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II.

Als Herr Chevalier von oben zurückkam und seiner Lebensgefährtin, die im spitzenbesetzten Seidenkleide nach Pariser Art an der Kasse saß, seine Beobachtungen über die neuen Gäste mitteilte, saßen im selben Zimmer einige Stammgäste des Gasthauses. Ssergej hatte, als er unten gewesen war, dieses Zimmer und diese Stammgäste bemerkt. Wenn Sie schon öfter in Moskau waren, so kennen Sie das Zimmer wahrscheinlich auch.

Wenn Sie ein bescheidener Mensch sind, der Moskau nicht kennt, und wenn Sie sich zu einem Diner, zu dem Sie geladen waren, verspätet haben, oder wenn Sie darauf gerechnet haben, daß die gastfreundlichen Moskauer Sie einladen werden und das nicht geschehen ist, oder aber, wenn Sie auch nur in einem besseren Gasthause speisen wollen, so treten Sie in das Vorzimmer dieses Gasthauses ein. Drei oder vier Bediente springen auf; einer von ihnen nimmt Ihnen den Pelz ab und gratuliert Ihnen zum neuen Jahr, zur Fastnacht, zur Ankunft, oder er macht nur die Bemerkung, daß Sie lange nicht dagewesen seien, wenn Sie auch noch nie in diesem Lokal waren. Sie treten ein, und das erste, was Ihnen in die Augen fällt, ist ein gedeckter Tisch, der – wie Sie im ersten Moment glauben – mit einer Menge appetitlicher Speisen bedeckt ist. Aber das ist nur optische Täuschung, denn den größten Raum auf diesem Tische nehmen gefiederte Fasanen, ungekochte Seekrebse, Körbchen mit Parfüms und Pomaden und Glasbüchschen mit Schönheitsmitteln oder Konfekt ein. Nur ganz am Tischrande finden Sie bei aufmerksamem Suchen ein Schnäpschen und mit Fisch belegte Butterbrote, durch eine Drahtglocke vor Fliegen geschützt, – eine Vorsichtsmaßregel, die in Moskau im Dezember gar keinen Zweck hat, aber dafür ist diese Drahtglocke genau so, wie man sie in Paris zu haben pflegt. Jenseits des Tisches erblicken Sie ein zweites Zimmer, in dem eine Französin von großer Häßlichkeit, aber in den saubersten Stulpenärmeln und in wunderschönem, modernem Kleide an der Kasse sitzt. Neben der Französin bemerken Sie gewiß einen Offizier in aufgeknöpfter Uniform, der einen Schnaps und einen Imbiß nimmt, einen Zivilisten, der die Zeitung liest, und ein paar Offiziers- oder Zivilistenbeine, die auf einem Sammetsessel liegen, Sie hören französisches Geplauder und mehr oder weniger natürliches, lautes Lachen. Wenn Sie erfahren wollen, was in dem Zimmer vorgeht, so rate ich Ihnen, nicht hineinzugehen, sondern nur hineinzublicken, – so im Vorübergehen, als ob Sie nur ein Butterbrötchen nehmen wollten. Sonst würden Sie dem fragenden Schweigen und den erstaunten Blicken der Stammgäste dieses Zimmers nicht ausweichen können und müßten wohl verlegen zu einem der Tische im großen Saal oder im Wintergarten fliehen. Niemand wird Sie daran hindern. Diese Tische dürfen von jedem benützt werden, und dort in der Einsamkeit dürfen Sie den Jean getrost Kellner nennen und so viel Trüffeln bestellen, als Sie nur wollen. Das Zimmer mit der Französin aber existiert nur für die auserlesene »goldene« Jugend Moskaus, und es ist nicht so leicht, wie Sie vielleicht glauben, in die Zahl dieser Auserwählten aufgenommen zu werden.

Als Herr Chevalier also in dieses Zimmer zurückkehrte, sagte er zu seiner Gattin, der alte Herr aus Sibirien sei langweilig, sein Sohn und seine Tochter aber seien so prächtige Menschenkinder, wie sie nur in Sibirien gedeihen.

»Wenn Sie die Tochter sehen würden, – ein Rosenknöspchen!«

»O, darin ist er Kenner, dieser Alte!« sagte einer der Gäste. (Das Gespräch wurde natürlich französisch geführt, ich gebe es aber in unserer Sprache wieder, wie ich's im Verlauf dieser Geschichte immer machen werde.)

»O gewiß!« antwortete Chevalier, »die Frauen sind meine Leidenschaft. Wollen Sie mir's glauben?«

»Hören Sie doch, Madame Chevalier!« schrie ein dicker Kosakenoffizier, der dem Wirt viel Geld schuldig war und gern mit ihm plauderte; »und ist diese Sibirierin wirklich so schön?«

Chevalier legte seine Fingerspitzen aneinander und küßte sie.

Dann entspann sich ein vertrauliches, sehr lustiges Gespräch, das den Dicken betraf; er hörte lächelnd zu, was man von ihm sagte. Obwohl Madame Clarisse nicht jeden Witz verstand, brach sie hinter ihrem Pult in so silbernes Lachen aus, als ihre schlechten Zähne und ihr vorgerücktes Alter es ihr erlaubten.

»Wer sind diese Sibirier eigentlich? Bergwerksbesitzer oder Kaufleute?«

»Nikita, frage die Herrschaften, die angekommen find, nach ihrem Reisepaß,« sagte Monsieur Chevalier.

»Wir, Alexander, Selbstherrscher –« begann Chevalier den Paß, der ihm gebracht wurde, vorzulesen, aber der Kosakenoffizier riß ihm das Papier aus der Hand, und sein Gesicht nahm plötzlich den Ausdruck des Erstaunens an.

»Nun raten Sie, wer es ist,« sagte er, »Sie kennen ihn alle, wenn auch nur vom Hörensagen.«

»Wie soll man das erraten? Zeig doch her! Vielleicht Abd el Kader – hahaha – oder Kagliostro – oder Peter III. – hahaha!«

»Nun, so lies doch.«

Der Kosakenoffizier entfaltete das Papier und las: Der ehemalige Fürst Peter Iwanowitsch – dann kam einer jener russischen Familiennamen, die jeder kennt und mit einer gewissen Achtung und Befriedigung ausspricht, wenn er von einer Persönlichkeit spricht, die diesen Namen trägt. Wir wollen ihn Labasow nennen. Der Kosakenoffizier erinnerte sich dunkel, daß dieser Peter Labasow im Jahre 1825 durch irgend etwas berühmt geworden und zur Zwangsarbeit verurteilt worden war; wodurch er sich aber berühmt gemacht hatte, wußte er nicht recht. Die andern aber wußten nicht einmal das und antworteten: »Aha, ja, der bekannte,« – so wie sie gesagt hätten: »Natürlich, der bekannte Shakespeare, der die Äneïde geschrieben hat.« Genaueres erfuhren sie erst dann, als der Dicke ihnen erklärte, er sei der Bruder des Fürsten Iwan, der Onkel der Tschikins, der Gräfin Pruck, kurz der bekannte –!

»Er muß sehr reich sein, wenn er der Bruder des Fürsten Iwan ist,« bemerkte einer der jungen Herren, »falls man ihm sein Vermögen zurückgegeben hat. Einigen hat man es ja zurückgegeben.«

»Wie viele von diesen Verschickten jetzt zurückkommen,« bemerkte ein anderer; »ich glaube wirklich, es sind weniger verbannt worden als jetzt zurückkehren. Du, Schikinskij, erzähl' doch die Geschichte vom 18.,« wandte er sich an einen Offizier des Schützenregiments, der als Meister im Erzählen bekannt war.

»Nun, erzähl' doch!«

»Es ist eine wahre Begebenheit, die hier im großen Saal bei Chevalier passiert ist. Drei Dekabristen kommen herein, um zu speisen. Sie setzen sich an einen Tisch, essen, trinken, plaudern. Ihnen gegenüber nimmt ein Herr von würdigem Aussehen Platz, ungefähr im selben Alter wie sie, und hört aufmerksam zu, als sie von Sibirien sprechen. Er stellt eine Frage, ein Wort gibt das andere, sie geraten in ein Gespräch, und es stellt sich heraus, daß er ebenfalls aus Sibirien kommt. – ›Kennen Sie auch Nertschinsk?‹ – ›Gewiß, dort hab' ich gewohnt.‹ – ›Kennen Sie auch Tatjana Iwanowna?‹ – ›Wie sollte ich die nicht kennen!‹ – ›Gestatten Sie die Frage, waren Sie auch verschickt?‹ – ›Ja, ich hatte das Unglück, und Sie?‹ – ›Wir alle sind Verbannte vom 14. Dezember. Merkwürdig, daß wir Sie nicht kennen, wenn Sie ebenfalls wegen des 14. verbannt wurden. Wie ist der werte Name?‹ – ›Feodorow.‹ – ›Auch wegen des 14.?‹ – ›Nein, wegen des 18.‹ – ›Wieso wegen des 18.?‹ – ›Wegen des 18. September, wegen einer goldenen Uhr. Ich war verleumdet worden, als hätte ich die Uhr gestohlen, und habe unschuldig gelitten‹.«

Alle schüttelten sich vor Lachen, mit Ausnahme des Erzählers, der mit der ernstesten Miene im Kreise umhersah und beteuerte, es sei eine wahre Geschichte.

Bald nach der Erzählung erhob sich ein junger Mann der jeunesse dorée und fuhr in den Klub. Er ging durch die Säle, in welchen alte Herren an den Spieltischen saßen, schritt weiter in das Zimmer, wo der schon berühmte »Putschin« eine Partie gegen eine »Kompagnie« begonnen hatte, stand einige Zeit an einem Billard, an welchem ein vornehmer, alter Herr, auf den Rand gestützt, sich bemühte, seinen Ball zu treffen, blickte in das Bibliothekszimmer, wo ein General, würdevoll über die Brille hinwegsehend, eine Zeitung las, die er weit von sich hielt, und ein neues Mitglied, ein Jüngling, unter Vermeidung jedes Geräusches alle Zeitschriften der Reihe nach durchblätterte; dann setzte er sich im Billardzimmer auf einen Divan zu anderen »vergoldeten« jungen Leuten seiner Art. Es war der Tag des gemeinsamen Diners und viele Herren, die den Klub regelmäßig besuchten, waren da, darunter auch Iwan Pawlowitsch Pachtin, ein Mann in den Vierzigern, mittelgroß, weiß, voll, mit breiten Schultern, kahlköpfig und mit einem glänzenden, glücklichen, rasierten Gesicht. Er spielte nicht, sondern saß untätig neben dem Fürsten D., zu dem er du sagte, und hatte das Glas Champagner, das dieser ihm anbot, nicht abgelehnt. Er hatte sich so bequem zurechtgesetzt, nachdem er unbemerkt die Hosenschnalle im Rücken gelockert hatte, daß es schien, als wolle er eine Ewigkeit so sitzen bleiben, die Zigarre im Munde, das Champagnerglas vor sich, und in nächster Nähe von Fürsten, Grafen und Ministerssöhnen. Die Nachricht von der Rückkehr der Labasows störte seine Ruhe.

»Wohin willst du, Pachtin?« fragte einer der Ministerssöhne, als er während des Spiels bemerkte, daß Pachtin sich erhob, seine Weste zurecht zupfte und mit einem langen Zuge sein Champagnerglas leerte.

»Ssewernikow hat mich gerufen,« antwortete Pachtin, der eine gewisse Unruhe in seinen Beinen verspürte.

Lächelnd ging er in den Glassaal zu Ssewernikow, der ihn gar nicht gerufen hatte, dem er aber vor allen andern die Nachricht von der Rückkehr Labasows mitzuteilen für nötig hielt. Ssewernikow war in die Ereignisse des 14. Dezembers ein wenig verwickelt gewesen und mit allen Dekabristen befreundet.

»Wie geht es der Gräfin?«

Das Befinden der Gräfin hatte sich gebessert, und Pachtin äußerte seine Freude darüber.

»Wissen Sie schon, die Labasows sind heute angekommen und bei Chevalier abgestiegen.«

»Was Sie sagen! Wir sind ja alte Freunde. Wie mich das freut! Der Arme wird wohl recht alt geworden sein, denke ich. Seine Frau hat meiner Frau geschrieben –«

Aber Ssewernikow konnte nicht zu Ende sprechen, denn seine Partner, die eine Partie ohne Trumpf spielten, hatten irgend einen Fehler gemacht. Während er mit Iwan Pawlowitsch sprach, schielte er immer zu ihnen hinüber; jetzt warf er sich plötzlich mit dem ganzen Oberkörper auf den Tisch, schlug mit der Faust darauf und bewies ihnen, daß sie die Sieben hätten ausspielen müssen. Iwan Pawlowitsch erhob sich, trat an einen andern Tisch und verkündete im Gespräch einem andern würdevollen Herrn seine Neuigkeit, dann ging er weiter und tat dasselbe an einem dritten Tisch. Alle die würdevollen Männer waren sehr erfreut über Labasows Rückkehr, so daß Iwan Pawlowitsch, der anfangs nicht recht gewußt hatte, ob man sich über diese Rückkehr freuen müsse oder nicht, bei seinem Zurückkommen in das Billardzimmer sein Gespräch nicht mehr mit dem Ball oder dem Leitartikel des »Boten«, den Phrasen über das Befinden oder das Wetter einleitete, sondern ohne weiteres voller Begeisterung allen von der glücklichen Rückkehr des berühmten Dekabristen Mitteilung machte.

Der alte Herr, der sich immer noch vergeblich bemühte, mit seinem Queue die weiße Kugel zu treffen, mußte nach Pachtins Ansicht ganz besonders erfreut über diese Mitteilung sein. Er trat an ihn heran.

»Spielen Sie mit Glück, Exzellenz?« fragte er grade, als der alte Herr mit seinem Queue an die rote Weste des Markeurs tippte, wodurch er den Wunsch nach Ankreidung ausdrücken wollte.

»Exzellenz« sagte er nicht etwa aus Liebedienerei, wie der Leser vielleicht glaubt (nein, das war im Jahre 1856 nicht Mode). Iwan Pawlowitsch pflegte den alten Herrn einfach mit Namen und Vatersnamen anzureden und gebrauchte den Titel teils, um sich über die lustig zu machen, die so zu sagen pflegten, teils um anzudeuten, er wisse, mit wem er spreche, und wage trotzdem einen Scherz; kurz, es war sehr witzig von ihm.

»Ich habe soeben erfahren, daß Peter Labasow zurückgekehrt ist. Er ist mit seiner ganzen Familie direkt aus Sibirien gekommen.« Pachtin sagte das gerade in dem Moment, als der alte Herr wieder einen Fehlstoß tat, und das war sein Unglück.

»Wenn er als derselbe Tollkopf zurückkehrt, als der er hingefahren ist, so liegt kein Grund vor, sich zu freuen.« entgegnete der alte Herr mürrisch, aufgeregt über sein unbegreifliches Mißgeschick.

Diese Antwort verwirrte Iwan Pawlowitsch, der nun wieder nicht wußte, ob man sich über Labasows Rückkehr freuen sollte oder nicht, und um seine Zweifel endgültig zu lösen, lenkte er seine Schritte in das Zimmer, wo die gescheiten Leute, die die Bedeutung und den Wert jedes Dinges kannten, kurz, die alles wußten, sich zu versammeln pflegten. Iwan Pawlowitsch stand mit diesen gescheiten Leuten in demselben angenehmen Verkehr wie mit der goldenen Jugend und den würdevollen Standespersonen. Er hatte zwar in dem Zimmer der Gescheiten keinen eigenen Platz, aber niemand verwunderte sich, als er eintrat und sich auf den Divan setzte. Es war grade die Rede davon, in welchem Jahr und aus welchem Grunde ein gewisser Streit zwischen zwei russischen Journalisten ausgebrochen war. Während einer kleinen Pause im Gespräch teilte Iwan Pawlowitsch seine Neuigkeit mit, weder als Freudenbotschaft, noch als unbedeutendes Ereignis, sondern gleichsam so nebenbei im Gespräch. Aber schon daraus, wie die Gescheiten die Neuigkeit aufnahmen und beurteilten, schloß Iwan Pawlowitsch, daß diese Neuigkeit eben hierher gehörte und nur hier die Fassung bekommen konnte, in der man sie weiter verbreiten mußte, und wo man erfahren konnte, à quoi s'en tenir.

»Nur Labasow fehlte noch,« sagte einer der Gescheiten; »jetzt sind von den noch lebenden Dekabristen alle wieder nach Rußland zurückgekehrt.«

»Er war ein Mann aus der berühmten Schar,« sagte Pachtin noch ein wenig vorsichtig, bereit, dieses Zitat entweder als Scherz oder als Ernst gelten zu lassen.

»Gewiß, Labasow war einer der bedeutendsten Männer jener Zeit,« begann ein Gescheiter, »im Jahre 1819 war er Fähnrich im Ssemjonowschen Regiment und wurde mit Depeschen an den Herzog S. ins Ausland geschickt. Dann kam er zurück und wurde 1824 in die erste Freimaurerloge aufgenommen. Alle Freimaurer jener Zeit versammelten sich bei D. oder bei ihm. Er war ja sehr reich. Fürst S., Feodor D., Iwan P. waren seine nächsten Freunde. Sein Onkel aber, der Fürst Wissarion, versetzte ihn nach Moskau, um ihn aus dieser Gesellschaft zu reißen.«

»Entschuldigen Sie, Nikolaj Stepanowitsch,« unterbrach ihn ein anderer der Gescheiten, »mir scheint, das war im Jahre 23, denn Wissarion Labasow wurde im Jahre 24 zum Kommandierenden des dritten Korps ernannt und war in Warschau. Er wollte seinen Neffen zu seinem Adjutanten machen, und erst nach dessen Weigerung versetzte er ihn. Übrigens entschuldigen Sie, bitte, daß ich Sie unterbrochen habe.«

»Ach nein, bitte sehr!«

»Nein, bitte.«

»Nein, haben Sie die Güte, Sie müssen das ja besser wissen als ich, und außerdem haben sich Ihre Kenntnisse und Ihr Gedächtnis hier oft genug bewährt.«

»In Moskau nahm er gegen den Wunsch des Onkels seinen Abschied,« erzählte der, dessen Kenntnisse und Gedächtnis sich bewährt hatten, nun weiter; »und da bildete sich um ihn eine andere Gesellschaft, deren Häuptling und Seele er war, wenn man sich so ausdrücken darf. Er war reich, von angenehmem Äußern, klug, gebildet und, wie man sagt, von erstaunlicher Liebenswürdigkeit. Meine Tante hat mir oft erzählt, sie habe nie einen Mann gekannt, der bezaubernder gewesen wäre. Wenige Monate vor der Verschwörung heiratete er hier eine Krinskij.«

»Die Tochter von Nikolaj Krinskij, von dem, der bei Borodino – natürlich, der bekannte!« rief jemand dazwischen.

»Nun ja. Ihr großes Vermögen ist ihm zugefallen, sein eigenes ging auf den jüngeren Bruder, den Fürsten Iwan, über, der jetzt Oberhofkammermeister (er sagte so etwas Ähnliches) ist und früher Minister war.«

»Sehr schön war sein Verhalten gegen seinen Bruder,« fuhr der Erzähler fort; »als man ihn verhaftete, konnte er nur noch eines vernichten: die Briefe und Papiere seines Bruders.«

»War denn der Bruder mit verwickelt?«

Der Erzähler sagte nicht ja, preßte aber die Lippen zusammen und blinzelte bedeutungsvoll mit den Augen.

»Bei allen Verhören leugnete Peter Labasow hartnäckig alles, was den Bruder betraf, und mußte dafür mehr leiden als die andern. Das Gelungenste aber ist, daß Fürst Iwan das ganze Vermögen erhielt und dem Bruder auch nicht einen Groschen schickte.«

»Man sagte damals, Peter Labasow habe selbst verzichtet,« bemerkte einer der Zuhörer.

»Ja, aber er verzichtete nur, weil Fürst Iwan ihm vor der Krönung schrieb und sich entschuldigte, daß er das Vermögen nur deshalb genommen habe, weil es sonst konfisziert worden wäre; er habe Kinder und Schulden und sei jetzt nicht imstande, etwas zurückzugeben. Peter Labasow antwortete in zwei Zeilen: Weder ich noch meine Erben haben den geringsten Anspruch auf das Vermögen, das Ihnen durch das Gesetz zugesprochen wurde, und wir wollen auch keinen Anspruch darauf haben. – Kein Wort mehr. Wie finden Sie das? Und Fürst Iwan schluckte das hinunter, schloß dieses Dokument voller Freude zu den Wechseln in seine Schatulle und zeigte es niemand.«

Es war eine der Eigentümlichkeiten der Gescheiten, daß sie, wenn sie nur wollten, alles wußten, was in der Welt geschah, mochte es noch so heimlich geschehen.

»Es ist übrigens noch die Frage,« sagte ein neuer Sprecher, »ob es gerecht wäre, den Kindern des Fürsten Iwan das Vermögen zu nehmen, mit dem sie aufgewachsen und erzogen sind, und auf das sie ein Anrecht zu haben glaubten.«

So wurde das Gespräch in abstrakte Gebiete hinübergeleitet, die für Pachtin kein Interesse hatten.

Er empfand das Bedürfnis, wieder anderen Leuten die Neuigkeit zu überbringen, erhob sich und schritt langsam, bald rechts, bald links ein paar Worte wechselnd, durch die Säle. Einer seiner Kollegen hielt ihn an, um ihm von der Ankunft der Labasows Mitteilung zu machen.

»Wer wüßte das nicht!« antwortete Iwan Pawlowitsch mit ruhigem Lächeln und wandte sich dem Ausgange zu. Die Neuigkeit hatte schon die Runde gemacht und war wieder zu ihm zurückgekehrt. Er hatte also im Klub nichts mehr zu tun und ging zu einer Abendgesellschaft.

Es war keine geladene Gesellschaft, sondern ein Salon, in dem man täglich empfing. Es waren acht Damen und ein alter Oberst da, und man langweilte sich furchtbar. Doch schon das sichere Auftreten und das lächelnde Gesicht Pachtins wirkten erheiternd auf die Damen. Und die Neuigkeit, die er brachte, kam um so mehr zu rechter Zeit, als die alte Gräfin Fuchs nebst Tochter da waren. Als Pachtin fast wörtlich erzählte, was er im Zimmer der Gescheiten gehört hatte, begann die Gräfin kopfschüttelnd und sich über ihr Alter wundernd ihre Erinnerungen auszukramen: wie sie mit Natascha Krinskij, der jetzigen Frau Labasow, in die Welt geführt worden war.

»Ihre Heirat ist eine sehr romantische Geschichte, und all das hat sich vor meinen Augen abgespielt. Natascha war schon so gut wie verlobt mit Mjatlin, der später im Duell mit Deber gefallen ist. Da kommt Fürst Peter nach Moskau, verliebt sich in sie und hält um sie an. Aber ihr Vater, der Mjatlin sehr gern zum Schwiegersohn gehabt hätte – übrigens fürchtete man sich allgemein vor Labasow, weil er Freimaurer war, – ihr Vater also wies ihn ab. Der junge Mann aber trifft sie immer wieder auf Bällen und überall, befreundet sich mit Mjatlin und bittet ihn, zu verzichten. Mjatlin geht darauf ein, und nun überredet er sie, mit ihm zu fliehen. Sie willigt ein, aber eine letzte Anwandlung von Reue zwingt sie, zum Vater zu gehen und ihm zu sagen, alles sei zur Flucht bereit, sie könne ihn verlassen, sie hoffe aber auf seine Großmut. Und der Vater verzeiht in der Tat – alle baten für sie – und gibt seine Einwilligung. So kam die Hochzeit zustande, und es war eine fröhliche Hochzeit! Wer von uns hätte damals gedacht, daß sie ein Jahr später ihm nach Sibirien folgen würde! Sie, die einzige Tochter, das reichste und schönste Mädchen jener Zeit? Kaiser Alexander hatte sie stets auf den Bällen ausgezeichnet und oft mit ihr getanzt. Bei Gräfin G. war ein Kostümball – ich weiß es noch, als wärs heute erst gewesen! – und sie erschien als Neapolitanerin; ganz entzückend! Wenn er später nach Moskau kam, fragte er jedesmal: Que fait la belle Napolitaine? Und diese Frau – noch gar in dieser Lage (sie wurde unterwegs entbunden) – bedachte sich keinen Augenblick, machte keinerlei Vorbereitungen, packte nicht einmal ihre Sachen, sondern fuhr so, wie sie war, als man ihn verhaftete, fünftausend Werst weit hinter ihm her!«

»O, eine bewundernswerte Frau!« rief die Dame des Hauses.

»Sowohl sie als er waren seltene Menschen,« sagte eine andere Dame; »man hat mir erzählt, – ich weiß nicht, ob es wahr ist, – daß sie in Sibirien überall, wo sie in den Minen oder wie man das nennt, arbeiteten, auf die Sträflinge, die dort waren, veredelnd eingewirkt haben.«

»Sie hat aber nie in den Minen gearbeitet,« korrigierte Pachtin.

Was das Jahr 1856 doch bedeutete! Noch vor drei Jahren dachte kein Mensch an die Labasows, und wenn man sich ihrer erinnerte, so geschah es mit jenem unwillkürlichen Bangigkeitsgefühl, mit dem man von kürzlich Verstorbenen spricht. Und wie lebhaft erinnerte man sich jetzt aller früheren Beziehungen, aller schönen Eigenschaften der Zurückgekehrten! Jede der Damen schmiedete schon Pläne, wie sie das Monopol über die Labasows bekommen und diese den anderen Gästen vorsetzen könnte.

»Sohn und Tochter sind mit ihnen gekommen,« sagte Pachtin.

»Wenn sie nur auch so hübsch sind, wie die Mutter war,« meinte die Gräfin Fuchs, »übrigens, auch der Vater war sehr, sehr hübsch.«

»Wie haben sie wohl dort ihre Kinder erziehen können?« fragte die Dame des Hauses.

»Ausgezeichnet, sagt man. Es heißt, der junge Mann soll so nett, liebenswürdig und gebildet sein, als wäre er in Paris aufgewachsen.«

»Ich prophezeie dem jungen Mädchen einen großen Erfolg,« sagte eine häßliche junge Dame; »alle diese Sibirierinnen haben so etwas angenehm Triviales, und das gefällt.«

»Ja, ja,« bestätigte eine andere junge Dame.

»Also eine reiche Heiratskandidatin mehr,« sagte eine dritte.

Der alte Oberst, der deutscher Abkunft und vor drei Jahren nach Moskau gekommen war, um eine reiche Braut zu suchen, beschloß, daß er sich sobald als möglich, solange die jungen Leute noch nichts erfahren hatten, ihr vorstellen und einen Antrag machen werde. Die jungen Mädchen ihrerseits dachten etwas ganz Ähnliches in Bezug auf den jungen Mann. »Gewiß ist das der, den mir das Schicksal bestimmt hat!« dachte ein Fräulein, das bereits seit acht Jahren vergebens alle Gesellschaften mitmachte. »Es war vielleicht zu meinem Besten, daß dieser dumme Gardekavallerist nicht um mich angehalten hat; er hätte mich gewiß unglücklich gemacht.« – »Na, sie werden sich wieder alle die Gelbsucht anärgern, wenn sich auch der noch in mich verliebt!« dachte eine hübsche junge Dame. – Man spricht von dem Kleinstädtertum der Provinzstädte, aber es gibt kein ärgeres Kleinstädtertum als das der höheren Gesellschaftskreise. In der Provinzstadt gibt es keine neuen Erscheinungen, aber die Gesellschaft ist gern bereit, sie aufzunehmen, wenn sie sich nur zeigen wollten; hier aber werden die neuen Erscheinungen selten, sehr selten, wie jetzt die Labasows, als zur Gesellschaft gehörig anerkannt, und die Sensation, die sie erregen, ist größer als in der Provinzstadt.


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