera chiesa in libero stato. Napoli, 1871. Er hoffte auf dem Kapitol einen Religionsfrieden zu schließen, welcher, dauerhafter als der westfälische, ein Zeitalter der Glaubensfreiheit über die Welt heraufführen werde. Ein goldener Traum, und doch ein Traum! Die römische Kirche ist eine streitbare Kirche unter vielen und nennt sich doch die katholische, und darf darum die Glaubensfreiheit niemals anerkennen; sie will selber ein Staat sein, nach den Worten ihres Bellarmin, so sichtbar wie der Staat von Venedig, und nötigt darum den weltlichen Staat, ihrer Herrschsucht feste Rechtsschranken zu setzen. – Zu nüchtern, um mit Lacordaire zu wähnen, daß die Protestanten in den Schoß der freien römischen Kirche zurückkehren würden, trat Cavour jetzt doch seinem klerikalen Bruder Gustav näher; und Graf Montalembert konnte auf dem belgischen Katholikenkongreß aus Cavours Rohr sich seine Pfeifen schneiden – sicherlich nicht um der wahren Glaubensfreiheit willen. Der Vertraute des Grafen in diesen kirchlichen Handeln war Pater Passaglia, der reine und gläubige Geistliche, der so mutvoll » pro causa italica« gestritten hat; doch schlägt ein Protestant dies wunderliche Buch auf, so weht ihn eine Luft an wie aus Gräbern; scholastisch der Ausdruck wie die Gedanken, und immer nur die una ecclesia! –

Solche Einseitigkeit scheint erklärlich bei einem italienischen Staatsmann, für dessen praktische Aufgaben der Protestantismus wenig bedeutete. Befremdlicher ist Cavours Urteil über die Verfassung der römischen Kirche; er hoffte einen freien Bund von Bistümern unter einem erwählten Oberhaupte erstehen zu sehen. Und doch springt in die Augen, daß die Bischöfe niemals so unselbständig waren wie in unserem Jahrhundert, und die römische Kirche vielmehr einer immer strafferen Zentralisation entgegengeht, wenn nicht vielleicht ein Schisma dereinst den künstlichen Bau zerschlagen sollte. Der Graf dachte groß von Pius dem Neunten – wenn nur dieser Unheilstifter Antonelli nicht wäre! Er versuchte durch die höchste Nachsicht gegen meuterische Bischöfe das Herz des Papstes zu gewinnen; sollte der Italiener auf dem heiligen Stuhle die fremde Garnison, die elende Lage des römischen Volkes nicht selber mit geheimem Kummer betrachten? In solcher hoffnungsvollen Stimmung hat Cavour sich nicht mehr so unbarmherzig wie in früheren Jahren die Wahrheit gestanden, daß ein Papst wohl auf Augenblicke als ein Italiener empfinden kann – wie Julius II., Clemens VII. – doch zuletzt das Dasein seiner Kirche immer höher stellen muß, als die Regungen seines vaterländischen Gefühls. Gelang Cavours genialer Plan, so eröffnete sich freilich die für einen Katholiken erhebende Aussicht, daß seine Kirche in Wirklichkeit werde, was sie in der Idee ist: eine Weltkirche. Der Papst, der nicht mehr italienischer Landesherr war, konnte vielleicht Gläubige aller Zungen, nicht mehr fast ausschließlich Italiener, in den Rat der Kardinale berufen. Aber alle diese hochfliegenden Gedanken fielen dahin, wenn Rom die Hauptstadt des Königreichs Italien wurde.

Hier unzweifelhaft lag der große Fehler der Rechnung. Man stelle sich die beiden Höfe, den geistlichen und den weltlichen, lebhaft vor Augen – wie sie freundnachbarlich in Einer Stadt hausen, wie das unvermeidliche Ränkespiel zwischen den beiden Palästen beginnt, wie die Weltkinder auf dem glatten Boden der Parketts neben den Rot- und Blaustrümpfen des Vatikans sich als Tölpel erweisen, wie zuerst die Frauen, dann die sinnlichen Männer des königlichen Hofes den seinen Künsten der Monsignoren erliegen. Wahrlich, aus solchem friedlichen Zusammenleben konnte nur der Zustand hervorgehen, den Cavour als der Übel größtes verabscheute: eine neue Form des Cäsaropapismus, die Unterwerfung des Staates unter den Einfluß der Kirche. Die Freiheit dieser Kirche, die das sacrificio dell' intelletto auf ihre Fahnen schreibt, wird da unfehlbar zur Lüge, wo die Gemüter nicht innerlich befreit sind vom Kirchenzwange. Oder wenn der Einzug in Rom gegen den Willen des Papstes erzwungen werden mußte und die Kurie unversöhnlich blieb, dann drohte in der neuen Hauptstadt ein unabsehbarer Kriegszustand, der den jungen Staat im Innern schwächen und in manche peinliche auswärtige Händel verwickeln mußte. Und ist nicht die römische Luft der Nüchternheit des modernen Staates ebenso ungünstig als die Turiner günstig? Neben der Majestät der Katakomben und Amphitheater und Basiliken verschwindet schier der leichtlebige Mensch unserer Tage; durch prahlerische Kraftworte suchten sich der Prinz von Canino und die anderen Volkstribunen der neurömischen Republik von 48 emporzuheben zu der Größe ihrer Umgebung. Die Gefahr lag nahe, daß auch das italienische Parlament in dieser Welt grandioser Erinnerungen sich an Phrasen berauschte, und über dem Traume des italienischen Primats die bescheidene Wirklichkeit vergäße. Und dieses Römervolk! Die Zeit war gewesen, da das altrömische Volk Italien schuf, indem es die Italiener bezwang. An der Freiheit der Kommunen, an allem Herrlichen der neuen italienischen Geschichte nahm die Stadt Rom fast keinen Anteil, für die Einheitsbewegung der jüngsten Zeit stellte sie keinen einzigen namhaften Mann ins Feld. Hier, in der gesunkenen Stadt, die unter 220 000 Einwohnern 60 000 eingeschriebene Almosenempfänger zählte, hier unter den lungernden Bettlern und den verweichlichten Depotengeschlechtern der Päpste mochte der Künstler träumen, die derbe Prosa des konstitutionellen Staates fand hier keine Heimat. Zwar wiesen die Patrioten aus der Geschichte nach, daß die Stadt hundertundeinundsiebzigmal binnen tausend Jahren sich wider die schlechteste der Regierungen empört hatte, und soeben noch bat eine Adresse, von 10 000 Römern unterschrieben, den Kaiser und den König um die Beseitigung der weltlichen Gewalt; doch seitdem haben wir erfahren, wie wenig nachhaltige Kraft hinter solchen Wünschen lag.

Über all diese handgreiflichen Einwürfe sprang die Nation hinweg mit dem Schlagwort: Italien läßt sich nur von Rom aus regieren; sie hörte nicht die unwiderlegliche Antwort: die römische Kirche läßt sich nur von Rom aus regieren. Cavour schwankte oft inmitten der ungeheuren Bedenken. Er sagte schon ein Jahr vor seinem Tode auf einem Hofball in vollem Ernst zu einer Freundin: übers Jahr werden Sie im Quirinal tanzen! Er bekämpfte im Parlamente entschieden den Gedanken, die Verlegung der Hauptstadt zu verschieben, und gestand doch sogleich nach dieser Sitzung dem englischen Gesandten: wir wollen nach Rom, nicht um dort zu bleiben, sondern um über Rom zu triumphieren. Eines steht fest inmitten dieser Widersprüche: Cavour wollte in Rom einziehen und bald – damit die französische Garnison verschwinde und der Friede zwischen Staat und Kirche geschlossen werde. Ob er, in der ewigen Stadt eingetroffen, dort sogleich das Hoflager aufgeschlagen oder nicht vielmehr vorgezogen hätte, das Parlament noch durch einige Jahre in Turin zu lassen – darüber zu streiten ist müßig: der »Philosoph des möglichen« pflegte seine Pläne für die Zukunft so unverrückbar nicht festzustellen.

Der Gedanke »die freie Kirche im freien Staate« war einer der leitenden Gedanken in Cavours ganzem Leben. Daß er ihn jetzt gerade aussprach, ward allerdings verschuldet durch die Verlegenheiten des Parteikampfes. Er wollte dem Radikalismus die Fahne »Rom Hauptstadt« aus der Hand reißen, um sie selber aufzupflanzen, und zugleich die Eifersucht der großen Städte, den Groll der katholischen Partei beschwichtigen. Der Graf gestand, daß ihm die Gegenwart Italiens mehr Sorge errege als die Zukunft: sogleich, unverzüglich mußte der tolle Wirrwarr der Meinungen sich klären, wenn Italien sich konstituieren sollte. Darum gab Cavour seit dem Herbst 1860 die Schweigsamkeit auf, die er in den letzten Monaten sich auferlegt; zur Verwunderung der Freunde suchte er jetzt die Gelegenheit, durch wohlausgearbeitete Reden die Leidenschaft der Nation zu belehren, zu ermäßigen. Im Oktober erklärte er dem Parlamente: »Rom ist unser Polarstern. Die ewige Stadt, auf welche 25 Jahrhunderte jede Art des Ruhmes gehäuft haben, soll die glänzende Hauptstadt Italiens werden.« Aber nicht die Revolution wird uns nach Rom führen, sondern »moralische Mittel«. Wir müssen die Kurie selbst gewinnen für die Überzeugung, daß der Papst nicht mehr ein König sein kann, den Klerus von Italien für die Einsicht, daß die Freiheit für die Entwicklung des religiösen Gefühles ein Segen ist. Wir haben die Meinung Europas für denselben Gedanken zu erwärmen; denn »in Zeiten wie diese verfügen die Diplomaten nicht mehr über die Völker, sondern die Völker legen ihnen die Werke auf, die zu vollenden sind.« Wir haben endlich mit Frankreich uns zu verständigen.

Am Tage nach dieser Rede ließ Cavour die Verhandlungen mit dem Papste beginnen. Der Mißerfolg, den Napoleon I. bei demselben Versuche davongetragen, erschreckte den Mann keineswegs, den nicht napoleonische Frivolität, sondern ein heiliger Ernst beseelte. In der Tat verliefen die Unterhandlungen günstig, bis plötzlich im Januar das Ungeschick der Agenten zu einem schroffen Bruche führte. Aber wenngleich die Verständigung diesmal an einem Zufall scheiterte, das Scheitern selber war mit Nichten ein Zufall. Die katholische Welt und die Stimmung der Kurie selbst war, wie Napoleon III, dem Grafen längst vorausgesagt, noch bei weitem nicht genug darauf vorbereitet, das weltliche Papsttum preiszugeben. Sofort nach diesem Bruche ließ Rom dem alten Hasse wieder die Zügel schießen. Im März beteuerte der Papst in feierlicher Allokution, er könne niemals der modernen Zivilisation die Hand reichen; und als darauf der König seinen neuen Titel annahm, schrieb die Kurie den Höfen: »dieser katholische König hat jetzt das Siegel gedrückt unter die kirchenschänderischen Raubtaten, die er schon begangen.« Nur um so fester hielt die Nation an ihrer Hoffnung; die warnenden Stimmen der Föderalisten, Cernuschis und anderer, verhallten spurlos. Da wagte im März Azeglio einen der kühnsten Schritte seines Lebens: er trotzte der öffentlichen Meinung ins Angesicht mit seiner Schrift le quistioni urgenti. Dieser durch und durch moderne Mensch, der kurzab versicherte, eine Lokomotive sei ein ungleich stolzeres Denkmal menschlicher Größe als ein römisches Amphitheater, zitterte bei der Aussicht, daß der neue Staat von dem Meere antikisierender Phrasen verschlungen werde. Den treuen Piemontesen empörte der Undank, der an seiner tapferen Heimat sich versündigte; er kannte Rom gründlicher als Cavour, und sein minder erhabener Geist, den die hochfliegenden Gedanken des Grafen nicht beirrten, sah diesmal klarer die praktischen Hindernisse. Rom soll eine italienische Stadt werden – so lautete sein Schluß – doch nimmermehr unsere Hauptstadt; danken wir Gott, daß Italien viele Hauptstädte besitzt!

Auch diese Mahnung beirrte den Grafen nicht, denn »die Hauptstadt eines Volkes wird bestimmt durch sittliche Gründe, durch das nationale Gefühl«. Damit sprach er wieder das entscheidende Wort; das Verlangen der Nation nach der Hauptstadt am Tiber war in der Tat eine moralische Macht, welcher keine staatsmännische Berechnung die Wage halten konnte. Cavour wagte im März, das Parlament für seine römische Politik feierlich zu verpflichten. Sein getreuer Audinot stellte eine Anfrage wegen der Lage Roms, und das Haus beschloß am 27. März auf Boncompagnis Antrag, zur Tagesordnung überzugehen »in dem Vertrauen, daß die Würde, das Ansehen, die Unabhängigkeit des Papstes und den Willen der Natione volle Freiheit der Kirche gewahrt, im Einverständnis mit Frankreich der Grundsatz der Nichtintervention angewendet, und Rom, von dem Willen der Nation als Hauptstadt ausgerufen, mit Italien vereinigt werden wird«. Nur ein Ruf der Bewunderung ging durch den Saal, als der Graf am 25. die gewaltige Rede hielt, welche jenem Antrage zum Siege verhalf und in den Worten gipfelte: »Wir werden zu dem Papste sprechen: Heiliger Vater! Die zeitliche Gewalt ist für dich nicht mehr eine Gewähr der Unabhängigkeit. Verzichte darauf, und wir wollen dir jene Freiheit geben, die du seit drei Jahrhunderten vergeblich von allen großen katholischen Mächten erbeten hast. Wir sind bereit, in Italien den großen Grundsatz zu verkünden: die freie Kirche im freien Staate.« Und welch ein felsenfester Glaube an die Freiheit sprach aus den Worten, die Cavour bald darauf dem Senate zurief: er sei gefaßt darauf, daß nach der Verkündigung der Kirchenfreiheit die katholische Partei auf lange Zeit ans Ruder gelange, und gern bereit in der Opposition zu stehen. –

Ein glänzender Abschluß einer großen parlamentarischen Laufbahn – und doch ein sehr zweifelhafter Erfolg. Nenn hinter jenem einstimmigen Parlamentsbeschlusse, der Boncompagnis Antrag annahm, verbürgen sich mannigfache Hintergedanken. Die Turiner meinten vergnügt im stillen: jetzt ist die Prinzipienfrage durch eine dröhnende Erklärung abgetan, und die Hauptstadt wird noch lange bei uns bleiben. Die Radikalen aber hörten aus allen Vorbehalten Boncompagnis allein ihre eigene Losung: Rom oder den Tod! heraus. Auch die Besonnenen glaubten zumeist: wenn der Graf also redet, so wird der Zug nach Rom sofort beginnen. Cavour wollte der Aktionspartei, die doch jederzeit einen neuen Lärmruf erfinden konnte, ein mächtiges Schlagwort entreißen. Und gewiß gelang ihm ein Erfolg für den Augenblick: die Stellung des Ministers wurde durch die Tagesordnung Boncompagni so sehr verstärkt, daß er bald nachher Garibaldi schlagen konnte durch die Tagesordnung Ricasoli, die wir kennen. Aber im selben Augenblicke band der Graf sich selber die Hände fest. Er griff der Zukunft vor, was er noch nie getan, verpflichtete den Thron für eine Aufgabe, die sich noch nicht übersehen ließ. Er wollte durch die feierliche Erklärung des Parlaments den Weltteil zwingen zu der Einsicht, daß Italien der Hauptstadt Rom bedürfe; und die steigende Erbitterung der Katholiken draußen lehrte, daß heilige Überzeugungen sich nicht im Fluge verwandeln. Längst spähte der Graf, um dem französischen Vormund zu entschlüpfen, nach anderen Bundesgenossen aus. Seine Getreuen bereisten Deutschland, La Farinas Verein schrieb an den deutschen Nationalverein bewegliche Mahnungen. Cavour selbst sprach im Herbst bedeutungsvoll: »die Zeit ist nicht fern, wo der größte Teil des edlen Deutschlands zeigen wird, daß er nicht mehr mitschuldig sein will an den Leiden Venedigs.« Laut pries er dies Preußen, das, national und liberal zugleich, sich an die Spitze der deutschen Bewegung stelle und dadurch sich als eine konservative Macht bewähre. Die letzte Thronrede begrüßte warm den neuen König von Preußen; General Bonin war während jener parlamentarischen Feier der Held des Tages. Der preußische Gesandte Graf Brassier de St. Simon hatte dessen kaum ein Hehl, daß er die Befreiung Venedigs von einem preußisch-italienischen Bündnis erwarte. Aber der Berliner Hof verharrte in seiner zuwartenden Haltung, die verschwommene Gefühlsseligkeit der deutschen Patrioten vermochte nicht den Wink des natürlichen Bundesgenossen zu verstehen. Ohne Freunde im Norden, von dem Papste zurückgestoßen, versuchte Cavour jetzt sein Glück in Paris: Italien und Rom sollten einander allein gegenüberstehen. Noch während jener Parlamentsverhandlungen ließ er in den Tuilerien einen Plan vorlegen, der nach Jahren, abgeschwächt, durch den Septembervertrag verwirklicht wurde: die Franzosen verlassen Rom sofort, Italien übernimmt die Bürgschaft, daß kein Einfall in den Kirchenstaat erfolge. Zu dem Versprechen, die Hauptstadt zu verlegen, ließ sich der stolze Italiener nicht herbei. Die Dinge waren in gutem Zuge. Am 5. Juni erklärte Frankreich an Spanien und Österreich: wir wollen keinen katholischen Bund, die Ordnung in Rom kann nicht hergestellt werden ohne die Zustimmung der Römer, nicht ohne die Mitwirkung Italiens.

Dem Staatsmanne war nicht beschieden, diesen letzten Erfolg seines Tuns zu schauen. Am 29. Mai begann sein Körper der ungeheuren Last seines Tagewerkes zu erliegen. In sein Krankenzimmer drang noch die Kunde, daß das einige Italien zum ersten Male sein Nationalfest gefeiert und der König triumphierend an seines Vaters Wort erinnert habe: »es reifen die Geschicke Italiens.« Weitum durch die Welt flogen die Gedanken des Sterbenden, auch nach unserem Vaterlande: »Die deutsche Einheit wird gegründet werden, aber diese langsamen Preußen werden fünfzig Jahre brauchen, um uns nachzufolgen.« Erhabene Bilder von einer Zeit des Lichtes und der Freiheit standen vor seiner Seele; selbst dem Gegner und Kampfgenossen Garibaldi spendete der Kranke ein Wort der Bewunderung. Oft klang die Klage: Italien braucht mich, ich darf nicht sterben; doch unwandelbar blieb ihm die Zuversicht auf die Dauer seines Werkes. Noch ein letzter erschütternder Abschied von dem Könige – und als endlich der Kranke erschöpft unter dem blauen Betthimmel lag, da trat sein Pater Jakob mit dem Allerheiligsten in das Gemach. Der treue Mann hatte dem Grafen vor Jahren, da der Kirchenstreit am wildesten tobte, in die Hand versprochen, er werde ihn nicht verlassen in seiner letzten Stunde. So starb der Ausgestoßene als ein katholischer Christ am 5. Juni. Sein letztes Wort hieß: libera chiesa, in libero stato – Alle hellen Köpfe der Welt empfanden den Schlag wie einen gemeinsamen Verlust der großen Gemeinde der Freiheit; die Puritaner in England klagten: a prince has fallen in Israel. Die Städte Turin und Florenz stritten mit dem königlichen Hause um die Ehre, dem Toten die Gruft zu bereiten; selbst die Blätter der Klerikalen erzählten jetzt von der offenen Hand und dem milden Herzen des Grafen. Nur Mazzinis Gemeinheit versagte sich's nicht, auch diesen Sarg zu besudeln, und der unversöhnte Papst forderte den Pater Jakob vor seinen Richterstuhl.

Das Gesetz der Natur, das den Acker zwingt brach zu liegen, wenn er lange fünfzigfache Frucht getragen, gilt auch der schöpferischen Kraft der Völker. Es war der Lauf der Welt, daß Cavour einen Nachfolger nicht finden konnte. Aber so ungeheuer schien die Lücke, die sein Scheiden riß, so weit der Abstand von ihm bis zu den Besten seines Landes, daß seinem Tode nicht einmal jenes still erleichterte Aufatmen folgte, womit der kleine Mensch den Hingang einer gewaltig lastenden Herrscherkraft zu begrüßen pflegt. Seine Größe bändigte die mißtrauische Schmähsucht der Nation; mochten die Gegner über »die kalte und verderbliche Hand« dieses Teufels klagen: daß er zu herrschen verstehe, durften sie nicht leugnen. Kaum war er geschieden, so brach die alte Sünde zuchtlos wieder aus; tausend geschäftige Zähne nagten und zerrten an jedem redlich verdienten Ruhme, niemand konnte noch sagen: Italien achtet mich. Cavour hielt die Idee des Vaterlandes so stolz und siegesgewiß der Selbstsucht der Provinzen entgegen, daß die Feinde nicht wagten, das Geheimnis ihrer Herzen auszusprechen, und sich versteckten hinter der kläglichen Maske: wir wollen die Einheit, aber auch die Freiheit. Drei Wochen nach seinem Hingang, am 29. Juni, erklangen zum ersten Male im Parlamente die schamlosen Stimmen partikularistischer Frechheit – um seitdem nicht wieder zu verstummen. Er stieß das kleine Gezänk mit einem Fußtritt zur Seite und stellte groß und klar die eine Frage: Cavour oder Garibaldi, die monarchische Ordnung oder die verewigte Revolution? Mit jedem Tage, der seit seinem Tode verstrich, trat das Gezwerg der Fraktionen fröhlicher hervor. Unentwirrbar verflochten und verschoben sich die Parteien, bis endlich dem jungen Staate das schwerste Unheil kam, das kommen konnte: das alte Piemont, die Stütze des Thrones, zog in die Reihen der Opposition hinüber, um erst nach langen Jahren unfruchtbaren Haders zögernd den Weg zu dem Herrscherhaus zurück zu finden. Cavour regierte; die ihm folgten, dienten – sie dienten einer schwankenden öffentlichen Meinung, welche die verbrauchten Werkzeuge bald hohnlachend fallen ließ. Cavour benutzte die Hilfe Frankreichs mit Widerstreben, weil er mußte – ohne je den Stolz des Italieners zu verleugnen. Unter denen, die sich seine Schüler nannten, galt der Bund mit Frankreich als ein Glaubenssatz, auch das Unwürdige nahmen sie gelassen hin von der Hoffart des Nachbarn. Napoleons Gesandter spielte den Vormund am italienischen Hofe; selbst das wunderbare Glück des Jahres 1866 wußte man nicht zu verwerten, und noch als das Verhängnis über den Napoleoniden hereinbrach, schrieb der tüchtigste Publizist unter den entarteten Schülern des großen Grafen das schimpfliche Geständnis nieder: »Die Grundmauern des Königreichs Italien ruhen weit mehr, als man weiß und wünscht, auf dem französischen Kaisertum!« – Was Wunder, daß die Nation vor dieser Welt des Unsegens, die nach Cavours Tod hereinbrach, bitterlich klagte: es stünde anders, wenn der Graf noch lebte!

Wer tiefer blickt, gelangt zu dem Urteil: Cavour starb zur rechten Zeit für seinen Ruhm. Die Nöte, welche noch derweil er lebte, von ihm nicht gehört, an die Tore klopften, die Leiden, welche dicht hinter seinem Sarge Italien heimsuchten, waren nicht zu heilen durch eines Mannes Kraft; sie heilte nur die Macht der Zeit. Auch Cavour konnte nicht das arbeitsame, geduldige Geschlecht, das der junge Staat verlangte, aus dem Boden stampfen; auch er konnte nicht in der katholischen Welt jene Umwandlung uralten Glaubens hervorzaubern, welche allein einen heilsamen Abschluß der römischen Frage gestattete. Und wohl ihm, daß ein gnädiges Geschick ihm ersparte, die grausamen Enttäuschungen einer nahen Zukunft zu sehen und zu erleben, wie dies undankbare Zeitalter auch ihn zu dem alten Eisen, unter die Utopisten geworfen hatte! So wie es endete in seiner Taten Fülle, erscheint sein Leben als ein Bild des höchsten Mannesglücks und jener Tugend, die hochgemut mit dem homerischen Hektor spricht: Ein Wahrzeichen nur gilt – das Vaterland zu erretten. Und doch überkommt uns selbst vor diesem Leben erschütternd das Gefühl, wie groß ein Volk ist und wie klein ein Mann. Denn gewaltiger noch als das Bild des Mannes selber bleibt der majestätische Hintergrund, von dem die Erscheinung sich abhebt: diese Auferstehung einer großen Nation, die abermals der Welt verkündete, daß christliche Völker nicht sterben können.

Wir Deutschen aber blicken mit frohem Stolze auf dies Schauspiel zurück. Das schwere Unrecht, das auf welschem Boden durch den Mißbrauch unseres Namens aufgehäuft ward, ist endlich getilgt, seit die Adler Friedrichs des Großen wieder den wohlbekannten Weg nach Böhmen fanden und dort Venedig für Italien eroberten, seit die Sieger von Metz und Sedan den Italienern die Schlüssel der ewigen Stadt überreichten. Wir überlassen der Zukunft, dereinst zu richten zwischen dem Gründer des italienischen und dem Gründer des deutschen Staates – eine Aufgabe, die heute nur den vorlauten Propheten oder die buhlerische Eitelkeit reizen kann. Unzweifelhaft ist dem deutschen Staatsmanne das schwerere Werk gelungen; denn im Kampfe mit zwei Großmächten, unter dem stillen Widerstreben fast des gesamten Weltteils mußte sich Preußen, allerdings ungleich besser gerüstet als das kleine Piemont, die Erfüllung seiner Geschicke erzwingen. Wir freuen uns des jungen Lebens, das in dem Einheitsstaate Cavours unter schweren Kümmernissen aufsprießt und das, so hoffen wir, selbst in Rom die Kräfte einer groß angelegten Volksnatur wieder erwecken wird, und kehren dann voll guter Zuversicht zurück zu der Arbeit unseres Staates – froh der Erinnerung, daß uns vergönnt war, zweimal zur selben Zeit die Freiheit des neuen Deutschlands wider ausländischen Übermut zu behaupten und einem fremden Volke die Sühne alter Schuld, die Erfüllung gerechter Wünsche zu bringen. Das Truggebilde, das sich in Frankreich republikanische Freiheit nennt, zeigt längst sein wahres Angesicht. Frech und höhnisch klingt der Haß und Neid der romanischen Stammesvettern nach Italien hinüber. Mögen die Italiener diese neu gewonnene Einsicht beherzigen und den Adel ihres Volkstums befreien von der Herrschaft gallischer Sitten! Durch uralte Schicksalsgemeinschaft mit uns Deutschen, durch die Bande des Blutes mit den Franzosen verbunden, sind sie wie keine andere Nation befähigt, eine Macht der Versöhnung zu bilden zwischen den beiden verfeindeten Nachbarvölkern. Das ist die Staatskunst, die dem Volke Cavours geziemt.


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